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Wenn man nichts hat, kann man auch nichts verlieren. Lange traf das auf Davyans Leben zu … bis zu jenem Moment, in dem er entdeckte, dass Märchen nicht nur in Büchern existieren und selbst Aschenprinzen dazu auserkoren sind, der großen Liebe zu begegnen. Doch statt endlich einer schönen Zukunft entgegenzublicken, findet er sich an einem Ort wieder, der alles andere als märchenhaft ist. Ohne Erinnerung daran, dass es da eine Person gibt, die verzweifelt nach ihm sucht – und die ebenfalls ein Geheimnis mit sich trägt. Das Geheimnis eines Biestes, dessen Fluch Davyan nur brechen kann, wenn er sich rechtzeitig darauf besinnt, wem sein Herz gehört.
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Seitenzahl: 491
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Informationen zum Buch
Impressum
Widmung
Landkarte Region Fayl
Landkarte Altra
Prolog
Kapitel 1 - Böses Erwachen
Kapitel 2 - Wie geht es weiter?
Kapitel 3 - Vergebliche Suche
Kapitel 4 - Karakals Reich
Kapitel 5 - Die Aufnahmezeremonie
Kapitel 6 - Gemeinsam gefangen
Kapitel 7 - Bücherwürmer, Monster und ernsthafte Gespräche
Kapitel 8 - Die Bardin von Orta
Kapitel 9 - Finde deinen Weg
Kapitel 10 - Greif nach deinem Strohhalm!
Kapitel 11 - Ein Abschied für immer?
Kapitel 12 - Viel Glück
Kapitel 13 - Der erste Kampf
Kapitel 14 - Schicksal einer Bestie
Kapitel 15 - Drei Mal gestorben reicht
Kapitel 16 - Das erste Mal
Kapitel 17 - Geister der Vergangenheit
Kapitel 18 - Die Magie des Schwertes
Kapitel 19 - Das Ende eines langen Dienstes
Kapitel 20 - Singvogel
Kapitel 21 - Schwere Verluste
Kapitel 22 - Zweifelhafte Belohnung
Kapitel 23 - Ein Abschied für immer
Kapitel 24 - Fluchtpläne
Kapitel 25 - Der letzte Kampf
Kapitel 26 - Suche nach einem Unterschlupf
Kapitel 27 - Ein seltsamer Fund
Kapitel 28 - Siebenundneunzig Rosen
Kapitel 29 - Das Schloss im ewigen Schnee
Kapitel 30 - Unerwartete Begegnung
Kapitel 31 - Sei hier Gast
Kapitel 32 - Wer bist du?
Kapitel 33 - Der einsame Beobachter
Kapitel 34 - Nicht der richtige Moment
Kapitel 35 - Verdammt knapp
Kapitel 36 - Erinnerungsfetzen
Kapitel 37 - Wo seid Ihr?
Kapitel 38 - Ausweglos
Kapitel 39 - Wie man einen Bücherwurm glücklich macht
Kapitel 40 - Tanzt mit mir
Kapitel 41 - Spieglein, Spieglein …
Kapitel 42 - Bestieninstinkt
Kapitel 43 - Schau mir in die Augen
Kapitel 44 - Die letzte Rose
Kapitel 45 - Scheiß auf Pläne
Kapitel 46 - Die Liebe eines Biestes
Kapitel 47 - Eine haarige Angelegenheit
Kapitel 48 - Falscher Ort, falsche Zeit, falsche Welt
Kapitel 49 - Einmal Biest zum Mitfliegen, bitte!
Nachwort der Autorin
Glossar
C. M. SPOERRI
Davyan
Band 2: Schönes Biest
Fantasy
Davyan (Band 2): Schönes Biest
Wenn man nichts hat, kann man auch nichts verlieren. Lange traf das auf Davyans Leben zu … bis zu jenem Moment, in dem er entdeckte, dass Märchen nicht nur in Büchern existieren und selbst Aschenprinzen dazu auserkoren sind, der großen Liebe zu begegnen. Doch statt endlich einer schönen Zukunft entgegenzublicken, findet er sich an einem Ort wieder, der alles andere als märchenhaft ist. Ohne Erinnerung daran, dass es da eine Person gibt, die verzweifelt nach ihm sucht – und die ebenfalls ein Geheimnis mit sich trägt. Das Geheimnis eines Biestes, dessen Fluch Davyan nur brechen kann, wenn er sich rechtzeitig darauf besinnt, wem sein Herz gehört.
Die Autorin
C. M. Spoerri wurde 1983 geboren und lebt in der Schweiz. Sie studierte Psychologie und promovierte im Frühling 2013 in Klinischer Psychologie und Psychotherapie. Seit Ende 2014 hat sie sich jedoch voll und ganz dem Schreiben gewidmet. Ihre Fantasy-Jugendromane (›Alia-Saga‹, ›Greifen-Saga‹) wurden bereits tausendfach verkauft, zudem schreibt sie erfolgreich Liebesromane. Im Herbst 2015 gründete sie mit ihrem Mann den Sternensand Verlag.
www.sternensand-verlag.ch
1. Auflage, November 2023
© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2023
Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski
Lektorat / Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH | Wolma Krefting
Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH
Satz: Sternensand Verlag GmbH
ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-288-5
ISBN (epub): 9978-3-03896-289-2
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Märchen schreibt die Zeit,
immer wieder wahr …
- Disney -
Altra
Sombren
Tag 28, Monat 6, 1 EP 10'963 – 187 Jahre zuvor …
»Das kannst du nicht tun!«, hörte ich die verzweifelte Stimme meiner kleinen Schwester Jala.
Sie drang laut aus ihren Gemächern in den Gang und ich drückte den Hinterkopf gegen die Wand, an der ich lehnte.
Mutter hatte es ihr also gesagt. Und wie ich sie kannte, so unverblümt und direkt, dass es Jalas Herz in tausend Teile brach.
Seufzend stieß ich mich von der Mauer ab, die wie ein Wasserfall anmutete – eine reine Illusion. Wie so vieles hier im Magierzirkel. Die Liebe unserer Mutter bildete da leider keine Ausnahme.
Gerade als ich beschloss, Jalas Zimmer zu betreten, öffnete sich die Tür und ich sah mich eben jener Frau gegenüber, die trotz der Tatsache, dass sie mich geboren hatte, wie eine Fremde auf mich wirkte. Wir hatten nie viel gemein gehabt, doch heute erschienen mir die Unterschiede so frappant wie selten.
Ihre blauen Augen sahen in meine und sie strich sich die rote Mähne zurück, die sie wie auch die einnehmenden Gesichtszüge Jala vererbt hatte.
Ja, ich besaß sogar so viel Distanz zu meiner Mutter, dass ich sie als neutral wahrnehmen konnte. Als schöne Frau zwar. Aber leider auch ziemlich verbittert.
»Sie weiß es also?«, fragte ich sie und verschränkte die Arme vor der Brust.
Sie warf einen Blick zurück, dann nickte sie. »Sie wird dich jetzt brauchen, Sombren.«
»Was sie braucht, ist ihre Mutter«, entgegnete ich scharf. »Nicht ihren Bruder.«
»Es tut mir leid.« In ihren Augen lag ganz und gar kein Bedauern. »Ich habe über sechzig Lebensjahre für Venero, Jala und dich im Zirkel geopfert. Das ist mehr, als eine nichtmagische Menschenfrau mit ihrer Familie verbringen würde. Es ist an der Zeit, dass ich endlich mal wieder an mich denke.«
»Egoistischer könnte es keine Rabenmutter ausdrücken«, knurrte ich angefressen. »Warum gerade jetzt? Jala ist erst vor paar Tagen als Magierlehrling in den Zirkel aufgenommen worden – in deinen Wasserzirkel! Sie braucht dich als Stütze.«
»Jala kommt sehr gut alleine zurecht, das tun die anderen dreizehnjährigen Lehrlinge auch, die zusammen mit ihr aufgenommen wurden«, erwiderte Mutter, und ihre Miene wirkte ebenso kühl wie ihre Stimme.
»Eben sagtest du noch, dass sie mich braucht«, erinnerte ich sie und schnaubte leise. »Du widersprichst dir selbst!«
»Mag sein.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich werde nun alles Nötige für die Reise packen. Mach’s gut, Sombren. Wenn du das Bedürfnis haben solltest, mich wiederzusehen, weißt du, wo du mich findest.«
»In deinem verfluchten Talmerengebirge, das du mehr liebst als deine Familie!«, spie ich ihr entgegen.
»Das stimmt nicht, und das wüsstest du, wenn du dich nicht nur in deinen Büchern verkriechen würdest«, sagte sie verärgert.
»Tja, scheint, als hätten wir eindeutig unterschiedliche Interessen.« Ich sah sie mit schmalen Augen an. »Dann mach’s gut, ich gehe mal deine Tochter trösten.«
Damit schritt ich an ihr vorbei und betrat Jalas Gemächer, ohne mich noch einmal zu Mutter umzudrehen.
Sollten die Trolle sie doch holen! Ich würde ihr keine einzige Träne nachweinen.
Im Zimmer meiner Schwester erwartete mich – wie befürchtet – ein Häufchen Elend, das zusammengekauert auf dem Sofa saß, die Beine an den schlaksigen Körper gezogen, den Kopf auf den Knien, um welche sie die dünnen Arme geschlungen hatte.
»Jala«, murmelte ich und spürte, wie mein Herz bei ihrem Anblick zerriss.
Scheiße, verdammt.
Warum hatte Mutter nicht noch ein paar Jahre länger hier ausharren können? Sie wusste doch, wie emotional Jala war. Wie unausgeglichen.
Zaghaft setzte ich mich neben meine Schwester, die so viel jünger war als ich. Wären wir normale, nichtmagische Menschen, könnte ich ihr Großvater sein. Wahrscheinlich regten sich deswegen auch jetzt wieder diese Beschützerinstinkte in mir, die mich innerlich fast zerfraßen.
Ich hob behutsam die Hand und strich ihr über den Rücken. Bei der Berührung zuckte sie kaum merklich zusammen und schniefte laut auf.
»Ist es meinetwegen?«, fragte sie verzweifelt. »Verlässt uns Mutter, weil sie es nicht aushält, dass ich im selben Elementzirkel bin wie sie?«
»Nein«, erwiderte ich energisch. »Es ist ihretwegen.«
Ich hätte noch gern ein paar Beschimpfungen hinzugefügt, ließ es aber bleiben. Jala war schon untröstlich genug – wenn ihr Bruder sich nun lauthals über ihre egoistische Mutter aufregte, würde das nichts an der Situation verbessern.
»Komm her«, murmelte ich und legte nun beide Arme um ihren Körper.
Sie zögerte keine Sekunde, sondern ließ sich an meine Brust ziehen, verbarg ihr Gesicht in dem Hemd, das ich trug.
Eine Weile hielt ich sie so fest ich konnte, dann löste sie sich von mir und sah mich aus geröteten Augen an.
»Versprichst du mir etwas?«, flüsterte sie.
»Kommt drauf an, was.«
»Bleibst du bei mir? Immer?«
Ich schmunzelte. »Du meinst, hier, im Magierzirkel von Fayl?«
Jala nickte stumm.
»Solange der Zirkel regelmäßig die Bibliothek aktualisiert, habe ich keinen Grund, diesen Ort zu verlassen«, erklärte ich und mein Lächeln wurde etwas breiter.
Auch in ihrer Miene konnte ich Belustigung erkennen. »Dann hoffe ich, dass den Schriftstellern nie die Geschichten ausgehen.«
Sombren
Tag 21, Monat 6, 1 EP 11 150 – Gegenwart
Ich räkle mich in den weichen Laken, und der Kampf aus dem Schlaf gelingt mir nur langsam.
Das ist nicht mein Bett, in dem ich liege.
Das ist der erste Gedanke, der mich überkommt. Gähnend wälze ich mich auf den Rücken und erkenne durch die geschlossenen Lider die Sonne, die warm auf mich herunterscheint. Vögel zwitschern fröhlich ihre Lieder, Wasser plätschert in der Nähe, Insekten summen emsig herum und ein leichter Wind weht über mein Gesicht.
Es ist so friedlich, dass ich tief ein- und ausatme.
Sommer. Es riecht nach saftigem, warmem Sommer.
Nach und nach beginne ich mich zu erinnern, wo ich bin und wieso.
Ich liege in einem Himmelbett, unter einem Pavillon, direkt an einem kleinen See in den Weinbergen und denke an das, was in den vergangenen Tagen alles geschehen ist.
Der Maskenball im magischen Zirkel … die mysteriöse Prinzessin, die sich als Prinz entpuppte. Mein Aschenprinz, den ich hier am Teich wiederfand.
Davyan.
Die Nacht mit ihm hallt in meinem ganzen Leib nach.
Er ist so viel mehr für mich geworden als der schüchterne Mann, dem ich in der Bibliothek des Zirkels begegnet bin. Und er ist wunderschön, sein schwarz gelocktes Haar, die ungleichen Augen, eines wie die Sonne, das andere wie die Nacht. Seine fein geschwungenen Lippen, die kleine Nase … ich mag alles an ihm, auch seinen schlanken Körper, die definierten Muskeln.
Die Art, wie er mich ansieht, geht mir durch Mark und Bein. Diese Bewunderung, dieses Vertrauen und die Ehrfurcht, die in seinem Blick liegen … es sind dieselben Gefühle, die auch ich ihm gegenüber empfinde.
Aber es ist nicht nur das. Sein ganzes Wesen zieht mich in seinen Bann. Er ist still, in sich gekehrt, unsicher – und besitzt ein Herz aus Gold.
Ja, womöglich bin ich wirklich gerade dabei, mich nach vielen Jahrzehnten zum ersten Mal wieder zu verlieben. In einen Mann, der eine Tiefgründigkeit und Stärke an den Tag legt, die mir den Atem rauben. Und dessen Zerbrechlichkeit mich dazu bringt, alles von ihm fernhalten zu wollen, das ihm jemals auch nur annähernd wieder wehtun könnte.
Davyan hat in seinem Leben bereits so viel durchgemacht. So viele sinnlose Bestrafungen erfahren. So viele Schläge erdulden müssen.
Dass er zusammenzuckt, sobald man die Hand hebt, lässt mein Herz schwer werden.
Er hat verdammt noch mal so viel Besseres verdient …
Ich wollte das nicht – diese Nacht mit ihm hier am Teich verbringen. Wollte ihm Zeit geben.
Doch als er mich so traurig ansah … ich musste ihm einfach zeigen, wie wertvoll er ist und wie schön Gemeinsamkeit sein kann. Wie gut es sich anfühlt, wenn man sich jemandem bedingungslos anvertraut, sich ihm öffnet und hingibt.
Wie sehr ich es genossen habe, ihn zu verwöhnen.
Sein Stöhnen … sein Seufzen … noch immer überzieht mich eine Gänsehaut, wenn ich an seine erregten Laute denke.
Es hat in der Tat enorme Kraft gekostet, mich zurückzuhalten. Dennoch ist mir klar, dass ich ihn komplett überfordert hätte, wenn ich meiner Leidenschaft freien Lauf gelassen oder Dinge von ihm verlangt hätte, für die er noch nicht bereit war.
Verdammt, wie sehr ich ihn will …
Diese Begierde sollte mich beängstigen, wenn es sich nicht so richtig anfühlen würde.
Warum bloß schweigt bei ihm die Bestie in mir? Warum will sie ihn nicht ebenso zerfleischen wie jeden anderen? Warum überlässt sie mir bei ihm komplett die Kontrolle und hält sich zurück?
Ich habe keine Ahnung … und genieße es einfach. Es ist das erste Mal seit einer Ewigkeit, dass ich wieder Lust empfinden kann, ohne direkt die Angst im Nacken zu spüren.
Auch jetzt ist da dieses Ziehen in meiner Lendengegend, das die ganze Nacht nicht abebben wollte, da ich mich nicht um mich, sondern einzig um Davyan gekümmert habe.
Meine Männlichkeit ist hart und bettelt um Erlösung. Aber ich werde damit warten, bis der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Der richtige Zeitpunkt … mit Davyan. Nur mit ihm möchte ich diesen Höhepunkt erleben, nach dem ich mich gerade verzehre.
Ich öffne blinzelnd die Lider und taste gleichzeitig mit der Hand neben mich.
»Davyan?«, murmle ich verschlafen.
Als er keine Antwort gibt, erinnere ich mich daran, dass er schon vor dem ersten Sonnenstrahl zum Gutshaus aufgebrochen ist.
Scheiße! Das Weingut!
Mit einem Ruck setze ich mich auf.
Verdammt noch mal!
Wenn er das Blutbad sieht, das die Bestie – ich! – dort angerichtet hat, wird er aus allen Wolken fallen!
Kein Wunder, dass er noch nicht zurück ist, wahrscheinlich hilft er den Mägden, die ich verschont habe, die zerfetzten Leichen der Gutsleute und deren Knechte zu bestatten.
So rasch ich kann, rapple ich mich auf und schlinge mangels Kleidung kurzerhand das Laken um die Hüfte.
Als ich den Pavillon verlassen will, fällt mein Blick auf ein goldenes Schwert, das neben dem Bett am Boden liegt.
Stirnrunzelnd hebe ich es auf.
Davyan erwähnte, glaub ich, ein Schwert, ehe er aufbrach, oder?
Mist, im Halbschlaf sollte man nicht mit mir sprechen – ich vergesse direkt alles wieder, das war schon immer so.
Ich erkenne die Waffe in meiner Hand sofort. Es ist die Klinge, die Davyan sowohl als Prinzessin als auch als Prinz auf dem Zirkelball bei sich trug. Sie gehört ihm, ich muss sie ihm zurückgeben. Und dann werde ich ihm sagen, dass ich es nicht länger zulassen kann, ihn auf diesem Weingut zu wissen.
Zwar sind diese grausame Stiefmutter und ihre verblödeten Söhne Geschichte, aber er soll endlich das Leben führen dürfen, das ihm zusteht. Ich werde ihn in den Zirkel holen. Gewiss, er ist gildenlos, doch das kann man korrigieren.
Mein Atem stockt, als ich mich daran erinnere, was er mir gestern so beiläufig gezeigt hat.
Er beherrscht Magie!
Wie konnte er bloß all die Jahre unerkannt hier leben? Warum schickte ihn niemand in den Zirkel, damit er seine Kräfte beherrschen lernt? Es hätte sonst was geschehen können! Mit Magie ist nicht zu spaßen – er hätte sich selbst oder jemand anderen verletzen können.
Himmel noch mal, die Tragweite seines Schicksals wird mir erst nach und nach bewusst.
Höchste Zeit, dass sich das ändert!
Auch wenn es ihm widerstrebt, er wird an der Aufnahmezeremonie in drei Tagen zur Sommersonnenwende teilnehmen. Und womöglich sogar als Magierlehrling im Zirkel aufgenommen werden. Dann könnte ich ihn unter meine Fittiche nehmen und ihm alles beibringen, was er wissen muss.
Mit diesem Plan verlasse ich den Pavillon.
Mein Hengst Sternenschweif grast immer noch friedlich in der Nähe und ich gehe schnellen Schrittes zu ihm. Doch ich bin gerade bei ihm angekommen, da stellt er sich wiehernd auf die Hinterbeine, und ich kann das Weiße in seinen Augen erkennen, während er etwas hinter mir panisch fixiert.
Reflexartig bilde ich einen magischen Schutzschild und wirble herum, um einen etwaigen Angreifer abzuwehren. Es ist allerdings bloß der Pavillon, der sich soeben in Goldnebel auflöst. Kurz darauf ist alles am Teich wieder so, als hätte es das Himmelbett nie gegeben.
Rasch blicke ich an mir herunter und atme auf. Das Laken trage ich noch – womöglich hilft das Schwert dabei, die Illusion aufrechtzuerhalten.
Gut so, sonst müsste ich nackt reiten, da ich bei der Verwandlung in die Bestie meine Kleidung kurzerhand zerrissen habe. Nur noch das schwarze Amulett trage ich um meinen Hals. Ein Amulett, das Fluch und Segen gleichermaßen bedeutet.
Keine Ahnung, wie Davyan darauf reagieren wird, wenn ich ihm erzähle, was es damit auf sich hat. Falls ich überhaupt den Mut finde, ihm dieses dunkle Geheimnis jemals anzuvertrauen. Aber daran will ich jetzt gerade nicht denken.
»Alles in Ordnung«, murmle ich Sternenschweif beruhigend zu und ergreife seine Zügel.
Das Halfter trägt er noch, Sattel und Satteltaschen liegen hingegen am Ufer des Teiches. Ich habe sie ihm gestern Abend abgenommen, als ich den Proviant für Davyan und mich holte. Wenngleich ich selbst nicht viel aß, da die Bestie ein wahres Festmahl hinter sich hatte. Das durfte ich Davyan natürlich nicht zeigen, aber ich überließ ihm den Großteil des Essens und widmete mich vor allem dem mitgebrachten Wein.
Kurz durchsuche ich die Satteltaschen, finde jedoch nichts Essbares mehr darin.
Dabei war ich mir sicher, dass da noch ein Apfel hätte sein müssen. Womöglich hat Davyan ihn gegessen, ehe er aufbrach?
Kein Problem, ich bin ohnehin noch satt, und für die Rückreise zum Zirkel werde ich auf dem Weingut hoffentlich neuen Proviant auftreiben können.
Nachdem ich Sternenschweif gesattelt habe, schwinge ich mich auf seinen Rücken und reite los.
Der Weg zum Weingut ist zu Pferd glücklicherweise schnell hinter mich gebracht, auch da ich meinen Hengst zur Eile antreibe. Einerseits, weil ich nicht länger als nötig von Davyan getrennt sein will, andererseits, weil da auch das Unbehagen ist, ihn auf diesem Schlachtfeld der Bestie allein zu wissen.
Als ich durch den Torbogen reite, bin ich allerdings erstaunt darüber, dass nichts auf das Massaker von gestern hindeutet.
Waren Davyan und die Mägde so schnell mit dem Aufräumen?
Alles ist still, fast so, als sei niemand mehr hier. Doch das kann nicht sein – zumindest Davyan sollte sich irgendwo aufhalten.
Womöglich ist er bei seinem Vater?
Ziehvater …
Der Wassermagier Niclas erzählte mir, dass sie nicht vom selben Blut sind.
Ich hoffe, die Nymphe namens Silia konnte sich wirklich um den bettlägerigen Mann kümmern und ihn von seinem gebrochenen Herzen heilen, das ihn ereilte, als die beiden durch Davyans Stiefmutter Libella getrennt wurden.
Nun ja, seine Gemahlin zu betrügen, ist definitiv nicht die feine Art, dennoch kann ich ihn auf eine gewisse Weise sogar verstehen. Mit Libella zusammen zu sein, muss ihn einiges an Nerven gekostet haben. Nichtsdestotrotz hätte er sie verlassen können, statt sie zu hintergehen und sich heimlich mit der Nymphe am Teich zu treffen. Aber die Strafe, über zwanzig Jahre lang ans Bett gefesselt zu sein für dieses Vergehen, erscheint mir dann doch zu hart.
Wenn Davyans Vater nun wieder auf den Beinen ist, wird er sich um sein Weingut kümmern können – und Davyan damit endgültig frei sein. Obgleich der Gutsherr wahrscheinlich einen kräftigen Knecht wie ihn gut gebrauchen könnte, so werde ich ihn in den Zirkel mitnehmen.
Davyan und ich gehören zusammen – das hat er ebenfalls gespürt, das weiß ich. Daher wird er mitkommen, daran zweifle ich keine Sekunde.
Die Tür, die ich in meiner Bestiengestalt problemlos aus den Angeln gerissen habe, wurde noch nicht wieder instand gesetzt, daher kann ich unbehelligt das Gebäude betreten.
»Hallo?«, rufe ich mit lauter Stimme und umfasse das Schwert, das ich in der rechten Hand trage, fester. »Jemand da? Davyan? Silia?«
Keine Antwort.
Ich versteh das nicht … hier müsste überall Blut sein.
Die Bestie hat gemordet, wo immer ihr jemand über den Weg lief. Dennoch ist nicht mal ein kleiner Spritzer zu erkennen.
War das die Nymphe? Hat sie mit ihrer Zauberkraft die Spuren beseitigt? Anders kann ich mir nicht erklären, dass alles schon wieder sauber wirkt.
Stirnrunzelnd versuche ich mich daran zu erinnern, wo das Zimmer von Davyans Ziehvater liegt. Im Rausch habe ich nicht sonderlich darauf geachtet, wohin mich mein Weg führte. Ich weiß nur noch, dass ich Treppen nach oben gerannt bin. Daher folge ich auch jetzt den Stufen bis in den zweiten Stock.
Dort öffne ich das erstbeste Zimmer, aus dem mir allerdings ein starker Rosenduft entgegendringt.
Nein, das war wohl Libellas Gemach, hier wird ihr untreuer Gemahl nicht zu finden sein.
Nach und nach durchforsche ich die Räume, bis ich beim letzten ankomme.
Noch während ich die Tür öffne, weiß ich, dass ich richtig liege. Ich erkenne das Zimmer wieder – das breite Bett, die hellen Vorhänge.
Mein Blick gleitet durch den Raum und bleibt an der jungen Frau mit den goldfarbenen Haaren haften, die in einem weißen Kleid am Bettrand sitzt und die Hände des Mannes hält, der darin liegt.
Ich muss nicht fragen, es ist offensichtlich: Der Mann lebt nicht mehr.
Sombren
Als die Nymphe den Kopf hebt, glitzern in ihren silberfarbenen Augen Tränen, die ihr über die Wangen rinnen.
Zaghaft gehe ich auf sie zu und bleibe neben ihr stehen, lege eine Hand auf ihre Schulter und drücke sie sanft.
»Er … er wollte es so«, flüstert die Nymphe erstickt.
Ich betrachte den knochigen Mann, dessen Gesicht voller Frieden ist. Beinahe mutet es an, als würde sich ein letztes Lächeln auf seinen eingefallenen Zügen zeigen.
»Sitzt Ihr schon die ganze Nacht hier, Silia?«, frage ich leise und lehne das Schwert gegen die Wand.
Die Nymphe nickt. »Ich kann ihn nicht alleine lassen. Als ich hier ankam, wollte ich ihn heilen, aber er …«, sie schluchzt, »er bat mich, ihn zu erlösen. Man sagt, wenn man jemanden liebt, muss man ihn gehen lassen, oder?« Sie sieht mich aus geröteten Augen an. »Das habe ich getan. Ich nahm ihm die Schmerzen und dann … das Leben.« Die letzten beiden Worte haucht sie, ehe sie herzzerreißend weint.
Erschüttert sehe ich sie an, nicht sicher, was ich sagen oder tun soll. Beklommen setze ich mich neben sie auf die Matratze und kratze mich am Hinterkopf.
Die Entscheidung, die Silia fällen musste, war definitiv nicht einfach. Auch wenn der Mann sich den Tod herbeisehnte, so bin ich mir nicht sicher, ob ich es an ihrer Stelle gekonnt hätte.
»Habt Ihr das Blut …« Ich beiße mir auf die Unterlippe.
Silia, die den Toten betrachtet hat, hebt den Kopf und ihr Blick begegnet meinem. »Ja«, flüstert sie mit erstickter Stimme. »Da war … ein wahres Blutbad. Eine Bestie hat hier gewütet, ihr Gestank hat das gesamte Weingut verpestet. So konnte ich Elzgar nicht gehen lassen. Er sollte das Weingut so in Erinnerung behalten, wie es war. Sauber und wunderschön.«
Ich nicke stumm.
Weiß sie, dass ich diese Bestie war? Falls ja, lässt sie sich nichts anmerken und ich bin froh darüber.
»Die Toten?«, hake ich zögernd nach.
»Auch wenn sie es nicht verdient haben, so habe ich sie mit meiner Magie bestattet«, antwortet sie und ihre Stimme wird fester. »Allerdings weit entfernt von hier.« Ihre Aufmerksamkeit gleitet wieder zum toten Gutsherrn.
»Weiß Davyan, dass …«, beginne ich, vervollständige den Satz aber nicht.
Silia schüttelt den Kopf. »Er war noch nicht hier.«
Stirnrunzelnd sehe ich sie an. »Was heißt ›er war noch nicht hier‹? Er wollte herkommen. Schon vor Stunden.«
Nun lässt die Nymphe die Hände des Toten los und ihr Blick verfängt sich in meinem. »Das verstehe ich nicht – habt Ihr denn nicht die Nacht …?«
»Doch«, unterbreche ich sie und spüre, wie mein Herz schneller zu schlagen beginnt.
Mein Kopf rattert, und ein ganz und gar ungutes Gefühl erobert meinen Körper.
Scheiße, wo ist Davyan?
»Wir waren zusammen, aber er ist früher erwacht und wollte hierher kommen«, erkläre ich. »Verflucht noch mal. Wo ist er?!«
Meine Stimme ist lauter geworden, doch Silia hebt die Hand und schließt gleichzeitig die Augen. »Wartet«, flüstert sie. »Ich versuche ihn …« Eine Falte bildet sich zwischen ihren Brauen. »Hm … das ist eigenartig …«
»Was?!« Ich bin vom Bettrand aufgesprungen und tigere unruhig hin und her, habe alle Mühe, mich zusammenzureißen.
Wo ist Davyan, verdammt?! Warum ist er nicht hier?
Eine böse Vorahnung will sich meiner bemächtigen und ich schaffe es nicht, sie zu verdrängen.
Was, wenn ihm etwas zugestoßen ist? Was, wenn er in Gefahr schwebt?
Davyan gehört nicht zu der Sorte Männer, die einfach abhauen, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.
Er sagte doch, er wolle zum Weingut, oder? Oder habe ich mir das eingebildet? Gut möglich, dass ich ihn im Halbschlaf falsch verstanden habe.
Scheiße, verdammt!
»Ich spüre ihn nicht«, unterbricht Silia mein Gedankenkreisen.
»Was soll das heißen?!« Ich bleibe stehen und starre sie grimmig an.
Sie erwidert meinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. »Normalerweise kann ich jemanden aufspüren, wenn er sich in meinem Wirkungskreis aufhält.«
»Ich dachte, ihr seid durch den Kuss der wahren Liebe von diesem Ort befreit worden?«, knurre ich unwirsch.
Silia erhebt sich nun ebenfalls vom Bett und tritt vor mich hin. »Ja, dennoch benötigen meine Kräfte eine Weile, bis ich sie über die Grenzen des Ortes, an den ich jahrhundertelang gebunden war, hinausschicken kann.«
Ich streiche mir über die Stirn, bemüht darum, die Fassung zu wahren. »Und wie lang dauert diese verfluchte Weile?«, stoße ich angespannt hervor.
»Ein paar Jahrzehnte? Vielleicht Jahrhunderte?« Sie zuckt entschuldigend mit den Schultern.
Mir entfährt ein gereiztes Schnauben. »Verdammt noch …«
»Schhhht, hört auf zu fluchen, bitte.« Sie hebt die Hände, ohne mich jedoch zu berühren.
»Scheiße!«, belle ich und trete mangels einer Alternative mit dem Fuß gegen die Kommode neben dem Bett. »So eine verfluchte Kacke!«
»Das hilft uns jetzt auch nicht weiter«, bemerkt sie hinter mir in ruhigem Tonfall.
Ich ignoriere ihre Worte und wirble zu ihr herum. »Ihr seid doch ein magisches Wesen, oder?«, fahre ich sie an. »Dann tut irgendetwas! Ihr müsst Davyan finden!«
»Und Ihr solltet Euch erst mal beruhigen«, erwidert sie ungerührt. »Ich habe gerade die Liebe meines Lebens verloren, aber Eure Liebe ist noch irgendwo da draußen. Jetzt reißt Euch zusammen und hört auf, in der Gegend herumzubrüllen!«
Ich starre sie einen Moment sprachlos an, dann nicke ich und fahre mir mit der Hand über das Gesicht. »Ihr habt recht«, murmle ich. »Entschuldigt. Ich …« Ein dunkles Stöhnen entfährt mir. »Vielleicht klärt sich alles schneller, als ich denke. Womöglich ist Davyan nur … spazieren gegangen oder so.«
Wie dämlich ich mich anhöre, wird mir gerade selbst bewusst und ich beiße mir auf die Zunge.
Als ob Davyan nichts Besseres zu tun hätte, als spazieren zu gehen!
Grübelnd schließe ich die Augen und atme ein paarmal tief durch, ehe ich die Lider wieder öffne und Silia ansehe. »Ihr seid eine Nymphe. Könnt Ihr … keine Ahnung …«, ich wedle unbestimmt mit der Hand in der Luft herum, »nicht irgendwie die Tiere, Bäume und Gräser befragen, wo Davyan ist? Jemand muss ihn doch gesehen haben, er kann nicht vom Erdboden verschluckt worden sein.«
Silia legt den Kopf schief und ein trauriger Ausdruck erobert ihr schönes Antlitz. »Das könnte ich, das stimmt. Wenn ich noch an diesen Ort gebunden wäre.«
»Scheiße!«, entfährt es mir ein weiteres Mal und ich massiere mir mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. »So ein verfluchter, verdammter Drecksm…«
»Bitte«, unterbricht sie mich. »Hört auf mit diesem Rumbrüllen und Fluchen.«
»Entschuldigt.« Ich presse abermals die Lider zusammen und versuche mich zu sammeln.
»Ich werde mich in der näheren Umgebung mal umsehen«, sagt sie einfühlsam. »Bleibt hier, vielleicht kommt Davyan von selbst her und alles klärt sich.«
Ich nicke stumm, und als ich blinzle, erkenne ich gerade noch den goldfarbenen Nebel, in dem sie verschwindet. Nachdem dieser sich gelegt hat, stehe ich alleine im Zimmer – mit einem Toten.
Fröstelnd ziehe ich das Laken enger um meinen Leib und beschließe, mir erst mal Sachen zum Anziehen zu suchen. Auch etwas zu trinken könnte ich vertragen – Appetit verspüre ich allerdings immer noch keinen. Vielmehr herrscht in meinem Magen ein Kloß, der sich krampfend zur Kehle hocharbeitet und den ich kaum runterschlucken kann.
Gerade habe ich mich zur Tür gedreht, da erscheint dort eine Gestalt.
Für den Bruchteil einer Sekunde ereilt mich die Hoffnung, dass es Davyan ist, doch dann erkenne ich die Magd mit dem braunroten Haar, die mich bei meinem ersten Aufenthalt hier so freundlich empfangen hat. Es ist dieselbe, die sich meiner Bestie furchtlos in den Weg stellte, und nun, in meiner Menschengestalt, erinnere ich mich auch wieder an ihren Namen.
»Ana«, stoße ich verwundert aus.
Sie starrt mich mindestens so verblüfft an wie ich sie, dann gleitet ihr Blick hinter mich und ihre Augen weiten sich. Ohne ein Wort der Begrüßung zu verlieren, stürzt sie an mir vorbei und ist mit wenigen Schritten neben dem Bett.
»Götter!«, stößt sie hervor. »Ist er …«
»Tot, ja.« Ich nicke fahrig.
Tränen schießen unvermittelt in ihre Augen und sie sinkt auf den Bettrand, als hätte alle Kraft sie verlassen. Schluchzend ergreift sie, wie vorhin Silia, die Hände des Toten und streicht ihm dann liebevoll über die ausgemergelte Wange.
Unschlüssig bleibe ich bei der Tür stehen und beobachte, wie sie stumm um ihren ehemaligen Herrn weint.
Ein Teil von mir bedauert, dass ich Elzgar nie kennengelernt habe. So, wie Ana und Davyan sich um ihn gekümmert haben, muss er ein guter Mann gewesen sein.
Nach einer Weile beruhigt sich die Magd und hebt den Blick, sieht mich an. »Wie ist er …«
»Keine Ahnung, als ich hier ankam, war er bereits tot«, murmle ich, da es mir widerstrebt, ihr von Silia zu erzählen. Stattdessen stelle ich ihr eine Frage, die mir unter den Nägeln brennt: »Wisst Ihr, wo Davyan ist?«
»Davyan?« Sie erhebt sich und streicht ihre Schürze glatt, die ziemlich verschmutzt ist, wie ich erst jetzt feststelle.
Wahrscheinlich, weil sie mit den anderen Mägden vor mir fliehen musste.
»Er …« Abermals bilden sich Tränen in ihren Augen. »Die Gutsherrin hat ihn …« Sie schluchzt und presst sich die Hand vor den Mund, braucht mehrere Sekunden, bis sie wieder sprechen kann. »Er war im Käfig auf dem Innenhof. Doch dann kam eine Bestie und ich befürchte …«
»Sie hat ihn verschont«, unterbreche ich sie.
»Verschont?« Sie blinzelt einige Male, als könnte sie nicht begreifen, was ich ihr gerade gesagt habe.
»Ja, ich …« Scheiße, ich muss aufpassen, sonst verrate ich mich noch. »Es geht ihm wieder gut. Ging. Ich … habe ihn heute Morgen getroffen, er wollte hierherkommen. Doch er ist nicht da.«
Stirnrunzelnd betrachtet sie mich. »Ich bin auch erst gerade zurückgekehrt«, meint sie dann. »Die Mägde sind allesamt vollkommen verängstigt, ich habe sie zu einem benachbarten Weingut gebracht.«
Demnach ist sie mir keine Hilfe, da sie nicht da war, als Davyan hier angekommen sein muss.
Verdammt noch eins!
»Ich muss ihn finden«, knurre ich und greife mir fahrig an den Kopf. Dabei stelle ich fest, dass die längeren Haarsträhnen, die ich in der Mitte wachsen lasse, offen über meine Schultern fallen. Der Pferdeschwanz, zu dem ich sie normalerweise zusammennehme, hat sich während der leidenschaftlichen Nacht mit Davyan gelöst, und das Band liegt wahrscheinlich noch irgendwo im Gras am Teich.
»Wenn er sagte, dass er hierher käme, wird er es auch tun«, meint Ana leise. »Davyan hält immer sein Wort.«
»Hm.«
Das bezweifle ich auch nicht. Eher, dass er es nicht halten kann, weil etwas oder jemand ihn daran hindert.
Das ungute Gefühl in meinem Magen will einfach nicht abschwellen.
»Was wird jetzt aus dem Schwertlied-Weingut?«, fragt sie mit zittriger Stimme, als ich weiter in Grübeleien versinke.
»Ich werde dafür sorgen, dass es einen anständigen Winzer oder eine Winzerin erhält, die es fortführen«, erkläre ich beiläufig.
»Dann … dürfen wir bleiben?«
Als ich sie wieder anschaue, sind ihre dunklen Augen kugelrund.
»Ihr und die andere Mägde? Selbstverständlich.« Ich zucke mit den Schultern.
Im Moment habe ich überhaupt keinen Nerv, mich auch noch mit der Zukunft dieses Weingutes auseinanderzusetzen. Das geht mir sogar gehörig am Arsch vorbei, solange ich nicht weiß, wo Davyan ist.
Nichtsdestotrotz werde ich mich mit dieser Frage beschäftigen müssen. Ein Weingut ohne Gutsherr oder Gutsherrin ist dem Untergang geweiht, was einen Verlust für die Weinwelt bedeuten würde. Und wenn ich mich nicht darum kümmere, wird es niemand tun.
Sie sieht mich dankbar an, dann gleitet ihr Blick zu meiner Hüfte und ihre Wangen erröten. »Ich werde Euch Kleidung besorgen«, meint sie.
»Danke.«
»Nicht dafür.« Damit verlässt sie das Zimmer und ich betrachte noch einmal den Leichnam.
Wenn Davyan vom Tod seines Ziehvaters erfährt, wird ihn das hart treffen …
Aber dazu muss ich ihn überhaupt erst mal finden, verflucht!
Da ich es nicht länger in diesem Raum aushalte, schnappe ich mir das goldene Schwert, das an der Wand gelehnt hatte, und gehe die Treppen runter ins Erdgeschoss.
Auf halbem Weg treffe ich auf Ana, die gerade aus einem der Zimmer kommt. Noch hat sie keine Kleidung auftreiben können, wahrscheinlich wird es auch eine Weile dauern, da ich größer und breitschultriger bin als die meisten Männer, die ich auf diesem Weingut gesehen habe.
»Bin in der Bibliothek«, murmle ich, was sie mit einem Nicken quittiert, ehe sie ihre Suche fortführt.
Erst als ich von den vielen Büchern umgeben bin, fühle ich mich etwas besser. Aber nur ein wenig. Die Sorge um Davyans Verschwinden nagt an mir und lässt mich nicht zur Ruhe kommen.
Behutsam lege ich das goldene Schwert auf den kleinen Tisch vor dem Sofa und lasse mich in einen der Sessel fallen.
»Scheiße, Davyan«, flüstere ich in den leeren Raum. »Wo steckst du nur?«
Sombren
Ich hocke nun schon einen ganzen verfluchten Tag auf diesem Weingut, aber keine Spur von Davyan! Langsam bin ich das Warten und Rumsitzen leid, dennoch erscheint es mir besser, als ihn auf eigene Faust zu suchen und zu riskieren, dass ich ihn verpasse, weil er von allein zurückkehrt. Nein, für die Suche ist Silia zuständig, die bisher auch nicht wiedergekommen ist.
Verdammt noch mal!
So viel wie in den vergangenen Stunden habe ich noch nie geflucht. Denn mit jeder Stunde, die vergeht, wird meine Befürchtung größer, dass Davyan etwas zugestoßen sein könnte. Es passt einfach nicht zu ihm, dass er sang- und klanglos abhaut. Nicht nach dem, was wir zusammen erlebt haben.
Dass das echt und richtig war, muss ich nicht hinterfragen, ich weiß es. Und er ebenso.
Ana hat mittlerweile die anderen Mägde hergeholt, und sie kümmern sich um den Gutshof und die Tiere.
Sie hat mir Kleidung besorgt, die zwar nicht wirklich sitzt, dennoch bin ich ihr dankbar, dass ich nicht länger mit dem Laken um die Hüfte rumlaufen muss.
Aus Mangel an Alternativen helfe ich den Mägden bei der Versorgung der Tiere im Stall, wo ich auch Sternenschweif inzwischen hingebracht habe.
Danach treffen wir Vorkehrungen für das Begräbnis des Gutsherrn.
Bei einer alten Linde in der Nähe des Hauses findet er seine letzte Ruhestätte. Ich bin mir sicher, dass Davyan bei der kleinen Andacht, die wir für Elzgar abhalten, hätte dabei sein wollen, aber ich werde mit ihm zusammen nochmals herkommen – sollte ich ihn denn finden.
Eine Nacht lang bleibe ich noch auf dem Weingut, danach muss ich zurück zum Zirkel. Übermorgen findet die Aufnahmezeremonie statt und dort muss ich dabei sein, da ich den Feuerzirkel vertrete.
Die Nacht verbringe ich auf dem Sofa in der Bibliothek und wälze mich unruhig hin und her. Meine Gedanken kreisen um Davyan. Je länger er wegbleibt, desto stärker habe ich die Gewissheit, dass etwas nicht stimmt.
Inzwischen bin ich nicht mehr ganz so sicher, ob er vielleicht nicht doch aus freien Stücken verschwunden ist.
Ob er Angst wegen der Aufnahmezeremonie bekam? Mir ist aufgefallen, dass er sich unwohl fühlte, als ich diese erwähnte. Aber wenn das ein Grund für ihn gewesen wäre, zu fliehen, hätte er mir seine Bedenken doch mitgeteilt, oder?
Früh am nächsten Morgen breche ich nach einem kurzen Frühstück auf. Davyans goldenes Schwert nehme ich mit, da auch Silia nicht wieder aufgetaucht ist und es mir widerstrebt, es hier auf dem Gutshof zu lassen.
»Ich werde so rasch wie möglich wiederkommen«, versichere ich Ana, als ich mich von ihr verabschiede. »Zudem werde ich mich wie versprochen nach einem neuen Winzer umhören – und nach Knechten. Ihr könnt die ganze Arbeit hier nicht alleine stemmen.«
»Ich danke Euch.« Sie sieht mich erleichtert an. »Sollte Davyan auftauchen, werde ich umgehend einen Boten in den Zirkel schicken.«
Sie hat bisher nicht ein einziges Mal gefragt, warum es mir so wichtig ist, Davyan zu finden und dafür schätze ich sie. Ich hätte jetzt keinen Nerv, ihr alles zu erzählen – zumal ich sie kaum kenne.
Ich bin vielleicht eine halbe Stunde geritten, da taucht mit einem Mal die Nymphe am Wegrand auf. Sternenschweif erschrickt sich und macht einen Satz zur Seite, was mich schon wieder leise fluchen lässt. Gerade so kann ich mich im Sattel halten.
»Und?«, frage ich sie, nachdem sich mein Hengst ob ihres unerwarteten Auftauchens wieder beruhigt hat.
Silia schüttelt bedauernd den Kopf. »Ich war den ganzen Tag und die ganze Nacht unterwegs, habe mich umgehört, aber Davyan scheint wirklich wie vom Erdboden verschluckt zu sein.«
»Sind denn irgendwelche Leute vorbeigekommen?«, frage ich stirnrunzelnd.
»Natürlich, es gibt viele Händler und andere Reisende in der Gegend«, bestätigt sie. »Wer jedoch genau wann hier durchkam, ist schwer herauszufinden. Tiere und Pflanzen rechnen Zeit anders als andere Lebewesen.«
»Verfl…« Ich beiße mir auf die Unterlippe und atme einmal tief durch. »Ich danke Euch«, murmle ich mit gefassterer Stimme.
»Ihr kehrt nun zurück zum Zirkel?«, fragt sie.
Ich nicke fahrig. »Habe dort Verpflichtungen. Aber ich werde sobald wie möglich zurückkommen.«
»Ich halte Augen und Ohren für Euch offen«, meint Silia mit einem leichten Lächeln.
»Ihr bleibt hier?« Ich sehe sie verblüfft an.
»Nun, es hat mir hier schon immer sehr gut gefallen«, antwortet sie und breitet die Arme aus. »Auch wenn ich jetzt, da ich durch Euch befreit wurde, überallhin könnte, so wäre es nicht richtig, meine Retter im Stich zu lassen. Daher: Ja, ich bleibe noch eine Weile hier und hoffe, wir finden Davyan.«
»Danke«, murmle ich ehrlich erleichtert.
»Gern geschehen.« Ihr Lächeln wird wärmer.
»Hier.« Ich greife nach dem Schwert, das ich mangels einer Schwertscheide mit einem Strick am Sattel befestigt habe. »Das gehört Euch.«
»Es gehört Davyan«, erklärt sie. »Gebt es ihm, wenn Ihr ihn wiederfindet.«
Ich zögere kurz, dann nicke ich. »Das werde ich.«
»Passt gut darauf auf«, fährt sie fort. »Solange Ihr es besitzt, kann ich Euch überall kontaktieren, wo Ihr Euch aufhaltet.«
»In Ordnung.«
»Bis bald«, meint sie und hebt die Hand zum Abschied.
»Bis bald«, erwidere ich, ehe ich Sternenschweif zum Galopp antreibe.
Kaum zurück in meinen Gemächern des Magierzirkels, wirbelt auch schon Jala in mein Schlafzimmer. Eben habe ich mich gewaschen und eine frische Hose angezogen, da stößt meine Schwester die Tür auf, die ich besser hätte abschließen sollen.
Jala ist in ein leichtes langes Kleid aus hellblauem Stoff gewandet, das wie Wasser um den schlanken Körper fließt. Passend zu dem Element, das sie in sich trägt. Ihre rote Mähne fällt ihr offen bis fast zur Taille.
»Herein«, brumme ich und schenke ihr einen Blick, der ihr zeigen soll, dass ich es hasse, wenn sie nicht anklopft.
»Wo warst du?!«, fragt sie mich aufgebracht. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht!«
»Ach ja?« Ich hebe eine Braue, ehe ich nach dem Hemd greife, das ich mir überwerfe.
»Ja!« Sie sieht mich mit ihren blauen Iriden vorwurfsvoll an. »Lucja ist heute abgereist und du hättest bei der Verabschiedung dabei sein müssen.«
»Mhm, daher weht der Wind.« Ich grunze. »Ich sollte Händchen halten, weil du deiner Geliebten nicht allein gegenüberstehen wolltest.«
»Sie ist nicht meine Geliebte«, murrt sie.
»Stimmt, das ist ja nun wieder Niclas.«
»Nic hat …«
»Sich ausführlich bei dir entschuldigt, hab ich gesehen.« Ich verenge die Augen. »Danke für das Bild übrigens, das werde ich nie wieder los.«
»Du bist unmöglich!« Sie wedelt mit den Händen durch die Luft.
Ich verschränke die Arme vor der Brust und schenke ihr einen desinteressierten Blick. »Wenn ich so unmöglich bin, was suchst du dann hier?«
»Glaub es mir oder nicht: Ich wollte sehen, ob es dir gut geht.«
»Warum?«
Sie plustert die Wangen auf und wischt sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Weil deine Prinzessin nicht auf dem Ball war und du einfach sang- und klanglos davongeritten bist, ohne jemandem zu sagen, wohin!«
»Weil es niemanden etwas angeht«, entgegne ich zugeknöpft.
»Ach?«
»Ja.«
»Dann hast du sie also doch gefunden?«
Ich lege die Stirn in Falten. »Die Prinzessin?«
»Ja, wen denn sonst?«
»Nein.«
»Nein?«
»Nein.« Ich zucke mit den Schultern.
»Aber warum bist du dann davonger…«
»Hör auf, mich ausquetschen zu wollen«, grolle ich. »Das wird nichts bringen. Ich muss jetzt zu Vater.«
»Ich komme mit.«
»Nein.«
»Doch.«
»Jala!« Ich sehe sie warnend an. »Ich will allein mit Vater sprechen.«
»Warum?«
»Weil es dich nichts angeht!«
»Also hat es doch mit der Prinzessin zu tun?«
Ich knurre in mich hinein. Jala ist manchmal schlimmer als ein Bluthund, der sich in seine Beute verbissen hat.
»Also ja«, schließt sie aus meinem Schweigen. »Wer ist sie? Kenne ich sie? Ist sie …?«
»Hör auf damit«, unterbreche ich sie unwirsch. »Ich bin jetzt wirklich nicht in der Stimmung, über sie zu sprechen!«
»Aber mit Vater sprichst du!«
»Ja, weil es nicht um die Prinzessin, sondern um ein Weingut geht, das einen neuen Winzer und Knechte braucht.«
Scheiße, jetzt hat sie mir die Information doch noch entlockt!
»Etwa dieses Schwertlied-Weingut?« Ihre Augen werden groß. »Was ist geschehen?«
Ich schaffe es nicht länger, sie anzusehen. Jala kennt mein Geheimnis, denn sie … sie war dabei, als ich das erste Mal die Bestie freiließ.
»Sombren«, sagt sie und ihre Stimme ist mit einem Mal von blanker Furcht getränkt. »Was. Ist. Geschehen?«
Verdammt. Sie wird es ohnehin erfahren. Gerüchte verbreiten sich rasend schnell und wenn sie hört, dass eine Bestie auf dem Weingut gewütet hat, wird sie eins und eins zusammenzählen.
Daher fahre ich mir mit beiden Händen über das Gesicht und lehne mich mit dem Rücken gegen den Schrank, vor dem ich stehe.
»Hast du …«, beginnt sie, schluckt dann aber trocken.
Mein Nicken ist kaum als solches wahrzunehmen, dennoch registriert sie es. Das kann ich an ihrer erschütterten Miene erkennen, als ich sie wieder anschaue.
»Oh.« Das ist alles, was sie sagt, während ihre Augen mich ruhelos betrachten.
Ein Kloß bildet sich in meiner Kehle und ich wende den Blick ab, da ich die Bestürzung, mit der sie mich mustert, nicht länger aushalte.
»Willst du darüber …«
»Nein!«, falle ich ihr ins Wort.
»In Ordnung.« Sie nickt langsam, wie ich aus dem Augenwinkel bemerke. Dann macht sie einen Schritt auf mich zu und schließlich noch einen. Knapp vor mir bleibt sie stehen. »Sombren«, sagt sie und ihr Tonfall ist nun samtweich. »Sieh mich an.«
Es dauert einen Moment, bis ich die Kraft gesammelt habe, ihrer Aufforderung nachzukommen.
Die Wärme, die ich in ihrem Blick lese, habe ich nicht verdient. Mein Puls beschleunigt sich umgehend, als wollte er sich ebenfalls dagegen wehren.
Ich bin ein Monster. Eine mordende Kreatur. Ein Untier. Ein Biest.
Zaghaft hebt sie die Hand und legt sie mir an die Wange. Die Berührung ist so sanft, dass ich darunter erbebe.
»Ich liebe dich«, flüstert sie.
»Sag das nicht«, erwidere ich mit rauer Stimme.
»Ich liebe dich«, wiederholt sie etwas lauter und legt nun die zweite Hand gleichermaßen an mein Gesicht. »Auch wenn ich es dir nicht oft sage und es dich womöglich zu wenig spüren lasse. Aber … du bist mein Bruder, Sombren. Und das wirst du immer sein.«
Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und drückt mir einen Kuss auf die Wange, knapp über meinem Mundwinkel.
Ich schließe reflexartig die Augen, da ich das Gefühl habe, durch diese Geste alle Kraft zu verlieren, die mich in einer aufrechten Position hält.
Ehe ich es verhindern kann, habe ich meine Arme um sie gelegt und ziehe sie eng an mich. Ihre Hände gleiten seitlich über meinen Hals und verweilen an meinen Schultern, den Kopf bettet sie an meine Brust. Ich atme ihren Duft nach Orangen ein und registriere, wie mein Herzschlag sich beruhigt, während ich die Nase in ihrer roten Mähne vergrabe.
Für genau elf Atemzüge bleiben wir so stehen. Ich zähle jeden einzelnen mit, fülle meine Lungen langsam und bewusst mit Luft.
Dann hebt sie den Kopf und sieht mich von unten herauf an. »Lebt sie noch?« Ihre Stimme ist kaum ein Hauch, doch ich erzittere darunter, als hätte sie mich geschlagen.
Ich weiß, wen sie meint. Was sie meint. Und dass die Option besteht, ich könnte die Prinzessin, die ich so verzweifelt gesucht habe, in meiner Bestienform getötet haben, und Jala genau darauf anspielt, lässt mich frösteln.
Galle steigt beißend meine Kehle hoch. Bilder schieben sich vor mein inneres Auge.
Bilder eines Blutbades, das ich in den schlimmsten Albträumen immer wieder durchlebe. Mir wird schwindlig und kotzelend.
Dennoch schaffe ich es irgendwie, zu nicken.
Sie imitiert die Geste und die Wärme kehrt in ihren Blick zurück. »Du hast sie gefunden.«
Ich sehe sie nachdenklich an und kämpfe nur für den Bruchteil einer Sekunde dagegen an, das mit Davyan zu verheimlichen.
Nein. Ich kann mich Jala anvertrauen.
Wenn jemand mich versteht, dann sie.
»Ihn«, raune ich heiser und räuspere mich. »Es ist ein Mann.«
Ihre Brauen hüpfen in die Höhe. »Deine Prinzessin ist …«
»Ein Mann, richtig. Er heißt Davyan.«
»Oh.« Ich kann förmlich sehen, wie es in ihrem Kopf rattert. »Dav…« Ihre Augen werden groß. »Warte mal. Davyan … so hieß doch der Junge, den ich …«
»Den du am Teich geküsst hast, genau.« Ich verenge die Lider und sie lässt mich unvermittelt los, tritt einen Schritt von mir zurück.
»Oh!«, stößt sie aus. »Ich … äh …« Ihre Stirn legt sich in Falten, während sie zu begreifen versucht, was ich ihr gerade gesagt habe. »Derselbe Mann, der dabei war, als du mich mit Nic vorgestern …«
»Genau der«, bestätige ich erneut.
»Oh …« Sie greift sich in die Haare und sieht mich konsterniert an. »Götter.« Für ein paar Sekunden scheint sie nicht genau zu wissen, was sie sagen soll, dann atmet sie tief durch. »Und … wo ist er jetzt?«
»Keine Ahnung.« Ich knöpfe das Hemd zu, da ich bisher noch nicht dazu gekommen bin.
»Willst du nicht wissen …«
»Doch, verdammt! Natürlich!«, unterbreche ich sie missmutig. »Aber er ist wie vom Erdboden verschluckt!«
»Und du bist sicher, dass du ihn nicht …«
»Ich habe ihn nicht getötet«, fahre ich sie an.
»In Ordnung.« Sie nickt langsam. »Aber dann muss er doch irgendwie aufzuspüren sein?«
»Müsste er. Ist er aber nicht!«
»Mist.«
»Mhm.«
Davyan
Einen Tag zuvor …
Irgendwann gewöhnt man sich an alles. Das habe ich in meinem Leben schon oft erfahren. So auch jetzt, da ich in einem Käfig mit anderen Menschen zusammengepfercht sitze und kaum etwas zu essen oder zu trinken bekomme.
Wenigstens wurde mir beim nächsten Halt der Knebel entfernt und ich bekam einen Fetzen Stoff, mit dem ich meine Blöße bedecken kann, da ich nichts am Leib trage. Auch die Fesseln wurden mir abgenommen.
Nichtsdestotrotz bin und bleibe ich ein Gefangener.
War anfangs noch nicht an Schlaf zu denken, so überwältigt mich die Müdigkeit mit der Zeit dennoch, sodass ich trotz des heftigen Ruckelns des Wagens vor mich hin döse.
Wir sind unterwegs nach Süden, das erkenne ich am Stand der Sonne. Wohin genau, will uns niemand verraten.
Der Trupp besteht aus vierzehn Männern, die allesamt offenbar im Kämpfen erprobt sind. Auch ihr Anführer, der bärtige Händler namens Rashan, ist ein erfahrener Schwertkämpfer – zumindest prahlt er liebend gerne damit vor seinen Leuten, wie mir in den vergangenen Stunden auffiel.
Sklaverei gibt es in Altra zwar offiziell nicht, dennoch ist Rashan ganz eindeutig ein Sklavenhändler. Er vertuscht sein Geschäft jedoch, indem er vorbeikommenden Soldaten-Patrouillen großspurig erklärt, es handle sich bei den Gefangenen im Käfig durchweg um Verbrecher, die ins Exil gebracht werden sollen.
Keiner von uns widerspricht ihm. Wer würde auch schon einem zerlumpten Menschen glauben? In meinem Fall jemandem, der gildenlos ist und nicht mehr als einen Stofffetzen um den Leib gewickelt hat?
So viele Jahre habe ich mir gewünscht, vom Weingut wegzukommen. Doch nie hätte ich gedacht, dies als Sklave in einem schmutzigen Karren zu tun.
Warum hat meine Stiefmutter Libella mir das angetan? Was habe ich angestellt, dass ich in die Hände dieser Leute geraten bin?
So sehr ich mir den Kopf zerbreche, ich kann mich nicht erinnern, etwas Falsches gemacht zu haben. Da war dieser Fuchsüberfall vor einigen Tagen, ja. Aber das war nicht meine Schuld. Hat Libella es dennoch so hingebogen, damit sie mich endgültig loswerden konnte?
Wie ich es auch drehe und wende, ich habe keine Ahnung, was danach geschehen ist, geschweige denn, wie es dazu kam, dass ich mit einem Mal nackt und nur mit Asche bedeckt auf der Straße zum Weingut stand. Wollte ich fliehen und habe dabei mein Gedächtnis verloren? Oder gab es einen anderen Grund, warum ich mich dort aufhielt? Was meinten die Händler damit, als sie von einem Phoenix sprachen?
Was mir sofort aufgefallen ist, nachdem meine Fesseln weg waren, ist die Tatsache, dass ich keinerlei Schwielen mehr an meinen Händen habe. Auch andere Narben, die ich von der Arbeit oder den Bestrafungen an meinem Leib trug, sind verschwunden. Als hätte jemand meine Haut rundum erneuert. Hat das mit diesem Phoenix-Ding zu tun? Auch darauf finde ich leider keine Antwort.
Ein paar Mal habe ich versucht, mit den anderen Gefangenen zu reden, es irgendwann jedoch aufgegeben. Ihr Wille ist längst gebrochen und auf meine Fragen, wohin wir gebracht werden, antworteten alle bloß mit einem Schulterzucken.
Entweder ist es ihnen gleichgültig oder sie wissen es wirklich nicht.
Fünf Männer und zwei Frauen teilen dasselbe Schicksal wie ich – wie auch immer dieses aussehen wird.
Ab und an horche ich in mich hinein, aber meine magischen Kräfte sind nicht mehr da. Womöglich liegt es an diesem Pulver, das mir Rashan ins Gesicht schüttete, als sie mich gefangen nahmen? Gibt es Substanzen, die Magie erlöschen lassen? Und falls ja, werde ich meine Kräfte wiederbekommen oder sind sie für immer weg?
Angst breitet sich in mir aus und ich versuche vergebens, gegen den bleischweren Klotz anzukämpfen, der sich in meinem Magen bildet.
Was geschieht jetzt mit Ana und Vater? Nun sind sie Libella auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Werde ich sie jemals wiedersehen?
Die Weinberge ziehen an uns vorbei und irgendwann habe ich keine Ahnung mehr, wo wir uns befinden. Zwar habe ich in der Bibliothek auf dem Weingut stundenlang die Karten Altras studiert, doch ohne Anhaltspunkte ist es schwer, herauszubekommen, wo wir sind.
Gegen Abend halten wir bei einem kleinen Wald an, der in der Nähe eines Hügels liegt.
Uns wird irgendein eklig riechender Brei in Schalen gereicht, aber wir machen uns allesamt hungrig darüber her. Dazu gibt es abgestandenes Wasser, das immerhin den größten Durst löscht.
Die Nacht verbringe ich kaum mit Schlafen, da ich mich nicht müde fühle. Vielmehr zerbreche ich mir den Kopf, was nun aus mir werden soll.
Am nächsten Tag zieht der Trupp weiter und so langsam verändert sich die Landschaft. Die Weinberge werden seltener, dafür gibt es immer mehr Felder und Waldstücke.
Schließlich bemerke ich, wie wir die Richtung ändern und uns nach Südwesten wenden. Sollten wir diesen Kurs beibehalten, werden wir zum Fluss Rott gelangen, der in den Zwillingssee und von dort überallhin nach Altra führt.
Dachte ich noch, ich bleibe vielleicht in Fayl, so ist damit meinem Schicksal, wohin es mich auch verschlagen mag, keine Grenze mehr gesetzt.
Die Angst nagt an mir, doch ich versuche, mich nicht verrückt zu machen. Viel schlimmer als auf dem Weingut, wo mich täglich Prügel und Beschimpfungen erwartet haben, kann es nicht werden.
Noch ehe allerdings der Fluss überhaupt in Sichtweite gelangt, biegen wir nochmals Richtung Norden ab und Rashan bringt uns in eine kleine Schlucht, in die nur ein einziger Weg hineinführt. Die felsigen Wände ragen hoch in den Himmel und verschlucken jegliches Licht, je länger wir uns darin aufhalten. Es ist kühl und riecht nach Moder, als würden wir uns einem Sumpf nähern.
Ich recke den Hals, um mehr zu sehen, aber mein Sichtfeld ist durch die anderen Menschen und die Gitterstäbe stark eingeschränkt. Dennoch gewahre ich mehrere Fackeln, die den dunklen Pfad beleuchten.
Hier scheinen öfter Reisende vorbeizukommen.
Oder aber jemand sorgt dafür, dass die Fackeln brennen. Keiner der Händler trägt jedoch Magie in sich, wie ich in den vergangenen Stunden an ihren goldenen Ringen erkennen konnte. Daher muss es sich um einen viel befahrenen Weg handeln – oder um den Eingang eines Ortes.
Der Pfad wird immer schmaler, sodass die Kämpfer am Ende nicht mehr neben, sondern vor und hinter dem Wagen reiten müssen.
Wohin bringt Rashan uns?
Als der Karren anhält, vernehme ich Stimmen aus den vorderen Reihen. Doch so sehr ich mich auch bemühe, ich kann nicht sehen, was sich dort abspielt. Es scheint, als würde Rashan mit jemandem sprechen, danach setzt sich unser Käfig wieder in Bewegung.
Die Umgebung ist nun so finster, dass man ohne Fackeln kaum mehr was erkennen könnte. Der Weg wird wieder breiter und als wir an zwei grobschlächtigen Männern vorbeigefahren werden, die in Rüstungen stecken, stockt mir der Atem. Sie wirken wie Soldaten, die einen Eingang bewachen sollen.
Die Männer würdigen den Karren keines Blickes, sondern halten die Augen auf die Reiter gerichtet, die ihnen knapp zunicken.
Stimmen dringen an mein Ohr und der Geruch von Rauch erfüllt meine Nase.
Ein paar Sekunden später bemerke ich, dass wir in eine riesige Höhle gelangen. Der unterirdische Raum wimmelt von Personen, während das Licht von Fackeln die Szene erhellt.
Es mutet an, als würden wir einen Marktplatz befahren, nur, dass dieser sich in einem Berg befindet.
Die Menschen, die ich hier entdecke, haben ebenso wenig Aufmerksamkeit für den Karren übrig wie die Wachen. Anscheinend ist es nicht unüblich, dass Gefangene hergebracht werden.
Die Frauen und Männer tragen einfache Kleidung – Rüstungen oder gar Roben vermag ich nur vereinzelt auszumachen. Aber sie alle sind bewaffnet und kein einziges Kind hält sich hier auf. Es scheint sich also nicht um eine Stadt zu handeln, sondern um einen Ort, an dem sich Kämpfer sammeln.
Der Karren kommt am Rande des Platzes zum Stehen.
»Willkommen in Karakals Reich!«, vernehme ich Rashans Stimme. Er ist neben unseren Käfig geritten und fährt sich über den Bart, während er seine verfaulten Zähne in einem Grinsen entblößt.
Ich höre ein paar der anderen Gefangenen aufkeuchen und sehe sie stirnrunzelnd an.
Sie scheinen mit dem Namen etwas anfangen zu können, ich hingegen nicht. Noch nie habe ich davon gehört oder gar darüber gelesen.
»Wo sind wir?«, verlange ich zu wissen.
Rashan kommt nahe zu mir, sodass ich den abgestandenen Gestank, der von ihm ausgeht, wahrnehme. Reflexartig halte ich die Luft an. »An einem Ort, von dem es kein Entkommen mehr gibt«, antwortet er.
»Bitte, Herr«, ertönt da die Stimme eines der anderen Gefangenen, der bisher kein Wort gesprochen hat. »Ich will nicht sterben.« Er klingt so verzweifelt, dass ich eine Gänsehaut verspüre.
Auch die anderen haben schreckensgeweitete Augen, geben jedoch keinen Mucks von sich.
»Wenn ihr euch geschickt anstellt, werdet ihr das auch nicht«, erwidert Rashan.
»Was soll das bedeuten?« Ich starre ihn entgeistert an.
»Das wirst du schon noch genug früh sehen, kleiner Phoenix.« Er fletscht die Zähne. »Bringen wir sie zu Nashuan!«
Der Befehl ist an zwei seiner Männer gerichtet, die umgehend von ihren Pferden absteigen und zu uns kommen.
Die Tiere werden von einem der anderen Reiter weggeführt, offenbar gibt es irgendwo Stallungen.
Rashan und die beiden Männer indes eskortieren den Karren aus dem Hauptbereich und tiefer in die Höhle hinein.
Ich versuche, mit einem der Gefangenen, der anscheinend weiß, wo wir gelandet sind, ein Gespräch anzufangen, um mehr über den Ort zu erfahren. Doch er hat sich zusammengekauert und wippt leise murmelnd vor und zurück. So sehr ich mich auch bemühe, er reagiert weder auf meine Fragen noch auf sonst etwas.
»Was ist Karakals Reich?«, frage ich die anderen. Aber außer verängstigten Blicken ernte ich keine Antworten.
Daher wende ich mich den Gitterstäben zu und versuche, so viel zu erkennen wie möglich. Mehr als ein paar weitere Männer und Frauen in Rüstungen kann ich allerdings nicht ausmachen.
Der Weg wird wieder schmaler und es dauert mehrere Minuten, ehe der Karren ein weiteres Mal anhält. Wir befinden uns nun in einer kleineren Höhle, die ebenfalls von Fackeln erleuchtet ist. Eine Holzbaracke wurde hier erbaut, die wohl jemandem als Zuhause dient.
»Nashuan!«, ruft Rashan donnernd. »Wir haben Ware für Karakal!«
Ich halte die Luft an und recke den Hals, um zu sehen, wer aus der Holzhütte tritt.
Eine dunkelhäutige Frau um die dreißig erscheint im Türrahmen. Ihr gestählter Körper steckt in einer braunen Lederrüstung, die keinen Zweifel daran lässt, dass die Besitzerin nicht mit einem Schwert umzugehen wüsste.
»Rashan«, begrüßt sie den Händler mit einer Stimme, die wirkt, als würden ihre Stimmbänder aus Reibeisen bestehen. »Na, zeigst du deine hässliche Visage auch wieder mal?«
Ob Rashan durch die groben Worte beleidigt ist oder nicht, kann ich nicht feststellen, da er uns den Rücken zugekehrt hat.
Er geht auf die Kriegerin zu und nickt knapp. »Wir haben ein bisschen was gesammelt unterwegs«, meint er und deutet mit der Hand hinter sich.
Nashuans dunkle Augen gleiten zum Wagen und sie runzelt die Stirn. »Der Haufen?«, fragt sie und hebt abschätzig die Brauen.
»Sieh sie dir an«, fordert Rashan sie auf und tritt mit einer einladenden Geste zur Seite.
Nashuan folgt seiner Einladung und kommt auf uns zu. Ich bemerke, wie die anderen Gefangenen zurückweichen, doch ich bleibe an Ort und Stelle sitzen.
Die Kriegerin geht um den Käfig herum und mustert uns mit forschender Miene.
Vor mir bleibt sie stehen, während sie die Nase rümpft. »Halbnackte Kinder und Greise?«, fragt sie an einen der Reiter gewandt. »Mehr konntet ihr nicht auftreiben?«
»Der Junge ist etwas Besonderes«, beeilt sich Rashan zu sagen.
»Ist er das?« Ihr Blick wandert herablassend über mich. »Dann holt ihn raus, ich will ihn mir näher ansehen.«
Einer der beiden Reiter, die Rashan begleitet haben, kommt dem Befehl nach und öffnet den Käfig.
Nun rutsche ich ebenfalls reflexartig zurück, als er hineinsteigt und auf mich zukommt.
»Mach jetzt keine Dummheiten, Kleiner«, zischt er. »Hoch mit dir!« Er zückt sein Schwert und hält es mir an die Kehle.
Der kalte Stahl drückt in meine Haut und mir ist klar, dass ich keine andere Wahl habe, als mich meinem Schicksal zu ergeben.
Widerwillig komme ich seinem Befehl nach und folge ihm aus dem Karren.
Als ich vor Nashuan stehe, die etwa gleich groß ist wie ich, sieht diese mich prüfend an. »Hm, wenigstens besitzt er ein paar Muskeln. Aber was soll sonst besonders sein an ihm? Die Augen? Er ist nicht der Erste, der ungleiche Iriden besitzt. Da müsst ihr mir schon was Besseres liefern.«
»Er ist ein Phoenix oder so«, erklärt Rashan, der sich neben mich gestellt hat.
»Ein Phoenix?« Nashuan lacht trocken. »Klar. Und ich bin eigentlich ein Drachenmädchen und mach die Beine für einen Ork breit.«
»Nein, wirklich«, erwidert der Händler grimmig. »Wir haben gesehen, wie er im Feuer verbrannte, und kurz darauf ist sein Körper aus der Asche wiedergeboren worden.«
Ich starre ihn fassungslos an.
Was soll ich getan haben?
Warum erzählt er so einen Mist? Um den Preis für mich nach oben zu treiben?