Deichkrone - Alida Leimbach - E-Book

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Alida Leimbach

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Beschreibung

Eine nächtliche Landstraße in Ostfriesland: Georg Cannstetter, Leiter eines Osnabrücker Gymnasiums, fühlt sich verfolgt. In Norddeich erwartet ihn seine Geliebte vergeblich. Am nächsten Morgen findet die Polizei den toten Cannstetter in seinem manipulierten Fahrzeug. Während sich der Kreis der Verdächtigen von Kommissarin Birthe Schöndorf immer enger zieht, geschehen weitere Unglücksfälle nach dem gleichen Muster. Dem Täter dicht auf den Fersen, schwebt Birthe Schöndorf schon bald selbst in Lebensgefahr.

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Alida Leimbach

Deichkrone

Kriminalroman

Zum Buch

Späte Rache Eine nächtliche Landstraße in Ostfriesland: Georg Cannstetter, Leiter eines Osnabrücker Gymnasiums, fühlt sich verfolgt. Sein letztes Telefongespräch bricht plötzlich ab. In Norddeich erwartet ihn seine Geliebte Bianca Noll vergeblich. Sie macht sich Sorgen, schaltet jedoch nicht die Polizei ein, da niemand von ihrer Affäre erfahren darf. Am nächsten Morgen finden Polizisten den toten Cannstetter in seinem Fahrzeug. Auf dem Beifahrersitz liegt eine Drohmail. Bei der Untersuchung des Wagens stellt sich heraus, dass der Bremsschlauch manipuliert wurde. Die Osnabrücker Kommissarin Birthe Schöndorf pendelt zwischen Osnabrück und Ostfriesland, um zu ermitteln. Schon bald kommt sie dem Doppelleben Cannstetters auf die Spur, der mit seiner Geliebten eine zweite Familie hatte. Während Birthe Schöndorf den Kreis der Verdächtigen immer enger zieht, geschehen weitere Unglücksfälle nach dem gleichen Muster. Dem Täter dicht auf den Fersen, schwebt Birthe Schöndorf schon bald selbst in tödlicher Gefahr.

Alida Leimbach, Jahrgang 1964, ist in Lüneburg geboren und in Osnabrück aufgewachsen. Nachdem sie einige Jahre als Übersetzerin in Frankfurt am Main tätig war, studierte sie noch einmal: evangelische Theologie, Germanistik und Englisch für das Lehramt. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Selbstverständlich ist auch das Osnabrücker Erich-Kästner-Gymnasium fiktiv.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ts-fotografik.de / photocase.de

ISBN 978-3-8392-5520-9

Zitat

Die Lust an der Macht hat ihren Ursprung nicht in der Stärke, sondern in der Schwäche.

Erich Kästner

Kapitel 1

Verdammte Scheinwerfer, das war kein Abblendlicht. Irgendein Irrer fuhr mit Fernlicht dicht auf. Warum überholte er nicht? Es war Platz genug, kein anderes Fahrzeug weit und breit. »Was willst du denn, du Nusskuchen? Soll ich den Kofferraum aufmachen, damit du noch näher auffahren kannst?« Georg Cannstetter wischte sich die Handflächen an der Jeans ab. Er spürte einen Druck auf der Brust, der ihm das Atmen schwer machte. Auf der Stirn und unter den Achseln bildete sich Schweiß, obwohl die Klimaanlage auf Hochtouren lief. Er hielt sich so weit wie möglich rechts, aber der Hintermann verstand nicht oder wollte nicht verstehen.

Georg überlegte fieberhaft, was er tun sollte: das Tempo halten, beschleunigen oder abbremsen? Wer auffuhr, war schuld, so hieß es doch. Sollte er es darauf ankommen lassen?

Er schüttelte den Kopf. Es war viel zu gefährlich. Die Allee war unbeleuchtet, teils kurvig und eng. Wegen der vielen Bäume am Straßenrand existierte keine Ausweichmöglichkeit. Konzentriert hielt er die Spur. Adrenalin schoss ihm durch die Adern, bis der Fahrer hinter ihm endlich abblendete und das Tempo drosselte.

Georg fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Er war müde nach der langen Konferenz an diesem Donnerstag. Von den hochsommerlichen Temperaturen hatte er kaum etwas gehabt. Morgen hatte er zum Glück frei. Lieber wäre er jetzt nach Hause gefahren, hätte den Rest des Abends vor dem Fernseher verbracht und wäre früh schlafen gegangen. Aber Bianca wartete auf ihn; sie sahen sich ohnehin selten genug. Das erste Wochenende eines Monats gehörte ihnen – daran hielten sie seit Jahren nach Möglichkeit fest.

Ein Blick auf das Navigationsgerät sagte ihm, dass er es bald geschafft hatte. Diese Strecke war er noch nie gefahren. Das Navi hatte ihn über die Landstraße geführt – warum auch immer. Vielleicht hatte sich auf der Bundesstraße ein Unfall ereignet. Es kam schon mal vor, dass ein Sattelschlepper quer lag.

Georg drehte das Radio lauter, um sich abzulenken. Ein Lied aus seiner Jugendzeit, das er mitsummte. Er freute sich auf Bianca, auf das seltene Zusammensein mit ihr, hoffte aber auch, dass sie ihm keine Szene machte. Manchmal überkam es sie. Da wollte sie unbedingt Tacheles reden, wie sie es formulierte. Dann forderte sie, er solle sich endlich von seiner Frau trennen und sich zu ihr bekennen. Das Versteckspiel stresste sie. Das verstand er, aber es gelang ihm besser als Bianca, Schwierigkeiten auszublenden. Er wollte die Stunden mit ihr genießen und keine Probleme wälzen. Er hatte keine Lust zu reden. Ein bisschen Zweisamkeit, ein paar Häppchen und ein, zwei Gläser Wein in Biancas gemütlichem Wohnzimmer, kuscheln auf dem Sofa und dann Sex in ihrem breiten, weichen Bett, das wäre jetzt genau das Richtige. Keine zermürbenden Diskussionen, darauf würde er sich nicht einlassen. Nicht heute. Nicht nach diesem Tag.

Er stellte sich vor, was sie gerade machte. Vielleicht kochte sie für ihn – in ihrer weißen Landhausküche mit den Sprossenfenstern und der winzigen Häkelgardine davor. Er fand den Fetzen lächerlich, aber er passte zu ihr.

Bianca wohnte mit ihrem kleinen Sohn in der unteren Etage eines Backsteinhauses. Sie hatte eine Vorliebe für den schwedischen Landhausstil und bevorzugte helle Farben. Die obere Etage wurde von der Eigentümerin zeitweise als Ferienwohnung vermietet. Im Sommer war da Highlife – die Gäste gaben sich fast jeden Samstag die Klinke in die Hand –, aber ab November wurde es ruhig. Nur über Weihnachten und Silvester ging vorübergehend der Trubel noch einmal los. Danach hatten sie wochenlang das Haus für sich allein, bis Ostern wieder die ersten Feriengäste eintrafen.

Seine Frau hatte ihn seltsam angesehen, als er seine Reisetasche gepackt und sich von ihr verabschiedet hatte. Ob er unbedingt nach Greetsiel müsse, ausgerechnet jetzt, wo ihre und seine Eltern sich zum Besuch angekündigt hatten, um ihren Geburtstag nachzufeiern. »Du weißt doch warum«, hatte er gesagt; das Boot, die Verabredung mit dem Skipper und dem Mechaniker, die hohe Liegegebühr am Hafen, die sich bezahlt machen muss, die Reparaturen – ein Boot macht nun einmal viel Arbeit. Sie hatte genickt und ihn dann einfach stehen lassen. Vielleicht hatte sie gehofft, dass er die Reise absagen würde. Situationen wie diese mochte er gar nicht. An manchen Tagen fand er sie so belastend, dass er Martha am liebsten in den Arm nehmen, alles zugeben, ihr seinen Fehltritt gestehen und sie um Verzeihung bitten würde. Oft genug beschloss er, seine Beziehung zu Bianca seiner Frau zuliebe aufzugeben. Aber wenn er Bianca dann in der Tür stehen sah mit ihren langen Haaren und dem hübschen Lächeln, das ihn vom ersten Augenblick an verzaubert hatte, konnte er nicht widerstehen und er musste sie einfach in seine Arme ziehen.

Ob seine Frau etwas ahnte? Ihm wurde flau bei diesem Gedanken. Manchmal war er sich sicher. Er wählte Marthas Nummer und drehte den Ton des Radios ab.

»Mausi? Alles klar bei euch? Schläft Samuel schon?« Er schnaufte und hatte seine Stimme nicht ganz im Griff. Sie klang metallisch, etwas heiser.

»Ja klar«, kam die prompte Antwort.

Er wartete ab, ob sie noch etwas sagen würde, aber das tat sie nicht. Kein Zweifel, sie war eingeschnappt.

»Dann ist es ja gut«, sagte er mit brüchiger Stimme. »So, ich bin gleich da! Greetsiel ist direkt um die Ecke. Noch ein paar Minuten, dann habe ich es geschafft. Ich hasse es, in der Dunkelheit zu fahren. Alles duster, einzelne Höfe, kein Licht weit und breit und enge Alleen. Die andere Strecke fährt sich besser.«

»Warum nimmst du sie dann nicht?«

»Das Navi hat mich hierher geschickt, warum auch immer. Tiefstes Ostfriesland – du hast das Gefühl, am Arsch der Welt zu sein!«

»Wozu brauchst du überhaupt noch ein Navi? Müsstest die Strecke doch längst in- und auswendig kennen!«

Sie hatte recht. Eigentlich brauchte er kein technisches Hilfsmittel. Er nutzte das Navi, um über Staus und Verzögerungen auf dem Laufenden zu bleiben. Außerdem wollte er die Route vor Augen haben und vor allem die Ankunftszeit. Jeder Kilometer, jede Kurve, die er gemeistert hatte, brachte ihn seiner Geliebten etwas näher. Er räusperte sich. »Das stimmt schon, Mausi, aber du weißt doch, dass ich gern die Strecke auf der Karte mitverfolge. Ich werde auf dem Segelboot übernachten. Wenn was ist, melde dich! Sonst rufe ich morgen wieder an, okay? Schlaft gut, ihr zwei!«

»Du auch.«

Er spürte die Kälte zwischen ihnen und bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Er ließ drei Sekunden verstreichen, dann erklärte er: »Da ist so ein Scheißtyp hinter mir, der blendet mich. Ich sehe nichts mehr. Keine Ahnung, was der von mir will.«

Er wusste nicht, warum er das gesagt hatte, zumal der Verfolger nun in gebührendem Abstand hinter ihm fuhr. Vielleicht wollte er, dass sie sich Sorgen um ihn machte, so wie früher.

Aber sie reagierte nicht.

Nach ein paar dahingemurmelten Abschiedsworten legte Georg auf. Er spürte, wie sich seine Stimmung rapide verschlechterte. Er hatte Bianca seit Wochen nicht gesehen; sie hatte einen gutgelaunten Liebhaber verdient. Kurz entschlossen rief er sie an. Er musste wissen, ob sie sich auf ihn freute, ob eine Belohnung auf ihn wartete. Die brauchte er ganz dringend. Sie hatte ihm auf seinem Handy eine Nachricht hinterlassen, die ihn ein wenig nervös machte, sie sprach von einer Überraschung, die auf ihn warte. Mehr hatte sie nicht gesagt. Natürlich war er neugierig, hoffte auf etwas Gutes, etwas, das ihn aufheiterte, denn er hatte heute wieder so eine E-Mail bekommen. Die zweite innerhalb von zwei Wochen. Der Ausdruck lag neben ihm auf dem Beifahrersitz. Er wollte ihn Bianca zeigen, sie wusste immer einen Rat. Sie war gefühlsbetont, bewahrte aber dennoch einen kühlen Kopf. Es war ihm wichtig, ihre Meinung zu hören. Fast immer gelang es ihr, unangenehme Situationen zu entschärfen und ihn zu beruhigen.

Bianca war sofort dran.

»Mausi«, schnaufte er aufgeregt ins Mobiltelefon, »geht’s dir gut? Ich bin gleich bei dir. Es ist doch nichts passiert? Welche Überraschung meinst du, Schatz?« Anfangs war er sich blöd vorgekommen, beide Frauen mit demselben Kosenamen anzureden, aber so war es sicherer. Er hatte Bianca nie bei ihrem Vornamen genannt, denn er fürchtete zu sehr, sich einmal zu verraten, und sei es nur im Schlaf.

»Was soll sein? Es geht mir gut. Ich wollte nur, dass du dich schon einmal seelisch darauf vorbereitest, dass etwas Besonderes auf dich wartet.«

»Etwas Schönes?«

»Natürlich. Etwas sehr Schönes.«

Er hörte das Lächeln in ihrer rauchigen Stimme und seufzte. »Hab Lust auf dich, Süße. Schläft der Kleine?«

»Ja, schon seit einer Stunde. Tief und fest.«

»Was für ein Glück! Hoffentlich wacht er nicht auf. Wir müssen leise sein. Geht es ihm besser?«

»Es war nur ein leichter Infekt. Ihm geht’s wieder gut. Moritz beißt sich durch, das hat er von seinem Vater.«

Georg lachte kurz auf. »Was machst du gerade?«

»Ich sehe einen Krimi.«

»Ist er gut?«

»Weiß nicht so genau, ich koche nebenbei, da bekomme ich nicht alles mit.«

Er räusperte sich. »Was hast du an?«

»Was hättest du denn gerne?«

»Na, die neuen Teile, von denen du mir erzählt hast, bin schon ganz neugierig.«

»Die neuen Dessous«, sagte sie und kicherte leise. »Typisch, was ich darüber anhabe, ist dir egal.«

»Egal nicht«, widersprach er. »Hauptsache, es lässt sich schnell ausziehen. Oh verdammt!«

»Was ist los?«

»Da ist jemand hinter mir, der blendet mich schon die ganze Zeit. Der Vollhorst ist mit Fernlicht unterwegs, fährt dicht auf, der tickt nicht richtig! Ein Idiot ist das! Der kann doch überholen! Wieso überholt er mich nicht?«

»Was ist das für ein Wagen? Siehst du das Nummernschild?«

»Quatsch. Kann ich nicht erkennen. Der ist zu dicht hinter mir. Gleich fährt er mir in den Kofferraum. Was geht hier ab? Weit und breit ist niemand, der kann problemlos überholen, aber das tut er nicht. Der Scheißkerl soll mich in Ruhe lassen! Und irgendwas ist auch mit meiner Bremse! Hab ich eben schon gemerkt! Da stimmt was nicht!« Sein Herz schlug hart und schnell, der Adrenalinschub verursachte ein leichtes Zittern. Sein Fuß auf dem Bremspedal wollte ihm nicht mehr gehorchen.

»Hast du ihn geärgert? Will er sich jetzt irgendwie rächen?«

»Nein, Unsinn. Ich habe nichts getan!«

»Was ist mit der Bremse?«

»Weiß nicht. Die greift nicht richtig.«

»War das schon mal?«

»Nein. Ist mir bisher noch nie aufgefallen.«

»Und der Typ? Fahr besser rechts ran und lass ihn vorbei. Dann versuch, das Nummernschild zu notieren. Zeig ihn auf jeden Fall an!«

»Dunkles Auto, warte, ich versuche es …« Er schwitzte. Das Handy glitt ihm aus der Hand und verschwand im Fußraum.

Das Fahrzeug war jetzt unmittelbar hinter ihm. Grelles Licht flammte auf und nahm ihm die Sicht. Er gab Gas. Jetzt galt es, alles aus dem Volvo herauszuholen. Er musste weg, so schnell wie möglich, nur weg. Der Motor heulte auf, als er beschleunigte. Etwa 200 Meter ging das gut. Es gelang ihm, den Abstand zwischen sich und dem Verfolger zu vergrößern. Bis zur nächsten Kurve. Die Bäume standen hier dicht an dicht. Er bremste, aber der Wagen reagierte nicht wie sonst, er schlingerte, scherte aus. Keine Kontrolle mehr. Ein Ruck ließ ihn nach vorn schnellen. Georg verriss das Steuer. Alles schien so unwirklich, dass er den Aufprall kaum mitbekam.

Der ohrenbetäubende Knall wunderte ihn, er konnte ihn nicht einordnen. Seine linke Hand, die noch das Steuer hielt, wurde warm und klebrig. Verwundert betrachtete er das Blut. So viel Blut. Seltsamerweise verspürte er keine Angst, nicht einmal Schmerz. Im Gegenteil, er fühlte sich frei und unbeschwert. Er war ganz ruhig.

Stimmungsvolle Bilder tauchten auf, in leuchtenden, sonnigen, warmen Farben. Es war schön, er wollte in sie eintauchen, für immer in dem wonnigen Gefühl baden. Er sah Blumen und Schmetterlinge, Kringel und Kreise, runde und ovale Muster in Rot, Orange und Pink. Muster seiner Kindheit. Die bunte 70er-Jahre-Tapete in seinem Kinderzimmer. Seine Mutter, die an seinem Bett saß und ihm über den Kopf strich. »Schorschi«, sagte sie leise.

»Mama«, flüsterte er.

Warm lief es an seinem Körper hinunter, warm aus ihm heraus. Er dachte nicht darüber nach, was es sein könnte. Er dachte überhaupt nichts mehr. Alles war friedlich und still. Watteweich. Er war glücklich und leicht, wie ein Vogel, wie ein Schmetterling. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so vollkommen gefühlt, ruhig und frei.

Plötzlich trübten sich die Bilder, die ihn eben noch verzaubert hatten – wie ein Schatten, der sich vor die sonnigen Farben schob. Dunkelheit und Kälte umfingen ihn und ließen ihn frösteln. Er spürte einen starken Druck auf der Lunge und auf den Ohren, hörte ein unerträgliches, immer stärker werdendes Rauschen. Sein Kopf zog sich zu, wie in einem Schraubstock. Es klopfte, stach und pochte in seinem Schädel. Ein wahnsinniger, nie gefühlter Schmerz durchbohrte ihn. Etwas schnürte ihm den Brustkorb zu. Er wollte tief durchatmen, um sich zu befreien, doch es gelang ihm nicht. Er schnappte nach Luft. Er wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus.

Kapitel 2

In der Norderneyer Straße in Norden bereitete sich Bianca Noll auf Georgs Besuch vor. Sie legte die neuen Dessous aufs Bett und zog sich vor dem großen Spiegel aus. Seit sie mit Georg zusammen war, war es ihr gelungen, sich mit ihren Makeln zu arrangieren, die sie immer gestört hatten. Durch seine Liebe sah sie sich selbst mit anderen Augen. Sie hatte sich mit ihren Haaren versöhnt, die sich nur schwer bändigen ließen und bei feuchter Luft spröde und kraus wurden, mit ihren kräftigen Oberschenkeln, dem etwas zu breiten Hintern und den ausladenden Hüften. Sie hatte nicht die Maße eines Models, doch die brauchte sie auch nicht. Stattdessen waren ihr endlich ihre schönen Seiten aufgefallen, die sie lange vernachlässigt hatte. Im Spiegel sah sie eine zufriedene, lebensfreudige Frau. Sie sprühte sich mit ihrem Lieblingsduft ein, bevor sie in das knappe, hellblaue Höschen stieg. Sie stellte sich vor, wie er gleich damit spielen würde, bis er es vor Ungeduld nicht mehr aushalten und es ihr herunterstreifen würde.

Er müsste jeden Moment da sein. Sie beeilte sich mit dem BH, zog sich das blaue Kleid mit dem weichen Stoff über, das er so an ihr liebte, weil es ihre Kurven betonte. Dann bürstete sie noch einmal ihre langen braunen Haare, schlüpfte in ihre Pumps und ging zurück ins Wohnzimmer. Zeit, die Kerzen anzuzünden.

Den Tisch im Blick überlegte sie, ob noch etwas fehlte. Teller, Gläser, Besteck, Servietten, Kerzen – es war perfekt. Alles war farblich auf die helle Inneneinrichtung abgestimmt. Im Ofen schmorte der Braten auf niedriger Temperatur. Der Salat musste nur noch angerichtet werden. Sie suchte eine ruhige CD heraus, die Georg gerne hörte, und legte sie ein. Dann setzte sie sich auf die Couch und sah erneut auf ihre Armbanduhr. Eine leise Unruhe überkam sie. Irgendetwas war anders. Ihr Herz begann stärker zu klopfen.

Es war doch nichts passiert? Er hatte gehetzt geklungen, sogar ängstlich, als er von dem Fahrzeug erzählt hatte, das ihn blendete. War nicht sogar ein Knall zu hören gewesen? Sie war sich nicht sicher. In der Ferienwohnung über ihr war gerade eine lebhafte Familie eingezogen. Vielleicht hatte jemand eine Tür zugeschlagen. Außerdem war vorhin der Fernseher gelaufen. Ein Krimi aus Skandinavien. Möglicherweise war das Geräusch auch darin vorgekommen. Die Musik konnte sie nicht beruhigen; im Gegenteil. Bianca sprang auf und drehte sie leiser, bis fast nichts mehr zu hören war. Unruhig lief sie im Raum umher. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Aus einem Gefühl der Leere und Einsamkeit heraus hatte sie plötzlich das Bedürfnis, ihren Sohn zu sehen. Moritz’ Kinderzimmer befand sich am Ende des Flurs. Einen Moment blieb sie vor seiner Tür mit den bunten Holzbuchstaben stehen, bevor sie leise die Klinke herunterdrückte.

Friedlich lag Moritz in seinem Kinderbett. Die blonden Haare verstrubbelt, die Decke hatte er von sich gestrampelt, ein Arm mit einer kleinen, dicken Faust hing zwischen den Gitterstäben hindurch. Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig. Das beruhigte auch sie für einen Moment. Liebevoll betrachtete sie ihn. Er sah seinem Vater ähnlich, von ihr hingegen hatte er nichts außer der feinen Nase. Sie liebte dieses Kind über alles. Sanft deckte sie Moritz zu und strich ihm über den Kopf.

Dann trat sie ans Fenster und sah auf die Norderneyer Straße hinaus, die in völliger Dunkelheit lag.

Kapitel 3

»Kaffee?«, fragte Kommissarin Birthe Schöndorf von der Osnabrücker Polizeiinspektion und hielt ihrem Kollegen Daniel Brunner die Warmhaltekanne hin.

»Sehr gerne«, sagte er und rieb sich die Augen. »Die Schicht hat gerade erst begonnen, ich weiß nicht, wie ich die nächsten Stunden durchstehen soll. Letzte Nacht mussten wir zweimal ausrücken, ich hoffe, heute wird es ruhiger. Massenschlägereien sind nicht mein Ding. Ich hasse das. Die Kerle werden immer brutaler, die schrecken vor nichts zurück. Meine Güte, die waren zum Teil bewaffnet bis an die Zähne! Und überhaupt keinen Respekt vor der Polizei mehr. Als wären sie auf Augenhöhe mit uns. Die ticken doch nicht mehr richtig! Ich bin langsam urlaubsreif. Carlo hat’s gut, der liegt gerade mit seiner Gudrun auf dem Sofa und zischt ein paar Bierchen.« Er gähnte ausgiebig, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten.

Birthe schenkte ihm und sich selbst Kaffee ein. Dann bot sie ihm Hedeweggen aus einer Bäckertüte an. Sie wusste, dass Daniel keine Antwort erwartete. Er hörte sich selbst gerne reden und war froh, wenn sie nicht widersprach.

Daniel betrachtete die Rosinenbrötchen. »Kohlenhydrate«, sagte er verächtlich. »Mensch, Birthe, du weißt doch, dass ich darauf achte, viel Eiweiß zu essen. Besonders abends kannst du mich mit Kohlenhydraten jagen. No carb.« Er massierte demonstrativ seine muskulösen Oberarme.

»Wozu? Für wen?«, frotzelte sie.

»Du wirst dich wundern«, sagte er, »aktuell streiten sich sogar zwei um mich.«

»Ach komm«, winkte sie spöttisch ab und biss in ihr Teilchen.

»Oh doch! Eine Melli und eine Manu. Die eine blond wie du, die andere brünett. Top-Figürchen alle beide.« Er reckte den Daumen nach oben und grinste.

»Aha«, gab Birthe gelangweilt von sich. »Darf ich fragen, wo du die jetzt wieder aufgegabelt hast? Fitnessstudio oder Waschsalon?«

Er sah sie überrascht an. »Woher weißt du?«

»Weil ich seit Jahren mit dir zusammenarbeite, du Schnösel, und deine Freizeitvorlieben kenne. Du solltest dir mal eine eigene Waschmaschine zulegen. Vielleicht lernst du dann endlich die Richtige kennen.« Mit der Hand fuhr sie sich durch ihre kurzen blonden Haare.

»Bei den vielen Umzügen? Da streiken meine Kumpels. Die haben alle Rücken.«

»Trotz Studio?«

»Richtig. Außerdem wäre Mama beleidigt, wenn sie nicht ab und zu noch etwas für mich tun dürfte.«

In dem Moment knarzte sein Funkgerät. »Osna 8/20. Die Auricher Polizei meldet schweren Verkehrsunfall mit Osnabrücker Kennzeichen. L 26, Ostfriesland, 200 Meter hinter Ortsschild Canhusen, Richtung Wirdum und Grimersum, nach langgestreckter Rechtskurve. Pkw neben der Fahrbahn in Böschung, überschlagen, vermutlich ungebremst gegen Baum geprallt, eine verletzte Person, möglicherweise leblos, eingeklemmt. Rettungskräfte laufen.«

»Betrifft uns zum Glück nicht«, stellte Birthe fest und nahm einen Schluck Kaffee.

Daniel räusperte sich. »Du, Birthe?«

»Ja?«

»Wenn wir keinen Dienst schieben müssten und ich dich einfach fragen würde, ob du mit mir in der Altstadt einen trinken gehst, zum Beispiel in der Peitsche oder in der Grünen Gans, was würdest du sagen?«

Sie runzelte die Stirn. »Komm, lass es. Bitte!«

»Nur ein Bier, meine Güte, die Frage darf doch erlaubt sein.« Einen flotten Dreier ergänzte er in Gedanken, ohne es auszusprechen. Meistens fiel seine Wahl auf das Gericht, wenn er in der Grünen Gans war – ein Pfefferstück mit Bier und Korn, aber Birthe sah ihn so streng an, dass er sich nicht traute, weiter zu fragen.

»Im Moment habe ich viel um die Ohren.«

»Gönnst du dir keine Pause? Nie?«

»Doch, aber dann lese ich oder schlafe.«

»Schade«, meinte er. »Vielleicht irgendwann?«

Birthe drehte sich mit dem Bürostuhl von ihm weg. »So, ich kümmere mich jetzt um die Ablage«, sagte sie seufzend. »Irgendjemand muss es ja tun.«

Eine Viertelstunde später erschien auf dem Display des Telefons die Nummer von Birthes Chef. Kein gutes Zeichen um diese Uhrzeit. Sie hob ab.

»Hier Hurdelkamp. Haben Sie den Funkspruch mitbekommen, Frau Schöndorf?«

»Welchen meinen Sie?«

»Verkehrsunfall in Ostfriesland.«

Sie überlegte kurz. »Ja, aber das ist doch für die Kollegen von der Verkehrspolizei.«

»Es betrifft möglicherweise auch Sie. Auf dem Beifahrersitz lag ein Drohbrief.«

»Okay. Was ist mit dem Fahrer?«

»Er ist tot. Am Unglücksort verstorben.«

»Mann oder Frau?«

»Eine männliche Leiche, Georg Cannstetter, 47 Jahre alt, wohnhaft in Osnabrück in der Kölner Straße. Ich dachte, Sie fahren hin und benachrichtigen die Angehörigen.«

»Jetzt noch?« Birthe sah auf die Uhr. Es war kurz vor Mitternacht. Ihr lief ein Schauer über den Rücken.

Hurdelkamp zögerte. »Wäre das ein Problem für Sie? Der NDR wird über den Unfall in den Morgennachrichten berichten. Sie wissen, wie schlimm das für die Hinterbliebenen ist, wenn sie es aus dem Radio erfahren. Frau Schöndorf, Sie machen das doch nicht zum ersten Mal.«

»Entschuldigung, ich habe mehr mit mir selbst gesprochen.«

»Dann sind wir uns ja einig.«

»Haben Sie schon einen Notfallseelsorger verständigt?«

Hurdelkamp zögerte. Ein leises Stöhnen war vernehmbar. »Ich kümmere mich darum. Sonst fährt eben Ihr diensthabender Kollege mit.«

»Daniel Brunner?« Sie war etwas zu laut mit der Frage herausgeplatzt und warf einen Blick auf ihren Kollegen.

»Warum nicht? Halten Sie ihn für ungeeignet?«

»Ich weiß nicht, Herr Hurdelkamp.« Unglücklich stützte sie ihren Kopf auf.

»Ist gut. Ich benachrichtige einen Seelsorger und rufe Sie zurück.«

Kapitel 4

Die Luft war kühl und feucht, als Carlo Oltmann am Freitagmorgen das Polizeipräsidium am Kollegienwall in Osnabrück betrat. Es war der 10. Juli. Der Wetterbericht sagte einen heißen Hochsommertag voraus. Im Flur roch es angenehm nach Kaffee. Die Vorfreude auf einen aromatischen Becher des heißen Getränks besserte seine Laune etwas. Der Arbeitstag begann wie immer. Mails checken, Anrufbeantworter abhören, Akten sichten, Berichte schreiben. Bevor der Kriminalkommissar jedoch zu Punkt drei kam, war das zweite Frühstück fällig. Er war dazu übergegangen, selbst dafür Sorge zu tragen, denn seine Frau hatte ihn auf Dauerdiät gesetzt. Ihre dünn bestrichenen Knäckebrote mit Gurken- und Tomatenscheiben konnten ihm gestohlen bleiben. Ihre Kommentare zu seiner Figur ebenfalls. Nun gut, er hatte etwas zugelegt, seit er vor rund 30 Jahren in den Polizeidienst getreten war. Sein Mountainbike hatte er schon lange nicht mehr aus dem Keller geholt und die Spaziergänge wurden kürzer und gemächlicher, nachdem auch Hugo, der Berner Sennenhund der Familie, älter und gemütlicher geworden war. Aber das war in Ordnung so. Carlo Oltmann musste nicht mehr hinter jedem Straftäter herjagen, dafür waren die jüngeren Kollegen da. Die wussten oft nicht, wohin mit ihrem Testosteron und Adrenalin.

Die Plätze gegenüber seinem Schreibtisch waren leer. Dort saßen normalerweise Kriminaloberkommissarin Birthe Schöndorf und Kriminalkommissar Daniel Brunner. Vom Alter her hätten sie seine Kinder sein können, wenn er sehr früh angefangen hätte. Carlo Oltmann verstand nicht immer, was in ihnen vorging, doch das war er von seiner Tochter Jana gewöhnt. Er musste auch nicht alles verstehen. Sein gesetztes Alter verlieh ihm die nötige Ruhe und Gelassenheit, sich auf die Dinge zu konzentrieren, die im Leben wirklich zählten.

Wie es aussah, mussten seine Kollegen, wenn sie endlich eintrafen, gleich einen unbeliebten Auftrag erledigen. Die Hinterbliebenen eines Verstorbenen zu benachrichtigen, gehörte zu den Aufgaben, um die sich niemand riss. Carlo fand es sehr bedauerlich, dass seine Kollegen dieser Sache nicht schon in der Nacht nachkommen konnten, aber als durch den hinzugezogenen Notfallseelsorger bekannt geworden war, dass ein behindertes Kind in der Wohnung lebte, hatte man sich darauf verständigt, die Todesnachricht auf den nächsten Morgen zu vertagen.

Als er gerade sein Springbrötchen in die Hand nahm, ging die Tür auf. Birthe Schöndorf und Daniel Brunner tauchten auf und hinter ihnen ein graubärtiger, schlaksiger Mann in einer neongelben Notfallseelsorgerjacke, den Birthe als Pastor Udo Meierbrink vorstellte.

»Moin, Carlo«, sagte Birthe. »Wir fahren jetzt zu den Hinterbliebenen von Georg Cannstetter, dem Unfallopfer der vergangenen Nacht. Willst du uns begleiten?«

»Ihr seid doch schon zu dritt«, erwiderte Carlo mit vollem Mund.

Birthe setzte einen flehentlichen Gesichtsausdruck auf. »Daniel und ich haben uns gerade geeinigt, dass er auf der Wache die Stellung hält. Du bist erfahrener in diesen Dingen, nenn es feinfühliger, okay?«

»Danke«, murmelte er und steckte den Rest seines Brötchens in die Tüte zurück.

»Moment noch«, sagte Birthe und reichte ihm einen Mail­ausdruck in Folie. »Ich muss dir etwas zeigen. Das hier haben die Kollegen auf Cannstetters Beifahrersitz gefunden.«

Carlo setzte seine Lesebrille auf.

Für das, was du getan hast, du Drecksstift, gibt es keine Entschuldigung. Du hast einen riesengroßen Fehler gemacht, genau genommen sind es mehrere Fehler, und es ist an der Zeit, dass du dafür bezahlst. Vielleicht ist dies dein letzter Tag, du elender Klugscheißer, also genieße ihn. Ich werde dir von jetzt an auf den Fersen sein, du wirst mich nicht mehr los.

Carlo runzelte die Stirn und seufzte. »Datiert vom 8. Juli, 23.45 Uhr. Habt ihr schon gecheckt, von welchem Server die Mail abgeschickt worden ist?«

»Die IT-Spezialisten kümmern sich darum«, erklärte Birthe.

»Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig«, sagte Carlo leise und erhob sich.

Kapitel 5

Im Halbdunkel streckte sie den Arm aus. Das Bett neben ihr war leer. Martha kannte das schon. Alle vier Wochen blieb die andere Betthälfte unberührt. Sein Segelboot in Greetsiel hatte sich in ihre Ehe gedrängt. Schon seit Jahren ging das so. Oder war das nicht die volle Wahrheit? Sie ahnte es seit Langem. Ahnte, dass eine andere Frau dahintersteckte. Bestimmt hätte sie längst mit ihm reden sollen, ihm sagen, was er ihr bedeutete, dass sie ihn liebte. Mittlerweile wollte sie nichts mehr, als mit ihm zusammen zu sein. Und zwar richtig, nicht nur auf dem Papier. Doch sie traute sich nicht, ihre Sorgen zum Thema zu machen. Einmal ausgesprochen, gab es kein Zurück. Wenn er tatsächlich eine Affäre hatte, hatte sie nur zwei Möglichkeiten: bleiben oder gehen. Die erste kannte sie bereits und wusste, wie sie sich anfühlte, die zweite noch nicht. Davor fürchtete sie sich. Wenn sie eine Lawine lostreten würde, müsste sie mit den Konsequenzen leben. Ob sie dazu in der Lage war?

Die andere Frage war: Wusste er, dass sie ihm misstraute? Georg wich ihr geschickt aus, hatte es immer eilig, war selten zu Hause. Aber so konnte es nicht weitergehen. Wenn er am Sonntagabend zurückkam, würde sie ihn zur Rede stellen.

Der Radiowecker sprang an. Martha seufzte, ließ die Nachrichten und den Wetterbericht über sich ergehen und erhob sich schwerfällig. Sie ging nach nebenan, um Samuel zu wecken. Ihren schlafenden Sohn zu sehen, rührte sie jedes Mal aufs Neue, auch wenn er längst dem Baby- und Kleinkindalter entwachsen war. Er lag so friedlich da, so still, atmete ruhig und gleichmäßig. Sein Mund stand halb offen. Am liebsten hätte sie ihn einfach liegen gelassen, aber noch waren keine Sommerferien. Samuel konnte es kaum noch erwarten, endlich ausschlafen zu können, und auch sie freute sich auf die Zeit ohne Termine und Verpflichtungen.

Seit Tagen war das Wetter endlich so, wie man es sich im Sommer wünschte. Wer wusste schon, ob es bis zu den Ferien anhielt? Sie dachte an das letzte Jahr zurück, als Samuel bei brütender Hitze im Klassenzimmer hatte sitzen müssen, und als die Kinder endlich freigehabt hatten, hatte es fast täglich geregnet bei Temperaturen um die 15 Grad. Bei Regenwetter war es schwer, Samuel zu beschäftigen. Die Tage zogen sich endlos. Und sie wollte nicht, dass er stundenlang vor dem Fernseher oder dem Computer saß. In den Urlaub waren sie schon lange nicht mehr gefahren. Samuel brauchte seine gewohnte Umgebung, er hasste es, woanders zu schlafen, und ließ seine schlechte Laune an seinen Eltern aus. Da konnten sechs Wochen Sommerferien zu einer Qual werden.

Zärtlich strich sie ihm über den Kopf und zog die Jalousie zur Hälfte hoch. Samuel stöhnte und drehte sich auf die andere Seite. »Lass mich in Ruhe«, knurrte er.

»Noch fünf Minuten, Samuel, dann musst du aufstehen.«

Im Bad ließ sich Martha eiskaltes Wasser über die Handgelenke laufen und spritzte es sich ins Gesicht. Als sie sich aufrichtete, begegnete sie ihrem Spiegelbild. Ihr Gesicht wirkte gräulich und eingefallen. Tiefe Ringe unter den Augen ließen sie älter erscheinen als sie war. Angewidert wandte sie sich ab. Das kalte Wasser lief in ihren Nacken und tropfte auf ihre Schultern, aber es kümmerte sie nicht. Wie ferngesteuert putzte sie sich die Zähne und spulte ihr morgendliches Programm ab.

Sie schlüpfte in Jeans und T-Shirt, ermahnte ihren Sohn aufzustehen und ging hinunter in die Küche, um Kaffee zu kochen und den Frühstückstisch zu decken. Anschließend röstete sie zwei Scheiben Toast und bereitete das Müsli für Samuel vor. Beim Blick auf die Uhr befiel sie Hektik. Sie hastete die Treppe hinauf, zurück zu Samuel, und schlug seine Bettdecke zurück. »Hopp, hopp, Sohnemann, mach, dass du aus den Federn kommst! Ihr habt doch heute Fußball-AG, die willst du wohl kaum verpassen, oder?«

»Ich hab Bauchschmerzen«, protestierte er.

»Das hast du gestern auch gesagt. Und als du von der Schule kamst, konntest du dich nicht mehr daran erinnern. So schlimm wird es also nicht gewesen sein. Jetzt beeil dich, damit du noch etwas frühstücken kannst.«

»Wo ist Papa?«

»In Greetsiel, bei seinem Segelboot.« Sie zog die Stirn kraus. In diesem Moment wurde ihr schmerzlich bewusst, dass Georg ihr nicht einmal eine Nachricht geschickt hatte, als er angekommen war. Zumindest das hatte er bisher immer getan. War sie für ihn schon keine Ehefrau mehr, sondern nur noch eine Mitbewohnerin?

»Der hat’s gut«, sagte Samuel. »Ich möchte auch mit aufs Segelboot.«

»Das ist weit weg, Schatz. Und du willst doch nicht woanders übernachten.«

»Auf dem Segelboot schon. Das ist ja kein Haus.«

»Wir fragen Papa, ob er dich in den Sommerferien mal mitnimmt an die Nordsee. Vielleicht klappt es ja. Bist doch inzwischen ein großer Junge!« Sie half ihm beim Waschen, Zähneputzen und Anziehen und ging mit ihm die Treppe hinunter.

Während er frühstückte, schmierte sie Schulbrote, schnippelte Obst und packte Samuels Schultasche.

»Freust du dich auf den Kuchen heute Nachmittag, Samuel? Beide Omas und Opas kommen.«

Samuel strahlte übers ganze Gesicht. Essen war seine Leidenschaft, besonders Kuchen liebte er.

»Es gibt Apfelkuchen und Bienenstich. Den bringt Oma Hilde mit. Die Mama hatte doch vor Kurzem Geburtstag, aber da waren Oma Monika und Opa Wolfgang auf ihrem Kreuzfahrtschiff. Welchen magst du am liebsten?«

»Alle beide«, sagte er und strahlte.

»Ich habe nichts anderes erwartet«, erwiderte sie lachend. »Jetzt zieh deine Sandalen an. Der Bus kommt gleich.«

Während Samuel trödelte und mit seinem Tablet spielte, warf Martha einen Blick aus dem Küchenfenster auf die Kölner Straße im Osnabrücker Stadtteil Schinkel.

»Da ist er schon!«, rief sie und half Samuel mit den Sandalen. »Fünf Minuten zu früh. Jetzt fang nicht wieder an zu weinen. Ich werde mit Herrn Meier reden. Du ziehst dir so lange deine Jacke an.«

Sie ging vor und begrüßte den Fahrer des Schulbusses, der ihren Sohn jeden Morgen um halb acht zu seiner Förderschule brachte. Mit schnellen Worten erzählte sie ihm, dass Samuels Sitznachbar im Bus ihn am Vortag an den Haaren gerissen und ihn in den Arm gekniffen habe. Der Fahrer versprach, auf die beiden zu achten, und Samuel stieg mit mürrischem Gesicht ein. Martha seufzte, winkte dem Bus hinterher und ging ins Haus zurück. Die Luft war um diese Zeit schon angenehm lau. Der Wetterbericht hatte einen herrlichen Sommertag vorhergesagt. Aber im Grunde genommen war es ihr egal.

Sie zögerte einen Moment, bevor sie ihre Tablette nahm, dann ging sie ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Auch wenn sie sich kaum auf das Programm konzentrieren konnte, brauchte sie die Berieselung, damit die Einsamkeit sie nicht erdrückte. An manchen Tagen ertrug sie die Leere besser, an anderen brauchte sie schon morgens um 9 Uhr ein Glas Rotwein. Heute war so ein Tag. Sie wollte sich gerade einschenken, als es an der Tür klingelte.

Vor ihr standen drei Unbekannte. Einer von ihnen trug eine neongelbe Jacke. Etwa auf Brusthöhe war ein kleines Schild mit einem Stern angebracht. Darunter waren im Halbkreis Buchstaben angeordnet. »Notfallseelsorger« entzifferte sie, blickte in die todernsten Gesichter und dachte nichts mehr. Der Boden unter ihren Füßen begann zu schwanken.

Martha hielt sich an der Flurkommode fest und wagte nicht, sich von der Stelle zu rühren. Sie hätte es auch nicht geschafft. Wie angewurzelt stand sie da. Ihre Augen suchten nach Halt in dem schwankenden Raum. Einer der Polizisten kam ihr entgegen und bot ihr seinen starken Arm an. Er war um die 50 und von etwas untersetzter Statur. Seine Kollegin war wesentlich jünger, groß und blond, und sie hatte ein sympathisches, offenes Gesicht.

»Carlo Oltmann ist mein Name, von der Osnabrücker Kriminalpolizei. Das sind meine Kollegin Birthe Schöndorf und Herr Pastor Meierbrink. Sind Sie Martha Cannstetter?«

Martha wurde blass. »Ja«, sagte sie kaum vernehmbar.

»Wohnt hier ein Georg Cannstetter?«

»Ja«, flüsterte Martha erneut. »Was ist mit meinem Mann?«

»Dürfen wir hereinkommen?«

»Was ist passiert?«, wiederholte Martha.

»Können wir irgendwo ungestört sprechen?«

»Im Wohnzimmer«, murmelte Martha und stolperte mit unsicheren Schritten voran.

»Ich muss Ihnen leider eine bedauerliche Mitteilung machen«, sagte Carlo, nachdem sie ihre Plätze eingenommen hatten. »Ihr Ehegatte Georg Cannstetter hatte gestern Abend einen schweren Verkehrsunfall.« Er senkte kurz den Blick und atmete geräuschvoll aus.

»Wo ist er?«, fragte Martha schwach mit weit aufgerissenen Augen und bleichem Gesicht. »Im Krankenhaus?«

Carlo schüttelte traurig den Kopf. »Der Unfall hat sich gestern am späten Abend auf der L 26 bei Canhusen in Richtung Norddeich zugetragen. Ihr Ehemann Georg Cannstetter hat ihn leider nicht überlebt. Er ist noch am Unfallort verstorben. Ich möchte Ihnen und Ihrer Familie mein Beileid ausdrücken.« Er seufzte leise.

»Mein Beileid«, murmelten Birthe und der Pastor.

Martha begriff die gesprochenen Worte nicht. Sie kamen nicht an sie heran. Wie in Watte gepackt, die alles einhüllte − die fremden Menschen, den Raum, die Geräusche, die Gerüche, alles um sie herum, sodass nichts zu ihr vordringen konnte. Es war ihr, als sei sie nicht länger sie selbst. Sie war jemand anders, nicht mehr Martha Cannstetter. Irgendein Mensch, der einfach nur funktionieren musste. Sie hörte die schlimme Nachricht, fühlte sich jedoch nicht persönlich betroffen. Georg war gestorben, aber was hatte das mit ihr zu tun? Sie war nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. »Wie denn? Ich meine, wo ist er gestorben?«, hörte sie sich fragen. Sie vernahm ihre Stimme wie aus weiter Ferne, verstand ihre eigenen Worte nicht. »Auf der Landstraße in Richtung Aurich/Norddeich. Sein Fahrzeug ist gegen einen Baum geprallt. Mehr wissen wir leider noch nicht. Nach dem aktuellen Stand der Ermittlungen gibt es keine weiteren Beteiligten an dem Unfall«, antwortete der Polizist ruhig.

Martha versuchte zu verstehen. »Vor Aurich/Norddeich? Er wollte doch nach Greetsiel! Wann wurde er gefunden?«

»Der Unfall wurde uns um 22.35 Uhr gemeldet. Laut ersten Ermittlungen war Ihr Mann auf der Stelle tot.«

»Ich verstehe nicht«, sagte Martha kaum hörbar. »Was ist passiert? Und warum Norddeich?«

»Frau Cannstetter«, sprach Birthe Schöndorf sie mit sanfter Stimme an. »Das wissen wir noch nicht. Es tut mir sehr leid. Der Wagen wurde abgeschleppt und wird auf Unfallspuren untersucht. Zum jetzigen Zeitpunkt lässt sich nichts Genaues über den Unfallhergang sagen. Eine Möglichkeit wäre, dass Ihr Mann die Kontrolle über den Wagen verloren hat, vielleicht Sekundenschlaf oder ein gesundheitliches Problem. Alkohol hatte er jedenfalls nicht im Blut. Sind Erkrankungen bekannt?«

»Nein«, murmelte Martha, »nein, nein, es ging ihm gut.«

»Wann haben Sie Ihren Mann das letzte Mal gesehen?«

»Gestern Abend. Er war nur kurz da. Vorher hat er an einer Konferenz teilgenommen, dann kam er auf einen Sprung vorbei, packte seine Sachen, aß im Stehen ein Käsebrot und fuhr los.«

»Wie hat er auf Sie gewirkt?«

»Nervös. Und müde. Ja, müde war er. Wann kann ich zu meinem Mann? Wo ist er jetzt?«

»Sobald er freigegeben ist«, sagte Carlo Oltmann. »Da es sich um einen unnatürlichen Todesfall handelt, befindet er sich in der Gerichtsmedizin.«

»Unnatürlicher Todesfall? Gerichtsmedizin? Warum?« Martha starrte den Kommissar entgeistert an.

Carlo Oltmann erhob sich. »Meine Kollegin Birthe Schöndorf und ich gehen jetzt, Frau Cannstetter. Pastor Meierbrink bleibt bei Ihnen. Wir kommen auf Sie zu, sobald wir Näheres wissen.«

Kapitel 6

Vor der Vertretungstafel eines Osnabrücker Gymnasiums stand Jutta Tiemeyer in ihrer langen, dünnen Strickjacke, die ihre Kurven umschmeichelte, und schob Plastiktäfelchen hin und her.

»Was soll das werden?«, fragte Ansgar Westendorp die Mittfünfzigerin ohne Gruß.

Die Lehrerin strich sich eine graublonde Strähne hinters Ohr. »Frau Lüders hat sich krankgemeldet und ich mache den Vertretungsplan. Es ist ja kein anderer da.«

»Was soll das heißen, kein anderer? Was ist mit Georg? Wo steckt er?«

Jutta Tiemeyer zuckte mit den Schultern. »Ich dachte, Sie wüssten Bescheid. Herr Cannstetter hat einmal im Monat freitags frei. Er bündelt dafür sein Deutschseminar und zieht die Stunden vor.«

»Mein Gott, an dieser Schule macht auch jeder, was er will. Der Cannstetter meint wohl, in seiner Stellung kann er sich alles erlauben. Und was Sie betrifft, Sie überschreiten schon wieder Ihre Grenzen.«

»Ja, aber ich habe mir erlaubt, schon mal …«

»Frau Tiemeyer«, sagte Westendorp gedehnt und steckte seine Hände in die Hosentaschen, »nett, dass Sie sich engagieren, aber Sie überschreiten Ihren Kompetenzbereich. Sie sind nicht zuständig für den Vertretungsplan, auch nicht in meiner oder Herrn Cannstetters Abwesenheit. Sie kennen die Hierarchie, nehme ich an? An oberster Stelle steht Cannstetter. Und danach komme ich. Und da Herr Cannstetter nicht da ist, warum auch immer, bin ich zuständig. Und im Übrigen, mit dieser Lüders werde ich ein ernstes Wörtchen reden müssen. Ständig meldet sie sich krank.«

»Sie hat ein kleines Kind«, bemerkte Jutta Tiemeyer.

»Ich weiß, doch das lasse ich nicht als Entschuldigung gelten. Frau Lüders sollte ihren Job wie alle anderen wahrnehmen. Sie muss ihr Privatleben organisieren, es interessiert keinen, was bei ihr zu Hause los ist. Entweder man arbeitet oder bleibt mit dem Kind zu Hause. Anders geht es nicht.«

»Sie ist momentan sehr gefordert, Herr Westendorp. Das Kind, die Prüfungen …«

Ansgar bedachte sie mit einem grimmigen Blick. »Das ist nicht unser Problem, Frau Tiemeyer, was? Das kann nicht zu unseren Lasten gehen. Es gibt Kinderkrippen.«

»Und wenn das Kind krank ist? Was soll sie dann machen?«

Ansgar Westendorp stemmte seine Hände in die Hüften. »Ich glaube, wir alle wissen, was sie dann macht«, sagte er und stöhnte demonstrativ.

Die Kollegin sah ihn verständnislos an. Dann schlug sie sich mit der Hand vor die Stirn. »Ach, Entschuldigung, Sie haben ja heute Geburtstag. Also, herzlichen Glückwunsch!«, stammelte sie und schluckte.

»Danke«, sagte Westendorp trocken.

Da Tiemeyer keine Anstalten machte, aus dem Weg zu gehen, musterte er sie scharf und knurrte: »Haben Sie nichts zu tun?«

Die Kollegin warf ihm einen beleidigten Blick zu und verließ das Lehrerzimmer. Ansgar Westendorp stellte sich vor den Plan und verschob die Täfelchen. Verteilte sie auf dem Brett, setzte sie hierhin und dorthin, bis sie schließlich doch wieder genau so platziert waren wie zuvor. Es ärgerte ihn, dass die übereifrige Oberstudienrätin offenbar eine Lösung gefunden hatte.

»Sorgen Sie dafür, dass die Kinder heute aufgeteilt werden«, rief er einer jüngeren Kollegin zu. »Frau Kettner übernimmt die Pausenaufsicht für Frau Lüders. Ab morgen kommt ein Vertretungsplan zum Einsatz.«

»In Ordnung«, antwortete die junge Lehrerin schüchtern.

Ansgar Westendorp nahm seine Tasche und marschierte schlecht gelaunt über den langen Flur zu seinem Klassenraum. In der 7b ging es drunter und drüber. Er hatte es schon lange aufgegeben, die Kinder freundlich zu begrüßen. Westendorp hasste seinen Beruf.

Kapitel 7

»Die Drohmail habt ihr nicht erwähnt?« Daniel Brunner hielt die Arme hinter seinem Kopf verschränkt.

»Die Frau stand vollkommen neben sich«, sagte Birthe. »Sie hat kaum verstanden, was geschehen ist. Wir warten lieber noch.«

»Wann wird sie davon erfahren?«

»Wir fahren Montag noch mal raus«, sagte Carlo Oltmann. »Ich denke, das ist früh genug. Kommst du mit?«

Daniel tippte auf sein zitronengelbes Shirt mit der Aufschrift Ich habe eine Lösung, aber sie passt nicht zum Problem. »Ich? Nicht Birthe?«

»Birthe fährt am Montag nach Greetsiel. Anordnung von oben.«

»Davon weiß ich ja noch gar nichts«, protestierte Birthe. »Ich soll nach Greetsiel? Wer hat das gesagt?«

»Cheffe hat eine Mail geschickt.«

»Warum ausgerechnet ich?«

»Keine Ahnung«, sagte Carlo. »Du bist jung, du bist flexibel …«

Birthe stöhnte. »Das ist Daniel auch.«

Carlo verzog sein Gesicht. »Jaaa«, brummte er. »Er will aber dich, Birthe. Er wird schon wissen, warum.« Er zwinkerte und lächelte verschmitzt.

»Puh«, machte Birthe, »Greetsiel – na ja, warum nicht? Ich war schon lange nicht mehr an der Nordsee.«

»Dann mach das Beste draus. Das Wetter soll schön bleiben in den nächsten Tagen. Es gibt Schlimmeres, als ein paar Tage in Ostfriesland zu ermitteln.«

*

Franziska Blankenfeld stellte ihr Auto in einer Seitenstraße der Lotter Straße ab und blieb noch eine Weile hinter dem Steuer sitzen. Es waren nur wenige Meter bis zu dem Hotel, in dem sie ihn gleich treffen würde. Wie immer vor einem heimlichen Date spielten ihre Gefühle verrückt. Sie war sich nicht sicher, ob sie diese Treffen wirklich wollte oder sie sich nur darauf einließ, um sich an Alexander zu rächen. Anfangs war es so gewesen. Alexander war als Chefarzt einer Osnabrücker Klinik viel unterwegs, auf Dienstreisen und Kongressen. Manchmal war er die ganze Woche über nicht da. Das war früher nicht so gewesen, da hatte er sich noch Zeit genommen für seine Familie, für Konrad und sie. Sie waren gemeinsam in den Urlaub gefahren oder wenigstens für ein verlängertes Wochenende nach Juist oder Sylt. Das alles schien ihn neuerdings nicht mehr zu interessieren. Eine Freundin aus dem Golfclub hatte ihr gesteckt, ihn einige Male in Begleitung einer attraktiven Frau gesehen zu haben, mit der er sich sehr gut zu verstehen schien. Sie arbeitete in derselben Klinik wie er.

In ihren dunkelsten Stunden, in denen sich Franziska fast zerfleischt hatte vor Selbstmitleid und Selbstvorwürfen, war dieser fremde Mann plötzlich aufgetaucht. Sie hatte Ferdinand beim Bäcker kennengelernt, als sie an einem Samstagmorgen für die Familie Brötchen holte. Er lehnte lässig an der Theke des Cafés und trank Kaffee. Als sie mit ihrer Bäckertüte an ihm vorbeiging, sprach er sie an und wollte wissen, woher er sie kannte. Sie war sich sicher, ihn noch nie gesehen zu haben. So ein gutaussehender Mann wäre ihr aufgefallen. Nach einem kurzen Wortwechsel steckte er ihr seine Visitenkarte zu. »Ich hätte Lust, mal mit Ihnen zu telefonieren. Ihre Stimme gefällt mir. Ich würde Ihnen gerne länger zuhören. Rufen Sie mich an, wenn Sie Zeit und Lust haben.« Er sah sie mit einem ernsten Ausdruck an, weniger flirtend, sondern so, dass ihr warm ums Herz wurde und sie sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder fühlte, als würde sie tatsächlich gesehen. Vielleicht war dies der Moment, in dem es eigentlich schon zu spät war. Ihre Augen trafen sich, lange genug, dass sie errötete. Er gefiel ihr. Die leicht gebogene Nase passte zu ihm, zu seiner gesamten attraktiven Erscheinung, seinem adeligen Aussehen. Seine Kleidung war klassisch, edel und gewiss teuer. Seinem Auftreten nach zu urteilen hätte er ein Gutsbesitzer sein können. Vor ihrem inneren Auge zogen Bilder vorbei. Sie sah ihn Pfeife rauchend in einem tiefen Sessel vor einem Kamin sitzen, ein Jagdhund zu seinen Füßen. Über dem Kamin eine Bildergalerie in Öl. Regalwände aus dunklem Holz, gefüllt mit Büchern der Weltliteratur, dominierten den repräsentativen Raum. In der Mitte ein großer englischer Schreibtisch mit einer grünen Wallstreet-Leuchte und teuren Dekorationsobjekten. Dunkelrote Orientteppiche auf dem glänzenden Holzdielenboden verliehen dem Raum eine warme Note. An so einen Ort passte er, der Anlage- und Vermögensberater Ferdinand von Hellensdorf.

Dieses Bild hatte sie lange von ihm.

Einen Landsitz besaß er nicht, dafür eine Penthouse-Wohnung in der Innenstadt, die sie noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Immer nur dieses Hotel, das Doppelzimmer im Hotel Klute, das zu ihrem geheimen Treffpunkt geworden war.

Er war ein guter, aufmerksamer Liebhaber. Und er ließ sie vergessen, dass sie eine frustrierte Ehefrau war, die jahrelang unter dem Desinteresse und der Lieblosigkeit ihres Mannes gelitten hatte.