Villenzauber - Alida Leimbach - E-Book

Villenzauber E-Book

Alida Leimbach

4,6

Beschreibung

Neid, Missgunst und Intrigen sprengen einen seit Kindertagen bestehenden Freundeskreis. Muttersöhnchen Eberhard hat genau das, was die anderen begehren: eine repräsentative Villa in einem angesagten Osnabrücker Stadtteil, dem Westerberg. Frühere Konflikte und alte Wunden brechen auf, als eine von ihnen einem Verbrechen zum Opfer fällt. Die Kommissare Birthe Schöndorf und Daniel Brunner nehmen die Ermittlungen auf und finden sich bald in einem Netz aus zerstörten Träumen und Eitelkeiten wieder …

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aLIDA lEIMBACH

Villenzauber

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2013 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung: Julia Franze

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

Für Thomas

Trenne dich nicht von deinen Illusionen.Wenn sie verschwunden sind, wirst du weiter existieren, aber aufgehört haben zu leben.

Mark Twain

1.

Als sie am großen Spiegel vorbeikam, blieb sie einen Moment davor stehen. Sie sah perfekt aus an diesem Abend. Sexy, elegant, selbstbewusst – so hatte sie sich eine Zahnarztfrau immer vorgestellt. Bald würde sie es sein. Sie warf ihre Haare zurück und öffnete die Tür.

»Hi, Lydia, wie schön, dich zu sehen«, strahlte Sandra wie auf Knopfdruck und küsste ihre Freundin rechts und links auf die Wangen.

»Freue mich auch. Eine Kleinigkeit für dich.« Lydia überreichte ihr eine Likörflasche mit einem durchsichtigen Stöpsel, in dem sich ein dickes Liebespärchen aus Plastilin tummelte. Dafür gab Sandra ihr noch einen Kuss.

»Und wo ist das Geburtstagskind? Volker bekommt von mir diesen grandiosen Wein und einen Gutschein für das Restaurant in seinem Golfclub. Schließlich wird man nur einmal im Leben 50.«

»Da wird er sich aber freuen«, sagte Sandra laut und flüsterte dann in Lydias Ohr: »Du, er ist schon da!«

Lydia hatte das Pech, schnell rot zu werden, und ärgerte sich darüber. Sie wusste, was ihr bevorstand. Sandra wollte sie mit einem Bekannten verkuppeln, ausgerechnet einem Lehrer – eine Berufsgruppe, die sie noch nie hatte leiden können. Kuppelei fand sie ohnehin schrecklich, aber was sollte sie machen, sie steckte nach der letzten Trennung in einer tiefen Krise. Nur ein neuer Partner würde ihr da heraushelfen können, glaubte sie.

»Na, komm schon her«, sagte Sandra und zog die leicht verwirrte Lydia an der Hand ins Wohnzimmer des eleganten Penthouses in der Osnabrücker Fußgängerzone.

»Froggylein, kommst du bitte? Lydia ist da!«

Volker, der Star-Zahnarzt, kam auf sie zu und begrüßte sie mit einem jovialen Schulterklopfen wie eine alte Freundin.

»Herzlichen Glückwunsch, Volker, ich habe dir einen guten Tropfen mitgebracht, aus Südafrika, deinem Lieblingsreiseland. Ich hoffe, er trifft deinen Geschmack. Und dazu einen Gutschein für gesellige Stunden im Club«, sagte sie augenzwinkernd.

»Wunderbar, Lydia, ich danke dir.« Er küsste sie flüchtig auf die Wange. Jetzt kam auch Frauke auf sie zu, die ewige Alternative, ein Relikt aus den 80er-Jahren, und begrüßte sie mit Küsschen links und rechts. Wie gewöhnlich trug sie ein wallendes, indisches Kleid und darüber eine Häkelstola. Ihre grauen Haare waren streichholzkurz geschnitten und die Ohrringe baumelten fast bis zu den Schultern.

Er saß mit dem Rücken zur Tür und drehte sich plötzlich um. Ihre Blicke trafen sich und blieben eine Spur zu lang aneinander haften. Gar nicht mal so schlecht, dachte sie.

Eberhard, so hieß der Lehrer, machte einen gelassenen Eindruck. Er stand auf und sie wurden einander vorgestellt. Lydia schluckte. Ihr Herz hämmerte bis zum Hals. Sie musterte ihn von oben bis unten und war hin- und hergerissen. Seine Kleidung gefiel ihr nicht, wie sie schnell feststellte. Nach ihrem Geschmack war er viel zu bieder und altmodisch angezogen. Trotzdem hatte er zweifelsohne etwas. Seine Augen. Sie waren von einem dunklen Braun, umrahmt von dichten Wimpern und schön geschwungenen Augenbrauen. Lydia konnte kaum den Blick von ihm abwenden. Wie ferngesteuert begrüßte sie die anderen Gäste, Carola von Hünefeld und deren Mann Matthias.

Ihre Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt, als sie ihren Platz neben Eberhard einnahm.

»Möchtest du Wein?«, wandte sich Volker an Lydia. Er zeigte ihr drei verschiedene Sorten und sie deutete sicherheitshalber auf den Rosé.

Der Tisch war stilvoll eingedeckt. Alles in edlen Champagnertönen, mit gestärkten Leinenservietten, kristallgeschliffenen Gläsern, Blumen, Kerzen und feinem Porzellan. Auf einem Spiegeltablett in der Mitte waren mehrere Teelichter in kleinen Gläsern arrangiert. Vor jedem Teller lag eine Rolle aus Pergamentpapier, die mit einem silberfarbenen Geschenkband zusammengebunden war – offensichtlich die Speisekarte. Lydia öffnete sie und erschrak. Das sollte sie alles essen? Und darunter waren so schwierig zu handhabende Delikatessen wie Jacobsmuscheln und Hummer. Sie wurde immer nervöser.

Eberhard hatte sie anscheinend beobachtet, denn er wandte sich ihr zu und lachte. »Keine Sorge, ich esse das auch nicht jeden Tag und weiß nicht so genau, wie man sich dabei anstellt. Hummer ist nicht so unbedingt nach meinem Geschmack. Muss man wissen. Aber wir üben das gemeinsam.«

»Muss man wissen«, spöttelte Carola. »Ach, Eberhard, du und deine Floskeln. Das macht dich aus. Diesen kleinen Satz benutzt du, seit ich dich kenne. Wenigstens einer, der sich selbst treu bleibt.«

Lydia lächelte Eberhard verständnisvoll an. Wieder trafen sich ihre Blicke, eine Spur zu lang und intensiv. Eberhard hatte Lachfältchen um die Augen, die Lydia gefielen. Sie mochte seine Hände, die groß und feingliedrig waren wie die Hände eines Klavierspielers.

Auch Eberhard schien sie sympathisch zu finden. Er scherzte und lachte mit ihr und schenkte ihr immer wieder bewundernde Blicke von der Seite. Besonders ihre langen, gewellten roten Haare schienen es ihm angetan zu haben. Früher stand Lydia mit ihnen auf Kriegsfuß, aber jetzt fand sie selbst, dass sie ihr blasses, sommersprossiges Gesicht wunderschön umrahmten.

»Du hast ein tolles Kleid an«, sagte Sandra zu Lydia. »Ist das Pink? Steht dir gut!«

»Nein, das wirkt nur in diesem Licht so«, sagte Lydia. »Ist eher ein tiefes Rot.«

»Wirklich apart zu deiner Haarfarbe. Ferragamo, oder? Ich habe so ein ähnliches in der Bunte gesehen.«

»Nein, von H&M.«

Es entstand eine kurze Pause, während der Sandra Lydia milde anlächelte. »Macht doch nichts«, sagte sie schließlich. »Da gibt es auch tolle Sachen, wenn man einen Blick dafür hat. Und ich weiß ja, dass du im Augenblick nicht so flüssig bist. Übrigens habe ich eine neue Handtasche. Willst du sie mal sehen?« Sie verschwand kurz und kehrte mit einem glänzenden pink- und lilafarbenen Teil zurück, das sie vor den Augen ihrer Freundinnen hin- und herschwenkte.

»Wow, Gucci, ich glaub’s nicht«, sagte Carola anerkennend, »wo hast du die denn her?«

»Hat mir Volker aus Mailand mitgebracht. Ist er nicht süß, mein Ritterchen?« Sandra warf einen schmachtenden Blick in Volkers Richtung.

»Wieso war Volker allein in Mailand?«, hakte Carola nach.

»Er war doch gar nicht allein«, protestierte Sandra. »Mit seinen Freunden vom Golfclub war er da. Die fahren einmal im Jahr zusammen weg.«

»Die Männer«, brachte es Carola trocken auf den Punkt, »ganz allein.«

»Ich hätte gern noch einen Schluck Wein«, meldete sich Frauke, um auch einmal etwas zu sagen.

»Stellenbosch ist hervorragend zum Golfspielen«, dröhnte Volker gerade, »da müsst ihr mal hin, da tummeln sich die VIPs. Absolut angesagt. Überhaupt Süd­afrika, traumhaft schön, sag ich euch. Stimmt’s, Sandra? Für ’nen Appel und ’n Ei kriegt ihr ein komplettes Menü mit den besten Weinen. So was Gutes habt ihr noch nie gegessen und getrunken. Und spottbillig! Die Bedienung ist superfreundlich und liest euch jeden Wunsch von den Augen ab. Die Leute putzen sogar für ein kleines Trinkgeld eure Schuhe. Wo gibt es so was noch? Das ist ein Lebensgefühl, sage ich euch. Da unten bist du noch jemand.«

»Glaub ich dir aufs Wort«, fiel Carola spöttisch ein. »Das brauchst du, Volker, nicht wahr, das gibt dir den nötigen Kick.«

Er sah sie scharf an. »Das musst du gerade sagen, Carola, ausgerechnet du.«

Sandra legte ihm besänftigend die Hand auf die Schulter. »Jetzt nicht, Volker.«

»Volker ist zwar ein kleiner Chauvi«, sagte Frauke augenzwinkernd, »aber man muss ihm seine soziale Ader zugutehalten.«

»Ach ja?« Carola zog die Stirn in Falten. »Sozial? Du?«

»Doch, doch! Erzähl’s ruhig, Volker!«

»So ist es«, sagte Volker kauend, »nett, dass du das hier mal erwähnst, Frauke. Unsere Frauke hatte ja immer schon ein Herz für Schwache. Ich unterstütze sie manchmal, die Frauke. Und dadurch natürlich auch die Schwachen in unserer Gesellschaft. Mach ich gerne, kommt ja schließlich armen Kindern zugute. Guckt nicht so, ich glaube, ich kann mich als Einziger von euch wirklich in diese armen Würmer hineinversetzen und helfe, wo ich nur kann. Wann sammeln wir mal wieder samstags in der Fußgängerzone, Frauke? Du weißt, ich bin jederzeit mit von der Partie.« Er zwinkerte ihr zu.

»Frauke, lass dich nicht erniedrigen von ihm«, sagte Carola bissig, »ich weiß, du brauchst jeden Cent, aber nimm ihn nicht von Volker. Alles, was er tut, schmeichelt seinem Ego. Unter Hilfe verstehe ich etwas anderes!«

»Hör auf herumzunölen«, herrschte Matthias seine Frau an, »Volker hat heute Geburtstag.«

»Ich kann es ja ruhig sagen«, fuhr Frauke unbeirrt fort. »Volker hat in seiner Zahnarztpraxis Geld gesammelt für mein Projekt. Er hat auf 500 Euro aufgerundet. Das ist mir auf jeden Fall eine Hilfe!« Sie prostete Volker zu.

»Das stimmt!«, warf Sandra ein und erntete einen zynischen Seitenblick von Carola.

Eine Weile herrschte eisiges Schweigen. Jeder war mit seinem Hummer beschäftigt. Nur Lydia und Eberhard schienen sich wohlzufühlen. Je länger der Abend dauerte, desto mehr blühte Lydia auf. Die Nähe zu Eberhard tat ihr gut.

»Wo wohnen Sie eigentlich?«, fragte Lydias Tischpartner gerade und hob sein Glas.

»In der Bismarckstraße, am Westerberg«, antwortete sie lächelnd.

»Ach«, er zog seine Augenbrauen hoch, »in der Bismarckstraße? Wirklich? Da wohne ich auch!« Er strahlte.

»Ach nein, was für ein Zufall«, sagte Lydia, »vielleicht kommen Sie mir daher so bekannt vor, irgendwie dachte ich gleich, ich hätte Sie schon mal irgendwo gesehen. Welche Hausnummer haben Sie denn?«

Er sagte es ihr. »Und Sie?«

»Gar nicht so weit weg von Ihnen. Sogar auf derselben Seite. Komisch, dass wir uns nicht ständig über den Weg laufen. Aber wir können ruhig Du sagen. Ich heiße Lydia.« Sie gab ihm die Hand.

»Eberhard«, sagte er und räusperte sich. »Nein, ehrlich gesagt, wundert mich das gar nicht«, fuhr er fort. »Jeder kümmert sich doch nur um seine eigenen Belange. Ich kenne nur meine direkten Nachbarn, den spießigen Herrn Fleischhauer von nebenan«, er verzog das Gesicht, »und die alte Frau von gegenüber. Aber wenn du willst, dann komm doch mal auf einen Kaffee vorbei, das heißt«, er stockte, »im Moment ist das etwas schlecht. Vielleicht fällt uns etwas anderes ein, wo wir uns treffen könnten.« Eberhard dachte an seine Mutter, mit der er die herrschaftliche Villa bewohnte, und zog es vor, sie nicht zu erwähnen.

»Kein Problem, dann komm du doch zu mir«, sagte Lydia begeistert. »Ich habe eine gemütliche Altbauwohnung mit einem kleinen Wintergarten. Am Wochenende sitze ich dort gerne, trinke Tee und lese. Es ist herrlich, vor allem der Ausblick auf den Garten, das kannst du dir nicht vorstellen. Es ist wie im Märchen!« Sie schwärmte Eberhard von ihrer Wohnung vor, der großen Wohnküche mit Gasherd, dem Wohnzimmer mit skandinavischem Kaminofen, dem Schlafzimmer mit antikem Himmelbett.

»Die Wohnung ist eigentlich viel zu groß für mich«, sagte Lydia bedauernd, »deshalb suche ich etwas anderes. Die Miete ist leider erhöht worden.« Sie senkte den Blick und wurde rot. »Ich kann sie mir nicht mehr leisten. Also werde ich auf Wohnungssuche gehen müssen.«

Matthias, der die Unterhaltung verfolgt hatte, zog die Augenbrauen hoch und sah aus dem Fenster. Die Große Straße, Hauptfußgängerzone der Osnabrücker Innenstadt, war hell erleuchtet.

Eberhard verschlang Lydia mit den Augen. Er fand sie hinreißend mit ihren roten Haaren, den sanften grünen Augen und der erotischen Ausstrahlung. Am liebsten wäre er mit ihr auf der Stelle in ihre Altbauwohnung mit Wintergarten und Kamin gegangen. Und dem großen Himmelbett. Und plötzlich hörte er sich sagen: »Mir geht es genauso. Auch mein Haus ist für mich allein viel zu groß. Ich denke schon lange daran, es zu verkaufen. So viel Platz brauche ich gar nicht. Eine kleinere, praktischere Wohnung könnte ich mir gut vorstellen.« Er sah Lydia intensiv in die Augen. Die Gespräche um sie herum verstummten plötzlich. Alle Anwesenden sahen zu ihnen herüber. Volker hüstelte und ergriff als Erster das Wort.

»Entschuldige, Eberhard, wenn ich mich einmische«, räusperte er sich, »habe ich richtig gehört? Sagtest du gerade, du hättest die Absicht, deine Villa zu verkaufen?«

Eberhard sah ihn irritiert an. »Ja, ja, schon«, stotterte er, »ich denke darüber nach. Das Haus ist in der Tat zu groß für mich, muss man wissen, allein schon die Energiekosten, das kann man sich heutzutage gar nicht mehr leisten. Ich werde mich mal um einen Makler bemühen.«

»Vielleicht brauchst du das gar nicht«, beeilte sich Volker und stellte sein Glas ab, »komm, trink noch einen Schluck!« Er schenkte seinem Freund großzügig nach. »Hör zu, ich hätte Interesse an dem Haus. Ich will schon lange die Kassenpatienten loswerden und eine reine Privatpraxis eröffnen. Das ist wesentlich lukrativer. Von den kassenärztlichen Vereinigungen wirst du doch von vorne bis hinten nur beschissen und betrogen, da kommst du auf keinen grünen Zweig mehr.«

»Puffelchen«, sagte Sandra eindringlich und legte ihre Hand auf seinen Unterarm, »lass das jetzt.«

»Ist doch wahr«, schnaubte Volker und schüttelte ihre Hand ab, »Privatpatienten sind die Zukunft. Lass uns darauf trinken.«

»Dein Wort in Gottes Ohr«, sagte Carola und betupfte sich mit der Stoffserviette die Mundwinkel. »Matthias kann es schon lange nicht mehr hören, meine ewige Litanei, aber es ist doch so. Wisst ihr, wie viel ich pro Quartal für eine Kassenpatientin abrechnen darf? Höchstens 65 Euro. Mein Quartalsbudget ist regelmäßig überschritten. Und in acht Minuten muss sie durch sein. Wehe, sie will noch was mit mir besprechen. Probleme mit Sex oder Verhütung, dafür reicht die Zeit einfach nicht. Alles, was über die acht Minuten hinausgeht, zahle ich aus eigener Tasche. Da muss man doch schön blöd sein, wenn man das auf Dauer mitmacht, oder?«

Carolas Mann sah sie verächtlich an. Als Abteilungsleiter in der Kreditabteilung einer großen Bank verdiente Matthias so gut, dass allein sein Gehalt ausgereicht hätte, um seiner Familie einen hohen Lebensstandard zu bieten. Zusammen mit ihrem Einkommen hatten sie mehr als genug.

Volker ignorierte sie und wandte sich direkt an Eberhard: »Weißt du was, deine Villa wäre perfekt für meine Vision. Das kann ich mir einwandfrei vorstellen. Das Haus ist groß genug, wenn nicht sogar optimal, und wenn man eine Ebene begradigt und alles pflastert, könnte man im Garten Stellplätze errichten, das wäre überhaupt kein Problem. Lass uns nächste Woche einen Termin ausmachen. Wir besprechen das alles noch mal in Ruhe bei einem guten südafrikanischen Wein.« Er entblößte seine tadellosen Zähne. »Auf dein Wohl, Eberhard«, sagte er munter und hob sein Glas.

»Halt!«, meldete sich Carola zu Wort. »Nicht so schnell, mein Lieber. Vielleicht gibt es noch jemanden, der Interesse an dem Haus hätte. Ich zum Beispiel. Ich bin schon lange in die Villa verliebt, stell dir vor.«

Lydia sah überrascht zwischen Eberhard, Volker und Carola hin und her. Sie fand das Gespräch ungeheuer spannend.

»Was sagt eigentlich deine Mutter dazu, Eberhard?«, fragte Carola spitz. »Dass du die Villa verkaufen willst, meine ich. Ich denke, sie hängt so daran.«

Eberhard fuhr sich verlegen durch die Haare. »Das liegt absolut im Interesse meiner Mutter«, stotterte er. »Mach dir deswegen keine Sorgen.« Sein Blick flackerte nervös und blieb an Carolas Mann hängen. Er überlegte krampfhaft, wie er das Thema wechseln könnte. Es war ihm peinlich, dass er mit über 50 Jahren immer noch mit seiner Mutter zusammenlebte, und er ahnte, wie Carola darüber dachte. »Und du, Matthias? Wie läuft’s so bei dir? Was machen die Geschäfte?«

Matthias, erleichtert, endlich einmal zu Wort zu kommen, riss das Gespräch an sich. Langatmige Berichte über endlose Kreditverhandlungen, streitende Ehepaare und Zinsentwicklungen folgten.

Volker gähnte, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten. »Hör mal, Matthias, ich brauch dich vielleicht demnächst mal. Möchte mir ein neues, sauteures Röntgengerät anschaffen und hoffe natürlich, du kannst mir einen günstigen Kredit beschaffen. Und diese Hausgeschichte werde ich weiter verfolgen. Wann machen wir einen Termin beim Notar, Eberhard? Hoffe doch, du schaltest keinen Makler ein. Diese Windhunde sehen von mir keinen Cent. Glauben, nur weil sie wichtigtuerisch durch das Objekt marschieren, dabei mit dem Exposé herumwedeln und mit dem Schlüsselbund klimpern, hätten sie das Recht, einen nach Strich und Faden abzuzocken. Sei nicht dumm, Eberhard, und lass es uns unter uns ausmachen. Diesen Freundschaftsdienst könntest du mir schon erweisen. Ich werde mich erkenntlich zeigen. Wir bleiben im Gespräch.«

Carola sandte ihm einen stechenden Blick zu und griff nach der Weinflasche. »Vergiss es.«

»Was sagst du?«, fragte Volker.

Sie lächelte schief. »Ich will diese Villa! An mir kommst du nicht vorbei. Das weißt du. Du kennst mich!«

Frauke wandte sich an Sandra. »Schätzchen, sagtest du nicht etwas von Cocktails, die wir uns mixen wollten? Drüben an der Bar? Lassen wir die Männer mal alleine. Die brauchen uns dabei nicht.« Als keiner reagierte, fügte sie hinzu: »Es ist doch Volkers Geburtstagsparty. Lasst uns ein bisschen feiern und fröhlich sein. Bitte, mir zuliebe!«

*

Als Carola und Matthias Stunden später wieder zu Hause eintrafen, fanden sie Svetlana, das Au-pair, im Wohnzimmer vor. Sie hatte es sich in der Rundecke bequem gemacht und hielt ein Rotweinglas in der Hand. Im Fernsehen lief ein Krimi.

»Na, Svetlana, alles ruhig?«, fragte Carola.

»Oh, schon zuruck? Warr gutt? Hierr alles rruhig. Ich hab Kinnerr noch vorrgelesen, gespielt und dann brrav ohne Murrrren ins Bett. Kein Prroblem.«

»Na, das ist ja prima. Vielen Dank, Svetlana, Sie können sich jetzt zurückziehen. Wir brauchen Sie heute nicht mehr. Gute Nacht.« Carola drehte sich um und ging die Treppe hoch.

Svetlana stand auf und folgte ihr. Matthias versuchte, die junge Frau am Arm festzuhalten, aber sie machte sich von ihm frei.

»Guterr Nacht!«, hauchte die Tschechin und warf ihm einen scheuen Blick zu.

Er sah Svetlana hinterher, wie sie über die Wendeltreppe ins obere Stockwerk ging. Dann trank er ihr Weinglas leer, setzte es abrupt auf dem Glastisch ab und ließ sich auf die Rundcouch fallen. Er stützte seinen Kopf in beide Hände. Schließlich stand er auf und ging ebenfalls nach oben. Er fand seine Frau im Bad vor. Sie hatte sich die Haare aus dem Gesicht gesteckt und schminkte sich gerade ab. »Scheißparty«, knurrte sie.

»Was hast du dir da eigentlich zusammengereimt, von wegen Hauskauf? Hast du dir die Villa von Eberhard mal angesehen? Bist du größenwahnsinnig geworden?«, herrschte er Carola an.

»Wieso? Er verkauft ja sowieso nicht, reg dich nicht so auf. Ich wollte nur nicht, dass Volker sich so aufspielt.«

»Da bin ich mir nicht so sicher. Warum sollte Eberhard nicht verkaufen wollen? Er lebt mit seiner greisen Mutter allein da drin. Spätestens wenn die Alte das Zeitliche segnet, wird er doch verrückt in so einem Palast. Da dreht er durch, gerade Eberhard, du kennst ihn doch. Also ist es nur verständlich, wenn er jetzt daran denkt, sie abzustoßen, ich meine, die Villa. Wie kommst du nur dazu, überhaupt Interesse zu bekunden? Ich kann mir schon denken, warum. Weil du Volker nichts gönnst. Das war schon immer so. Pass mal auf, dass du da kein Eigentor schießt.«

»Volker? Der kann mich mal. Versnobter Langweiler. Denkt, er wäre was Besonderes, nur weil er sich bei betuchten Patientinnen vorne und hinten einschleimt? Du weißt, um welchen Preis. Jeder weiß das, der nicht völlig auf den Kopf gefallen ist. Aber ich will nicht, dass der immer so angibt. Der kommt doch aus ganz einfachen Verhältnissen, der soll mal schön auf dem Teppich bleiben. Seine Südafrika-Angeberei geht mir so dermaßen auf den Geist. Und seine angeblich soziale Ader – hahaha, ich lach mich tot! Ausgerechnet Volker! Ein größerer Egomane als er ist mir nie begegnet. Er will immer toll dastehen, ob als Snob oder als Retter der Welt. Er ist so furchtbar, dieser Typ!«

»Ich sage nur: Lass die Finger von dem Haus. Ich kenne dich. Ich weiß, wie du über deine Praxisräume denkst. Und ich weiß, wovon du träumst. Andeutungen in diese Richtung hast du schon oft gemacht. Aber ich rate dir, übernimm dich nicht. Wir haben genug Probleme am Hals, da brauchen wir so ein Projekt nicht.«

»Wir haben nur deshalb Probleme, weil du dich um nichts kümmerst. Du kennst nur deine Arbeit. Die Kinder und ich sind dir egal.«

»Jetzt sei nicht ungerecht.«

»Nein, ich meine das so, wie ich es sage. Aus der Erziehung hältst du dich raus, ich bin es, die mit den Kindern Hausaufgaben macht und sie anschließend durch die Stadt chauffiert. Obwohl ich so ganz nebenbei auch noch berufstätig bin. Ich bin Köchin, mache mir ständig einen Kopf, wie ich die Kinder gesund ernähren kann, bin Reinigungsfachkraft, Lehrerin, Kinderanimateurin, Taxifahrerin und zufällig auch noch Frauenärztin. Alles in einer Person.«

»Du beschwerst dich, Carola? Hast doch genug Hilfen im Haus. Du tust gerade so, als müsstest du alles alleine schultern.«

»Hör mal zu, mein Lieber, die Putzfrau, die einmal in der Woche kommt, und Svetlana, die mehr im Weg herumsteht als sich nützlich macht, sind Tropfen auf den heißen Stein, mehr nicht.«

»Und wie oft spannst du mich für Fahrdienste ein? Rufst mich im Büro an, weil du in der Praxis festsitzt, und ich kann mir nichts, dir nichts, alles stehen und liegen lassen und zwischen zwei Kundenterminen nach Hause flitzen, um die Kinder zu ihren völlig überteuerten und überflüssigen Kursen zu bringen. Außerdem willst du es ja so. Keiner zwingt dich dazu. Wer sagt denn, dass Kinder in dem Alter schon Chinesisch lernen sollen und den ganzen Schnickschnack? Schick sie in den Sportverein, da können sie selbst mit dem Fahrrad hinfahren. Der OTB ist ja direkt um die Ecke.«

»Ach, da werden sie doch nicht gefördert. Friederike ist hochbegabt und braucht einen speziellen Unterricht. Sie ist sonst unterfordert. Hast du dir die Kinder in den Sportvereinen mal angesehen? Die passen nicht zu Friederike und Bjarne. Ich mache mir im Gegensatz zu dir Gedanken darüber, wie ich sie fit machen kann für später, für die Gesellschaft. Weil sie sonst nicht konkurrenzfähig sind in dieser globalisierten Welt. Wer nicht früh genug anfängt, hat irgendwann keine Chance mehr.«

»Seit wann ist Friederike hochbegabt? Ich glaube, du tickst nicht mehr richtig. Die Kinder haben ein Recht auf eine ganz normale Kindheit. Sie wünschen sich so sehr, auch einmal Burger zu essen bei McDonald’s und nicht immer dieses überzüchtete Tofu-Zeugs. Und Bjarne träumt davon, einmal in seinem Leben einen Freizeitpark zu besuchen. Warum siehst du alles so eng?«

»Du hast keine Ahnung. Sitzt nur in deinem Büro und vertiefst dich in deine Akten.« Sie sah ihn feindlich an. »Die Hauptlast trage ich. Dieses Flittchen von Svetlana ist keine Entlastung, wie ich schon sagte. Konnte ich ahnen, dass sie keinen Führerschein hat? Ich bin davon ausgegangen, dass jedes Au-pair Auto fahren kann. Ich werde bei der Agentur anrufen. Sie sollen mir ein neues Mädchen schicken, eins mit Führerschein.«

»Carola, ich warne dich, halt dich da raus. Das kannst du den Kindern nicht antun, dass sie sich schon wieder auf ein neues Kindermädchen einstellen sollen. Außerdem, um auf das Haus zurückzukommen: Wir haben dieses Haus hier, wir haben ein Ferienhaus auf Spiekeroog, für das ich jeden Monat eine Stange Geld hinblättere. Hast du mal hochgerechnet, was uns Spiekeroog im Jahr insgesamt kostet? Dafür könnten wir mehrere Wochen in einem Fünfsternehotel residieren.«

»Da magst du recht haben, vor allem, wenn man bedenkt, wie lange du schon nicht mehr mit dabei warst. Friederike war ganz klein, ich glaube, sie konnte gerade erst laufen, als du das letzte Mal mit uns auf Spiekeroog warst. Gerade gestern erst habe ich noch mal die Fotos von damals rausgesucht. Du warst seit Jahren nicht mehr mit uns im Ferienhaus. Ist dir das eigentlich klar?«

»Ich bin eben unentbehrlich in der Bank. Die Leute machen Fehler, wenn ich nicht da bin.«

»Pah, das bildest du dir nur ein! Du willst anscheinend, dass es so ist. Du hältst die anderen absichtlich klein, damit sie den Überblick verlieren beziehungsweise ihn gar nicht erst bekommen. Kein Mensch ist unentbehrlich. Gib zu, dass du keine Lust hast. Das ist der einzige Grund.«

»Von meinem Business verstehst du nichts, Carola«, sagte er kalt.

»Ich will doch nur, dass du mal wieder mit mir und den Kindern in den Urlaub fährst«, sagte Carola leise. »Bitte, Matthias! Wenigstens über Weihnachten und Neujahr. Und ohne Svetlana!«

»Das auch noch! Wie willst du denn ohne Kindermädchen zurechtkommen?«

»Warum so zynisch? Ich könnte meine Mutter bitten, mitzufahren. Das täte sie bestimmt gern!«

»Deine Mutter? Pah! Das ist doch keine Erholung, im Gegenteil. Da bin ich lieber im Büro. Vergiss es!«

»Was ist nur aus uns geworden? Liebst du mich nicht mehr? Wir haben schon seit Monaten nicht mehr miteinander geschlafen. Hast du eine andere?«

»Quatsch kein dummes Zeug. Ich bin abends müde von der Arbeit, das ist alles. Außerdem schläfst du ja oft längst, wenn ich ins Bett gehe.«

»Ja, weil es viel zu spät ist, bis du nach Hause kommst. Ich muss morgens schließlich ausgeschlafen sein.«

»Siehst du, dann schenken wir uns beide nichts.«

Sie sah ihn konsterniert an.

»Ich bin jedenfalls froh, dass du deine Praxis nur gemietet hast. Das ist ein Bereich, bei dem ich langsam den Überblick verliere. Mehr Immobilien will ich nicht.«

»Du verlierst den Überblick? Bei zwei Immobilien? Erste Anzeichen von Burn-out, oder was? Und dann sagst du, du brauchst keinen Urlaub? Ich glaube, du hast sie nicht mehr alle!«

»Kein Wort mehr, Carola, sonst …«

»Sonst?«

Er kam einen Schritt auf sie zu, blieb kurz stehen, drehte sich um und schlug die Tür hinter sich zu.

»Was ist denn jetzt mit Urlaub?«, jammerte Carola hinter ihm her, aber er hörte sie nicht mehr.

2.

Birthe Schöndorf war froh, dass dieser Tag bald zu Ende war. Schon lange wusste die Kriminaloberkommissarin, dass die Beziehung zu ihrem Freund Hans-Peter keine Zukunft mehr hatte, und heute hatte sie den Entschluss gefasst, sich von ihm zu trennen. Inzwischen kamen ihr schon wieder Zweifel und sie quälte sich damit herum. Sollte sie wirklich? Oder gab es vielleicht eine winzige Chance? Sollte sie es ihm heute sagen oder lieber eine weitere Nacht drüber schlafen? Sie konnte und wollte nicht mehr nachdenken, war schon ganz kirre im Kopf. Sie sehnte sich nach Ruhe. Endlich abschalten, das Gedankenkarussell zum Stoppen bringen, die Seele baumeln lassen.

Mit geschlossenen Augen lag sie in der Badewanne und genoss die wohlige Wärme bei gedämpftem Licht und leiser Musik. Nur die angezogenen Knie und ihr Kopf guckten heraus, weil die Wanne etwas zu kurz war. Aber sonst stimmte alles. Keiner der anderen drei WG-Bewohner, mit denen sie seit drei Jahren die große Altbauwohnung am Schnatgang teilte, würde sie jetzt stören, dafür hatte sie gesorgt. Andreas war bei seiner Freundin und Yuki und Hoi-Hoi kochten mal wieder asiatisch – mit viel Reis und noch mehr Fisch. Birthe hatte sie beschworen, ihr nur dann das Telefon zu bringen, wenn jemand von der Dienststelle anrief. Für alle anderen war sie nicht zu sprechen.

Birthe sog den Orange- und Vanilleduft des Badeschaums ein. Kein Fischgeruch konnte sie erreichen. Alles war gut.

Irgendwo in der Ferne klingelte das Telefon. Sie blinzelte und reckte die großen Zehen hin und her. Durch den Schaum hindurch schimmerten die beigegrau lackierten Nägel silbern. Jemand klopfte an die Tür. »Was ist?«, rief sie, noch ganz in Gedanken.

»Telefon fül dich. Es ist jemand vom Pläsidium.« Das war die Stimme von Hoi-Hoi. Vorbei mit der Ruhe. War ja klar.

»Frag mal, ob es wichtig ist«, rief Birthe zurück. »Sag, dass ich in der Badewanne liege.«

Es dauerte ein paar Sekunden, bis wieder Hoi-Hois Stimme ertönte: »Del Mann sagt, dass es sehl, sehl wichtig ist. El will dich sofolt splechen. Mach die Tül auf!«

Birthe kletterte fluchend aus der Wanne. Das Wasser tropfte an ihr herunter und hinterließ mehrere Schaumpfützen auf dem Fliesenboden mit dem schwarz-weißen Schachbrettmuster, während sie ein Badetuch um ihren Körper wickelte und die Tür aufschloss. Hoi-Hoi hielt ihr das Telefon hin. Birthe erkannte die Nummer ihres engsten Mitarbeiters.

»Hi, Daniel, was ist denn so dringend, dass du mich aus der Wanne holen musst?«, schimpfte sie.

»Was, du bist in der Badewanne? Passt du da überhaupt rein mit deinen Storchenbeinen? Mach mal deine Webcam an. Ich will auch etwas davon haben.«

»Lass deine Anzüglichkeiten. Sag bloß, Hoi-Hoi hat dir nicht gesagt, dass ich gerade meine ruhige Stunde habe und nicht gestört werden will.«

»Nein, hat sie nicht. Finde ich richtig nett von ihr.«

»Sag, was du willst, und mach’s kurz!«

Mit Daniel Brunner teilte sie sich seit zwei Jahren ein Büro. Er war attraktiv wie ein Model, wusste allerdings auch um sein Äußeres. Und das war etwas, was Birthe störte. Obwohl sie sonst gut mit ihm auskam. Sie setzte sich auf den Badezimmerhocker, riss ein kleineres Handtuch vom Ständer und trocknete sich mit der freien Hand umständlich Beine und Füße ab.

»Ich wollte dir nur sagen, dass ich mich verknallt habe. Bis über beide Ohren. Diesmal ist es mir ernst.«

Birthe stöhnte. »Doch nicht wieder in mich? Das will ich nicht hoffen.«

»Nein, Schatzi, nicht in dich. Leider. Und du weißt, dass ich das nicht ironisch meine. Nein, sie ist hübsch, supernett und durchaus nicht auf den Kopf gefallen. Sie hat mich förmlich umgehauen.«

»Wow! Bin total beeindruckt. Für wie lange diesmal? Meinst du, du schaffst es einen vollen Monat?« Das Letzte, was Birthe im Moment hören wollte, waren Geschichten über glückliche Paare.

»Das habe ich überhört«, sagte Daniel, »sei nicht immer so zynisch. Ich wollte dir nur sagen, dass ich soeben meinen Beziehungsstatus bei Facebook geändert habe. ›In einer Beziehung‹ steht da jetzt.«

»Ha! Wie interessant. Und wegen dieser Wahnsinnsneuigkeit reißt du mich aus meinem ›Spa‹. Wer ist es denn diesmal? Warte, lass mich raten. Jeannette? Jacqueline? Janine?«

»Sie heißt Jette und ist eine tolle Frau.«

»Nun ja, der Anfangsbuchstabe war schon mal richtig. Bis auf die Aussprache vielleicht. So, jetzt muss ich dich leider abwürgen. Sei mir nicht böse. Muss heißes Wasser nachlaufen lassen.«

»Birthe, einen Moment nur. Du müsstest sie kennen. JETTE! Sagt dir der Name nichts mehr?«

»Ach, woher denn, wenn du mir deine Auserwählten immer vorenthältst. Lohnt sich ja gar nicht erst, sie kennenzulernen. Keiner schafft es, sich so schnell zu ver- und entlieben wie du. In Rekordzeit. Da kann es schon mal passieren, dass ich den Überblick verliere. Darf ich raten, wie sie aussieht? Raten bei dir macht immer so viel Spaß. Ist ja meistens von Erfolg gekrönt. Also, sie hat lange, wasserstoffgebleichte Haare, geht alle zwei Tage ins Solarium, hat eine beachtliche Körbchengröße vorzuweisen und künstliche Fingernägel. Mit anderen Worten: eine Kopie dieser Promi-Tussi.«

»Sie ist toll, Birthe, ganz anders als du, aber toll. Ihre Haare sind sogar relativ kurz und dunkel und ihre Figur – na ja, du willst es ja eigentlich gar nicht hören. Aber wirklich, sie ist toll.«

»Du wiederholst dich, Daniel. Gibt es noch etwas Wichtiges, was du mir sagen willst, oder darf ich endlich zurück ins Blubberwasser?«

»Sagt dir der Name wirklich nichts mehr?« Er klang jetzt richtig enttäuscht. Womöglich war es ihm diesmal doch ernst.

Birthe überlegte angestrengt. »Was sagtest du noch mal, wie hieß das Mädel? Ach, Mensch, natürlich«, rief sie, »die Jette! Du hast schon so lange nichts mehr von der erzählt. Ich dachte, das hätte sich längst erledigt. Wie gesagt, bei deinen vielen Bekanntschaften steige ich nicht mehr durch. Aber Jette, doch, jetzt erinnere ich mich. Ist ihr Mann nicht kurz vor Weihnachten ums Leben gekommen? Durch einen Motorradunfall?«

»Ja, genau. Ich hatte mich schon damals in Jette verliebt, aber sie hat mir keine Chance gegeben. Mein Kopf hat das verstanden, aber mein Bauch nicht. Beziehungsweise mein Unterleib. Kennst mich ja.«

Birthe stöhnte. »Allerdings.«

»Und jetzt: am Ziel! Yeaahhh!!«

»Na toll«, sagte Birthe lahm, »dann also: Glückwunsch, Daniel.«

»Weshalb ich eigentlich anrufe, Birthe, du sagtest doch, du suchst eine neue Bleibe. Ich hätte da eventuell was für dich. Ein Kumpel von mir geht für ein Jahr nach Brasilien. Du könntest seine Wohnung haben.«

»Nur für ein Jahr? Nein danke. Wenn schon, dann suche ich was für länger. Am liebsten wieder eine WG, aber eine mit Fisch-Vegetariern.«

»Wie meinst du das? Ach so, Yuki und Hoi-Hoi und ihre Vorliebe für Fisch. Aber wieso magst du denn keinen? Ich denke, du kommst quasi von der Waterkant.«

»Ich liebte Fisch, Daniel, ich liebte Fisch. Aber seitdem es morgens um sieben nach Fisch in der Wohnung riecht, wenn ich mir gerade meinen Kaffee koche, hasse ich ihn.«

»Kann ich verstehen. Nee, eine WG ist das nicht, es ist eine kleine Zweizimmerwohnung. Du kannst es dir ja noch überlegen. Hast du was zu schreiben?«

»Jetzt nicht, Kollege. Machen wir morgen, okay? Ciao, mach’s gut.« Sie beendete das Gespräch, legte das Telefon vor die Badezimmertür, ließ das Handtuch fallen und schloss wieder ab.

Fast wäre sie eingeschlafen. Vielleicht war sie kurz weggedöst. Sie wusste nicht, wie lange sie bereits in der Wanne lag. Das Wasser war mittlerweile ziemlich kühl. Ihre Haut war vollkommen durchgeweicht und an Händen und Füßen bereits verschrumpelt. Das Telefon hörte sie wie aus weiter Ferne. Eine Tür wurde aufgerissen und jemand nahm auf dem Flur das Gespräch entgegen. Dann klopfte es zaghaft. Oh nein, nicht schon wieder, dachte sie.

»Bilthe! Telefon fül dich! Pläsidium!«

»Hoi-Hoi, wimmle ihn ab, sag ihm, er stört, verdammt noch mal!«

Sie hörte Hoi-Hoi draußen auf dem Flur etwas murmeln und dann erneut klopfen. Diesmal klang es richtig energisch. »Mach endlich Tül auf, Bilthe. Mann sagt, soll lichtig wichtig sein.«

Birthe schwang ihre langen Beine aus der Badewanne und schnappte sich das Handtuch, das in einer Pfütze lag. Notdürftig hielt sie es sich vor den Körper und schloss auf. Hoi-Hois vorwurfsvollen Blick ignorierte sie, als sie ihr das Telefon aus der Hand nahm. Sie identifizierte die Nummer auf dem Display, dieselbe wie eben, und stöhnte missgelaunt: »Jaaaa?«

»Kann es sein, dass du irgendwie genervt klingst?«

»Daniel, ich warne dich. Du weißt ganz genau, was ich gerade mache.«

»Immer noch? Das Wasser muss längst kalt sein.«

»Ich hoffe, du hast diesmal einen triftigen Grund, mich zu stören, sonst kannst du morgen was erleben. Mein Karatekurs soll sich endlich bezahlt machen!«

»Jetzt beruhige dich erst mal. Ja, habe ich tatsächlich, stell dir vor. Im Botanischen Garten haben sie Knochen gefunden. Da war früher ein Steinbruch, falls du dich erinnerst. Die Spusi tippt auf Menschenknochen.«

»In welchem Steinbruch? Es gibt mehrere.« Birthe fror und klapperte bereits mit den Zähnen. Es gab aber nur noch ein kleines Handtuch zum Abtrocknen. Sie klemmte den Hörer zwischen Ohr und Schulter, während sie sich umständlich abrubbelte.

»Im Kalksteinbruch in der Nähe des Wasserhochbehälters am Westerberg. Dort wird momentan ein Tunnel gegraben, der die beiden ehemaligen Steinbrüche für den Botanischen Garten miteinander verbinden soll. Und bei diesen Arbeiten muss jemand auf Teile eines Skeletts gestoßen sein.«

»Sag jetzt nicht, dass ich da sofort hin muss!«

»Ist okay, bleib cool, ich bin auf dem Weg. Zwei Kollegen und die Spurensicherung sind schon da. Um diese Zeit kann man ohnehin nicht mehr viel ausrichten. Ist zu dunkel. Morgen geht’s weiter. Ich muss los. Melde mich noch mal vom Fundort. Zieh dir was Hübsches an. Nicht wieder diesen ausgebeulten Jogginganzug.« Er lachte dreckig.

»Warum nicht? Ich denke, ich werd heute nicht mehr gebraucht.«

»Nee, wirst du auch nicht.«

»Na, dann kann es dir egal sein, was ich anziehe.«

»Vielleicht, vielleicht aber auch nicht …«

»Häh? Wie soll ich das verstehen? Wie war das noch gleich mit Jette?«

»Hab dich nicht so. Lass mir doch meine Fantasie.«

Birthe legte auf. Sie musste grinsen. Der ehemals pinkfarbene Jogginganzug hing angewärmt über der Heizung.

*

Birthe hatte ihr Auto in der Albrechtstraße abgestellt und ging zu Fuß zur Fundstelle. Schon von Weitem sah sie die weißen Overalls der Kollegen von der Spurensicherung, angestrahlt von den Scheinwerfern der Arbeitslampen. Sie überwand die rot-weiße Absperrung, kletterte die Böschung des ehemaligen Muschelkalk-Steinbruchs hinunter und ging auf die beleuchtete Stelle zu. Sie zitterte vor Kälte, zumal es nicht allzu lange her war, seit sie noch in der Badewanne gelegen hatte. Der Gedanke, in frisch gebadetem Zustand noch einmal in die Kälte und Dunkelheit hinaus zu müssen, war ihr erst äußerst unangenehm gewesen, aber schließlich hatten doch Neugierde und Pflichtbewusstsein gesiegt. Kaum am Tatort angekommen, war die Müdigkeit schlagartig verschwunden. Sie zog den Schal enger um ihren Kopf und steckte die Hände in die Taschen ihres Parkas. Ein Mann löste sich aus der Gruppe und kam auf sie zu. Vom Gang her könnte es Daniel sein, dachte sie. Es war Daniel.

»Bist ja doch gekommen«, stellte er fest.

»Klar, was denkst du denn«, erwiderte sie, »das lass ich mir nicht entgehen, wenn endlich mal wieder was los ist in Osnabrück«. Sie folgte ihm zum Fundort. Die Spusi war gerade damit beschäftigt, Knochenteile vorsichtig in Beweismitteltüten zu verfrachten.

»Erste Ergebnisse?«, fragte sie.

»Noch wissen wir nichts«, antwortete der Kollege. »Die Knochen sind überall verstreut. Da hinten wurden auch welche gefunden.« Er deutete mit dem Arm in die entgegengesetzte Richtung. »An den zwei Stellen dahinten. Mal sehen, ob wir ein komplettes Skelett rekonstruieren können.«

»Sie sind sicher, dass es Menschenknochen sind?«

»Sicherheit gibt es nicht. Es könnten auch die Knochen eines größeren Säugetieres, zum Beispiel eines Hundes, sein. Solange wir den Schädel nicht haben, ist das schwer zu beurteilen. Warten Sie ein paar Tage ab, dann dürften erste Ergebnisse da sein.«

Birthe sah sich um. »Riesiges Gelände, hätte ich nicht erwartet. Man glaubt kaum, dass man hier mitten in Osnabrück ist. Die Muschelkalk-Mauern sehen richtig imposant aus. Hat was Alpenländisches.«

»Das ist auch beabsichtigt. Warte, ich stelle dir einen Mitarbeiter des Botanischen Gartens vor. Dem kannst du deine Fragen stellen.«

Der Biologe war blond und rotwangig und reichte Birthe mit ihren 1,83 Meter gerade bis zur Schulter.

»Das Gelände ist riesig«, sagte Birthe. »Wie groß ist es genau?«

»Das ganze Terrain des Botanischen Gartens umfasst 5,6 Hektar. Dieser Bereich, in dem wir uns gerade befinden, wird noch hinzukommen mit 2,8 Hektar. Wir werden ihn ›Schwäbische Alb‹ nennen. Er ist als abwechslungsreiche Landschaft mit Bachläufen und verschiedenen Bepflanzungen geplant. Im verbliebenen Steinbruch finden sich Steilwände mit einem imposanten Relief sowie ein Gesteinsblock aus Muschelkalk.«

Birthe nickte. »Das sieht wirklich toll aus, wie im Gebirge. Und wie ist die Beschaffenheit des Bodens?«

»Der Boden bestand ursprünglich aus Lösslehm und Muschelkalk«, sagte der Wissenschaftler. »Früher hat man hier Steine zum Bau von Häusern und Straßen abgetragen. Auch für andere Bauten, zum Beispiel das Heger Tor, wurde der Kalkstein verwendet. Der Boden, so wie wir ihn vorfinden, besteht in seinen unteren Schichten aus Muschelkalk des Trias und ist circa 230 Millionen Jahre alt.«

Birthe nickte beeindruckt. »Was genau ist Lösslehm?«

»Unter Löss versteht man staubfreien Sand. Wenn der Kalk vom Wasser ausgespült wird, entsteht Lösslehm. Mit der Zeit formiert er sich zu Sandstein.«

»Haben Sie eine Erklärung dafür, warum die Knochen überall verteilt sind? Oder kann man unter Umständen von mehreren Skeletten ausgehen?«

»Das ist schwer zu sagen. Aber da die Knochen nur recht oberflächlich bedeckt waren, liegt der Schluss nahe, dass kleinere Raubtiere Leichenteile verschleppt haben.«

»Und an wie vielen Stellen hat man inzwischen Knochen gefunden?«

»Hier!«, brüllte jemand von der Spusi, bevor der Biologe antworten konnte. Er war etwa zehn Meter von Birthe entfernt. Sie ging auf ihn zu.

»Der Schädel!«, schrie der Mann. »Wir haben den Schädel!«

*

Marc Terlinden pfiff im Auto vor sich hin. Er hatte den besten Fisch seit Langem an der Angel. Der Makler hatte am Morgen einen Anruf von einem Lehrer bekommen, der ein fantastisches Anwesen am Westerberg zu verkaufen hatte. Terlinden hatte viele Anfragen diesbezüglich, aber nur wenige Angebote. Villen waren oft im Familienbesitz und wurden von einer Generation an die nächste weitergegeben. Dieses Angebot klang deshalb viel versprechend. Er hatte noch für den Nachmittag einen Besichtigungstermin in der Bismarckstraße vereinbart.

Wenige Minuten später lenkte der Makler seinen SUV über das holprige Kopfsteinpflaster und stellte ihn direkt vor dem Eingangstor der Villa ab. Er stieg aus und konnte einen ersten Blick auf das Objekt werfen. Es übertraf bei Weitem seine Erwartungen. Vor ihm baute sich ein herrschaftlicher Bau auf, offensichtlich in einem ausgezeichneten Zustand, bestehend aus Loggien und Erkern, verziert mit Sandstein- und Putzornamenten. Die Villa müsste der Gründerzeit zuzuordnen sein. Terlinden stieß einen anerkennenden Pfiff aus.

Er blickte sich aufgeregt um und versuchte sich von der Straße, vom Wohnviertel einen Eindruck zu verschaffen. Da er zehn Minuten zu früh war, blieb ihm Zeit, ein paar Schritte zu gehen. Ein Hochgefühl überkam ihn. Er würde zweifelsohne ›beste Lage‹ ins Exposé schreiben können. Die Bismarckstraße gehörte zu den Topadressen in Osnabrück. Die Villa würde sich schnell verkaufen, da war er sich sicher. Sie war etwas für Liebhaber. Er würde dem Eigentümer raten, mit dem Preis noch etwas hochzugehen, damit die Provision für ihn selbst besser ausfallen würde.

Terlinden sammelte sich für einen Augenblick, rückte seine Krawatte zurecht und drückte auf den Klingelknopf neben dem Messingschild mit der Gravur ›Pörschke‹.

Drinnen bellte ein Hund. Nach wenigen Sekunden wurde ihm von einem Mann mittleren Alters die Tür geöffnet.

»Pörschke, mein Name«, stellte sich der Hausbesitzer mit Handschlag vor. »Herr Terlinden? Wir hatten miteinander telefoniert.«

»Grüße Sie, Herr Pörschke«, sagte Terlinden höflich, »ein wunderbares Anwesen dürfen Sie Ihr Eigen nennen, ich bin angenehm überrascht.«

Sein Strahlen wurde nicht erwidert. Pörschke bat ihn herein. Der Flur war nicht besonders hell, aber dafür mit glänzenden alten Holzdielen ausgelegt. Links befand sich eine alte, schwere Kommode aus Kirschholz, auf der ein mehrarmiger, silberner Kerzenlüster stand. Und daneben – Terlinden traute seinen Augen kaum – ein altmodisches Telefon, wie es einmal seine Oma besessen hatte. Es war mit moosgrünem Samt bezogen und hatte noch eine Wählscheibe. An der gegenüberliegenden Wand stand ein mit Messingbeschlägen verzierter Sekretär. Sein Blick wanderte zur Zimmerdecke, wo der Makler ein paar feuchte Stellen entdeckte. Womöglich kam daher der etwas muffige Geruch, der sich mit etwas anderem mischte. Terlinden schnupperte. Reinigungs- oder Desinfektionsmittel? Er war sich nicht sicher. Ein paar Schritte ging er in den Flur hinein, von dem aus weiß lackierte Türen in verschiedene Zimmer führten. Einige Dielen knarrten unter seinen Schuhen, als wären sie ein wenig lose. Aber das waren nur Kleinigkeiten, die sich rasch beheben ließen.

»Wunderbar«, sagte er, rieb sich die Hände und zeigte ein entwaffnendes Verkäuferstrahlen. »Und da geht es in den Wohnbereich, nehme ich an?« Er wartete die Antwort nicht ab, sondern steuerte geradewegs auf die angelehnte Tür zu.

*

Polizeihauptkommissar Olaf Hurdelkamp blickte Birthe mit finsterer Miene entgegen, als sie den Besprechungsraum betrat. »Guten Morgen, Frau Schöndorf, darf ich fragen, wo Sie jetzt herkommen?«

»Wieso? Ich habe doch heute meinen freien Tag«, sagte Birthe und legte ihren Parka ab.

Wie immer wanderte Hurdelkamps Blick als Erstes zu Birthes Schuhen. Er selbst legte größten Wert auf blitzblank geputztes Schuhwerk und konnte es nicht ertragen, wenn andere das nachlässiger handhabten. Hurdelkamp war stolz auf seine These, den Charakter eines Menschen am Sauberkeitsgrad von dessen Schuhen ablesen zu können. Birthe war sich darüber im Klaren, ihre abgetragenen Doc Martens konnten seinem Urteil nicht standhalten. Normalerweise wäre es ihr egal gewesen, aber heute war sie wegen des bevorstehenden Gesprächs mit Hans-Peter ohnehin dünnhäutig.

»Na ja«, knurrte Hurdelkamp, »dann setzen Sie sich mal schnell hin und holen Ihr Schreibzeug raus. Also, ich wiederhole noch einmal extra für Frau Schöndorf: Bei Bauarbeiten im Botanischen Garten wurden, wie Ihnen ja bekannt sein dürfte, Teile eines menschlichen Skeletts gefunden. Genauer gesagt, bei einem Tunnelbau, der den ehemaligen Eingang Albrechtstraße mit dem Edinghäuser Weg verbinden soll. Der Tunnel soll in einem Bogen am Wasserhochbehälter direkt in einen zweiten Steinbruch führen. Und genau an der Stelle wurden Knochen in der 50Jahre alten Brache gefunden. Diese lagen etwa zehn Meter voneinander verstreut in einer Schicht aus Muschelkalk und Lösslehm und waren aufgrund der chemischen Zusammensetzung der Bodenverhältnisse recht gut konserviert. Die radiologische Knochenanalyse ist soeben eingetroffen. Ich zitiere: ›Aufgrund des Zerfalls eines natürlichen Isotops unter Berücksichtigung der Lagerungsverhältnisse im Muschelkalk und Lösslehm des Osnabrücker Berglandes können wir von einem einigermaßen gesicherten Todeszeitpunkt ausgehen. Demnach wurde vor etwa 40 Jahren eine Leiche im alten Steinbruch deponiert.‹« Hurdelkamp legte das Schriftstück ab und sah seine Mitarbeiter über die Lesebrille hinweg ernst an. »Unsere Leute von der Spusi haben in der Nähe des Schädels ein großes Stück derben, dunklen Stoffs, einen Metallknopf sowie einen linken Turnschuh der Marke Adidas, Schuhgröße 43, sichergestellt. Der Knopf gehört, wie wir bereits festgestellt haben, zu einer Jeans der Marke Levis und dürfte etwa 40 Jahre alt sein. Der Stoff wird aber kaum zu einem Kleidungsstück gehört haben. Dafür war er zu fest. Von der Art her wie ein dichtes Segeltuch. Es besteht die Möglichkeit, dass die Leiche darin eingewickelt war.« Wieder der strenge Blick über die Lesebrille hinweg. »Ich höre?«, fragte er.

»Verdammt lang her«, knurrte Daniel.

»Wie bitte?«

»Ach, nichts.«

»Sie wollten damit nicht sagen, dass Sie keine Lust haben, einen Fall zu bearbeiten, der 40 Jahre zurückliegt, oder?«

»Nein, nein, das Problem ist nur …«

»Ja?«

»Es ist kein Vermisstenfall offen aus dieser Zeit.«

»Ach nein?«

»Das haben Frau Schöndorf und ich vorsichtshalber bereits recherchiert.«

»Gut, dann sind wir schon einen Schritt weiter. Herr Lübke, Sie kümmern sich um die Medien. Vielleicht finden sich ja doch Zeugen von früher. Eine winzige Hoffnung besteht immer. Frau Schöndorf und Herr Brunner, Sie befragen als Erstes die Landwirte, die rund um das Gebiet ihre Ländereien haben. Die können sich möglicherweise daran erinnern, wer damals das Feld beackert und Garten- und Feldabfälle im Steinbruch abgelagert hatte. Wenn wir Glück haben, erinnern die sich an mehr. Dann denke ich an den damaligen Betreiber des Steinbruchs, falls er noch lebt.« Hurdelkamp stöhnte und öffnete den oberen Knopf seines Hemdkragens. »Gibt es Fragen?«

Birthe und Daniel schüttelten unmotiviert den Kopf.

»Na schön, dann an die Arbeit.«

*

Daniel schielte neidisch nach rechts. Dort mühte sich ein prächtig gebauter Kerl mit einer Langhantel ab. Ein so hohes Gewicht würde er auch gern stemmen können. Der Typ neben ihm zählte bei jedem Kraftakt laut mit. 25, 26, 27 … Pause. Keuchen, lautes Stöhnen. Daniel beobachtete mit Genugtuung, dass der Bodybuilder langsam an seine Grenzen kam. Sein Gesicht verzerrte sich, die Bewegungen wurden langsamer. Schweiß floss in Strömen über sein Gesicht. Sein Achsel-Shirt war klatschnass. Noch eine letzte zittrig ausgeführte Kniebeuge, dann ließ das Kraftpaket die Langhantel auf den Boden scheppern.

»Normalerweise breche ich ein Work-out niemals ab«, keuchte er. »Aber heute bin ich irgendwie nicht in Form. Zu viel gefeiert gestern. Außerdem hab ich noch was vor.«

»Ah«, sagte Daniel, der gerade am Butterfly saß, »verstehe. Darf ich dir eine Frage stellen?«

»Nur zu.« Der andere wischte sich mit seinem Schweißband über die Stirn.

Daniel schluckte. Er räusperte sich, bevor er sich einen Ruck gab, um die Frage zu stellen, die ihm schon lange auf der Seele brannte. »Wie kann ich das Maximum rausholen aus meinem Bizeps und Trizeps? Trainiere und trainiere, aber ich habe das Gefühl, an meine Grenzen gestoßen zu sein.«

Der Angesprochene warf einen kritischen Seitenblick auf Daniels Oberarme. Dann runzelte er die Stirn. »Kein Wunder«, sagte er mit schwerer Zunge, »bei den Gewichten, mit denen du trainierst. Leg noch mal ne Schippe drauf, sonst wird das nichts. Immer feste über die Schmerzgrenze hinaus, sonst weißt du nicht, was du leisten kannst. Und ordentlich Eiweißnachschub hinterher. Nimmst du regelmäßig Proteine?«

Daniel nickte träge.

»Sehr gut. So, ich gehe jetzt duschen. Heute ist mein großer Tag.« Er rieb sich die Hände. »Willst du’s wissen? Ich hole gleich meinen Porsche ab.«

Daniel bekam große Augen. »Porsche?!« Er bemühte sich um einen lässigen Gesichtsausdruck. Jetzt nur nicht neidisch wirken! Ein Porsche stand seit Jahren ganz oben auf seiner Wunschliste.

»Na ja, gebraucht«, gab der andere zu, »bin ja kein Krösus.«

»Wie viel PS?«

»300. Müssen schon sein.«

Wieder nickte Daniel. Er wollte nicht zeigen, wie beeindruckt er war.

»Und Cabrio, das wollte meine Freundin so. Ein Carrera.«

»Baujahr?«

»99. Sind aber erst 150.000 Kilometer runter und der TÜV ist neu. Was fährst du?«

Daniel räusperte sich. »Subaru, Allrad.«

»Na, macht ja nix. Ist tendenziell noch ausbaufähig.« Der Bodybuilder lachte heiser. »Bist du nächsten Dienstag wieder hier? Dann zeige ich dir mal meine neue Liebe. Muss jetzt los. Ciao.«

Daniels Mund war staubtrocken. »Ja, mach’s gut, viel Spaß.« Er sah dem Porschefahrer in spe hinterher, wie er sich lässig ein Handtuch über die Schulter warf und in Richtung Umkleiden verschwand. Kaum war er außer Sichtweite, legte Daniel zwei weitere Gewichtsscheiben auf, verlor aber nach wenigen Minuten die Lust.

3.

Als Eberhard Pörschke die Haustür aufschloss, ahnte er noch nicht, dass etwas Ungewöhnliches passiert war. Rüdiger, der Rauhaardackel, kam ihm wie immer bellend und schwanzwedelnd entgegen. Die altenglische Standuhr im Eingangsbereich ließ die Melodie des Big Ben ertönen. 17 Uhr. Auf dem untersten Treppenabsatz der geschwungenen Eichentreppe lag akkurat gestapelt seine Post, hauptsächlich Werbung und Rechnungen, wie er auf einen Blick erkennen konnte. Er zog Jacke und Schuhe aus und brachte beides in die Garderobe. Die Jacke hängte er wie gewohnt auf den Holzbügel mit dem Schriftzug ›Eberhard‹ und streifte sich die gemütliche Strickjacke über, die daneben hing. Die Schuhe stellte er ordentlich nebeneinander ins Schuhregal. Er nahm seine Filzpuschen aus der Pantoffelgarage und schlüpfte hinein. Anschließend bürstete er Jacke und Schuhe ab und zog ein frisches Tuch aus dem Desinfektionsmittelspender. Dann erst dämmerte ihm, dass etwas anders war als sonst. Es war ungewöhnlich still im Haus.

»Mama?«, rief er zaghaft, und als er keine Antwort erhielt, etwas lauter: »Mama!« Als er die Wohnzimmertür öffnete, sah er die Umrisse seiner Mutter, die im Halbdunkel in ihrem Ohrensessel am Fenster saß. Sie hatte ein Buch auf dem Schoß liegen und schien aus dem Fenster zu schauen. Auf dem Couchtisch lag die aufgeschlagene Neue Osnabrücker Zeitung.

»Mama, entschuldige, ich wollte dich nicht …«, setzte er an und verstummte, als er ihre schlaffe weiße Hand bemerkte, die neben dem Sessel baumelte. Ihr Kopf war angelehnt, als schliefe sie. Er ging auf sie zu und berührte sie leicht an der Schulter. Sie reagierte nicht. Er schaltete das Deckenlicht ein. Jetzt sah er ihr Gesicht. Es war totenbleich.