Die Tote von der Maiwoche - Alida Leimbach - E-Book

Die Tote von der Maiwoche E-Book

Alida Leimbach

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Beschreibung

Maiwoche in Osnabrück: Die junge Sängerin Jessica hat die Riesenchance, als Frontfrau einer Band aufzutreten. Wenig später ist sie tot. Erstochen. Birthe Schöndorf von der Osnabrücker Kripo bemerkt schnell, dass in der Band seit Langem keine Festwochenstimmung herrschte. Die langjährige Sängerin Katharina fühlt sich ins Abseits gedrängt, und dem Bandleader wird eine Affäre mit Jessica nachgesagt. Als das Ergebnis von Jessicas Autopsie schließlich eintrifft, wirft es mehr Fragen auf, als es Antworten liefert …

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Alida Leimbach

Die Tote von der Maiwoche

Kriminalroman

Zum Buch

Schicksalstag Maiwoche in Osnabrück: gute Laune, Bier, Musik. Und Jessica Wagner wird ein Teil davon sein! Hin- und hergerissen zwischen Freude und Angst betritt die junge Sängerin mit ihrer Band die Bühne. Am Morgen danach ist sie tot. Erstochen. Die Schlüsselfigur für die Tat scheint Jessicas Konkurrentin Katharina zu sein. Sie machte keinen Hehl daraus, Jessica zu hassen. Doch hat sie auch den Mord begangen? Je tiefer Kommissarin Birthe Schöndorf in den Fall einsteigt, desto größer werden ihre Zweifel. Das Ergebnis von Jessicas Autopsie wirft zahlreiche Fragen auf. Und Bandleader Carsten scheint etwas zu verbergen. Ihm wird eine Affäre mit Jessica nachgesagt. Hat er sie nur benutzt? Im Zuge der Ermittlungen stößt Birthe Schöndorf darauf, dass Jessica einen Stalker hatte. Sowohl er als auch Jessicas beste Freundin, die in einem Bestattungsunternehmen arbeitet, bringen die Kommissarin auf eine heiße Spur. Doch als Birthe Schöndorf dem Täter dicht auf den Fersen ist, begeht sie einen folgenschweren Fehler …

Alida Leimbach, Jahrgang 1964, ist in Lüneburg geboren und in Osnabrück aufgewachsen. Nach ihrer Buchhandelslehre studierte sie Sprachen und war einige Jahre als Übersetzerin in Frankfurt am Main tätig. Dann entschloss sie sich, noch einmal zu studieren: Evangelische Theologie, Germanistik und Englisch auf Lehramt. Heute lebt sie mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt und schreibt erfolgreiche Krimis und Romane.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Deichkrone (2017)

Ostfriesenkind (2016)

Börsentöpfchen (2014)

Villenzauber (2013)

Wintergruft (2011)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die Band Blue Box gibt es nicht in Wirklichkeit.

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Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2019

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Jan Schuler / fotolia.com

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-5968-9

Zitat

Und plötzlich weißt du, es ist Zeit, etwas Neues zu beginnen und dem Zauber des Anfangs zu vertrauen.

Meister Eckhart

Kapitel 1

Osnabrück, Freitag, 5. Mai, 19.50 Uhr

Kurz vor ihrem Auftritt saß Jessica Wagner auf einem Barhocker im hinteren Teil der Bühne und schaute zum wiederholten Male auf ihr Handy. In zehn Minuten war es so weit. Dann würde sie aufstehen, nach vorn gehen, ihr Lampenfieber überwinden und eine perfekte Show abliefern. Sie dachte an den Applaus hinterher, an Carsten. Er sollte stolz auf sie sein, sie beglückwünschen und in den Arm nehmen. Nichts anderes zählte in diesem Augenblick, nichts war wichtiger.

Als sie ihr Handy wieder einstecken wollte, zeigte ein Brummton den Eingang einer neuen Nachricht an.

Ich denke an dich, Schatz. Wie geht’s dir?

Jessica runzelte die Stirn. Schaffte sie es noch zu antworten? Die Zeit war eigentlich zu knapp. Weiß nicht, gab sie zurück. Die ignorieren mich.

Immer noch? Auch Carsten?

Nein, der nicht. Der will ja, dass ich singe. Aber die anderen hassen mich. Was kann ich dafür, dass ich für Katha einspringe.

Die kennen dich doch gar nicht.

Doch, als Backing schon. Da war ich ihnen egal. Kaum bin ich vorne und singe Kathas Solo, werde ich gemobbt.

Jemand von der Technik kam, um ihr ein neues Funkmikrofon zu bringen. Das andere hatte vorhin beim Soundcheck versagt.

Du machst das schon, textete ihre Mutter. Wir denken an dich!

Danke, Mama, tippte Jessica unter plötzlich aufsteigenden Tränen, die sie schnell wegklimperte, aus Angst, die Wimperntusche könne verschmieren. Wenn ich das bloß schon hinter mir hätte.

Schreib gleich, wie’s war, hörst du?

Ja.

Toi, toi, toi. Grüße auch von Papa!

Danke, Grüße zurück!

Seufzend ließ sie das Handy in ihre Tasche fallen. In der Zwischenzeit hatte sich der Jürgensort nahe der Alten Posthalterei gefüllt. Am Eröffnungstag der Maiwoche zeigte sich die Stadt Osnabrück von ihrer besten Seite. Die Temperaturen waren sommerlich warm, aber nicht drückend wie im Hochsommer, und vor allem regnete es nicht, wie so oft im Mai. Die Innenstadt hatte sich in ein Open-Air-Festival verwandelt, bei dem Musikgruppen auf mehreren Bühnen für ein buntes, stimmungsvolles und obendrein kostenloses Programm sorgten.

Als Jessica die Menschen sah, die sich dicht an dicht vor der Bühne drängelten, wurde ihr schwindlig. Ihr Herz klopfte nun gewaltig, und sie fragte sich, wie die anderen Bandmitglieder so ruhig bleiben konnten.

Max schlug leise die Sticks gegeneinander, um seine Hände aufzuwärmen. Mit seinem modernen Haarschnitt, dem Vollbart, der markanten Brille und den bunt tätowierten Armen setzte er sich von den älteren Musikern ab. Jessica fand ihn interessant und hätte gern mal ein paar Worte mit ihm gewechselt, aber Max gab sich ihr gegenüber äußerst einsilbig.

Gerade kam Jürgen und nahm seine Position am rechten Bühnenrand ein. Mit Carsten, Clarissa und Katharina hatte er vor Jahrzehnten die Blue Box gegründet. Damals waren sie noch eine Schülerband gewesen – jung, ambitioniert, leicht chaotisch, aber vollkommen unbekannt außerhalb der Schulmauern des Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasiums. Mittlerweile hatten sie sich auch außerhalb Osnabrücks einen Namen gemacht und waren von der jährlich stattfindenden Maiwoche nicht mehr wegzudenken. Jessica kannte Jürgen auf der Bühne nur mit schwarzer Satinweste über dem weißen Hemd. Die silbergrauen, streng zurückgekämmten Haare und die auf Hochglanz polierten Schuhe machten ihn zum Gentleman der Band. Konzentriert stimmte er seine E-Gitarre, ließ sich durch nichts ablenken.

Clarissa war auch schon da und schraubte ihre Wasserflasche auf. Die Sängerin mit der kräftigen Stimme, der roten Lockenmähne und den weiblichen Rundungen fiel durch ihren ausgefallenen Kleidungsstil auf. Ihre weiten, knallbunten Klamotten kombinierte sie im Lagenlook. Dazu trug sie derbe Boots mit pinkfarbenen Schnürsenkeln.

Mit zittrigen, eiskalten Händen schaltete Jessica ihr drahtloses Mikrofon ein und vergewisserte sich, dass es funktionierte, indem sie »Test, Test, Test, eins, zwei, drei« hineinhauchte. Der Tontechniker reckte zur Bestätigung einen Daumen in die Höhe. Sie nickte ihm zu und schaltete ihr Mikro aus, um ihre Stimmbänder zu lockern. »Ksch-ksch-ksch, mjam-mjam-mjam, do-mi-fa-so, mi-ma-mo-mu«, murmelte sie, und dabei fiel ihr Blick auf Carstens breiten Rücken.

Er musste am Klavier Platz genommen haben, während sie mit ihrer Mutter gechattet hatte. Den Hut tief in die Stirn gezogen, drehte er sich genau in dem Moment zu ihr um, als sie ihn beobachtete. Ein kräftiger Mann im grauen T-Shirt und zerrissener Jeans. Eine große Ruhe und Wärme ging von ihm aus. Er war fast 25 Jahre älter als sie, aber das hatte nie eine Rolle gespielt. Sie schluckte, als sich ihre Blicke trafen. Carsten hatte sie vor einer halben Stunde noch in den Arm genommen und ihr Mut zugesprochen. »Keine Angst, Hase, wird schon schiefgehen«, hatte er gesagt. »Sei authentisch, hab Spaß und zeig vor allen Dingen Gefühle. Wenn du es schaffst, sie zu berühren, werden sie dich lieben und dir auch kleine Fehler verzeihen. Wenn nicht, werden sie dich noch in dieser Nacht vergessen haben.« Das waren seine letzten Worte, bevor er sich zum Soundcheck begeben und sie völlig aufgewühlt zurückgelassen hatte. Gefühle kamen in ihr hoch, die sie nicht zulassen wollte. Schnell drehte sie sich weg. Sie musste sich auf ihren Auftritt konzentrieren.

Beginnen würden sie mit dem Hallelujah von Leonard Cohen, dann kamen etwas rockigere Stücke, die wahrscheinlich jeder im Publikum kannte und mitsingen würde, und danach wieder gefühlvolle Balladen. Vor allem die Solopartien, die sonst Katharinas Part waren, lagen ihr auf der Seele. In den Kehrversen würde Clarissa sie mit ihrer Altstimme unterstützen.

Fast automatisch sah sie wieder zu Carsten hinüber; sie konnte nichts dagegen tun. Die drei Monate mit ihm waren die schönsten in ihrem Leben gewesen. Fünf Jahre Lebenszeit hätte sie gegeben für ein weiteres Vierteljahr mit ihm, vielleicht auch zehn. Sie wusste, dass sie auf keinen Fall nochmals einen Mann finden würde, an dessen Seite sie sich so wohl, dermaßen geborgen und geliebt fühlen würde. Ob sie jemals darüber hinwegkommen würde, dass er sie nicht mehr wollte? Wahrscheinlich hatte er längst eine Andere, aber da er ein Riesengeheimnis um sein Privatleben machte, würde sie es vermutlich nie erfahren.

Jemand kam auf sie zu und bedeutete ihr, von dem Barhocker aufzustehen, auf dem sie saß. Sie brauchte ihn, um sich daran festzuhalten und gab ihn nur ungern frei. Als sie sich erhob, knickten ihre Beine ein wenig ein. Jetzt nur keinen Schwächeanfall bekommen, beschwor sie sich. Es fühlte sich schon wieder so an: Dröhnen in den Ohren, taube Beine, butterweiche, zittrige Knie, ein Gefühl von Luftknappheit. Am liebsten hätte sie auf der Stelle kehrtgemacht und die Bühne verlassen, aber zum Weglaufen war es ohnehin zu spät. Sie musste da durch.

Zum letzten Mal öffnete sie ihre Handtasche, um auf die Uhr zu sehen. Noch zwei Minuten. Nervös trippelte sie von einem Bein aufs andere. Sie verspürte plötzlich ein dringendes Bedürfnis und sah sich suchend um. Wo war gleich das nächste WC? Irgendwo hatte sie doch Dixi-Klos gesehen. Egal, die Zeit reichte sowieso nicht.

Die Techniker richteten die Scheinwerfer aus. Jessica blinzelte gegen das grelle Licht an. Das Publikum vor ihr war zu einer grauschwarzen, anonymen Masse verschmolzen. Vielleicht war es gut, dass sie keine Gesichter erkennen konnte, das machte es etwas leichter.

Max gab am Schlagzeug den Takt vor. Fast gleichzeitig setzte Jürgen mit seiner Elektrogitarre ein und Carsten schlug in die Tasten des weiß glänzenden Clavinova-Flügels. Er hatte ihn auf Orgelklang eingestellt. Als Carsten ihr zunickte, brach ihr der Schweiß aus. Mit zittrigen Beinen und einem Kloß im Hals trat sie vor zum Bühnenrand, atmete tief durch und dachte gerade rechtzeitig daran, ihr Mikrofon einzuschalten.

*

Mit dem kräftigen Applaus fiel zwei Stunden später endlich die Anspannung von ihr ab. Alles war gutgegangen. Weder war sie mit ihren High Heels über ein Kabel gestolpert noch hatte ihre Stimme versagt. Vor allem war das gefürchtete Blackout ausgeblieben, ihre Angst vor Textschwächen, Aussetzern oder verwechselten Strophen. Das kam manchmal vor, wenn sie besonders aufgeregt war. Aber heute war alles wie geschmiert gelaufen. Der größte Lohn war Carstens zufriedener Gesichtsausdruck.

Alle fünf fassten sich nun an den Händen und verbeugten sich tief. Jessica fühlte Carstens warme, zupackende Hand und gleichzeitig Jürgens schlaffes, feuchtes Händchen. Sie ließen los, um sich sogleich in den Armen zu halten. Eine Reihe gut befreundeter, bestens aufgelegter, zufrieden strahlender Musiker.

»Jessi, Jessi!«, ertönten Rufe aus dem Publikum. Jessica suchte Blickkontakt mit Clarissa, doch die reagierte nicht. Der Auftritt war vorbei und Clarissa nicht mehr in ihrer Rolle. Sie musste sich nicht länger zusammenreißen, nicht wie eben auf der Bühne die beste Freundin spielen. Clarissa sah stur geradeaus und verzog keine Miene.

Carsten schob Jessica nach vorn, damit sie sich für ihr Solo einen Extra-Applaus abholte. Mit einer weit ausholenden Geste deutete er auf sie und strahlte stolz und selbstsicher ins Publikum. Jessica war es peinlich, die Aufmerksamkeit so sehr auf sich zu ziehen, gleichzeitig genoss sie es.

Beim Zurückgehen bemerkte sie Jürgens Blick, und da fühlte sie sich sofort schlecht.

Vereinzelt ertönten immer noch Zugabe-Rufe, aber nun war Schluss.

Die Scheinwerfer gingen aus, die Menschenmenge löste sich auf. Die Bühne gehörte jetzt den Technikern, die Instrumente entstöpselten und das Equipment abbauten. In zwei Tagen würden sie alles am Nikolaiort erneut aufbauen.

Jessica stand verloren im Backstagebereich und wusste nicht, was sie tun sollte. Sie war wieder das schüchterne, unsichere Mädchen, das sie vor dem Auftritt gewesen war.

Carsten kam mit ausgestreckten Armen auf sie zu. »Glückwunsch, Jessi, das war dein bester Auftritt bisher! Du hast dich endlich mal getraut, loszulassen, man hat dir angesehen, dass du Spaß hattest. Du hast Gefühl gezeigt, warst bei dir, total authentisch! Und du hast der Blue Box eine ordentliche Portion Glamour verliehen! Komm her und lass dich drücken.« Er zog sie an sich und küsste ihr Haar. »Ich bin stolz auf dich, Süße. Und du Dummerchen wolltest mir nicht glauben. Du bist doch tatsächlich eine Rampensau, wer hätte das gedacht. Unsere kleine Prinzessin war der Star des Abends. Das Publikum liebt dich, es hat dich ins Herz geschlossen!«

»Ich hätte nicht gedacht, dass es so voll wird«, gab Jessica zu. »Ich habe am ganzen Körper gezittert, als ich das Menschenmeer gesehen hab. Unglaublich, echt!«

»Was hast du erwartet, heute ist Eröffnung, da steppt der Bär!«, erwiderte er, während er sie mechanisch streichelte. »Das wird noch ordentlich rundgehen in den nächsten zehn Tagen. Letztes Jahr kamen fast 900.000 Besucher zur Maiwoche. Ich bin froh, dass ich mein Hotel rechtzeitig gebucht habe. Seit Wochen ist kein Bett mehr in Osnabrück zu bekommen, besonders in der Nähe der Festmeile.«

»Das glaub ich. Sonst hättest du auch pendeln können, nach Rheine ist es ja nicht wirklich weit.«

»Gut, aber es ist schöner, dicht dran zu sein. Ich genieße das sehr«, raunte er in ihr Ohr. »Wenn wir übermorgen am Nikolaiort spielen, hoffe ich, dass Katharina immer noch krank ist. Da bin ich ehrlich, auch wenn es etwas gemein klingt. Ich mag im Moment keine Auseinandersetzungen mit ihr. Hat Zeit bis nach der Maiwoche. Der Zufall wollte es, dass du endlich deine Chance bekommst. Du hast Katha würdig ersetzt, Engel. Ganz großes Kino!« Erneut küsste er ihr Haar.

»Danke, die anderen sind da anscheinend anderer Meinung.«

Er seufzte. »Neider gibt es immer, das ist leider so. Damit musst du klarkommen. Sei stolz auf dich und genieße deinen Erfolg. Du bist einfach besser als Katharina. Bald bist du die Nummer eins der Blue Box und bekommst ihren Platz. Du wirst dann unsere Frontfrau. Mir egal, was die anderen dazu sagen. Ich trage schließlich die Verantwortung.«

»Und Katharina? Du kannst sie nicht einfach rauswerfen! Wie komme ich mir denn vor? Ich kann doch nicht meine Karriere auf ihrem Leid aufbauen. Ich will Katha nicht den Platz wegnehmen. Sie tut mir leid.«

Nachdenklich löste er sich von ihr und betrachtete sie. »Schau mal, wäre sie nicht krank geworden, hätte sie den Applaus bekommen und nicht du. Vergiss nicht, wie lange wir darauf hingearbeitet haben! Jetzt kann keiner mehr sagen, Jessica Wagner wäre nur schmückendes Beiwerk. Das war deine Chance, und du hast sie genutzt!«

»Ich kann mich nicht richtig freuen, solange es Katha schlecht geht und mir die anderen den Erfolg nicht gönnen.«

Er runzelte die Stirn. »Von wem sprichst du?«

»Das weißt du genau.«

»Sag es mir.«

Sie zögerte einen Moment. »Alle. Jürgen und Clarissa. Und natürlich Katharina und Max.«

Er winkte ab. »Du machst dich verrückt. Katharina hat ihre Chance gehabt, aber ihre besten Zeiten sind vorbei. Ihre Stimme trägt nicht mehr, sie sieht nicht mehr ganz so gut aus wie früher. Sie muss damit fertigwerden, dass jetzt für sie der Hammer fällt. Ich schicke sie in Rente. Jeder Mensch ist ersetzbar, das ist leider Fakt. Irgendwann ist Schluss. Das ist das Business, das läuft überall so. Man muss anpassungsfähig bleiben, sonst laufen einem auf Dauer die Fans weg. Und neue kommen nicht hinzu, weil unsere Band langsam überaltert. Manchmal muss man einfach Entscheidungen treffen, auch wenn sie im ersten Moment nicht schmecken.«

»Und irgendwann bin ich dann weg vom Fenster«, sagte Jessica nachdenklich.

»Quatsch, irgendwann ist nicht heute. Heute bist du gut. Sogar saugut, um es auf den Punkt zu bringen. Und jetzt wird gefeiert!« Er nahm ihren Arm, um sie mitzuziehen.

Sie stemmte sich dagegen. »Nein, Carsten, sei mir bitte nicht böse, aber ich komme nicht mit.«

Er konnte seine Unzufriedenheit nicht verbergen. »Was soll das heißen, du kommst nicht mit?«

»Mir ist nicht danach.«

Zwischen seinen Augen bildete sich eine Furche. »Willst du mich strafen, weil ich mit dir Schluss gemacht hab? Ist es das?«

Sie errötete. »Nein, ist schon okay. Das ist es nicht.«

Er sah sie eindringlich an und redete ruhig auf sie ein. »Du musst dich entscheiden, zu wem du gehören willst, Jessica, zu den Gewinnern oder zu den Verlierern. Gewinner glauben an sich, während Verlierer nur auf andere schauen und aus Angst, ihnen nicht das Wasser reichen zu können, den Kopf in den Sand stecken. Willst du das? Aufgeben? Ist es das, was du willst? Zeig ihnen, dass du dazu gehörst und sie ab heute mit dir rechnen müssen!«

Plötzlich verdüsterte sich ihre Miene. »Sie war da, oder? Ich meine, ich hätte sie im Publikum gesehen, rechts vor der Bühne.«

Er steckte die Hände in die Jeanstaschen und stieß die Luft aus. »Ja, du hast recht. Sie war da.«

»Hast du ihren Gesichtsausdruck gesehen?«

Er seufzte. »Jessi, hör mir zu, wisch das alles beiseite. Ich mache mir manchmal Sorgen um dich, weil du so sensibel bist und leicht Stimmungen von anderen aufnimmst. Das ist nicht gut. Lass dich nicht runterziehen, hm? Vor allem nicht von ihr. Sie muss allein damit fertigwerden. Es ist ihre Sache. Sie ist erwachsen und schafft das. Erfolg kann man nicht im Laden kaufen, nach dem Motto: ›Hey, gib mir mal eine Portion Erfolg für drei Euro!‹ Nee, so läuft das nicht. Vor allem nicht in diesem Business.«

»Ich weiß, aber es ist ein verdammt blödes Gefühl.«

»Denk dran, was ich dir gesagt habe. Denk positiv. Denk nur an dich. Jessi first. Sonst geht die Rolltreppe wieder abwärts, und das willst du doch nicht. Ich will dich oben sehen, Jessi, ganz oben, da gehörst du hin!«

Sie sah an ihm vorbei. »Ich glaube, ich kann das nicht, Carsten. Ich habe Angst.«

»Oh doch, das kannst du. Das musst du sogar. Ich verlange es von dir, schließlich hab ich eine Menge Kohle in dich gesteckt. Ich habe viel in dich investiert, vergiss das nicht, nicht nur Geld, sondern auch Zeit und Herzblut. Ich will, dass sich das auszahlt! Du lässt mich nicht im Stich, Jessi. Du ziehst das durch. Und was die Fehler anbelangt, bleib cool. Ein kluger Mann hat mal gesagt, ich glaube, es war Dietrich Bonhoeffer: ›Der größte Fehler, den man machen kann, ist, immer Angst zu haben, einen Fehler zu machen.‹ Und jetzt wird gefeiert! Wir wollen noch ein paar Bier zischen. Und ich will dich dabeihaben.« Wieder versuchte er, sie mitzuziehen.

Sie machte sich steif. »Heute nicht, Carsten. Die letzten Tage waren extrem anstrengend, die Proben und so, ich bin total durch den Wind und will früh schlafen gehen.«

»Schlafen gehen?« Er streifte sie mit einem Blick der Verachtung. »Du kannst genug schlafen, wenn du tot bist. Wir feiern heute Abend vor allem dich, Prinzessin! Deinen Aufstieg zur Frontsängerin! Sei nicht so undankbar! Ein Bierchen, mehr nicht. Danach schläfst du wie ein Baby. Wir treffen uns ja morgen erst um zehn.«

Sie winkte ab. »Ich mach mich vom Acker, ehrlich. Ich bin fertig. Da hat keiner was von. Außerdem will ich jetzt nicht mit den anderen reden, will mich nicht rechtfertigen müssen. Hab keine Lust auf ihre mürrischen Gesichter. Die ziehen mich runter. Wir sehen uns morgen bei der Probe.«

Carsten setzte eine enttäuschte Miene auf und rückte seinen Hut zurecht. »Okay. Wenn du es dir anders überlegst, kommst du einfach nach. Wir sind am Maibrunnen auf dem Marktplatz, vor der Marienkirche, du weißt schon.«

»Ja, ich weiß.« Jessica schulterte ihre Tasche und ging, ohne sich noch einmal umzusehen.

Kapitel 2

Samstag, 6. Mai

Der Lieneschweg gehörte zu den Top-Adressen Osnabrücks. In den goldenen 20er-Jahren des vorigen Jahrhunderts hatten hier betuchte Osnabrücker Beamten- und Unternehmerfamilien ihre Villen errichtet – fernab vom Lärm, der Hektik und der Geruchsbelästigung der Innenstadt. Große, elegante Stadthäuser, im Laufe der Jahre aufwendig saniert, reihten sich wie Perlen entlang der begrünten Allee und prägten das Bild einer gehobenen Lebensart. Einige Villen waren zu Mehrfamilienhäusern umgebaut worden, weil die Familien kleiner geworden waren und kein Personal mehr mit im Haus untergebracht werden musste. Die Lage war ideal – nicht weit zu den Einkaufsmeilen Lotter Straße und Innenstadt und ebenfalls nicht weit entfernt vom Naherholungsgebiet Westerberg. Auch das weitläufige Waldgebiet Heger Holz mit dem idyllisch gelegenen Rubbenbruchsee war mit einem etwas längeren Spaziergang zu erreichen.

Das Villenviertel lag am Samstagmorgen noch verschlafen da, als Else Leinweber bereits ihren Hausputz erledigt hatte. Energisch zog die Mittsiebzigerin die Wohnungstür hinter sich zu. Sie ärgerte sich darüber, dass die Sängerin aus der Erdgeschosswohnung trotz mehrmaliger Aufforderung das Treppenhaus nicht geputzt hatte. Es war schon öfter vorgekommen, dass sich die Nachbarin über Regeln und mündliche Absprachen hinweggesetzt hatte. Else Leinweber war es leid, die Arbeit für die junge, verwöhnte Dame mit zu erledigen. Ihr Hals schwoll an, als sie im Vorbeigehen Wollmäuse in den Ecken und feinen grauen Staub auf dem Geländer bemerkte.

Sie ordnete ihre bläuliche Lockenfrisur und läutete im Erdgeschoss neben dem Namensschild mit der Aufschrift »Jessica Wagner«. Die Tür war nicht richtig ins Schloss gezogen worden. Else Leinweber klingelte ein zweites Mal und ging einfach hinein. Ein eigentümlicher Geruch strömte aus der Wohnung. Die Bewohnerin musste da sein, denn das Radio lief.

»Hallo? Frau Wagner?« Mit einem beklemmenden Gefühl blieb Else Leinweber im Flur stehen. Es roch nicht nur ungelüftet, sondern auch süßlich, metallisch. Sie kannte das aus dem Pflegeheim, wenn sie ihren dementen Bruder dort besuchte. Ein unangenehmes Geruchspotpourri aus Urin, Kot, Blut, Reinigungs- und Desinfektionsmittel und billigem Eau de Toilette, das aus Duftspendern aus den Ecken kam, im verzweifelten Versuch, für ein angenehmes Raumklima zu sorgen. Else Leinweber runzelte die Stirn. War die Nachbarin in der Nacht etwa volltrunken nach Hause gekommen? »Frau Wagner?« Langsam tastete sie sich vor, sie kannte sich ja aus. Die Wohnung hatte den gleichen Schnitt wie ihre eigene. Oft genug war sie hier gewesen, um der Nachbarin etwas zu bringen, was der Bote bei ihr abgegeben hatte. Die jungen Leute bestellten ja nur noch im Internet. Sogar Essen ließ sich die kaufsüchtige Person anliefern. Oft bekam sie Kartons einer bekannten Supermarktkette. Die Hälfte des Inhalts landete hinterher in den Mülleimern hinterm Haus. Und Kleidung, jede Menge Kleidung, fast jede Woche bestellte sie was im Internet! Alles wurde anprobiert und dann wieder zurückgeschickt. Else Leinweber beobachtete oft durchs Küchenfenster, wie ihre Nachbarin mit einem Paket unterm Arm das Haus verließ. Kein Wunder, dass die schönen alten Geschäfte in Osnabrück langsam ausstarben!

Die alte Dame steuerte auf die Küche zu. Links davon war das Schlafzimmer, daneben das Bad und das Gäste-WC, und rechts vom Eingang das Wohnzimmer.

In der Küche lief das Radio, ziemlich laut sogar, amerikanische Popmusik, doch es war niemand zu sehen. Auf dem Tisch standen Essensreste, ein Pappteller mit den Resten einer Currywurst, auf dem die bräunliche Soße bereits unappetitlich verdickt war, und labbrige, vollgesogene Pommes frites. Daneben lag eine eingedrückte Büchse Cola.

Die stechenden Ausdünstungen kamen aus dem Wohnzimmer. Bereits an der Türschwelle blieb Else Leinweber stehen und schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund.

Da war sie! Jessica Wagner lag auf dem Bauch in einer Blutlache. Sie musste sich eingenässt und eingekotet haben.

Die alte Dame griff sich an die Brust. Ein plötzlich einsetzendes heftiges Schwindelgefühl erfasste sie und wollte sie zu Boden reißen. Gerade rechtzeitig konnte sie sich an einer Kommode abstützen. Der Schweiß trat ihr aus allen Poren und ihr Herz begann zu stechen und zu rasen. Um Hilfe schreiend schwankte sie aus der Wohnung ins Treppenhaus. Später hätte sie nicht sagen können, wie sie ihre arthritischen Gelenke plötzlich so schnell und schmerzlos hatte bewegen können. Sie spürte ihre Beine nicht mehr, als sie die Holztreppe hinaufpolterte, ihre Wohnungstür aufschloss und dann hastig hinter sich zuzog, um sie doppelt zu verriegeln. Erschöpft riss sie das Telefon an sich und wählte die 110.

*

»Osna 4,23, Meier«, knödelte das Funkgerät im Rettungswagen der Johanniter. »Ihr Standort?«

»Knappheide hier, Lotter Straße, Höhe Emma.«

»Osna 4,23, Meier, RTW zum Lieneschweg, leblose Person, Notarzt rückt nach.«

Der Fahrer des Rettungswagens vergewisserte sich, die Hausnummer richtig verstanden zu haben und brummelte dann: »Verstanden.« Sofort schaltete er das Martinshorn ein und gab Gas. Glücklicherweise verhielten sich die Autofahrer heute vorbildlich, rechts und links wichen die Fahrzeuge aus, es war ohnehin noch nicht viel los, sodass er in weniger als fünf Minuten das Ziel am Lieneschweg erreichte.

Er traf fast gleichzeitig mit dem Notarztwagen und zwei Streifenwagen am Unglücksort ein.

Aus dem Haus kam eine kleine, ältere Frau mit blauen Haaren, gräulicher Gesichtsfarbe und irrem Blick gelaufen. »Kommen Sie!«, schrie sie. »Kommen Sie schnell, die Frau Wagner ist tot. Die Frau Wagner von unten! Eine ganz junge Frau! Tot! Alles voller Blut! Sie wurde ermordet! Erstochen! Auf dem Teppich! Alles voller Blut, ganz viel Blut!«, schrie sie panisch.

Ein junger Polizeibeamter kümmerte sich um sie und forderte über Funk einen Notfallseelsorger an.

Der Sanitäter eilte im Laufschritt mit seinem Notfallkoffer an ihnen vorbei, gefolgt von zwei Kollegen und dem Notarzt. »Wo müssen wir hin?«

»Erdgeschoss, links, die Tür steht offen«, rief jemand. Dort angekommen, reichten wenige Sekunden, um festzustellen, dass es nichts mehr zu tun gab. Die Leiche wies mehrere Stichwunden am Rücken auf. Sie war schon kalt. Als der Sanitäter die Bluse der jungen Frau hochzog, waren erste Totenflecken sichtbar. Er nickte dem Notarzt zu, der trotzdem ordnungsgemäß den Puls nahm und sein Stethoskop herauszog. »Das ist was für K1«, sagte er mit hochrotem Kopf. Über Funk forderte er die Kriminalpolizei an.

*

Das rot-weiß gestreifte Flatterband der Polizei störte die Idylle am Lieneschweg unweit der Musikschule, die früher mal eine Frauenklinik gewesen war. Vor einem charmanten Zweifamilienhaus mit Erkern, Giebeln und Mansardendach standen drei Polizeiwagen. Autofahrer fuhren noch langsamer als die vorgeschriebenen 30 Kilometer pro Stunde und Fußgänger blieben stehen, um zu sehen, was da los war.

Ein uniformierter Polizeibeamter passte am Gartentor auf, dass kein Unbefugter ins Haus gelangte.

Birthe Schöndorf von der Osnabrücker Mordkommission erreichte den Tatort am Samstagvormittag, etwa eine halbe Stunde nach den Kollegen der Schutzpolizei.

»Ich übernehme jetzt die Ermittlungsleitung«, rief die junge, blonde Frau den Beamten im Eingangsbereich zu. »Gibt es Zeugen? Haben Sie bereits Bürger aus der Nachbarschaft befragt?«

»Von den Anwohnern der Nachbarhäuser hat offenbar niemand etwas mitbekommen. Kollegen sind unterwegs, um in den Häusern gegenüber nachzufragen. Am meisten kann uns wohl die ältere Dame sagen, die in der oberen Etage wohnt, aber die steht unter Schock, befindet sich gerade im RTW und ist zur Stunde nicht vernehmungsfähig.«

Die hochgewachsene Mittdreißigerin begrüßte ihre Kollegen von der Tatortgruppe. Einer war damit beschäftigt, mit Pinsel und Ruß an der Haustür Spuren zu nehmen. Ein anderer tütete gerade mithilfe einer Pinzette ein dunkles Haar in einen durchsichtigen Beutel ein.

»Gibt es Anzeichen für einen Einbruch?«

»Nein. Das Opfer muss dem Täter die Tür geöffnet haben.«

Birthe Schöndorf betrat die Wohnung und begrüßte ihren Kollegen Daniel Brunner, der gerade aus einem Zimmer rechts von ihr kam. Die Tür stand offen und gab den Blick frei auf einen sonnigen Raum mit heller Einrichtung, allem Anschein nach das Wohnzimmer. »Hey, du bist schon da!«, begrüßte sie ihn.

»Ich war noch beim Frühstück und bin direkt hergefahren. Bin aber auch erst vor ein paar Minuten eingetroffen. Eigentlich habe ich heute frei.«

»Ich weiß, ich auch. Ich hatte den Tag anders geplant. Nun ja, was soll’s. Wer ist die Tote?«

»Jessica Wagner, 25 Jahre alt. Sie wohnt hier.«

»Alleine?«

»Offensichtlich, ja. Ist ziemlich groß, die Wohnung, für eine Einzelperson, nicht wahr? Mindestens 100 Quadratmeter, schätze ich mal, und das am teuren Westerberg.«

»Dann muss sie einen guten Job haben.«

»Oder reiche Eltern. Nachbarn aus dem Nebenhaus haben erzählt, dass die Wohnung ihrem Vater gehört, Christian Wagner. Er wohnt nicht weit von hier, ein paar Straßen oberhalb, am Richard-Strauss-Weg.« Daniel ging zu der Toten, sicher, um sich ein genaues Bild zu machen. Seit Jahren arbeiteten sie zusammen im Team der Mordkommission K 1. Sie mochte ihn – als Kollegen. Nie hätte sie sich ihn als Partner vorstellen können, obwohl er ihr das Gefühl vermittelte, dass er auf sie stand. Er war ihr zu eitel und hatte zu viele Frauengeschichten. Keine seiner Beziehungen hatte bisher länger gehalten als ein paar Monate.

»Was ist passiert?« Birthe trat näher an die Leiche heran. Sie nahm den stechenden, metallischen Geruch von Blut wahr und musste eine aufkommende Übelkeit unterdrücken. Es war nicht die erste Leiche aus nächster Nähe, aber es kam eher selten vor, dass sie zu einem Tatort gerufen wurde, an dem das Opfer eine junge Frau war. Es kostete sie etwas Überwindung, genau hinzusehen. Wagners weiße, ärmellose Bluse war blutgetränkt, auch die langen blonden Haare und die helle Hose hatten Spritzer abbekommen. Zwischen den Schulterblättern waren drei Stichverletzungen zu erkennen, etwa vier Zentimeter breit. Die Kollegen der Tatortgruppe hatten bereits die Umrisse der Toten markiert. Eine dicke weiße Linie, die den menschlichen Körper nachzeichnete. Ein Stuhl war umgefallen, ansonsten machte der Raum einen ordentlichen, fast unbewohnten Eindruck.

Hansmann vom polizeilichen Erkennungsdienst gesellte sich zu ihnen und nickte Birthe freundlich-distanziert zu. Er trug wie die anderen Kollegen von der Spurensicherung einen Plastikoverall, Handschuhe, Überschuhe und Mundschutz. »Der Täter muss gezielt auf sie eingestochen haben, mit enormer Kraft und mit einem großen Messer.«

»Ist sie an Ort und Stelle gestorben?«, wollte Birthe wissen.

»Ja. Du siehst es an den Blutspuren, die sich lediglich unmittelbar um die Leiche herum befinden, und an den Totenflecken.« Er schob die Bluse hoch, sodass die Flecken sichtbar wurden.

»Wie lange ist sie schon tot?«

»Etwa zehn bis zwölf Stunden. Der Tod muss zwischen Mitternacht und 1 Uhr morgens eingetreten sein. Ihre Temperatur ist schon um zehn Grad gesunken. Die Totenstarre ist voll ausgebildet.«

Birthe wandte sich an Daniel. »Ist die Staatsanwältin informiert worden?«

»Ja. Frau Koswalla ist auf dem Weg. Sie bringt den Durchsuchungsbefehl und die Anordnung zur Obduktion mit.«

»Ist der Notarzt noch da?«

»Nein, er ist gerade gefahren. Hier ist der Totenschein.« Daniel überreichte ihr das Dokument. »Unnatürliche Todesursache« war angekreuzt, aber das war ja ohnehin eindeutig.

Birthe hatte ihre erste Hemmung überwunden und hockte sich zu der Frau. Eine schlanke, fast zierliche Statur, sommerlich gekleidet, große Kreolen in den Ohren, feiner, gerader Nasenrücken, das sah sie von der Seite, helle Augenbrauen, solariumgebräunte Haut, verschiedene Ringe an den sorgsam manikürten, feingliedrigen Händen. Aus dem Mund war eine bräunliche Flüssigkeit gequollen.

»Ist das Blut?«, fragte sie und deutete auf die Mundwinkel der Toten.

Hansmann verneinte. »In der Küche stehen Essensreste. Ich vermute, sie hat kurz vor ihrem Tod Currywurst gegessen.«

Birthe hatte erst vor einer halben Stunde ausgiebig gefrühstückt und verspürte erneut einen Anflug von Übelkeit. Sie stand auf. »Sie lebte alleine hier?«

Hansmann nickte. »Es gibt keinen Hinweis darauf, dass sie mit jemandem zusammenlebte. Aber das lässt sich ja schnell in Erfahrung bringen. Es ist ein Zweiparteienhaus. Die obere Wohnung wird ebenfalls von einer alleinstehenden Dame bewohnt.«

»Wenn sie dem Täter nachts selbst die Tür geöffnet hat, könnte es sich um eine Beziehungstat handeln.«

»Möglich«, sagte Hansmann. »Es ist definitiv kein Raubmord. Keine offenen Schränke und Schubladen, kein Chaos in der Wohnung. Ihre Handtasche lag auf der Kommode im Flur. Alles drin, Geld, Ausweispapiere, Handy.«

»Das Opfer weist keine Verletzung an Händen oder Armen auf«, sagte Birthe. »Anscheinend hat es keinen Kampf, keine Abwehrbewegung gegeben. Offenbar wurde sie überrascht. Der Täter muss sie von hinten angegriffen haben. Sie war vollkommen arg- und wehrlos.«

»Sie muss ihn gekannt haben, sonst hätte sie ihm wohl kaum den Rücken zugedreht«, fasste Daniel seine Beobachtungen zusammen.

Birthe nickte. »Davon gehe ich auch aus. Schau dir mal die Kleidung der Toten an. Sie trägt Ausgehklamotten und Schuhe, silberfarbene Riemchensandaletten mit hohem Absatz. Sie ist stark geschminkt. Sieht nicht nach einem gemütlichen Fernsehabend auf dem Sofa aus. Sie muss unterwegs gewesen sein. Vielleicht hat sich der Täter mit ihr zusammen in die Wohnung gedrängt.«

Nachdenklich zupfte sich Daniel am Ohr. »Sollte es eine Beziehungstat gewesen sein, wird ein Streit vorausgegangen sein. Die Nachbarn könnten etwas mitbekommen haben.«

Birthe sah sich in dem etwa 40 Quadratmeter großen, schlauchförmigen Raum um. Ein Wohnraum wie aus einem Hochglanzmagazin. Parkettboden, weiße Sprossenfenster mit goldenen Beschlägen, weiße Kassettentüren. Auf der Südseite, die zum gepflegten Garten zeigte, befand sich eine hellgraue Sitzlandschaft mit niedrigen Beistelltischen und einem flauschigen Teppich. An der Wand hing ein großer Flachbildschirm. Die Nordseite mit Erker wurde als Essbereich genutzt. Ins Auge fiel ihr ein moderner Kaminofen, davor ein großer Holztisch mit Metallbeinen und sechs verschiedenfarbigen Lederstühlen. Ein paar dezent platzierte antike Möbel verliehen dem Raum Wärme und Tiefe. Die Einrichtung wirkte repräsentativ und ungewöhnlich für eine junge Frau.

Die Kollegen von der Tatortgruppe hatten bereits an jenen Stellen, an denen Spuren gesichert worden waren, Karten aufgestellt.

»Reiches, armes Mädchen«, sagte Daniel, der Birthes Blick gefolgt war. »Nur womit ist sie reich geworden? Allein durch Mama und Papa?«

»Habt ihr die Tatwaffe?«, erkundigte sich Birthe.

»Nein, bisher nicht«, sagte Daniel. »Wir hoffen, dass wir sie bald finden.«

»Ich schaue mich mal um.« Birthe verließ das Wohnzimmer, gefolgt von Daniel.

Die Küche hatte einen quadratischen Zuschnitt und bot eine herrliche Aussicht auf den Garten. Sie war mit hochwertigen, weißen Einbaumöbeln ohne Griffe, viel Edelstahl und teuren Geräten ausgestattet.

»Okay«, sagte sie und deutete auf den hohen Tisch. »Hier hat sie also gesessen und ihre letzte Mahlzeit eingenommen. Currywurst, Pommes rot-weiß, Cola. Nur ein Barhocker ist zum Sitzen vorgezogen worden, der andere wurde nicht bewegt. Die Cola hat sie ausgetrunken. Die Wurst hat sie nur zur Hälfte gegessen. Es sieht so aus, als sei dabei gestört worden. Das würde bedeuten, sie war vor dem Täter in der Wohnung.«

»Vielleicht wollte sie vor dem Ausgehen noch was zu sich nehmen, hatte dann aber keinen Appetit mehr.«

Birthe ging zum Abfalleimer und nestelte mit langen Fingern ein Einpackpapier heraus, an dem Reste der braunen Soße pappten. »Nur eine Portion hat sie geholt. Schwierig herauszufinden, an welchem Stand sie die Currywurst gekauft hat, bei dem Überangebot an Imbissbuden.«

»Wir werden es herausfinden«, meinte Daniel.

»Was ist mit ihrem Handy? Brauchen wir die PIN?«

»Ja. Ich hoffe, die Kollegen kommen schnell dran. In der Regel ist das ja kein Problem.«

»Wir müssen wissen, mit wem sie kurz vor ihrem Tod Kontakt hatte, ob sie sich vielleicht mit jemandem für die Maiwoche verabredet hatte.«

»Klar«, meinte Daniel.

»Wer hat die Polizei gerufen?«

»Die Nachbarin von oben, Else Leinweber. Die Frau hat einen Schock erlitten und ist nicht vernehmungsfähig. Momentan wird sie im RTW versorgt.«

»Ach ja, von der älteren Dame habe ich schon gehört. Ich werde mal nach ihr sehen. Vielleicht ist sie inzwischen in der Lage zu reden.«

Kapitel 3

Der Rettungswagen stand halb auf dem Bürgersteig. Durch die offene Tür sah Birthe eine ältere Frau darin. Sie erkundigte sich bei den Rettungssanitätern nach dem Befinden der alten Dame und setzte sich zu ihr auf einen ausklappbaren Hocker. »Frau Leinweber, mein Name ist Birthe Schöndorf von der Osnabrücker Kriminalpolizei. Sie haben Ihre Nachbarin gefunden. Wie geht es Ihnen? Fühlen Sie sich imstande, mir ein paar Fragen zu beantworten?«

Die alte Dame nickte.

»Was haben Sie gesehen? Wenn Sie reden möchten, höre ich Ihnen zu«, sagte Birthe leise.

»Ich bin froh, dass endlich die Polizei da ist. Ich hatte so eine Angst.« Else Leinweber strich über ihren Handrücken, in dem eine Infusionsnadel steckte, nickte. Sie wirkte mitgenommen.

»Wann haben Sie Ihre Nachbarin gefunden?«

»Ich weiß nicht genau. Es war furchtbar. Ich bekam eine Panik, ich dachte, ich sterbe! So etwas Entsetzliches habe ich noch nie gesehen. Es war wie in einem Horrorfilm!«

»Das glaub ich Ihnen«, sagte Birthe mitfühlend.

»Das können Sie nicht verstehen, weil Sie es nicht selbst erlebt haben.«

»Nein, darum wäre es schön, wenn Sie mir davon erzählen würden.«

»Irgendwas haben die mir gegeben. Ich bin auf einmal todmüde und könnte auf der Stelle einschlafen.« Für einen Moment schloss Else Leinweber ihre Augen, sodass Birthe fürchtete, sie würde es tatsächlich tun. »Ich habe noch nie etwas derart Furchtbares erlebt«, jammerte die Frau. »Und das bei mir zu Hause! Ich hatte Todesangst. Ich dachte, der Mörder treibt sich irgendwo im Haus rum und will mich auch abstechen.«

»Haben Sie jemanden gesehen?«, fragte Birthe vorsichtig.

»Nein. Trotzdem hatte ich die ganze Zeit über das Gefühl, er wäre da.«

»Sie fühlten sich beobachtet?«

»Ja. Da war jemand, das Gefühl hatte ich.«

»Wodurch? Haben Sie Geräusche gehört oder etwas Außergewöhnliches wahrgenommen? War etwas anders als sonst?«

Die alte Dame schüttelte heftig den Kopf.

»Ich kann Sie beruhigen. In der Regel kehrt der Täter nicht zurück. Und außerdem wird er es kaum auf sie abgesehen haben. Wir vermuten, es war jemand aus dem Umfeld der jungen Frau.« Birthe hoffte, dass sie mit ihren aufmunternden Worten Recht behielt. Die Realität sah manchmal anders aus.

»Vielleicht denkt er, ich hätte ihn gesehen. Dann will er mich umbringen, damit ich nicht als Zeugin aussagen kann. Das hat es schon gegeben, habe ich bei ›Aktenzeichen XY … Ungelöst‹ gesehen. Die Täter wollen die Zeugen mundtot machen, damit sie nicht gefasst werden. Ich habe keine ruhige Minute mehr, glauben Sie mir das. Ich wünschte, Sie hätten ihn schon«, klagte die Frau. »Erst wenn er hinter Schloss und Riegel ist, werde ich aufatmen.«

»Das können Sie auch so, Frau Leinweber. Wir tun unser Bestes, um den Täter bald zu finden.«

»Und was soll ich bis dahin machen? Ich kann doch nicht in meine Wohnung zurück. Wie soll ich da noch ruhig schlafen, wenn in dem Haus eine Frau umgebracht wurde? Ich bin ganz allein, wissen Sie.«

»Hm. Vielleicht haben Sie die Möglichkeit, heute Nacht woanders zu schlafen? Haben Sie Angehörige in Osnabrück? Oder Freunde?«

»Nein, ich habe niemanden. Hier auch nicht. In dem Haus gibt es nur zwei Wohnungen. Die von Jessica unten und meine oben. Mehr Leute wohnen da nicht.«

Birthe bekam Mitleid mit der alten Frau. Allein in dem großen Haus zu sein, war jetzt sicher nicht angenehm. Birthe hätte nicht mit ihr tauschen wollen, trotzdem musste sie versuchen, zuversichtlich zu klingen und ihr die Angst zu nehmen. Betont munter setzte sie das Gespräch fort. »Wenn Sie wollen, schau ich mir nachher mal Ihre Wohnung an und überprüfe, ob alles einbruchsicher ist. Wenn nicht, kümmere ich mich darum und schicke Kollegen los, die darauf spezialisiert sind und Sie beraten.«

»Das wäre schon mal was«, sagte die Frau erleichtert. »Ich werde heute Abend eine Schlaftablette nehmen, dann wird es schon gehen. Für alle Fälle lege ich das Telefon neben mein Bett.«

»Das ist eine gute Idee. Wenn etwas ist, rufen Sie mich ruhig an«, sagte Birthe. »Ich gebe Ihnen meine Karte und schreibe meine Handynummer dazu.« Sie zückte einen Kuli. »Das mache ich sonst nicht, nur für Sie, Frau Leinweber«, sagte Birthe augenzwinkernd, kritzelte ihre Nummer auf die Karte und reichte sie der Frau. Nach einer kurzen Pause sprach sie weiter: »Jessica Wagner ist gestern Abend ausgegangen. Wissen Sie, wohin?«

Else Leinweber betrachtete Birthes Visitenkarte und strich liebevoll mit dem Finger darüber. Ihr Nagellack war zartrosa, schon leicht abgesplittert. »Nein. Sie geht oft aus, besonders am Wochenende, da achte ich nicht immer drauf.« Sie sprach ganz ruhig. Die Beruhigungsmittel, die ihr verabreicht worden waren, schienen zu wirken. »Ich glaube, sie wollte auf die Maiwoche.«

»Was wissen Sie über Jessica Wagner? Was hat sie beruflich gemacht?«

Die alte Dame zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht genau. Gesungen hat sie. Ob sie davon leben konnte? Das Haus gehört ihren Eltern. Ich bin nur Mieter der oberen Wohnung. Ich nehme an, ihre Eltern haben auch sonst alles bezahlt. Jessica war ziemlich faul. Ich musste sie ständig ermahnen, sich an den Putzplan im Treppenhaus zu halten.«

»Wenn die Eltern so reich sind, hätten sie doch eine Reinigungskraft bezahlen können, aber das haben sie nicht?«

Else Leinweber schüttelte den Kopf. »Das wollten wir nicht. Ich nicht, aus Kostengründen, ich wollte mich nicht beteiligen, und Jessica auch nicht. Sie wollte sich wohl nicht in die Karten schauen lassen.«

»Hatte sie denn etwas zu verbergen?«

Leinweber zuckte mit den Schultern. »Manchmal hatte ich den Eindruck. Sie wirkte oft verhuscht, besonders wenn sie Besuch hatte und nicht wollte, dass ich etwas mitbekomme.«

»Was war das für ein Besuch?«

»Verschiedene Personen. Sie kamen oft abends, sodass ich nicht genau sehen konnte, wie sie aussahen.«

»Waren es Männer? Oder Frauen?«

»Ich glaube, sowohl als auch.«

»Hatte Frau Wagner bestimmte Gewohnheiten?«

»Abends ging sie wie gesagt oft weg und morgens schlief sie lange.«

»Haben Sie am Abend ungewöhnliche Geräusche gehört? Gab es einen Streit?«

»Ich habe nur mitbekommen, wie jemand unten geläutet hat.«

Birthe straffte sich. »Wann war das? Um welche Uhrzeit etwa?«

»Gegen halb zwölf«, sagte Else Leinweber. »Ich war schon im Bett und wollte noch einmal zur Toilette gehen. Da habe ich das Türklingeln unten gehört.«

»Haben Sie Stimmen im Hausflur gehört? Wissen Sie, ob es ein Mann oder eine Frau war?«

Stirnrunzelnd versuchte Else sich zu erinnern. »Nein, das kann ich nicht sagen. Ich habe nicht darauf geachtet. Ich habe mich nur geärgert, dass nachts noch jemand Fremdes ins Haus kam. Jessica war oft schlampig mit dem Abschließen hinterher.«

»Versuchen Sie sich an jede Einzelheit zu erinnern. Jedes Detail zählt. Gab es unten in der Wohnung Streit?«

Else Leinweber dachte einen Moment nach. »Ich habe Jessica reden gehört. Die hat ja so eine hohe, durchdringende Stimme. Sie hat aufgeregt gesprochen.«

»Und die andere Person?«

»Nein, nur die von Jessica. Sie hat viel geredet. Laut und schnell, manchmal schrill.«

»Sind Sie sicher? Sie haben eine einzelne Frauenstimme gehört?«

Die alte Dame nickte.

»Waren es vielleicht zwei Frauenstimmen, die ähnlich klangen?«

»Nein, ich habe nur Jessica gehört.«

»Können Sie ausschließen, dass ein Mann in der Wohnung war?«

»Nein. Vielleicht hat er nichts gesagt oder er hat leise geredet.«

Birthe verabschiedete sich mit einem warmen Händedruck und ging zum Haus zurück. Ein Notfallseelsorger mit einer neongelben Jacke kam ihr entgegen. »Gut, dass Sie da sind«, rief Birthe ihm zu. »Die Zeugin im RTW könnte Ihre Hilfe gebrauchen.«

*

Im Flur ertönte Stimmengewirr. Ein schwarz gekleideter Mann mit Hut redete auf zwei uniformierte Streifenpolizisten ein. »Darf ich fragen, wer Sie sind und was Sie hier wollen?«, erkundigte sich Birthe höflich.

»Carsten Tobecke, der Manager von Jessica Wagner. Ich möchte wissen, was hier los ist. Was ist mit Jessi? Warum darf ich nicht zu ihr?«

»Manager? Wie darf ich das verstehen?«

»Jessi ist Sängerin. Sie singt in meiner Band. Wir waren für 10 Uhr heute Morgen verabredet, wollten zusammen proben. Sie ist nicht aufgetaucht und geht nicht ans Handy. Deswegen dachte ich mir, fahre ich mal direkt hin und schaue nach, was los ist.« Carsten Tobecke hatte einen rundlichen Kopf und einen fast kindlichen Gesichtsausdruck. Birthe schätzte ihn um die 50.

»Sie kann nicht ans Handy gehen.«

»Warum?« Entgeistert sah er sie an.

Erst jetzt fielen Birthe seine fahle Haut und die Schatten unter seinen Augen auf. Seine Nacht war vermutlich kurz gewesen. Er wollte sich an ihr vorbeidrängen, doch sie versperrte ihm den Weg.

»Moment, nicht so schnell. Hatten Sie gestern Abend einen Auftritt?«

Tobecke hob das Kinn. »Was wollen Sie von mir? Was ist hier eigentlich los?«

»Auf der Maiwoche? Mit Jessica Wagner?«

»Ja, warum?«

Birthe versuchte in seiner Mimik zu lesen. War er wirklich so ahnungslos, wie er tat? Entweder war er ein guter Schauspieler oder er wusste wirklich nichts. »Jessica Wagner ist tot. Es tut mir leid.«

Carsten Tobecke starrte sie ungläubig an. Seinen Hut nahm er jetzt ab. Verlegen fuhr er sich durch sein schütteres graues Haar, das er zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden hatte. »Das kann nicht sein«, murmelte er. Seine Gesichtszüge wurden schlaff, sodass sein Doppelkinn deutlich zum Vorschein kam. Er wischte sich mit dem Unterarm über die schwitzende Stirn.

»Warum kann das nicht sein?«

»Weil sie gestern Abend noch putzmunter war«, murmelte er.

»Kommen Sie«, sagte Birthe freundlich. »Wir gehen in mein Auto und unterhalten uns in Ruhe.«

»Ich will in die Wohnung! Ich muss zu ihr! Ich bin ihr Freund! Ich will sie sehen!« Seine Augen blickten flehentlich zu ihr auf. Es wirkte übertrieben, sodass Birthe sich fragte, ob er ihr etwas vorspielte.

»Das geht leider nicht. Hier werden gerade Spuren gesichert.«

»Spuren gesichert? Warum? Sagen Sie mir die Wahrheit: Ist sie ermordet worden?«

Birthe musterte ihn schweigend.

»Das glaub ich nicht! Welches Drecksschwein war das?« Entschlossen drängte er sich an ihr vorbei. »Jetzt hat sie es endlich geschafft, jetzt hat sie erreicht, was sie wollte.«

Birthe war für eine Sekunde nicht präsent genug gewesen und ärgerte sich über sich selbst. Sie lief ihm hinterher. »Halt! Bleiben Sie stehen! Sie dürfen da nicht rein!«

Er hatte es bis in den Flur von Jessica Wagners Wohnung geschafft und wusste anscheinend genau, wo sie sich befand, denn mit einem Satz war er bei ihr. »Das ist nicht wahr! Mein Gott, Jessi … Was ist passiert? Wer hat dir das angetan?«

»Wenn Sie nicht augenblicklich den Tatort verlassen, muss ich Ihnen Handfesseln anlegen«, sagte Birthe.

Sie verständigte sich über Gesten mit ihren Kollegen. »Sie stören die Ermittlungen, Herr Tobecke. Solange Spuren gesichert werden, darf kein Unbefugter den Tatort betreten. Ich habe Ihnen angeboten, in meinem Wagen zu reden.«

»Ich bin kein Unbefugter!«, stellte er klar. »Ich bin ihr Freund.«

»Ihr Lebenspartner?«

»Also gut, ich gehe mit Ihnen. Für ein paar Minuten«, gab er nach. Sichtbar müde folgte er ihr nach draußen. Auf der gegenüberliegenden Seite hatte Birthe den Dienstwagen geparkt.

Im Fahrzeug nahm sie seine Personalien auf. Mit ihrem Diensthandy zeichnete sie das Gespräch auf.

»Ich verstehe das alles nicht. Es ist schwer zu begreifen«, sagte er matt und wischte sich mit den Händen über die Augen. Endlich schien er ruhiger zu werden. »Gestern Abend standen wir noch zusammen auf der Bühne. Jessi war klasse, sie hat zum ersten Mal solo gesungen, als Frontsängerin, und sie war gut, die Leute liebten sie, haben sie gefeiert. Jessi hat viel Applaus bekommen, viel mehr als wir alle zusammen, es war richtig geil. Sie kann nicht tot sein. So ein quirliges Mädchen kann nicht tot sein.« Er holte Luft und stieß einen tiefen Seufzer aus.

Birthe ließ ihm Zeit. »In welcher Beziehung standen Sie zueinander, Sie und Frau Wagner?«, fragte sie dann.

»Ich war ihr Manager.«

»Sie haben eben gesagt, Sie wären ihr Freund gewesen.«

»Ja … gut, Manager und Freund. Ein Freund, nicht ihr Freund.«

»Hatte sie denn einen Freund?«

»Pff, keine Ahnung. Ich glaube nicht.«

Sie sah ihn prüfend von der Seite an. Er reagierte kaum, blickte nur kurz auf, als er merkte, dass er gemustert wurde.

»Was haben Sie vorhin damit gemeint, als Sie gesagt haben, sie hätte es endlich geschafft, sie hätte erreicht, was sie wollte. Wen meinen Sie damit? Wer ist ›sie‹?«

Er presste seine Lippen aufeinander, schüttelte den Kopf.

Birthe wartete ab, doch er schwieg beharrlich. »Erzählen Sie vom gestrigen Abend.«

»Wir waren am Jürgensort. Jessi hat die Frontsängerin ersetzt, weil sie erkrankt ist. Danach sind wir noch einen trinken gegangen. Wir wollten zum Maibrunnen an der Marienkirche, da feiern wir eigentlich jedes Jahr, auch wenn es vom Jürgensort aus etwas weiter ist. Das war Jessi offenbar zu weit, sie wollte nicht mit. Sie sagte, sie sei müde, und wollte schlafen gehen.«

»Definieren Sie bitte Ihre Freundschaft zu Jessica Wagner genauer. Gab es über das rein Berufliche hinweg eine private Beziehung? Eine sexuelle Beziehung?«

Tobecke blähte die Wangen auf. »Mein Gott, nein. Es war nicht einmal eine Affäre.«

»Aber Sex. War Liebe im Spiel?«

»Nein.«

»Bei Frau Wagner auch nicht?«

Sein Blick wanderte zur Wagendecke. »Ich kann in die Frauen nicht reingucken. Das ist mir noch nie geglückt. Ich bin solo. Und das soll eigentlich auch so bleiben. Also, ich glaube nicht, dass Jessi mehr wollte als ein Trittbrett für ihre Karriere, wie viele Mädels, die ins Musikbusiness einsteigen. Das habe ich ihr ermöglicht.«

»Hätte sie das aufgrund ihres Talents nicht bekommen?«

Treuherzig sah er sie an. »Doch, aber Jessica wollte es so. Das versichere ich Ihnen.«

»Nächste Frage: Wie viele Musiker sind in der Band?«

»Wir sind zu fünft. Drei Jungs und zwei Mädels.«

»Jessica Wagner war vorher nicht Teil der Band?«

»Doch. Sie stieg vor ein paar Monaten als Backgroundsängerin ein, zusammen mit einer anderen. Da ist sie mir aufgefallen.«

»Wer ist die andere?«

»Sie heißt Angie. Ihren Nachnamen weiß ich nicht mehr. Wirklich toll hat sie nicht gesungen. Jessica war definitiv die bessere Sängerin. Optisch haben die beiden Mädels aber zueinander gepasst, die eine blond, die andere brünett, beide in etwa gleich groß, die gleiche Figur, da habe ich sie beide gebucht. Als Gesamtpaket funktionierten sie ganz gut.«

Sie wurden von Birthes Privathandy unterbrochen, das viel zu laut klingelte. Ihre Schwester hatte sich lange nicht mehr gemeldet. Birthe murmelte eine Entschuldigung und ging kurz dran. »Es passt gerade nicht, Sophia, bin mitten in einer Vernehmung. Kann ich dich später zurückrufen?«

»Klar, mach nur«, antwortete ihre Schwester mit tränenerstickter Stimme.

»Bis später dann.« Irritiert legte Birthe auf. Dann schaltete sie das Handy aus. »Entschuldigung«, murmelte sie. »Also, noch mal zurück zu dem, was Sie eben gesagt haben: »Wer ist ›sie‹? Wer hat es geschafft? Wer hat erreicht, was er oder sie wollte?«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

»Das haben Sie mir eben gesagt: Sie haben gesagt: ›Jetzt hat sie endlich erreicht, was sie wollte.‹ Wen meinen Sie damit?«

Sein Gesicht spiegelte völlige Ahnungslosigkeit wider. »Ich weiß es nicht. Muss wohl irgendwas geträumt haben. Ich meine niemanden damit.«

Birthe nahm ihr Tablet und tippte etwas hinein. Trotzdem entließ sie ihn noch nicht. Sollte er sich ruhig ein wenig langweilen.

Kapitel 4

Ich habe seit zwei Tagen nicht mehr geschrieben. Eigentlich schreibe ich überhaupt nicht gerne, aber Maren verlangt das von mir. Es sei Teil der Therapie, erklärt sie jedes Mal aufs Neue. Ein Tagebuch soll ich führen, dabei liegt mir das überhaupt nicht. Wenn die Seiten leer geblieben sind, finde ich keinen richtigen Anfang. Ich sehe keinen Sinn darin, habe mein Leben lang nicht gerne geschrieben. Aber Maren glaubt, ich bekomme meine Aggressionen am besten in den Griff, wenn ich alles aufschreibe, was mich belastet. Das wäre besser, als andere darunter leiden zu lassen. Sicher stimmt das, aber wenn ich unterwegs einen Rappel kriege, ist ja auch nicht gleich Papier und Stift zur Hand. Und wenn ich dann zu Hause bin und schreiben könnte, ist meine Wut nicht mehr so stark, sondern hat sich inzwischen abgekühlt.

Trotzdem ist Maren der Meinung, ich würde mich besser fühlen, wenn ich schreibe. Manchmal glaube ich ihr sogar. Manchmal fühle ich mich tatsächlich besser. Aber im Moment fühle ich gar nichts. Da ist nur Leere, ein großes Fragezeichen.

Gestern Abend hatte ich wieder so einen Tiefpunkt. Der Tag war bis dahin eigentlich noch gut. Mit ein paar Leuten war ich auf der Maiwoche. Da war ordentlich was los. Wir haben am Markt Bier getrunken und was gegessen. Dann sind wir weitergelaufen bis zum Nikolaiort und haben uns da umgesehen. Eine Band hat gespielt. Das war aber nicht wirklich meine Mucke und wir sind weitergezogen. In der Großen Straße wurde es richtig voll. In der Georgstraße sind wir auch nur kurz stehen geblieben und haben einer Coverband zugehört, dann sind wir noch einmal weitergezogen bis zum Jürgensort. Und da habe ich sie entdeckt. Jessi stand ganz vorne, das war ein ungewohnter Anblick. Sonst war ihr Platz immer hinter den Gitarristen. Manchmal sah man sie gar nicht. Aber heute wirkte sie wie ein Star. Wunderhübsch. Ich habe sie lange angestarrt. Die anderen Musiker aus der Band habe ich gar nicht wahrgenommen. Ich könnte nicht mal sagen, wer sonst noch mit dabei war und was sie anhatten. Jessi hat mich überrascht. Ich wusste gar nicht, dass sie mittlerweile so gut singen kann. Irgendjemand hat mal gesagt, ihre Stimme sei mittelmäßig und reiche nur für den Backgroundchor, aber nun weiß ich, dass das nicht stimmt. Sie hat wirklich krass gesungen, an einigen Stellen sogar solo. Auf mich hat sie wie eine richtige Sängerin gewirkt, cool und souverän. Wie ein Star eben.

Nebenan war ein Getränkestand und wir haben noch ein oder zwei Biere geholt. Die anderen hatten dann keine Lust mehr und sind weitergezogen. Ich bin geblieben. Ich wollte Jessi bis zum Schluss sehen. Ich stand da mit meiner Bierflasche in der Hand und habe sie, glaube ich, völlig perplex angestarrt. Im ersten Moment war ich glücklich, aber dann kam diese komische Stimmung wieder, die mir immer den Boden unter den Füßen wegreißt. Mir wurde ganz schlecht vor Melancholie und Einsamkeit inmitten der vielen Menschen, trotzdem konnte ich mich nicht überwinden weiterzugehen. Hätte ich das nur getan. Aber ich konnte nicht. Irgendeine höhere Macht hat mich gezwungen zu bleiben. Mich zieht das Unglück einfach magisch an. Ich habe das falsche Gespür, gerate immer in Situationen, die mir nicht guttun. Ich suche und finde das Unglück.

Meine Therapeutin sagt, ich würde mich damit unbewusst meiner Vergangenheit stellen. Das Gefühl von Einsamkeit wäre der Moment, in dem ich mir meiner Verlustängste und Traumata bewusst wäre. Ich sollte das aushalten, nicht dagegen angehen, dann würde es besser werden und vielleicht irgendwann ganz verschwinden. Im Flow bleiben, nennt sie das. Alles, was ich brauche, sei Geduld. Aber bisher warte ich vergebens. Im Gegenteil, es wird schlimmer und schlimmer. Ich komme immer schlechter mit mir selber klar.

Als das Konzert zu Ende war, habe ich auf sie gewartet. Eigentlich wollte ich nichts Bestimmtes von ihr, einfach nur in ihrer Nähe sein, mit ihr reden, ihr zu dem tollen Auftritt gratulieren. Aber sie hat mir wieder mal die kalte Schulter gezeigt. Kenn ich ja schon. Sie sei müde, hat sie gesagt, habe keine Lust mehr und wolle schnell nach Hause, aber ich habe ihr das nicht abgenommen. Sie sah überhaupt nicht müde aus. Hat mich einfach abblitzen lassen. Richtig blöd bin ich mir vorgekommen. Ein Autogramm hätte sie mir wenigstens geben können, irgendetwas, das ich mit nach Hause hätte nehmen können. Etwas von ihr eben. Ich war sehr enttäuscht, wollte mich aber nicht so einfach abschütteln lassen.

Sie ging zu den Bussen am Neumarkt, und ich bin ihr gefolgt. Ich glaube, sie hat das nicht mitbekommen, jedenfalls hat sie sich kein einziges Mal umgedreht. Es war ja auch so viel los auf der Maiwoche, dass es seltsam gewesen wäre, wenn sie sich verfolgt gefühlt hätte. Wahrscheinlich wusste sie, wie die Busse abends fahren, denn lange warten mussten wir nicht. Nach ein paar Minuten kam die 36 in Richtung Eversburg. Sie ist vorne eingestiegen, hat sich gleich hingesetzt, während ich schnell nach hinten durchging. Ich glaube, sie hat das nicht mitbekommen, denn der Bus war knackvoll. Viele Leute mussten stehen.

Auf der Fahrt ist mir vieles durch den Kopf gegangen. Ich habe mich wieder mal gefragt, woher die Ungerechtigkeit in der Welt kommt. Manche Menschen werden mit einem goldenen Löffel im Mund geboren. Sie haben von Anfang an gute Karten, waren ein Wunschkind, haben Eltern und Großeltern, die sie vom ersten Atemzug an lieben und verwöhnen, die alles für sie tun, ihr Leben für sie geben würden. Hauptsache, dem Kind geht es gut, Hauptsache, es hat alles, was es braucht, und noch viel, viel mehr. Wer hat, bekommt noch mehr. Das ist die große Ungerechtigkeit in der Welt. Andere hingegen müssen mit fast nichts auskommen. Keiner will sie, sie sind ungeliebt, von Geburt an, und keiner kümmert sich richtig darum. Ihnen fehlt alles, was ein gutes Leben ausmacht: Liebe, Wärme, Geborgenheit, körperliche und geistige Nahrung. Es fehlen einfach jene Startbedingungen, die ein glückliches, gelingendes Leben ausmachen. Sie lernen von Anfang an zu verzichten und zu entbehren, und kein Jugendamt der Welt schert sich darum. Warum ist das so? Warum werden Menschen geboren, um glücklich zu sein, und andere, um unglücklich zu sein? Wer ist schuld an dieser Ungerechtigkeit? Warum können nicht alle Menschen die gleichen Startbedingungen haben? Dann wäre die Welt viel reicher, und alle würden viel freundlicher miteinander umgehen. Ich suche ständig nach Antworten. Den Politikern kann man nicht die Schuld geben, so viel habe ich inzwischen gelernt. Ihre Aufgabe ist es nicht, es allen recht zu machen. Sie sind nicht für unser Glück verantwortlich. Sie werden es niemals erreichen, jede Ungerechtigkeit aus der Welt zu schaffen und für Gleichheit zu sorgen. Und es wäre fatal, aus lauter Unzufriedenheit den Falschen hinterherzulaufen. Maren sagt, ich soll aufhören, so viel zu grübeln, das würde nichts bringen und mich fertigmachen, es würde sowieso nichts ändern, aber das ist leicht gesagt. Wenn diese Gedanken kommen, kann ich nichts dagegen tun. Sie überrollen mich und ich fühle mich dann noch schlechter, noch minderwertiger als sonst. Ich muss abwarten, bis sie von selbst aufhören. Übrigens stimmt es nicht, dass man nichts dagegen tun kann, man kann. Das weiß ich aus Erfahrung. Zumindest kurzfristig geht es einem dann besser. Aber was ich mache, ist immer nur falsch.

*

Tobecke wickelte ein Kaugummi aus dem Papier und steckte ihn sich in den Mund.

Birthe sah ihm dabei zu. »Machen wir weiter, Herr Tobecke«, sagte sie erschöpft. »Erinnern Sie sich an den gestrigen Auftritt. Wie hat Jessica Wagner auf Sie gewirkt?«

Carsten Tobecke knetete seinen Hut zwischen den Händen und kaute vor sich hin. »Sie war … wie wir alle … glücklich. Alles lief rund. Keine einzige Panne. Wir waren alle happy und sind feiern gegangen, leider, wie gesagt, ohne Jessi.«

»Kein Streit im Vorfeld?«

Mit einem fast betrübten Ausdruck schüttelte Carsten Tobecke den Kopf. »Nein, absolut nicht.«

»Was war vorher? Ich könnte mir denken, dass so ein Auftritt recht anstrengend ist. Lange Proben, man muss sich abstimmen, verbringt viel Zeit miteinander, da passiert es leicht, dass es zu Meinungsverschiedenheiten kommt, zu einem Streit, dass manchmal sogar die Fetzen fliegen.«

Tobecke wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Kann passieren, wir sind ja alle keine Heiligen. Aber Jessi hatte keine Feinde. Die mochte jeder.«

»Es müssen nicht gleich Feinde sein, manchmal entsteht ein Streit aus dem Nichts. Da reicht es schon mal, dass man schlecht geschlafen hat und gestresst ist. Und bei temperamentvollen Gemütern schaukelt er sich schon mal hoch. Da können Kleinigkeiten, die einen normalerweise nicht aufregen, zu einem Riesenstreit führen.« Birthe merkte an seiner Reaktion, dass sie ins Schwarze getroffen hatte, während Tobecke versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

»Jessi gehörte noch nicht richtig zur Band«, fuhr er fort. »Sie hat gestern zum ersten Mal vorne gesungen und dann gleich solo. Das war ihr Einstand sozusagen. Sie hat ihre Sache wirklich gut gemacht. Wir waren alle sehr zufrieden. Richtig happy waren wir.«

»Was ist mit der kranken Sängerin? War sie auch happy, dass Jessica Wagner für sie eingesprungen ist?«