Mord im Strandcafé - Alida Leimbach - E-Book
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Mord im Strandcafé E-Book

Alida Leimbach

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Beschreibung

Dana Weghorst, Saisonkraft in einem Juister Strandcafé, setzt einen Notruf ab. Die Studentin gibt an, Zeugin des Mordes an ihrer Chefin geworden zu sein. Sie steht unter Schock, kann sich am Telefon kaum mitteilen. Doch als die Kommissare Swantje Brandt und Henry Olsen an der Strandbar eintreffen, fehlt von Dana jede Spur. Der Verdacht fällt schnell auf Onno Dierken, der wegen Mordes eine langjährige Haftstrafe verbüßt hat und erst seit wenigen Tagen zurück auf der Insel ist. Als zwei weitere Frauen verschwinden, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit.

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Seitenzahl: 487

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Alida Leimbach

Mord im Strandcafé

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Bei Fragen zur Produktsicherheit gemäß der Verordnung über die allgemeine Produktsicherheit (GPSR) wenden Sie sich bitte an den Verlag.

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Alle Rechte vorbehalten

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Joachim B. Albers / stock.adobe.com

Karte und Trennbilder: Hans-Michael Kirstein (HMK)

ISBN 978-3-7349-3246-5

Zitat

Ein Schiff, das im Hafen liegt, ist sicher. Aber dafür werden Schiffe nicht gebaut.

John A. Shedd

Karte

Kapitel 1

Freitag, 2. August, 23.20 Uhr

»Notruf Polizei, Leitstelle Aurich. Was kann ich für Sie tun?«

Die Stimme der Polizistin klang jung. Das beruhigte Dana Weghorst etwas. Die richtigen Worte zu finden, fiel ihr trotzdem schwer. Vorsichtig spähte sie durch die Tür zwischen Küche und Gastraum. Unter einem Tisch hatte sich eine Blutlache gebildet. Der Schiffsdielenboden war im Umkreis von mindestens fünf Metern übersät mit dunkelroten Spritzern. Ihre Chefin saß am letzten Tisch am Fenster, der Oberkörper war nach vorn gesackt und lag auf dem Tisch. Ihr Kopf war zur Seite gekippt. In der rechten Schläfe klaffte eine große Wunde, aus der immer noch Blut quoll. Ihre blond gefärbten Haare waren strähnig und blutverschmiert.

Die Studentin aus Münster, die während der Sommermonate im Juister Strandcafé jobbte, hielt sich die freie Hand vor den Mund, um nicht laut zu schreien.

»Was ist passiert? Ich höre Ihnen zu! Wer spricht und wo ist es passiert? Falls nötig, werde ich eine Polizeistreife vorbeischicken.«

»Ich kann nicht … Ich …«

»Werden Rettungskräfte benötigt?«

»Hier gab es ein Blutbad«, flüsterte Dana ins Handy. »Kommen Sie bitte schnell, ich bin allein und weiß nicht, was genau passiert ist. Es ist schrecklich.« Dana konnte ihren Mund beim Sprechen kaum bewegen; ihr Kiefer war völlig verkrampft.

»Wie heißen Sie und von wo rufen Sie an?« Die Polizistin der Einsatzzentrale formulierte ihre Worte so akzentuiert, als spräche sie mit einem kleinen Kind oder einer dementen Person.

»Mein Name ist Dana. Ich bin die Aushilfe.«

»Wo sind Sie? Ich brauche die genaue Anschrift!«

»Weiß ich nicht. Strandcafé«, hörte Dana sich sagen. »Irgendwo auf Juist hinter dem Deich.« Vor lauter Aufregung fiel ihr der Name des Cafés nicht mehr ein. Sie war vollkommen blockiert.

»Wie viele Personen sind im Café?«

»Nur ich. Und die Chefin.«

»Wie heißt Ihre Chefin?«

Vor Aufregung biss sich Dana auf die Zunge. Das konnte nicht wahr sein, ihr fiel nicht einmal mehr der Name ihrer Chefin ein. Das musste der Schock sein. Sie zitterte am ganzen Körper. Nervös drehte sie eine Haarsträhne zwischen ihren schwitzigen Fingern. Sie befürchtete, die Beamtin würde sie nicht ernst nehmen, aber sie wusste es einfach nicht.

Die letzte halbe Stunde hatte sie zitternd vor Angst und handlungsunfähig in der Küche des Strandcafés verbracht, unter der Arbeitsplatte, auf der Speisen und Getränke zubereitet wurden. Dann erst hatte sie sich aufgerappelt und beim Aufstehen gespürt, dass ihre Beine vom langen unbequemen Hocken im Schneidersitz taub geworden waren.

Das Handy, das sie für den Anruf benutzte, gehörte ihr nicht. Ihr eigenes Smartphone konnte sie nicht holen. Das lag drüben im Gastraum auf einem Ecktisch, an dem sie vor Kurzem eine kleine Mahlzeit eingenommen hatte. Zunächst hatte sie voller Panik befürchtet, sie könne deswegen keinen Notruf absetzen, sich dann aber zum Glück daran erinnert, dass die Besitzerin des Strandcafés in der Küchenschublade ein altes Nokia für Anrufe aufbewahrte, um ihr iPhone vor Fettspritzern zu schützen und weil sie bei der Arbeit nicht von privaten Nachrichten abgelenkt werden wollte.

»Hallo?«

In Danas Ohren rauschte es. Sie war halb besinnungslos vor Angst und Verzweiflung. »Ich bin noch dran«, sagte sie leise.

»Gut. Alles wird gut. Versuchen Sie, sich zu entspannen. Was ist passiert?«

»Ein Mann hat geschossen.«

»Wann?«

»Ich weiß nicht … vielleicht vor einer halben Stunde. Vielleicht ist es auch länger her. Ich konnte mich bis eben nicht bewegen. Ich hatte auch keine Stimme mehr.«

»Sind Sie verletzt?«

»Nein.«

»Und Ihre Chefin?«

»Sie ist tot.«

»Sind Sie sicher? Oder können Sie ihr erste Hilfe leisten, bis Rettung kommt?«

»Sie ist tot. Das weiß ich genau.«

»Können Sie sich in Sicherheit bringen?«

»Ich bin in der Küche. Die Tür ist nicht abschließbar.«

»Wie heißt das Café? Versuchen Sie, sich zu erinnern, ich bleibe in der Leitung.«

»Ich … äh …« Danas Kopf fühlte sich an wie in einem Schraubstock. Darin war nichts als Watte und Leere. Absolute Leere.

»Ist es ein Täter oder sind es mehrere?«

»Ich meine, nur einer. Ein Mann.«

Dana zog sich in den hintersten Winkel der Küche zurück. Dort hockte sie sich auf einen Schemel und verschränkte ihre Beine, weil sie so sehr zitterten.

Sie hörte eine weitere Frage der Polizistin wie aus weiter Ferne, verstand jedoch deren Bedeutung nicht. Sie war außerstande, einen einzigen klaren Gedanken zu fassen.

Unaufhörlich stellte die Frau von der Notrufzentrale Fragen, die kaum zu ihr durchdrangen.

»Halt! Ich höre was«, sagte Dana leise. »Ich glaube, er ist noch da.«

»Wer ist da? Wo sind Sie? Ich werde sofort Einsatzkräfte zu Ihnen schicken, aber ich muss wissen, wohin.«

»Ich … Augenblick …«

»Rettung kommt, aber wir brauchen die Anschrift«, drängte die Polizistin mit steigender Ungeduld in der Stimme.

»Moment.« Dana hörte ein Geräusch, ein Rascheln, ein leises Schleifen. Sie sprang auf und spähte wieder durch den Türspalt in den Gastraum. Der Schreck fuhr ihr in die Glieder. Sie konnte ihn sehen. Er war noch da! Der Täter trug Handwerkerkleidung, eine schwarze Hose mit vielen Taschen und Leuchtstreifen an den Seiten. Gerade näherte er sich ihrer Chefin und hielt kurz inne. Langsam beugte er sich über sie und zog sie brutal an den Haaren hoch. Er betrachtete sie eine Weile mit gehässigem Grinsen und ließ dann los. Es gab ein hässliches Geräusch, als ihr Kopf mit voller Wucht auf die Tischplatte knallte.

Der Mann zog einen Stift aus der Hosentasche, nahm einen Bierdeckel und kritzelte etwas darauf.

»Nebenan ist der Mörder«, sagte sie kaum hörbar. »Ich sehe ihn.«

»Wissen Sie, wie er heißt?«

Danas Herz raste wie wild. Ihr Hals fühlte sich so trocken und pelzig an, dass sie das Gefühl hatte zu ersticken. Kräftig atmete sie gegen eine drohende Ohnmacht an. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten, fühlte sich schwach wie bei einer schweren Grippe.

»Bleiben Sie ruhig«, versuchte die Polizistin sie zu beschwichtigen. »Es kommt Hilfe. Ich schicke sofort jemanden los. Sagen Sie mir nun bitte, wohin!«

Dana keuchte mit offenem Mund. Sie hatte Angst, sich mit ihrem Atmen zu verraten, und starrte wie gebannt durch den Türspalt.

»Warten Sie …« Die Studentin schrie auf, als die Tür mit einem Ruck aufgerissen wurde. Vor ihr stand der Täter. Noch nie hatte sie in so kalte Augen geblickt. Seine Hände waren blutverschmiert. Er wischte sie an seiner Hose ab, die von dunklen Flecken übersät war.

Das alte Nokia fiel ihr aus der gefühllos gewordenen Hand. Blitzschnell hob er es auf, drückte die rote Taste und ließ es in der Seitentasche seiner Arbeitshose verschwinden. »Scheiße«, zischte der Täter, »wusste ich doch, dass hier noch jemand ist. Die anderen Handys habe ich schon ausgeschaltet, nicht dass du denkst, du könntest mit denen weitermachen.« Er deutete mit dem Kopf in Richtung Gastraum. »Wer zur Hölle bist du?«

Dana bekam keinen Ton heraus, starrte ihn nur mit offenem Mund an.

Er kam einen Schritt auf sie zu. »Warst du die ganze Zeit über hier?«, fragte er bedrohlich leise. »Hast du alles mitbekommen?«

Wie hypnotisiert fixierte sie seine Augen und schüttelte leicht den Kopf.

Mit einer unwirschen Handbewegung fuhr er sich durch die kurz geschnittenen dunkelblonden Haare. »Was mache ich jetzt mit dir …? Shit, Shit, Shit!«

»Ich habe nichts gesehen«, beeilte sie sich zu sagen, »ich weiß nichts, bitte, tun Sie mir nichts! Lassen Sie mich gehen. Ich werde nichts verraten.« Flehentlich führte sie ihre Hände wie zum Gebet zusammen. Das Adrenalin bewirkte, dass wieder etwas Kraft in ihren Körper zurückkehrte.

»Du hast schon was gesagt«, knurrte er. »Eben am Telefon.«

»Nein, nichts. Ich habe nichts gesagt.«

»Ich habe es doch gehört. Mit wem hast du gesprochen?«

»Mit niemandem.«

»Lüg nicht!«, schrie er sie an. »Du hast die Polizei gerufen!«

»Mit meinem Freund«, stotterte sie. »Ich habe nur gesagt, dass ich jetzt Feierabend habe und gleich nach Hause komme. Er wartet auf mich mit dem Abendbrot. Nichts weiter.«

»Er wartet mit dem Abendbrot«, höhnte er, »wie fein. Trautes Heim, Glück allein, was? Aber ich fürchte, das Frauchen kommt heute nicht nach Hause. Aus dem romantischen Dinner wird nichts.«

»Bitte!«, brachte Dana weinerlich hervor. »Es bleibt unser Geheimnis. Ich werde niemandem etwas verraten.«

»Ich werde das Ding hier checken. Wenn ich die Nummer der Polizei sehe, bringe ich dich um.«

»Ich bin nicht dazu gekommen, ihnen zu sagen, wo …«

»Halt’s Maul!«

»Ich will nach Hause. Bitte! Mein Freund …«

»Hast du nicht zugehört? Du wirst nicht mehr nach Hause kommen«, sagte er tonlos und blickte sich hektisch um. »Dein Lover wird sein Abendbrot ohne dich einnehmen müssen.«

»Bitte!«, flehte sie ihn an. »Ich tue nichts. Ich habe nichts gesehen. Ich werde Sie nicht anzeigen, das verspreche ich. Das da draußen geht mich nichts an. Ich mische mich nicht in die Angelegenheiten anderer Leute ein. Lassen Sie mich gehen!«

»Keine Chance. Du bist eine Zeugin. Ich kann dich nicht laufen lassen.« Gehetzt drehte er seinen Kopf wieder in alle Richtungen. »Das wird nichts. Du kommst mit.«

»Was haben Sie vor?« Sie schluckte. Auf keinen Fall wollte sie auf sein Duzen eingehen. Niemals würde sie ihn duzen.

Er antwortete nicht, starrte mit weit aufgerissenen Augen an ihr vorbei. »Gib mir ein Glas Wasser«, forderte er.

Taumelnd begab sie sich zum Schrank mit den Gläsern und holte eins heraus. »Mit oder ohne Sprudel?«, fragte sie routiniert.

Er winkte ab. »Scheißegal. Leitungswasser.«

Sie ließ kaltes Wasser ins Glas laufen. Es war ein viel zu harter Strahl, der auf ihre Arme und Hände spritzte. Zitternd reichte sie ihm das Glas. Dass sie so eine Angst empfinden konnte! So eine lähmende, blockierende, paralysierende Angst.

Er zog etwas aus seiner Jackentasche, riss mit den Zähnen die Verpackung auf, schüttete den Inhalt ins Glas und reichte es ihr. »Trink!«, befahl er.

»Was ist das?« Sie starrte in die milchig-trübe Flüssigkeit.

»Es wird dich nicht töten. Trink!«

»Das kann ich nicht.«

Blitzschnell griff er in die Innentasche seiner Arbeitsweste und zog eine Pistole heraus, die er beidhändig auf sie richtete. Ein fieses Klicken verriet, dass er sie entsichert hatte. »Los jetzt, tu, was ich dir sage!«, schrie er. »Du trinkst sofort das Glas in einem Zug leer, oder du bist tot!«

Seine emotionslosen Augen schwächten sie. Sie wagte nicht mehr zu widersprechen. Vorsichtig führte sie das Glas zum Mund, schnupperte an dem Getränk, widerstand dem Drang, es in die Spüle zu kippen. Beim Gefühl des kalten Laufs an ihrer Schläfe hätte sie sich fast eingenässt.

Sie hatte mal in einem Krimi gelesen, dass es helfen könnte, den Täter in eine Konversation zu verwickeln. »Wer sind Sie eigentlich?«, presste sie mit kehliger Stimme hervor. »Sind Sie zum ersten Mal hier? Kennen Sie Frau Flemming?« Sie stutzte, als sie merkte, dass ihr der Name ihrer Chefin wieder eingefallen war. Das musste das Adrenalin sein. Zu dumm, dass sie vorhin am Telefon diese Blockade hatte! »Ich werde nichts verraten, versprochen, ich kenne Sie ja nicht, könnte Sie gar nicht beschreiben, denn Sie sehen ganz normal aus. Ich weiß nicht mal Ihren Namen. Ich mochte Frau Flemming auch nicht. Sie war nervig und anstrengend, hat mich oft angeschnauzt, deshalb verstehe ich Ihre Wut und werde nichts sagen. Wir halten zusammen, okay?«, sprach sie hektisch weiter, »kommen Sie, wir beide sind ein Team.«

Er friemelte einen Schalldämpfer auf die Mündung der Waffe. Deshalb hatte sie den Schuss vorhin nur wie aus weiter Ferne gehört. Im ersten Moment hatte sie gedacht, es wäre etwas umgefallen. Das passierte öfter und hatte sie nicht beunruhigt. Unruhig war sie erst geworden, als es still geworden war im Gastraum. Da erst hatte sie nachgesehen.

»Halt’s Maul!«, herrschte er sie an und schlug ihr mit der Waffe gegen das Ohr. »Hör auf zu labern, sonst schieße ich dich über den Haufen wie deine großartige Chefin! Und benutze in meiner Gegenwart nie wieder ihren Namen, hörst du? Susanne Flemming gibt’s nicht mehr!«

Das Geräusch des Schlags mit der Waffe gegen ihr Ohr hörte sich in ihrem Kopf an wie ein Schuss. Ihr wurde schwarz vor Augen, und sie taumelte. Hinter ihr stand ein Stuhl, an dessen Lehne sie sich krampfhaft festklammerte. »Brauchen Sie Informationen?«, presste sie unter Todesangst hervor. »Ich kann Ihnen etwas über Frau … Also, wenn Sie wollen, kann ich Ihnen alles über sie erzählen, was ich weiß. Eine unangenehme Person, ich verstehe Sie, ich mochte sie auch nicht. Ich bin auf Ihrer Seite. Vielleicht hilft Ihnen das.«

»Runter mit dem Zeug!«, befahl er. »In einem Zug!«

Kritisch musterte sie die trübe Flüssigkeit, ließ sie in dem Glas kreisen. Doch als sie seinen Blick bemerkte, kalt und gefühllos, zu allem entschlossen, wusste sie, dass sie keine Wahl hatte. Sie hielt sich die Nase zu und stürzte das bitter schmeckende Getränk herunter.

»Was war das denn?«, fragte Miriams Kollege Jan, der mit ihr zusammen Nachtdienst in der Auricher Notrufzentrale hatte.

»Da war eine Frau in der Leitung, eine junge Frau, würde ich sagen, der Stimme nach. Sie hat von einem Überfall auf Juist berichtet, in einem Café, konnte mir aber weder den Namen der Inhaberin sagen noch ihren Aufenthaltsort. Sie war vollkommen durcheinander.«

»Ein Überfall? Auf Juist? Seltsam, da passiert normalerweise nichts. Fühlte sie sich bedroht?«

»Sie sprach von einem Blutbad. Von einem Täter, der ihre Chefin erschossen hat.«

»War das Ernst oder war sie betrunken?«

»Für mich hörte es sich real an. Falls es real war, stand sie unter Schock. Sie redete wirr und konnte meine Fragen nicht beantworten. Aber sicher bin ich mir nicht. Es könnte sich auch um einen Scherz gehandelt haben.«

»Von wo hat sie angerufen? Hast du eine Handynummer?«

Miriam nickte. Sie hatte noch nicht viel Berufserfahrung und nie zuvor mit einem Überfall zu tun gehabt. Bisher hatte sie in ihrer Dienstzeit nur die Meldung von Unfällen, Streitigkeiten oder häuslicher Gewalt aufnehmen müssen.

»Ruf mal zurück.«

Das tat sie umgehend. »Ausgeschaltet«, sagte sie und wechselte einen Blick mit ihrem Kollegen.

»Zu blöd, dass ich selbst gerade am Telefon war, sonst hättest du den Anrufer laut stellen können. Aber ich musste eine Streife in die Innenstadt schicken. Rangelei von vier Männern mitten auf dem Marktplatz.«

»Ich habe es mitbekommen«, sagte Miriam niedergeschlagen. »Wir können das Handy nicht orten. Es muss sich um ein antiquiertes Modell handeln, einen Dinosaurier unter den Handys, da geht das nicht.«

»Wir versuchen es über eine Funkzellenabfrage«, schlug Jan vor. »Wir müssen wenigstens herausbekommen, über welchen Funkmast sie sich eingewählt hat. Auch, wenn das nur sehr ungenau ist. Aber so viele Strandcafés kann es auf Juist nicht geben.«

»Ist gut«, meinte Miriam.

»War das Café belebt? Hast du noch andere Stimmen gehört?«

»Nein, es war vollkommen ruhig. Sie sprach von einem Strandcafé hinter dem Deich.«

»Seltsam. Und du hältst den Anruf wirklich für echt? Oder hat sich mal wieder jemand einen Streich erlaubt? Wir hatten das gerade, erinnere dich.«

Miriam zuckte mit den Schultern. »Die Anruferin wirkte sehr aufgeregt. Ich glaube nicht an einen Missbrauch.«

»Eine junge Frau und ein uraltes Handy? Das kann ich mir kaum vorstellen.« Er tippte sich an die Stirn.

»Viele junge Leute möchten nachhaltig leben«, gab Miriam zu bedenken. »Sie lehnen die moderne Technik ab, widersetzen sich Trends, um keine Mitläufer zu sein und sich nicht vom Mainstream abhängig zu machen, und klinken sich bewusst aus den sozialen Medien aus. Das wiederum ist ein Trend, obwohl sie Trends ja eigentlich nicht mögen.«

»Okay, wir schicken vorsorglich eine Streife vorbei. Die sollen alle Strandcafés auf Juist in Deichnähe checken.«

Kapitel 2

Samstag, 3. August, 8.45 Uhr

An Deck der Inselfähre Frisia IX von Norddeich nach Juist roch es nach Dieselöl. Der Schiffskapitän steuerte durch kabbeliges Wasser, auf dem ein paar Möwen schwammen. Inga Akkermann genoss die Ruhe vor dem Sturm. Ein harter Arbeitstag lag vor ihr, wie jeden Sonnabend, wenn sie gemeinsam mit ihren Kolleginnen mit der Frisia IX von Norddeich nach Juist fuhr, um die Großreinigung von Ferienwohnungen und auch einiger Gastronomiebetriebe vorzunehmen. Sie hatte schlecht geschlafen, fühlte sich matt und ausgelaugt und wusste nicht, wie sie die nächsten Stunden überstehen sollte. Zum wiederholten Male warf sie einen Blick auf ihre neue Sportuhr. Ihr Mann hatte sie ihr zum Geburtstag geschenkt, damit sie ihre Schritte zählen und somit ein wenig stolz auf sich sein konnte, wenn sie ihr angestrebtes Tagesziel erreicht hatte. An ihren freien Tagen erreichte sie höchstens 7.000 Schritte. Heute würden es mehr als 14.000 werden, das wusste sie.

Vor ihr lagen noch etwa 30 Minuten Fahrzeit. Norddeich hatten sie schon lange hinter sich gelassen. Der Schiffsmotor brummte, die Kunststoffbank vibrierte, und Gischt lag in der Luft. Die Reinigungsfachkraft hoffte, dass der kühle Fahrtwind bis zur Ankunft auf Juist ihre Lebensgeister wecken würde. Sie wollte allein sein mit sich und ihren Gedanken, die um ihren Mann Fred kreisten und die immerwährende Frage, ob sie ihn endlich verlassen sollte oder nicht. Seit Jahren quälte sie sich mit diesen Fragen herum, aber ihr fehlte der Mut für einen Neustart. Und das Geld. Mit dem wenigen, das sie mit dem wöchentlichen Putzen auf der Insel verdiente, könnte sie nicht einmal die Miete für eine eigene kleine Wohnung bestreiten. Inga Akkermann versuchte, sich mit einem Sudoku-Rätsel abzulenken, doch es fiel ihr schwer, sich darauf einzulassen.

Die Fähre steuerte direkt auf die lang gezogene Insel Juist zu, um dann wieder abzudriften. Inga kannte die Strecke in- und auswendig. Gleich würde sie erneut einen Schlenker machen, um das Anlegen am Hafen vorzubereiten. Wenn das Seezeichen auftauchte, das mit seiner Segelform ein wenig an den Burj al Arab, eines der architektonischen Wahrzeichen von Dubai, erinnerte, hätten sie es geschafft.

Dicht drängten sich wenig später die Passagiere am Ausgang des Schiffes. Vorfreude auf den Urlaub lag in der Luft. Der Sonnabend war bekannterweise der Wechseltag auf der Insel. Urlauber fuhren ab, und neue Gäste reisten an. Die meisten Bundesländer hatten Sommerferien.

»Moin«, rief sie einer Frau mit orangefarbenem Kapuzenpullover zu – ihrer etwa gleichaltrigen Kollegin Alke. »Da seid ihr ja, ich dachte schon, ihr hättet das Schiff verpasst. Wir sehen uns gleich am Anleger!«

»Wolltest wohl noch was pennen an Bord, wa?«, antwortete Alke fröhlich. »Ich nehm’s dir nicht krumm, du kennst mich ja! Können nicht alle so bekloppt sein wie Steffi und ich und in aller Frühe schon Halligalli machen.« Alke war bekannt für ihr unbeschwertes Lachen, in das Steffi einstimmte.

Die Kolleginnen winkten und strömten mit der Menge auf die Gangway.

Am Anleger standen Handwagen für den Gepäcktransport bereit. Viele waren mit Nummern oder den Namen der Unterkunft gekennzeichnet. Einige Feriengäste kannten sich aus und steuerten sofort auf »ihren« Karren zu, um ihn mitsamt Gepäck hinter sich herzuziehen. Es waren aber auch bereits Angestellte der Juister Hotels oder Pensionen vor Ort, um den Urlaubern mit ihrem Gepäck behilflich zu sein.

»Du liebe Güte, ist das voll«, stöhnte Inga Akkermann, als sie endlich aufgeholt hatte. Sie schulterte ihren Rucksack und sog die frische Meeresluft tief in ihre Lungen. »Wo seid ihr heute eingesetzt? Wisst ihr das schon?«

»Ein Ferienhaus in Hafennähe«, sagte Steffi. »130 Quadratmeter auf zwei Etagen mit großer Terrasse, viel technisches Brimborium. Nur sechs Stunden sind dafür angesetzt. Ein ziemlicher Stress! Aber Alke und ich sind ein eingespieltes Team. Und du, Beka?«

»Ich habe zwei kleine Wohnungen auf der Wattseite. Jeweils zwei Räume. Ältere Leute, wurde mir gesagt, sehr ordentliche Stammgäste. Das dürfte schnell gehen.«

»Boah, Beka, wie machst du das nur? Du kriegst immer die Senioren, und Alke und ich haben die Familien mit kleinen Kindern und Hunden am Hals. Ich protestiere! Total ungerecht so was.« Steffi knuffte Beka freundschaftlich in die Seite. »Nur Spaß, du kennst mich ja. Hey, was ist mit dir, Inga?«

»Ich darf heute ein Strandcafé reinigen. Die haben normalerweise jemanden dafür, aber die Person ist ausgefallen. Mit Lokalen habe ich es nicht so. Ferienwohnungen sind mir lieber, besonders die mit nur zwei Leuten. Will jemand tauschen?«

»Direkt am Strand?«, wollte Alke wissen.

»Am Hauptbadestrand.«

»Hui, nicht von schlechten Eltern, Inga, Urlaubsfeeling zum Nulltarif.« Alke rollte die Augen. »Jede Woche sind wir hier auf Juist, auf dem schönsten Sandhaufen der Welt, und haben nichts davon. Zero. Null. Inga kann heute zwischendurch wenigstens ein Kaffeepäuschen einlegen und ihre Nase in die Sonne halten. Strandcafé – hm –, das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen!«

»Wir können gerne tauschen.«

»Nee, Inga, lieb gemeint, aber lass mal, ich nehme die Familie mit Kleingetraddel. Ich bin Leid gewohnt.« Alke lachte herzlich.

Der Fußweg war kurz. Die Fahrräder, die die Firma den Reinigungskräften für ihren Arbeitseinsatz auf der Insel zur Verfügung stellte, standen schon bereit. Es waren Lastenfahrräder, die viel Platz für Taschen und das umfangreiche Putzmaterial boten. Lachend und schwatzend fuhren die Frauen zunächst zur Agentur, meldeten sich zum Dienst und holten die Putzutensilien ab. Dann trennten sich ihre Wege.

»Bis später!«, rief Inga und schwang sich in den Sattel. Am späten Nachmittag würden sie sich am Anleger wiedertreffen.

Inga hatte es nicht eilig; erst in einer halben Stunde war Dienstbeginn.

Reinigungstrupps machten sich an die Arbeit, den Strand und die Promenade mit groben Besen zu säubern. Am Strand waren außerdem kleine Bagger und Planierraupen im Einsatz, um die Ebene für die Strandkörbe schön flach zu planieren. Früher wurden noch Burgen rund um die Strandkörbe gebaut und mit Muscheln kunstvoll verziert, aber das war wegen des Küstenschutzes seit Langem verboten.

Die Besitzer der benachbarten Cafés waren damit beschäftigt, Sonnenschirme und Klappliegestühle aufzustellen, und legten für kälteempfindliche Gäste bunte Fleecedecken bereit.

Inga Akkermann sah das Strandcafé Boje 8 sofort. Sie wunderte sich, dass die Tür offen stand und im Gastraum Licht brannte.

Inga stieg vom Lastenfahrrad ab, stellte es in den dafür vorgesehenen Ständer, nahm den Behälter mit den Reinigungsutensilien von der Ladefläche und schloss das Rad ab. Langsam ging sie auf das Lokal zu, mit einem plötzlich einsetzenden mulmigen Gefühl, denn es war ungewöhnlich, dass in den Objekten, in denen sie morgens putzte, jemand vor ihr da war.

Inga Akkermann beschleunigte ihre Schritte. Das ungute Gefühl verstärkte sich. Ein rauer Wind frischte auf und zerzauste ihren überlangen Pony.

Sie betrat den Eingangsbereich. Auch dieser war hell erleuchtet.

»Hallo?«, rief sie zaghaft. »Ist da jemand? Frau Flemming? Ich bin’s, Inga Akkermann, ich komme von der Firma Clean & Clever. Ich bin heute Ihre Putzfee!«

Niemand antwortete.

Sie wartet sicher im Gastraum auf mich und will mir alles haarklein erklären, wahrscheinlich traut sie mir nicht, dachte sie unbehaglich. Sie kennt mich schließlich nicht. Wird schon alles seine Richtigkeit haben.

»Frau Flemming? Hallo! Sind Sie da?«, rief sie lauter. Womöglich war Frau Flemming schwerhörig.

Noch immer kam keine Antwort. Inga Akkermann spähte in den Gastraum. Die Kronleuchter waren hell erleuchtet. Ihr fielen die Scherben auf dem Boden auf, das Durcheinander auf den Tischen. Jemand hatte vergessen abzuräumen. Dann schlug ihr plötzlich ein süßlicher Geruch entgegen, sodass sie sich instinktiv die Hand vor die Nase hielt. Es wird Zeit, dass hier ordentlich sauber gemacht wird, dachte Inga und trat näher. Sie fand die Küche und verschaffte sich einen raschen Überblick. Auf der Arbeitsplatte befand sich ein Teller mit den matschigen Pommes mit Majo, daneben lagen ein Messer und eine aufgeschnittene Limette. Eine halbvolle Flasche Gin stand neben der Spüle, daneben eine volle Flasche Tonicwater. Es sah aus, als habe jemand einen Drink vorbereiten wollen und sei dabei unterbrochen worden.

»Frau Flemming?«, rief sie wieder, diesmal noch lauter. »Sind Sie da?«

Wieso lässt Frau Flemming alle Lichter brennen, fragte sie sich. Warum hat sie nicht wenigstens die Küche halbwegs aufgeräumt? Arbeitsvorbereitung war so wichtig in Ingas Job, sie war das A und O. Ohne die richtige Vorbereitung und Mithilfe seitens des Kunden würde sie in sechs Stunden niemals fertig werden. Sie dachte an Beka, die die kleinen Seniorenwohnungen putzen durfte, und beneidete sie glühend.

Inga verließ die Küche und betrat den Gastraum. Da hinten lag etwas. Da sie kurzsichtig war, aber keine Brille tragen wollte, trat sie näher heran. Auf dem Boden lag eine zerknitterte Visitenkarte, die sie aufhob und einsteckte. Sie trat näher, prallte aber zurück, als der Geruch stärker wurde – ein durchdringender Gestank nach Eisen und Urin.

Und dann sah sie die Frau, die blutüberströmt mit dem Oberkörper auf einem der hinteren Tische lag. Ihre blonden Haare waren blutverschmiert. Die Blutlache hatte fast den Nebentisch erreicht und war verdickt und bräunlich.

Inga Akkermann schlug sich die Hand vor den Mund. Was war hier los?

»Frau Flemming?«, wisperte sie. Vorsichtig trat sie auf die Frau zu und berührte sie, tastete mit ihren Fingern zum Gesicht hin. Ungläubig betrachtete sie ihre Hände. Sie waren voller Blut.

Inga merkte, wie ihr Kopf zu Watte wurde, wie sich ihre Wangen plötzlich pelzig anfühlten. Sie verspürte schlagartig eine ohnmächtige Kraftlosigkeit, die vom Hals ausging und ihren ganzen Körper erfasste. Ihre Beine knickten ein, sie fiel auf die Knie, sank kraftlos zu Boden. Ihr Kopf bemühte sich krampfhaft, logische Gedanken hervorzubringen, aber ihr Gehirn war wie benebelt.

Sie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach und von der Stirn ins Dekolleté tropfte. Sie schwitzte und fror gleichzeitig.

Als sie sich langsam aufrappelte, bemerkte sie zwei halb volle Cocktailgläser – Aperol Spritz, wie Inga Akkermann trotz des Nebels in ihrem Gehirn erfassen konnte. Neben dem Kopf der Toten lag ein Bierdeckel, auf dem jemand mit schwarzem Filzstift krakelige Buchstaben hinterlassen hatte. Mit angehaltenem Atem las Inga Akkermann den Text auf dem zerknickten Pappdeckel und lief schreiend ins Freie.

Im Wintergarten der Pension Annis Ankerglück hing Kaffeeduft in der Luft. Die Sonne schien durch die großen Fenster, die zur Straße hin ausgerichtet waren, auf der gerade eine junge Familie mit Bollerwagen vorbeizog. Darin saßen – inmitten von Strandtaschen, Eimern und Schaufeln – zwei Kleinkinder mit Gummistiefeln und gestreiften Baumwollmützen. Aus der Ferne waren Pferdegetrappel und das Rufen eines Kutschers zu hören.

»Frau Dierken«, rief ein Gast aus dem hinteren Teil des Frühstücksraums, »kann ich bitte noch ein Ei haben? Ein Dreiminutenei, wie immer. Bitte nicht böse sein, aber das Ei war heute steinhart und der Kaffee zu dünn!«

Die Wirtin Anni Dierken seufzte leise. Herr Meier war nicht der einzige Gast, der sich an diesem Morgen beschwert hatte. »Ja, sicher«, beeilte sie sich zu sagen, »ich kümmere mich gleich darum.«

»Warten Sie mal, Frau Dierken«, sagte der Pensionsgast, »ich habe einen neuen Witz für Sie. Warum lässt ein Ostfriese ein Centstück auf einer Parkbank liegen? Na, eine Idee? Okay, passen Sie auf: damit er immer etwas Geld auf der Bank hat!« Er lachte dröhnend und wartete gespannt auf ihre Reaktion.

Anni verzog keine Miene.

»He, was ist los?«, hakte er nach. »Verstehen Sie keinen Spaß mehr?«

Die Wirtin achtete nicht auf ihn. Zerstreut sammelte sie ein paar Tischdecken ein, brachte sie in den Hauswirtschaftsraum und warf sie vor die Waschmaschine. Sie ging zurück in den Wintergarten und wusste nicht mehr, was sie da wollte. Erst als sie die beleidigte Miene von Herrn Meier bemerkte, fielen ihr wieder das Dreiminutenei und der Kaffee ein.

Die Gäste merkten also schon, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Sie hatte vergessen, Milchkännchen aufzufüllen und Zuckerstreuer auf den Tischen zu verteilen. An den Vierertischen hatte sie nur für zwei eingedeckt und dabei auch noch die Kaffeelöffel vergessen. Einem jungen Paar hatte sie aus Versehen eine Kanne mit koffeinfreiem Kaffee hingestellt. Und alles aus einem einzigen Grund: Onno war wieder da. Seinen Entlassungstermin aus der JVA Aurich hatte die Justiz zehn Monate vorverlegt. Seit sie mit Onno wieder unter einem Dach lebte, hatte sie keine Nacht mehr durchgeschlafen.

Wenn ihre Gäste wüssten, dass ein Frauenmörder mitten unter ihnen im Frühstücksraum saß, Käsebrötchen vertilgte, Kaffee trank und die Tageszeitung las, würden sie vermutlich sofort ihre Koffer packen und die nächste Fähre nehmen.

Drei Tage, hatten sie gesagt, drei Tage sollte sie ihn aufnehmen, bis er etwas Neues gefunden hätte. Der Bewährungshelfer würde ihn bei der Suche nach Arbeit und einer neuen Bleibe unterstützen. Und nun waren schon fünf Tage daraus geworden.

Dabei bestand Hoffnung. Auf Juist gab es einige Stellenausschreibungen. Köche und Küchenhelfer wurden gesucht für Hotels und Gaststätten. Das traf sich gut, denn Onno war ausgebildeter Koch. Auch Dienstleister für die Reinigung von Ferienwohnungen wurden dringend benötigt sowie Helfer für den Fahrrad- oder den Strandkorbverleih. Außerdem brauchte Hajo jemanden, der ihm auf dem Reiterhof unter die Arme griff. Er suchte Stallburschen oder Gespannführer für seinen Fuhrbetrieb. Das wäre doch etwas für Onno. Er hatte immer schon gut mit Tieren umgehen können. Als Kind hatte er sich fürchterlich aufgeregt, wenn jemand sie schlecht behandelte.

Das passte eigentlich nicht zusammen. Wie konnte jemand, der ein so mitfühlendes Herz hatte wie Onno, eine Frau umbringen?

Während Anni den Eierkocher bediente und neuen Kaffee aufsetzte, beobachtete sie eine Fliege, die um das Küchenfenster herumschwirrte. Nicht einmal Fliegen konnte Onno etwas zuleide tun. Er ließ sie einfach gewähren, beobachtete still ihr Treiben und öffnete dann ein Fenster, um sie ins Freie zu lassen.

Wann hatte er sich so verändert? Wann war aus dem lieben, braven Jungen ein Schwerverbrecher geworden? War sie schuld? Hatte sie etwas falsch gemacht, etwas übersehen? Sicher, wegen der Pension hatte sie immer viel um die Ohren gehabt, musste fast rund um die Uhr einen Betrieb führen, der ihr viel abverlangte, ohne Urlaub, ohne Sonn- und Feiertage, da war die Zeit manchmal zu knapp für ein stilles, in sich gekehrtes Kind wie Onno, das ihre Anwesenheit und Zuneigung besonders gebraucht hätte.

Jeden Tag fragte sie ihren Sohn, ob er aktiv geworden sei und wegen der Stellen nachgefragt hätte. Jedes Mal nickte er eifrig und betonte, er habe sich auf jede freie Stelle beworben.

Aber Anni hatte da ihre Zweifel.

Zurück im sonnendurchfluteten Wintergarten setzte sie ein strahlendes Lächeln auf, um Herrn Meier Kaffee und Eier zu servieren.

»Ich wollte doch nur eins«, grunzte er.

»Das andere geht aufs Haus«, sagte sie augenzwinkernd und schenkte ihm mit zittrigen Händen ein.

Kapitel 3

»Da hätte man sich einmal freinehmen können«, sagte Marvin Gissemann von der Juister Polizeistation, »und dann rückt Cheffe in letzter Minute damit heraus, dass er zu einer Hochzeit nach Leer muss.«

»Das war schon länger geplant«, bemerkte sein etwa gleichaltriger Kollege Sebastian Jonker. »Davon spricht er seit Wochen. Eine Nichte von ihm heiratet, sein Patenkind, deswegen konnte er nicht absagen, obwohl er Familienfeiern hasst. Hat er jedenfalls gesagt.«

»Möchte noch jemand Kaffee? Du vielleicht, Sebastian? Es ist keiner mehr da, aber ich kann gerne einen aufsetzen.«

»Nur, wenn noch jemand einen mittrinkt«, sagte Sebastian höflich. Der rothaarige Hüne mit dem spärlichen Bartwuchs gehörte erst seit Anfang der Hauptsaison zum Team und war eifrig darum bemüht, es allen recht zu machen. Zuvor hatte der junge Familienvater auf der Nachbarinsel Borkum ermittelt. »Ich möchte nicht der Einzige sein, der die Kaffeevorräte plündert.«

»Bist du nicht«, beruhigte ihn Marvin. »Ich beteilige mich gerne am Plündern.« Schon füllte er Wasser in den Behälter. »Kaffeepulver scheint allerdings ausgegangen zu sein.«

Laureen, die Polizeischülerin im dritten Semester, die gerade ein Praktikum auf der Insel Juist absolvierte, holte eine Packung aus dem Nebenzimmer. »Ich trinke auch einen mit«, sagte sie. »Torben und ich waren ja schon früh am Strand im Einsatz. Aurich hat einen Notruf gefunkt. Angeblich ein Überfall in einem Juister Café. Wir haben aber nichts gefunden. Alles sauber so weit. Die Anruferin soll verwirrt geklungen haben. Vielleicht hatte sie zu viel Alk erwischt oder gekifft, keine Ahnung. Kein Name, keine Adresse. Ihr Handy war zuletzt in der Nähe des Wasserturms eingewählt. Danach wurde es ausgeschaltet. Wir sind dort in der Nähe auf eine Gruppe von jungen Leuten gestoßen, die wirklich ordentlich gebechert hatte. Einer von denen schwankte wie ein Boot bei Windstärke zwölf.«

»Habt ihr sie befragt?«

»Natürlich. Eine junge Frau mit knallrot gefärbten Haaren gab vor, diejenige gewesen zu sein, die angerufen hätte. Sie wäre fast Opfer eines Raubüberfalls geworden. Jemand hätte ihre Vape stehlen wollen, aber sie hätte den Kerl mit ihrem Geschrei in die Flucht geschlagen. Die anderen brüllten vor Lachen.«

»Vape? Was ist das?«, wollte Sebastian wissen.

»Eine E-Zigarette«, klärte Marvin ihn auf. »Du willst mir doch wohl nicht erzählen, dass du nicht weißt, was eine Vape ist.«

»Jetzt weiß ich es ja!« Sebastian räusperte sich und wurde knallrot, was ihm öfter passierte und aufgrund seines hellen Hauttyps gut sichtbar war. Schnell drehte er sich von den anderen weg, in der Hoffnung, dass sie es nicht bemerkten.

»Hoffentlich seid ihr auf diese Provokation nicht eingegangen«, äußerte Marvin. »Das hängt bestimmt mit der Geburtstagsparty zusammen.«

Laureen zog sich rückwärts aufs Sideboard und schlug ihre langen Beine übereinander. »Noch eine Party? Habe ich was verpasst?«

»Nach Mitternacht soll es am Kurplatz Remmidemmi gegeben haben«, gab Marvin zur Antwort. »Ich habe vorhin Meldung bekommen. Ein Touri ist wohl 30 geworden und hat mit seinen Jungs die Sau rausgelassen. Daraufhin hat sich ein anderer Urlaubsgast beschwert, dass er wegen Ruhestörung nicht schlafen konnte. Wir sollten heute Nacht mal Patrouille laufen, hat er gemeint. Er hätte kein Interesse an einem Juister Ballermann. Das ist die Kurzversion. Der Mann war ziemlich aufgebracht. Mir scheint, dass er etwas übertrieben hat. Nächstes Jahr will er auf eine kleinere Insel.«

»Was, noch kleiner?«, dröhnte Torben Dankwort, der gerade das Büro betreten und nur den letzten Satz mitbekommen hatte. Torben war ein sportbegeisterter Kraftprotz, von Insidern manchmal liebevoll »Michelin-Männchen« genannt, weil er nicht nur täglich zum Pumpen ging, sondern auch diverse proteinhaltige Nahrungsmittel zum Muskelaufbau konsumierte.

»Na, dann greif mal ordentlich durch, sorg heute Nacht für Ruhe und Ordnung«, sagte Laureen kichernd, »lass deine Muckis spielen und zeig ihnen, wo der Hammer hängt!« Lachend ging sie an ihren Schreibtisch zurück.

Torben starrte erst auf ihren wippenden Pferdeschwanz und dann etwas zu lang auf ihren knackigen Po.

Kapitel 4

Kriminalkommissarin Swantje Brandt rangierte ihren Polo in eine Parklücke, schaltete den Motor ab, legte die Hände auf das Lenkrad und atmete tief durch. Sie wollte die letzten Zeilen des Liebeslieds von Ina Müller noch hören und fühlen: »Fast drüber weg«. Es passte so gut zu ihrer gegenwärtigen Situation.

Wehmütig blickte sie zum Küchenfenster ihres ehemaligen Reihenhauses im Osnabrücker Stadtteil Wüste hinüber. Dort brannte wegen des regnerischen Tages Licht. Sie sah Holger und seine Neue unter der Pendelleuchte sitzen und frühstücken. Sie kannte die geblümte Kanne, die sein rotblond gelockter Rauschgoldengel gerade in der Hand hielt. Es war ihre Kanne, die sie auf einem Flohmarkt in den Niederlanden erstanden hatte. Es war ihr Tisch, den sie und Holger von einem Schreiner hatten anfertigen lassen, und sie kannte den Kaffeebecher, den ihr Mann seiner Neuen in diesem Moment entgegenstreckte. Es war der himmelblaue Becher mit Holgers eingraviertem Namen und dem aufgedruckten Seehund, den diese Frau ihm letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte. Mit diesem Becher hatte alles angefangen.

Noch war es ihr Mann. Noch war es ihr Haus, zumindest vom Gefühl her. Das Haus war viele Jahre lang ihre Heimat gewesen, und sie hing sehr daran. Insa, die gemeinsame Tochter, war hier aufgewachsen, hatte im schmalen Garten hinter dem Haus geschaukelt und im Sandkasten gespielt. Als Insa zu groß dafür geworden war, hatte Swantje ihre Liebe zur Arbeit im Garten entdeckt und oft stundenlang darin gewerkelt. Sie hatte einen Teich mit Seerosen angelegt und viele insektenfreundliche Blumen gepflanzt. Aber dann hatte sich Holger in diese andere Frau verliebt und Swantje kurz vor Weihnachten eröffnet, dass er sie verlassen würde. Und da es sein Elternhaus war, das er geerbt hatte und ihm allein gehörte, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich eine neue Bleibe zu suchen.

Obwohl sie schnell eine Wohnung gefunden hatte, die schick, modern und pflegeleicht war, trauerte sie ihrem alten Zuhause hinterher. Sie gehörte hierher, in dieses Haus, diesen Garten, an diesen Küchentisch mit Holger. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals, und Tränen rannen ihre Wangen herunter, als ihr wieder einmal bewusst wurde, was sie verloren hatte.

Gestern hatten Holger und sie telefoniert, weil sie die restlichen Kartons abholen wollte, die sich im Flur stapelten. Sie sollte aussteigen und einfach klingeln, aber sie traute sich nicht. Ihr fehlte die Kraft dazu. Sie wollte die Idylle nicht stören, obwohl sie als Ehefrau jedes Recht dazu gehabt hätte. Minutenlang blieb sie im Auto sitzen, ohne noch einmal zum Fenster zu schauen. Zweimal noch hörte sie das Lied von Ina Müller. Dann startete sie den Motor, wendete und fuhr zu ihrem neuen Zuhause.

Anni Dierken hielt es nicht länger in der Pension aus. Sie holte ihr Fahrrad aus der Garage, denn sie musste raus, an die frische Luft, dahin, wo sie zwischen Salzwiesen und Marsch ihre Lungen freipusten konnte. Sie wusste eine Stelle am hellen feinsandigen Strand, an der nicht viel los war, trotz Hochbetriebs in der Sommersaison. In einiger Entfernung stellte sie ihr Fahrrad ab. Barfuß lief sie über den feinen Sand, genoss die Kühle unter ihren Füßen und die Brise, die vom Meer herübergeweht kam. Anni stapfte über Muschelfelder, dann durchs schlickige Watt, durchs Geflecht der Priele, in der sich Wattwürmer und winzige Meerestiere tummelten. Auch wenn sie als Insulanerin jeden Tag die gute salzhaltige Luft genießen konnte, kam sie nicht oft dazu – zu viel Arbeit, zu vieles, das auf ihren Schultern lastete und das sie bewältigen musste, Tag für Tag. Heute war es anders. Sie wusste, dass sie Kraft tanken musste, bevor sie zusammenbrach.

Ihr Sohn war wieder da. Sie konnte ihm kaum in die Augen sehen. Sie fürchtete sich vor Onno, der seinem Vater so ähnlich war, nicht nur vom Aussehen her, sondern auch vom Charakter. Sie dachte an den Nachmittag, als sie ihren Mann tot in seinem Hobbykeller gefunden hatte. Das Gefühl von damals war wieder gegenwärtig – eine Mischung aus Bestürzung und Erleichterung. Endlich war sie diesen Tyrannen los gewesen. Sie war frei gewesen und hatte ein neues Leben beginnen können. Aber sie erinnerte sich daran, wie schlimm es gewesen war, es Onno sagen zu müssen. Seinen Blick würde sie nie vergessen. Es lag nicht nur Trauer und Schwermut darin, sondern auch etwas Dunkles, Aggressives. »Jetzt bin ich der Herr im Haus«, hatte er gesagt, dann war er in seinem Zimmer verschwunden und 24 Stunden lang nicht mehr aufgetaucht. Danach war ihr Verhältnis nie mehr so gewesen wie zuvor. Fast körperlich spürte sie die Distanz und Angespanntheit zwischen ihnen, die ihr jahrelang das Leben schwer gemacht hatte.

Anni bückte sich, um eine kleine Krabbe aufzuheben, die sich gerade im Watt einbuddeln wollte. Liebevoll betrachtete sie das Tier und streichelte ihm über den hellen Panzer. Dann ließ sie es frei und fasste einen Entschluss. Sie musste für Onno einen Platz finden. In der Küche stehen, kochen oder zuarbeiten wollte er nicht mehr, weil er Schmerzen in seinem rechten Bein hatte und deswegen humpelte. Aber mit Pferden zu arbeiten, war früher schon seine Leidenschaft gewesen. In der Gegenwart der edlen Tiere blühte er auf. Das war vielleicht seine Chance auf einen Neuanfang. Dreimal schon hatte sie bei Hajo Flemming angerufen, um zu fragen, ob er ihren Sohn nehmen würde. Doch Hajo war nicht zu erreichen gewesen. Sie würde es heute noch einmal versuchen.

Drei Tage, hatten sie gesagt. Nun war es bald eine Woche, dass er wieder hier war. Sie hielt es nicht länger aus. Onno musste weg.

Auf der Wache in der Carl-Stegmann-Straße klingelte das Telefon. Marvin Gissemann spülte den letzten Bissen vom Brötchen mit dem inzwischen kalten Milchkaffee herunter und hob ab. »Polizeistation Juist, Carl-Stegmann-Straße, Polizeimeister Marvin Gissemann am Apparat«, leierte er routiniert herunter. Konzentriert hielt er den Hörer ans Ohr, murmelte ein paar Worte, runzelte die noch nahezu faltenlose Stirn und legte auf.

»Was ist los?«, wollte Torben, der ihm gegenübersaß, wissen. »Du bist ja ganz blass um die Nase.«

Marvin winkte ab. »Ach was. Bloß der Schlafmangel. Um halb zwei war die Nacht zu Ende. Leon hatte einen Albtraum und kam zu uns ins Bett gekrochen. Von da an habe ich kein Auge mehr zugetan. Ätzend war das. Ich wollte ihn zurückschicken, aber Yvonne liebt es, ein Kleinkind im Bett zu haben. Sie hat einen beneidenswerten Schlaf, schafft es sogar, auf dem Beifahrersitz zu pennen. Wer kann das schon? Also ich jedenfalls nicht. Tja, und als ich gerade wieder weggedämmert war, kam Lucas heulend an, weil er sich im Bett erbrochen hatte. Magen-Darm.« Er rollte die Augen. »Kacknacht im wahrsten Sinne des Wortes.«

»Was wollte die Leitstelle?«, fragte Sebastian Jonker.

»Aurich versorgt uns mal wieder mit ein bisschen Arbeit. Eine Person mit Schussverletzungen, leblos. Nicht weit von uns.« Marvins Wangen nahmen vor Aufregung einen rötlichen Ton an. »Sie hätten kurz vor Mitternacht schon mal durchgefunkt, weil eine anonyme Anruferin einen Überfall meldete. Aber sie konnten den Tatort nicht lokalisieren. Das Gespräch brach plötzlich ab.«

»Also war da doch etwas dran«, warf Laureen dazwischen. »Keine Ballermann-Party am Strand, wie wir dachten. Oha, Prost Mahlzeit!«

»Heute Nacht gehen wir zwei Patrouille laufen«, sagte Torben und zwinkerte ihr zu.

Sebastian Jonker schloss die Akte, die er gerade bearbeitet hatte. »Wo hat man das Opfer gefunden?«

»In einem Strandcafé. Boje 8 heißt das, hinter dem Deich, nicht weit von der Promenade. Sagt euch das was?«

Sebastian schüttelte den Kopf. »Nie gehört, muss neu sein.« Er wollte nicht zugeben, dass er als junger Familienvater weder Zeit noch Geld zum Ausgehen hatte. Er hatte mal erwähnt, dass der letzte Cocktail mit seiner Frau mindestens drei Jahre zurücklag.

»Ich kenne sie«, sagte Laureen. »Letzte Woche war ich da mit einer Freundin verabredet. Schicke Beachbar, gemütlich, Karibikflair, leckerer Kaffee, gut gemixte Cocktails.«

»Nicht schlecht, der Schuppen«, bestätigte Torben Dankwort. »Hin und wieder ganz nette Bräute. Manche tragen allerdings ihre Nasen höher als ihre Titten.«

»Du scheinst dich ja gut auszukennen«, meinte Laureen augenrollend.

»Ich kann dich ja einladen. Würdest du mitkommen?«

»Die Frage müsste eher lauten: Wärst du mitgekommen? Ich glaube, das hat sich für diese Saison erledigt mit dem Strandcafé.«

»Ich fürchte auch. Gerüchten zufolge soll das aber nicht das einzige Strandcafé auf Juist sein«, sagte er augenzwinkernd.

»Rettungskräfte laufen?«, fragte Sebastian.

»Ja, sofern die noch was ausrichten können.« Mit seinem bedauernden Blick brachte Marvin zum Ausdruck, dass er nicht so recht daran glaubte.

»Das Opfer?«

»Eine Frau, vermutlich die Besitzerin des Cafés.« Marvin hatte einen Frosch im Hals und räusperte sich. »Ihr Name ist … Moment, muss kurz nachsehen … Susanne Flemming heißt die.« Fragend schaute er auf, doch er erntete nur Kopfschütteln. Die Dame schien den anwesenden Kollegen unbekannt zu sein. Allesamt waren sie neu im Team. Die anderen waren entweder im Urlaub oder krankgeschrieben.

Sebastian Jonker zum Beispiel lebte erst seit wenigen Wochen auf Juist, weil er von einer alleinstehenden Tante, die plötzlich verstorben war, ein Häuschen geerbt hatte. Pflichtbewusst griff er zum Diensthandy. »Richter muss informiert werden, hilft alles nichts, Hochzeit hin oder her. Er wird vor Ort sein wollen und die Leitung übernehmen. Wahrscheinlich fordert er wieder Verstärkung vom LKA an. Erst im Mai hatten wir einen Mordfall auf Borkum.«

»Ich habe davon gehört«, sagte Marvin. »Heftige Sache.«

»Damals kamen Ermittler aus dem südlichen Niedersachsen zur Verstärkung zu uns ins Team. Eine Swantje Brandt aus Osnabrück und ein Henry Olsen aus Hannover, soweit ich mich erinnere«, sagte Sebastian.

»Verstärkung vom LKA?« Marvin Gissemann zeigte mit seinen verschränkten Armen, was er davon hielt. »Überflüssig, wenn ihr mich fragt. Bis die erst mal eingearbeitet sind, kostet uns das nur unnötig Manpower.«

»Da mag was dran sein«, pflichtete Sebastian ihm bei. »Das hat damals eine Weile gedauert. Aber dann haben sie tatsächlich den Fall geknackt.«

Marvin Gissemann grunzte verächtlich. »Mag sein, aber das schaffen wir auch allein. Ich nehme mal an, dass es sich diesmal nicht um so einen komplexen Fall handelt. So etwas kommt in der Praxis sowieso höchst selten vor. Wir haben es höchstwahrscheinlich mit einem normalen Gewaltdelikt zu tun. Nichts Außergewöhnliches. Für mich zumindest, schließlich habe ich den überwiegenden Teil meiner Berufserfahrung in Großstädten gesammelt.«

»Haben wir alle«, bemerkte Sebastian, der nicht hintenanstehen wollte.

»Wir können auch allein mit unserer Manpower eine Soko bilden«, fuhr Marvin fort, ohne ihm Beachtung zu schenken. »Es würde völlig reichen, wenn ein paar Kollegen aus Borkum oder Norderney dazukommen, sind ja unsere Nachbarinseln, und wir kennen die Kollegen. Sebastian, du stammst doch von Borkum.«

Sebastian nickte und holte sich über Google Maps den genauen Standort des Cafés auf sein Handy. Dann wählte er die Telefonnummer seines Chefs, aber Meinert Richter ging nicht ans Telefon. Sogar den Anrufbeantworter hatte er ausgeschaltet. Er wollte offensichtlich auf seiner Familienfeier ungestört sein und rechnete wohl nicht mit einem Mordfall, da ein solches Verbrechen auf Juist äußerst selten vorkam.

Marvin wirkte erleichtert, als Sebastian sein Handy wieder wegsteckte. »Leute, bleibt entspannt. Das schaffen wir auch allein. Wir wollen doch zeigen, was wir draufhaben, und die Ernte nicht von Kollegen von außerhalb einholen lassen. Die Typen vom LKA denken, sie hätten mit ihrer höheren Bildung die Weisheit mit Löffeln gefressen. Wollen wir uns von denen erniedrigen lassen? Nein, oder?« Er suchte Bestätigung bei Sebastian, doch der saß mit zusammengepresstem Mund auf seinem Schreibtischstuhl.

»Hast du ein Problem mit dem LKA?«, dröhnte Torben. Der Hobbybodybuilder ließ seine Muskeln spielen. »Minderwertigkeitskomplexe? Ernsthaft? Ich kenne dich noch nicht so lange, aber bisher dachte ich, du hättest mehr Selbstbewusstsein als wir alle zusammen. So kann man sich täuschen!«

»Macht, was ihr wollt«, winkte Marvin ab, »soll unser Chef entscheiden. Sofern er heute noch zurückruft. Soll er halt Verstärkung vom LKA holen, falls er der Ansicht ist, wir hätten das nötig.«

Sie fuhren ihre Computer herunter, holten ihre Dienstwaffen aus dem Waffenschrank, prüften die Magazine und besorgten sich Schlüssel für die Elektro-Quads. Die Zeit drängte.

Kapitel 5

»Onno, hilfst du mir bitte beim Tischdecken?« Anni Dierken war schon seit Stunden auf den Beinen. Nach dem Strandspaziergang hatte sie für die Gäste ihrer Frühstückspension Kaffee und Eier gekocht, Rührei gebraten, selbst gemachte Marmelade in Schälchen gefüllt und Platten mit Aufschnitt und Käse angerichtet. Onno pfiff leise vor sich hin. Er schien zufrieden zu sein, erleichtert darüber, dass seine Mutter ihn wieder bei sich aufgenommen hatte. Außerdem freute er sich, dass Hajo vom Reiterhof Flemming es mit ihm versuchen wollte, das hatte er schon vor ein paar Tagen mit ihm abgeklärt. Seiner Mutter würde er aber erst davon erzählen, wenn er die Stelle hatte. Er solle sich am kommenden Montagmorgen um 8 Uhr im Büro des Reiterhofs einfinden. Seine Mutter wusste nicht, dass er von sich aus schon mit dem Gedanken gespielt hatte, wieder mit Pferden zu arbeiten. Heimlich hatte er sich in den letzten Tagen auf dem Reiterhof aufgehalten und mit einem gutmütigen blonden Haflinger gekuschelt, der sich in seiner Box langweilte. Natürlich hatte er das für sich behalten, denn seine Mutter mischte sich schon genug in seine Angelegenheiten ein. Sie sah in ihm noch immer das Kind, dem sie sagen konnte, was es tun sollte.

Onno nahm ihr einen Berg Tischdecken ab und machte sich sofort an die Arbeit.

»Wo warst du eigentlich die halbe Nacht?«, wollte sie wissen.

Er fuhr herum. »Was geht dich das an, ich bin erwachsen!«

Sie war erschrocken über seinen Stimmungswechsel. In den ersten Tagen war er so freundlich gewesen. »Die Haustür war offen«, sagte sie zögernd. »Du erinnerst dich vielleicht, dass die nach 22 Uhr abgeschlossen sein muss.«

Er rollte die Augen. »Aber sicher doch. War immer schon so gewesen. Das weiß ich, auch wenn es lange her ist, dass ich zuletzt hier war.« Er verzog seinen Mund zu einem schiefen Lächeln. »Aber warum verdächtigst du mich? Ich hab sie nicht offen gelassen. Das war jemand anders!«

»Auf keinen Fall. Das sind alles Stammgäste, die froh sind, wenn sie abends nicht mehr rausmüssen. Außerdem kann ich mich auf meine Gäste verlassen. Also, wo warst du? Um 2 Uhr nachts warst du immer noch nicht da!«

»Um 2 Uhr warst du immer noch nicht da«, äffte er sie nach. »Bin ich elf oder zwölf? Entspann dich endlich mal! Ich bin erwachsen und dir keine Rechenschaft schuldig. Ich war lange genug eingesperrt. Jetzt bin ich in Freiheit und genieße es sehr.«

Sie fühlte sich plötzlich schwach, musste sich setzen. »Ich habe kein gutes Gefühl, Onno, das darf ich dir als deine Mutter wohl noch sagen. Gerade weil du erwachsen bist, muss ich dich nicht mehr bei mir wohnen lassen. Du weißt, dass ich dich nicht reinlassen wollte. Ich kann dich jederzeit vor die Tür setzen. Dann musst du dir etwas anderes suchen!«

Onno nahm Haltung an und machte sich noch breiter, indem er seine Hände in die Hüften stemmte. »Was habe ich dir denn zugemutet, Mama? Hast du einmal daran gedacht, wie es mir all die Jahre ergangen ist? Hast du mich einmal besucht oder mir ein paar aufmunternde Zeilen geschrieben? Ich kann mich nicht erinnern, wenigstens zu Weihnachten oder zu meinem Geburtstag Post von dir bekommen zu haben!«

Anni Dierken riss ihrem Sohn die Hälfte der Tischdecken aus der Hand. Schweigend begann sie am hinteren Zweiertisch, während er sich die Vierertische an der breiten Fensterfront vornahm.

»Ich verstehe nicht, warum du dich darüber wunderst«, sagte sie kopfschüttelnd. »Sei dankbar, dass ich dich überhaupt aufgenommen habe. Aber nur vorübergehend. Wenn dein Bewährungshelfer mir nicht hoch und heilig versprochen hätte, dass von dir keine Gefahr mehr ausgeht, hätte ich nicht zugestimmt!«

»Hast du Angst?«

»Ich habe keine Angst vor dir, bilde dir das bloß nicht ein. Ich bin maßlos enttäuscht. Das soll mein Sohn sein, den ich großgezogen habe, in den ich all meine Liebe und Fürsorge gesteckt habe? Gut, auch ich habe vielleicht Fehler gemacht und war nicht immer eine perfekte Mutter. Aber ich habe stets nur das Beste für dich gewollt! Und was habe ich bekommen? Einen Mörder!«

»Es war kein Mord!«, fuhr er sie an. »Das hat das Gericht eindeutig festgestellt. Wäre es Mord, dann müsste ich es ja geplant haben.«

»Das hast du!«

»Das weißt du genau, weil du ja studierte Juristin bist«, zischte er verächtlich.

»Ich muss nicht Juristin sein, um zu verstehen, was du getan hast. Wobei – eigentlich will ich es gar nicht verstehen. Ich werde dich nie verstehen.« Sie drehte ihm den Rücken zu und war im Begriff, in die Küche zu gehen.

»Vielleicht versuchst du es mal, weil du meine Mutter bist?«, schrie er ihr nach. »Wie wär’s damit?«

Anni Dierken machte auf dem Absatz kehrt und kam mit ausgestrecktem Zeigefinger auf ihn zu. »Gerade, weil ich deine Mutter bin und dich besser kenne als du dich selbst, weiß ich, dass du ein schwacher Mensch bist. Du bist wie dein Vater. Andy hatte seine Wut auch nie unter Kontrolle, dachte, er wäre der Racheengel der Nation und müsste es allen heimzahlen, die ihn irgendwann einmal geärgert hatten. Der Herzinfarkt war seine Rettung und letztlich auch deine und meine. Sonst wäre er vermutlich irgendwann selbst im Knast gelandet.«

»Wo ist eigentlich Laura?«, wechselte Onno das Thema.

»Das geht dich nichts an. Sie ist nicht deine Tochter. Sie war Elkes Tochter.«

»Ich dachte, ihr hättet sie bei euch aufgenommen.«

»Das haben wir auch für eine Weile. Bis plötzlich ihre Großmutter auf der Matte stand und mir einen Wisch vom Jugendamt unter die Nase hielt. Wir haben die Polizei gerufen, aber es half nichts: Nach langem Hin und Her hat sie die Kleine mitgenommen. Der Kontakt zu Laura ist über die Jahre dann abgebrochen.«

»Du lügst!«

»Ich lüge nicht. Es ist so, wie ich sage: Es gibt keinen Kontakt mehr zu Laura. Ihre Oma wollte das nicht. Ich weiß nicht einmal, wo Laura jetzt lebt.«

»Laura war wie mein eigenes Kind.«

»Ich weiß. Aber wenn du sie geliebt hättest, hättest du ihr die Mutter nicht genommen.«

Schweigend arbeitete sie weiter, bis das Ehepaar Meier den Gastraum betrat und Anni ihr eingeübtes Strahlen aufsetzte.

»Hätten Sie vielleicht noch einen Kaffee für uns?«, fragte Frau Meier. »Wir wollten woanders Kaffee trinken, aber mein Mann hat etwas Kreislauf.«

»Na sicher!« Onno knipste seinerseits ein freundliches Gesicht an und machte eine einladende Geste. »Nehmen Sie doch bitte schon mal Platz, ich komme gleich mit der Kanne.«

»Ich setze noch einen auf«, sagte Anni tonlos. »Dann haben Sie ihn ganz frisch.«

»Nein, machen Sie sich bitte keine Umstände«, widersprach Herr Meier. »Wir trinken ihn auch lauwarm. Sie haben wirklich einen netten Sohn, Frau Dierken. Er ist ein wunderbarer Gastgeber. Sie beide sind zauberhafte Vermieter«, korrigierte er sich mit einem Augenzwinkern. »Im Team macht alles mehr Spaß, nicht wahr?«

Anni Dierken setzte ein gekünsteltes Lächeln auf und verschwand in der Küche.

Der Notarzt kam ihnen mit besorgter Miene und hängenden Schultern entgegen. Er brauchte nichts mehr zu sagen.

»Sie sind schon fertig? Wer hat Sie denn informiert?«, fragte Marvin Gissemann atemlos.

»Ich war zufällig bereits am Strand, weil wir zu einem älteren Mann gerufen wurden. Der ist nach dem Frühschwimmen im Meer zusammengebrochen. Herzinfarkt.« Er deutete mit dem Arm in die Richtung, in der er den Mann gefunden hatte. »Er wurde mit dem Heli nach Norden gebracht, hat einiges an Wasser geschluckt, ist aber stabil. Während ich dabei war zu reanimieren, hörte ich Schreie. Eine Frau kam völlig aufgelöst aus dem Strandcafé gerannt. Die Reinigungsfachkraft, wie ich inzwischen erfahren habe.«

»Verstehe. Wer ist die Tote?«, fragte Marvin, um sich den Namen des Opfers noch einmal bestätigen zu lassen.

»Susanne Flemming«, antwortete der Mediziner, »laut Ausweis, den wir in ihrer Handtasche gefunden haben, ist sie 53 Jahre alt, wohnhaft hier auf Juist. Sie hat die Wohnung über dem Café gemietet. Ich habe gerade mit ihrem Nachbarn gesprochen. Er sagt, sie sei alleinstehend, in Trennung lebend. Das Lokal betreibe sie seit drei Jahren. Sie hat viel Geld und Energie reingesteckt, es von Grund auf renoviert und umgekrempelt. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Ein Schmuckstück, wenn Sie mich fragen. Meine Frau und ich waren schon öfter da.«

»Wer ist der Nachbar?«, hakte Sebastian Jonker ein. Er war feuerrot im Gesicht, wegen der Aufregung und vermutlich auch, weil sich plötzlich alle Augen auf ihn richteten.

»Sein Name ist Manfred Hedden. Er hat uns verständigt. Gefunden wurde die Tote von der Reinigungskraft, die heute Morgen vom Festland gekommen ist, aber das sagte ich bereits. Ich bin ein wenig durcheinander, entschuldigen Sie bitte. Zwei medizinische Notfälle kurz hintereinander schaffen auch mich alten Hasen.«

»Genau genommen nur ein medizinischer Notfall«, korrigierte Marvin schmallippig.

Der Notarzt bedachte ihn mit einem strengen Blick.

Marvin ließ sich davon nicht beeindrucken. »Hat der Nachbar etwas von dem Vorfall mitbekommen?«, wollte er wissen.

»Offenbar nicht. Er wirkte völlig überrascht.«

»Wie haben Sie die Frau vorgefunden?«

»Sie saß mit nach vorn gefallenem Oberkörper an einem der hinteren Tische, die am Fenster stehen. Blutüberströmt. Vermutlich ist sie dort tot zusammengesackt. Ich habe sie zur Untersuchung mithilfe des Nachbarn auf den Boden gelegt. Ich hoffe, das war richtig so. Ich weiß, man sollte an einem Tatort nichts verändern, aber ich musste ja prüfen, ob die Frau noch lebt. Dem Mann habe ich selbstverständlich Handschuhe zur Verfügung gestellt. Todesursache waren zwei Schüsse von hinten, vermutlich aus nächster Nähe. Einer ging in den Nacken und einer in die rechte Schläfe.«

»Wie lange ist die Frau schon tot?«

»Die Livores sind bereits vollständig ausgeprägt und die Leichenstarre ebenfalls. Deshalb gehe ich von neun bis zehn Stunden aus. Aber ich bin kein Rechtsmediziner.«

»Sie meinen die Totenflecken? Es gab keine Abdrücke am Rücken oder am Bauch?«

»Nein, keinen einzigen. Die Frau wurde nach meinem Verständnis also nicht bewegt, was bedeutet, dass Tatort und Fundort identisch sind. Aber wie gesagt, ich bin Notarzt, kein Rechtsmediziner.«

Mit einem Blick auf die Uhr stellte Marvin Gissemann fest, dass sich die Tat am gestrigen Abend zwischen 23 Uhr und Mitternacht ereignet haben musste. »Wann schließt das Lokal?«

Der Mediziner zuckte mit den Schultern. »Unterschiedlich, würde ich sagen, je nachdem, wie viel los ist. Am Wochenende etwas später. Vielleicht weiß der Nachbar mehr.«

»Wo finden wir die Zeugin, also die Dame, die die Tote gefunden hat?«

»Sie sitzt in der Bar von Manfred Hedden und ist mit den Nerven am Ende. Ich habe ihr etwas zur Beruhigung gespritzt. Sie wollte es so.«

»Nicht gut«, fand Torben Dankwort und verschränkte die muskulösen, tätowierten Arme vor dem Körper.

»Warum? Habe ich etwas falsch gemacht?«

»Besser wäre es, Sie hätten ihr nichts gegeben, so ist sie wahrscheinlich nicht aussagefähig.«

»Sie hat nur wenig bekommen. Es dürfte reichen, um sich an den Fund der Leiche zu erinnern. Wenigstens hat ihr Tremor aufgehört. Sie zittert nicht mehr.«

»Haben Sie dem Nachbarn auch was gespritzt?«

»Herrn Hedden? Nein, er wollte nichts. Ein Typ wie ein Bär. Er sagt, es wäre nicht seine erste Leiche.«

»Nicht seine erste Leiche? Na dann …« Marvin Gissemanns Mimik ließ darauf schließen, dass er genervt von dem Arzt war. Er beachtete ihn nicht länger, sondern wandte sich direkt an den Muskelprotz. »Gehst du rüber?« Er wartete dessen Antwort gar nicht erst ab, sondern ging zügig auf das Strandcafé zu. Bevor er den Tatort betrat, streifte er sich sorgfältig Überschuhe und Handschuhe über, die er in seinem Rucksack mit sich geführt hatte.

Die leblose Person lag wie beschrieben neben dem letzten Vierertisch mitten im Gang. Der Fußboden sah aus, als hätte jemand einen Kübel roter Farbe ausgeschüttet. Das Blut hatte sich überallhin verteilt und war bräunlich verdickt. Mit gerunzelter Stirn blickte er auf die nur zur Hälfte ausgetrunkenen orangefarbenen Cocktails. »Was soll der Scheiß?«, murmelte er, »hat hier eine Party stattgefunden, die eskaliert ist?« Dann besah er sich die Leiche genauer. Die Augen waren halb geschlossen, der Mund mit den spröden Lippen geöffnet wie zu einem Schrei. Dunkelroter Lippenstift hatte sich in den Lippenfalten abgesetzt und war in den Mundwinkeln verschmiert, als wäre dies das Ergebnis der ersten dilettantischen Schminkversuche eines Kindes. »Da war wohl bereits der erste Schuss tödlich«, urteilte er mit Sachkenntnis. »Muss ein geübter Schütze sein.«

Sebastian war hinzugetreten. »Schon gesehen?«, fragte er lauernd und deutete auf einen bekritzelten Bierdeckel.

Marvin nahm ihm mit behandschuhten Fingern das Beweisstück ab. »›Das ist dafür!‹«, las er murmelnd. »Was ist damit gemeint? Was ist wofür? Was meint der Idiot damit?«

»Na ja, irgendwas muss wohl so schlimm für ihn gewesen sein, dass er die Frau mit dem Tod bestraft hat«, gab Sebastian zu bedenken.

Marvin Gissemann zog ein nachdenkliches Gesicht und fotografierte dann die Leiche aus verschiedenen Perspektiven.

Kollegen der Spurensicherung in Vollschutzausrüstung betraten das Lokal und machten sich an die Arbeit. »Zwei weitere Polizeihelis vom Festland sind gerade gelandet«, sagte einer von ihnen, ein schlanker Mann mit Brille, »die Kollegen dürften in Kürze hier sein.«