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Eine tote Joggerin im Borkumer Inselwald ruft die Kommissare Swantje Brandt und Henry Olsen vom LKA Niedersachsen auf den Plan. Die Leiche ist äußerlich unversehrt, nur ihre Turnschuhe fehlen. Alles deutet auf eine Vergiftung hin. Als wenig später weitere Morde nach dem gleichen Muster geschehen, suchen die Ermittler nach einem Serientäter. Die Opfer waren alle Mitglieder eines Shanty-Chores, weitere Verbindungen können sie zunächst nicht finden - bis ein Zeitungsartikel die Kommissare auf die richtige Spur bringt …
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Seitenzahl: 407
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Alida Leimbach
Strandmörder
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Den Shanty-Chor Klaasohm gibt es nicht in Wirklichkeit.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Dirk assent/EyeEm / stock.adobe.com
Karte und Absatzmarker: Hans-Michael Kirstein (HMK)
ISBN 978-3-8392-7440-8
Das Gefährlichste am Meer ist die Nähe zum Land.
Alte Seemannsweisheit, Verfasser unbekannt.
Bis vor einer halben Stunde war Michael davon ausgegangen, dass noch Ebbe wäre. Doch da glitzerte es bereits im Watt. Derk meinte, es sei besser, nun langsam umzukehren. Die anderen hörten nicht auf ihn, glaubten, es sei nur noch ein kurzes Stück bis zur Sandbank mit den Seehunden. Erst als sich die Priele wieder füllten und die Flut das Meerwasser in Richtung Strand drückte, hatte es die Gruppe plötzlich sehr eilig, den Rückweg anzutreten – bis auf fünf Mitschüler, die sich von ihrem Plan nicht abbringen lassen wollten.
Klaas stieß Michael in die Seite. »Ey, Micha, du wolltest doch immer einer von uns sein! Hast du Mumm in den Knochen oder bist du ein Bangebüx? Du wirst dich doch von so ein paar Pfützen nicht abschrecken lassen.«
Michaels Ehrgeiz war geweckt. Endlich eine Chance, zu beweisen, was in ihm steckte! Vielleicht würden seine Klassenkameraden ihn dann mal zu Hause besuchen und mit ihm auf seinen Bodenkissen Bier mit Cola trinken und die neueste Scheibe von Bobby McFerrin hören: »Don’t Worry, Be Happy«.
Der Weg wurde nun richtig beschwerlich. Schweigend kämpfte er sich durchs Schlickwatt, darauf bedacht, nicht auf einen Krebs oder eine Qualle zu treten.
Das auflaufende Wasser gewann zunehmend an Kraft. Wenn Michael einen Fuß aus dem Schlick zog, sank er mit dem anderen umso tiefer ein. Der glitschige Wattboden verursachte schmatzende Geräusche beim Gehen. Bis zur Kniekehle reichte ihm das Wasser. Er hatte das Gefühl zu versinken und kaum noch vorwärtszukommen. Trotzdem führte er die Gruppe nun an. Klaas war wohl doch nicht so kräftig, wie er aussah. Die gruseligen Erzählungen seines Vaters fielen Michael ein. Erst vor wenigen Wochen hatte sich das Meer zwei Urlauber geholt, die gemeint hatten, ohne Wattführer zur Vogelinsel Memmert laufen zu können. Oder der Kegelclub, der im letzten Jahr die Hälfte seiner Mitglieder bei einer Wattwanderung verloren hatte.
In der ausgebaggerten Fahrrinne zog ein Kreuzfahrtschiff gen Skandinavien. Michael sah sich um und realisierte, dass er völlig allein war. Der Rest der Gruppe hatte sich in seinem Rücken unbemerkt davongestohlen.
In Panik schrie er um Hilfe. Er winkte wie wild und verlor dabei fast das Gleichgewicht. Die Einzigen, die antworteten, waren Möwen, die über seinen Kopf hinwegflatterten. Um die Wette schnatternd flogen sie zum Schiff, in der Hoffnung, ein paar Brocken zu ergattern.
Inzwischen reichte ihm das Wasser bis zu den Oberschenkeln. An einigen Stellen war die Binnenströmung so stark, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte.
Durch die Schiffsbewegungen kamen Wellen auf. Michael hatte Angst, dass sie über ihn hinwegschwappen und ihn mitreißen würden. Um die drohende Gefahr nicht mehr sehen zu müssen, schloss er kurz die Augen und hörte das Rauschen, das ihn benommen machte und schwindelig. Er spürte, wie er an Kraft verlor. Das Meer drohte ihn zu verschlingen.
Einer Welle konnte er gerade noch standhalten, schluckte dabei allerdings eine Menge Salzwasser. Verzweifelt blickte er zwischen Sandbank und Strand hin und her. Die weißen Villen am Nordbad schienen für ihn unerreichbar.
Er schrie um sein Leben, doch niemand hörte ihn.
Da war etwas an seinem Bein. Panisch schlug er um sich, dachte an einen kleinen Hai, der ihn attackierte. Auch wenn er wusste, dass es hier keine Haie gab.
Ein bekanntes Gesicht tauchte vor ihm auf. Große Erleichterung. Jemand aus seiner Klasse war zurückgeschwommen, um ihn zu retten. Seltsam, dass er das erst jetzt bemerkte.
»Ich helfe dir«, sagte die Stimme. Und in dem Moment, als er einen Arm zu fassen bekam und sich daran festhalten wollte, schnitt ein schneidender Schmerz in seinen Hals. Binnen Sekunden färbte sich das Meerwasser um ihn herum rot.
30 Jahre später
Als Sabine am Abend die Spülmaschine einräumte, wusste sie nicht, dass sie nur noch zehn Stunden leben würde.
Gerade ärgerte sie sich über den Wetterbericht im Radio. Keine guten Aussichten. Der Sprecher sagte auch für die nächsten Tage unbeständiges Wetter voraus. Für die Jahreszeit war es zu kühl und zu feucht. Dabei standen die Rhododendren im Vorgarten schon in voller Blüte.
Ihre Einbauküche war mit allen Raffinessen ausgestattet und roch noch nach Möbelhaus. Steffen hatte recht; sie kochte einfach zu wenig. Mittags trafen sie sich oft in einem der gemütlichen Lokale in der Bismarckstraße und abends genügte ihnen eine Scheibe Brot, ein Salat und etwas Fisch vom Hafen.
Lange wohnten sie noch nicht in der ruhigen Neubausiedlung hinter dem Deich. Kurz vor Weihnachten hatten sie ihr neues Heim unweit des Borkumer Südstrandes bezogen. Steffen war Bauunternehmer und hatte zusammen mit seinem Freund, dem Architekten Hagen Köhler, gute Arbeit geleistet. Sie waren ein super Team und könnten auf Borkum in den nächsten Jahren sehr viel Geld verdienen.
Während sie die Gläser mit der Hand spülte, plante sie den nächsten Tag. Früh am Morgen würde sie joggen, da war die Luft klar und kühl und es war wenig los in der Greunen Stee hinter dem Deich. Sie liebte das Wäldchen mit den vielen windschiefen Birken und Kiefern, den duftenden Heckenrosen und den sumpfigen Stellen mit Schilf und Rohrkolben und war froh, dass ihr Mann das gemeinsame Haus nicht nur in Strand-, sondern auch in Waldnähe gebaut hatte.
Sabine Hinrichs schob das Raffrollo hoch, weil sie sehen wollte, ob es nach wie vor regnete. In den Häusern auf der gegenüberliegenden Straßenseite waren seit Ostern die Rollläden geschlossen. Seit Ende der Urlaubssaison wirkten sie wie tot.
Plötzlich schob sich ein Schatten in ihr Sichtfeld. Instinktiv wich sie zurück. Sie löschte das Licht und öffnete die Tür zum Flur einen Spaltbreit.
Er war wieder da! Tagelang hatte sie nicht an ihn gedacht, aber unterschwellig hatte sie das Gefühl einer Bedrohung nicht losgelassen. Breitbeinig und wie in Stein gemeißelt stand er unter der Straßenlaterne und starrte zu ihrem Haus herüber.
Ihr Körper reagierte augenblicklich. Sie begann zu zittern und hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können, als würde ein riesiger kalter Stein auf ihrer Brust liegen. Binnen Sekunden fühlte sie sich matt und kraftlos. Wie in Zeitlupe glitt sie auf den Küchenboden und saß minutenlang regungslos da, mit dem Rücken zur Wand. Sie versuchte, sich auf ihre Atmung zu konzentrieren, was ihr schwerfiel.
Als sie gedämpft den Fernseher im Wohnzimmer laufen hörte, löste sich etwas in ihr. Sie war nicht allein. Steffen war da und konnte Hilfe holen.
Am liebsten lief sie im Takt der Musik. Für diesen frühen Morgen hatte sie »Eye of the Tiger« von Survivor gewählt, das sie gerade zum dritten Mal hörte. Kaum ein anderes Lied motivierte sie dermaßen zum Joggen wie der Song der amerikanischen Rockband. Es ging ihr gut heute. Sabine hatte trotz des Vorfalls am Abend gut geschlafen und fühlte sich ausgeruht und stark. Sie brauchte nicht einmal das Medikament, das ihr Hausarzt ihr gegen die Angststörung verschrieben hatte. Sie war guter Dinge und hatte einen Entschluss gefasst. Denn eins hatte der Fremde vor ihrem Küchenfenster bewirkt: Sie würde endlich mit ihrer Vergangenheit aufräumen. Den ersten Schritt hatte sie schon gemacht. Morgen würde sie den zweiten gehen und dann noch einen.
Auf dem Weg zur Greunen Stee kam sie an einem Feld mit zutraulichen wilden Kaninchen vorbei. Einen Moment lang blieb sie stehen und schaute einer Kaninchenfamilie mit ihrem Nachwuchs beim Grasen zu. Zwei Fasane stolzierten gemächlich an ihnen vorbei. Dieser Anblick der intakten Tier- und Pflanzenwelt auf Borkum ließ ihr Herz jedes Mal aufs Neue aufgehen. Es war beglückend, auf diesem herrlichen Fleckchen Erde leben zu dürfen.
Doch wenige Minuten später kehrte das Unwohlsein zurück. Instinktiv stellte sie die Musik aus. Hinter sich hörte sie Schritte, die schnell näher kamen. Es waren schwere Schritte, die zu einem schweren Körper gehörten. Ein schneller Blick zurück sagte ihr, dass der Läufer sich ihrem Tempo angepasst hatte. Mittelgroße Statur, auf jeden Fall größer als sie selbst, breit gebaut, dunkle Sportkleidung, dunkle Mütze. Sie nahm sich vor, sich nicht mehr umzudrehen, sondern sich auf ihren Lauf zu konzentrieren. Sein hechelnder, rasselnder Atem verriet ihr, dass er nicht sehr trainiert war. Offensichtlich war er darauf bedacht, den Abstand weder zu verringern noch zu vergrößern. Kein gutes Gefühl. Kurz schaute sie zu den Bahngleisen auf der linken Seite. Für die Inselbahn war es zu früh, erst in ein bis zwei Stunden würde sie wieder Heimreisende zur Anlegestelle am Hafen bringen.
Konzentriert hielt Sabine auf dem sich schlängelnden Waldweg die Spur, auch wenn es ihr mittlerweile schwerfiel. Der Typ hinter ihr brachte sie aus dem Gleichgewicht. Ein leichter Schwindel kündigte sich an. Sie lauschte, witterte die Gefahr. Jedes Rascheln im Gebüsch verursachte eine Gänsehaut, jeder Schrei einer Möwe ließ sie zusammenschrecken. Es prickelte auf ihrer Haut, als ein Ast knackte. Sabine atmete tief durch, schüttelte sich, rief sich energisch zur Ordnung, um die aufkommende Panik abzuschütteln, und wusste gleichzeitig, dass sie es nicht schaffen würde.
Die nächste Sitzgelegenheit war schon in Sichtweite, höchstens 20 Meter entfernt. Auf der Aussichtsdüne würde sie eine Pause machen, den Jogger vorbeiziehen lassen und bald, wenn sie wieder genug Luft hätte, umkehren. Ihr reichte es für heute. Diese immer wiederkehrende Angst – Steffen hatte recht, das war nicht normal! Ständig überfielen sie Panikattacken. Sabine zwang sich, an etwas anderes zu denken. Sie war mit Steffen zum Mittagessen verabredet. Sie würde sich Mühe geben mit ihrem Aussehen, vielleicht sogar ihr neues Kleid anziehen und hochhackige Schuhe dazu. Außerdem würde sie sich schminken. Vielleicht schaute Steffen sie dann mal wieder an.
Der Mann näherte sich. Sie hörte ein Schnaufen in ihrem Rücken, stampfende, gleichmäßige Schritte auf dem Waldboden. Der Typ musste nun direkt hinter ihr sein. Wenn er wollte, könnte er sie überholen, auch wenn der Weg schmal war. Er schien nicht zu wollen. Was hatte er vor? Der Mann unter der Straßenlaterne fiel ihr ein. War es möglich, dass …? Von der Statur her könnte es passen. Sie verbot sich den Gedanken, aber es half nichts. Das mulmige Gefühl schnürte ihr die Kehle zu.
Die schweren, dunklen Wolken hatten sich verzogen. Der Himmel war knallblau mit hauchzarten Schäfchenwolken. Annerose Heilmann und Walter Torlage hatten Glück gehabt, kurzfristig beim beneidenswert braun gebrannten Strandkorbvermieter eine Tageskarte für einen Korb in der ersten Reihe zu ergattern, denn bei dem herrlichen Wetter herrschte am Borkumer Nordstrand bereits am Vormittag reges Treiben. Vom Meer wehte der Geruch von salzhaltiger Seeluft, Seegras, Seetang und ein wenig Fisch herüber. Walter klappte das Seitentischchen des weißen Korbes mit der blau-weiß gestreiften Stoffbespannung auf. Kaffee und den Kuchen hatten sie bei einer Milchbude an der Strandpromenade geholt. Annerose breitete das mitgebrachte Strandtuch auf dem Sitz aus und zog das Fußteil heraus. Eine Weile kämpfte sie mit dem Aufbau des Holz-Liegestuhls, den sie zusätzlich gemietet hatte, um in der Mittagszeit darin zu dösen. Sie wollte sich die Arbeit nicht von ihrem Begleiter abnehmen lassen, der sofort aufgesprungen war. Schließlich hatte sie es geschafft und lächelte zufrieden.
Der Mann aus dem Nachbarstrandzelt winkte, machte einen Scherz auf Kölsch, über den sie höflich lachte, obwohl sie ihn nicht verstanden hatte. Annerose Heilmann war beruhigt. Sie wusste, dass sie und Walter für einen kurzen Spaziergang am Wasser ihren Korb verlassen konnten, ohne ihre Sachen mitnehmen zu müssen. Ihr Blick wanderte zum Meeressaum.
Ein Vater hielt seinen kleinen Sohn an der einen Hand, mit der anderen telefonierte er. Helle Bermudas und ein weißes Polohemd, die Sonnenbrille lässig auf den Kopf gesteckt, stand er barfuß im Wasser. Vermutlich war er gerade erst angekommen, denn seine Beine waren schneeweiß und er schien recht angespannt zu sein. Annerose beobachtete ihn durch ihre Sonnenbrille. Den kleinen Jungen hatte er in den paar Minuten, in denen sie ihnen zusah, kein einziges Mal beachtet. Der Mann erinnerte sie an ihren Schwiegersohn – immer auf Achse, immer das Gefühl, einen Auftrag oder ein Geschäft zu verpassen.
Ein paar Strandkörbe weiter brüllte ein Kleinkind, weil eine Möwe ihm ein Brötchen oder einen Keks aus der Hand geraubt hatte. Entsetzt starrte es dem weißen Vogel hinterher, der einen hellen Brocken im Schnabel davontrug. Annerose schmunzelte. Am liebsten hätte sie der Kleinen einen neuen Keks gebracht.
Leben, pralles Leben um sie herum. Munteres Stimmengewirr, Möwengesang und das Lachen fröhlich gestimmter Menschen. Über alldem hing der Duft nach Sonnencreme, Bräunungsöl und Kaffee. Ein wenig Wehmut überkam Annerose, als sie daran dachte, dass sie bald heimfahren und in ihren Alltag zurückkehren müssten. Sie konnte sich vorstellen, den ganzen Sommer über hierzubleiben und jeden Tag die gute Meeresluft auf der Hochseeinsel zu genießen, die ihren Bronchien so guttat.
Gedankenverloren blätterte sie im Inselblättchen, einem Magazin für Insulaner und Urlaubsgäste.
Anneroses Blick blieb an einem Foto hängen, das ein älteres Paar vor einer Bäckerei zeigte. Dort hatte sie schon einmal Krintstuuten für den Nachmittagstee gekauft, sodass sie, neugierig geworden, den darunter abgedruckten Bericht las.
Annerose stieß Walter an, der gerade die Augen geschlossen hatte und erschrocken zusammenfuhr. »Da, bitte lies das mal!«, forderte sie ihn auf. »Vor langer Zeit ist hier auf Borkum ein Junge im Watt verschwunden.«
Er räusperte sich, friemelte seine Lesebrille aus dem Etui, nahm ihr die Zeitung ab und überflog den Text.
»Oje«, seufzte er und packte die Lesebrille wieder ein.
»Ist das nicht furchtbar? Die armen Leute! 30 Jahre leben sie schon in Ungewissheit. Man vermutet, dass er umgebracht wurde.« Ihre Stimme zitterte.
Walter Torlage nickte. »Nicht schön, aber reg dich nicht auf! Lass uns unsere letzten Urlaubstage genießen! Das ist lange her.« Er faltete das Blatt zusammen, legte es weg und reichte ihr ein Stück von dem Kuchen, den sie vorhin von dem Büdchen am Strand geholt hatten.
Am späten Nachmittag meldete sich Steffen Hinrichs auf der Borkumer Polizeiwache in der belebten Strandstraße, in der es viele Geschäfte und Lokale gab. Seine Frau sei weg, spurlos verschwunden. Sie seien um 12 Uhr in der Firma verabredet gewesen, um zusammen zu Mittag zu essen. Sie sei immer sehr zuverlässig, das passe nicht zu ihr.
»Um 12 Uhr mittags?«, fragte der diensthabende Beamte hinter dem Schalter mit einem Blick auf die Uhr. »Es ist gerade halb fünf durch. Finden Sie nicht, dass das etwas früh ist, um eine Anzeige aufzugeben?«
»Nein, das finde ich nicht«, erklärte Hinrichs mit Nachdruck. »Ich mache mir große Sorgen!«
»Warten Sie hier«, sagte der Beamte hinter dem Schalter. »Es kommt gleich jemand.«
Wenig später erschien Sebastian Jonker, um ihn abzuholen. Der schlaksige Polizist führte Steffen Hinrichs in ein Büro im Obergeschoss und wies ihm einen Platz an einem kleinen runden Tisch zu. Sebastian Jonker hatte eine kurze Nacht hinter sich, denn er war vor wenigen Wochen Vater geworden. Seine Frau bestand darauf, dass er zweimal in der Woche die Nachtschicht übernahm, was er zwar nur widerstrebend tat, doch er wollte ein moderner Vater sein, so wie er es sich während Noras Schwangerschaft vorgenommen hatte. Wickeln und füttern und ein bisschen in den Schlaf wiegen, damit Nora nicht aufstehen musste, konnte schließlich nicht so schwer sein, vor allem, wenn man sich so auf den Keks gefreut hatte. Aber es war eine Tortur, wenn man am nächsten Morgen früh raus musste. So hatte er sich das nicht vorgestellt.
»Ihre Frau ist ein freier Mensch«, sagte er müde, nachdem er die Personalien des Mannes aufgenommen und erfahren hatte, dass dieser Bauunternehmer mit eigenem Betrieb auf Borkum war. »Es besteht das Recht der Freizügigkeit, Artikel 13 der Allgemeinen Menschenrechte. Jeder Erwachsene hat das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen«, leierte er die Belehrung herunter.
»Sie hat ihren Aufenthaltsort gewählt«, beharrte der Mann. »Bei mir in meinem Haus, an meiner Seite. Und jetzt ist sie fort, ohne ein Wort zu sagen, ohne mir eine Nachricht auf meinem Mobiltelefon zu hinterlassen.«
»Und das finden Sie ungewöhnlich?«
»Das ist äußerst ungewöhnlich, passt nicht zu ihr!«
Der junge Beamte lief bei dem lauten und dominanten Ton von Steffen Hinrichs rot an. Bei ihm sah man die Röte besonders, da er ein heller Typ mit lockigen roten Haaren und Sommersprossen war. »Okay« sagte er und räusperte sich. »Hatten Sie Streit?«
Steffen Hinrichs antwortete nicht sofort. »Nein, vielleicht eine kleine Meinungsverschiedenheit«, gab er schließlich zu, »mehr nicht. Aber meine Frau hält sich immer an Absprachen. Ich kann mich in jeder Situation hundertprozentig auf sie verlassen. Dieses Verhalten, einfach nichts zu sagen und einer Verabredung fernzubleiben, das passt nicht zu ihr. Das habe ich noch nie bei ihr erlebt.«
»Vielleicht hat sie ihr Handy verloren oder es ist ihr gestohlen worden?«
»Nein, dann würde sie eine andere Lösung suchen. Sie hätte auf jeden Fall einen Weg gefunden, mich zu kontaktieren.«
»Haben Sie mal im Krankenhaus nachgefragt?«
»Tatsächlich habe ich das, ja. Dort ist sie nicht.«
Jonker verschränkte die Arme und betrachtete den Mann, der ihm nun schon eine Viertelstunde seiner Zeit gestohlen hatte, etwas genauer. Er trug ein gestreiftes Hemd zum hellen Anzug, war mittelgroß, kräftig gebaut. Er hatte wenige grau melierte Haare, ein ausgeprägtes Doppelkinn und offenbar eine Vorliebe für animalisch duftendes Rasierwasser.
»Worum ging es in dem Streit?«, fragte der Polizist gelangweilt und rieb sich die juckenden Augen. Diese verdammten Nächte. Es war so anstrengend, eine eigene Familie zu haben.
»Ich habe nichts von einem Streit gesagt. Worum es in unserer Diskussion ging, weiß ich nicht mehr. Wenn es wichtig gewesen wäre, hätte ich es mir gemerkt.«
Sebastian Jonker unterdrückte ein Gähnen. Eine Stunde noch, dann hatte er Feierabend. Die musste er durchhalten, das würde er gerade noch schaffen, wenn er diesen Quälgeist bloß endlich los wäre. Dann würde er sich sofort aufs Ohr hauen. Und schlafen. Bis zum nächsten Morgen durchschlafen …
Der Unternehmer sprang auf. Seine Gesichtsfarbe hatte von Rot zu Grau gewechselt. »Guter Mann, jetzt hören Sie mir mal zu. Meine Frau hat sich nicht verspätet. Ihr ist etwas zugestoßen! Ich verlange von Ihnen, dass Sie ermitteln!«
»Setzen Sie sich bitte wieder, Herr Hinrichs. Ich verstehe, dass Sie aufgebracht sind. Aber glauben Sie mir, ich erlebe eine solche Situation nicht zum ersten Mal. Vielleicht braucht Ihre Frau gerade ein bisschen Abstand von Ihnen.«
Der Geschäftsmann deutete mit dem Zeigefinger auf ihn. »Hören Sie auf zu labern, Kommissar. Der Staat bezahlt Sie dafür, zu handeln und nicht untätig herumzusitzen. Ich bin sicher, meiner Frau ist etwas zugestoßen.«
Sebastian Jonker hatte genug. Die Müdigkeit übermannte ihn nun vollends. Schnell wandte er sich auf seinem drehbaren Schreibtischstuhl dem Computer zu, um seinen Zustand zu verbergen. »Ich kann leider nichts für Sie tun, Herr Hinrichs«, murmelte er. »Wie gesagt, das Recht auf Aufenthaltsbestimmung. Warten Sie ab, Ihre Frau wird sich schon melden.«
»Wissen Sie überhaupt, mit wem Sie es zu tun haben?«, fragte der Unternehmer.
Der junge Kommissar drehte sich zu ihm zurück. »Setzen Sie sich«, sagte er nun bestimmt.
»Ich kandidiere«, sagte Hinrichs und ließ sich auf einen Stuhl sinken, »für das Amt des Bürgermeisters. Ich bin Bauunternehmer, habe eine eigene Firma in Düsseldorf und hier auf Borkum. Ich werde mir Ihren Namen merken.« Er öffnete den obersten Knopf seines Hemdes und lockerte seine Krawatte. »Sollte ich gewählt werden, und danach sieht es aus, brauchen Sie mit nichts mehr anzukommen. Jeder Antrag bei der Gemeinde wird sofort abgeschmettert werden, dafür werde ich mich höchstpersönlich einsetzen! Ich könnte allerdings auch das Gegenteil bewirken«, fügte er mit einem schmalen Lächeln hinzu.
Jonker verschränkte die Arme. Mit finsterer Miene musterte er den Mann, der aufrecht vor ihm saß und ihm zu verstehen gab, dass er es nicht gewohnt war, zu verlieren. Wenn es stimmte, was Hinrichs sagte, musste er vorsichtig sein, denn er wollte im nächsten Jahr entweder bauen oder ein Häuschen kaufen. »Also gut«, lenkte Jonker seufzend ein, »wann und wo haben Sie Ihre Frau zuletzt gesehen?«
»Gestern Abend haben wir zusammen ferngesehen, dabei eine Kleinigkeit zu uns genommen. Gegen 22 Uhr ist Sabine zu Bett gegangen. Ich bin länger aufgeblieben, um eine weitere Sendung zu sehen. Als ich nach oben ging, fiel mir auf, dass sie für den nächsten Tag ihre Sportsachen herausgelegt hatte. Sie hat es sich zur Gewohnheit gemacht, bei gutem Wetter frühmorgens am Strand zu joggen, manchmal auch auf der Promenade. Als ich mich auf den Weg ins Büro gemacht habe, war sie schon fort. Die Sportsachen lagen nicht mehr auf ihrem Stuhl, also bin ich davon ausgegangen, dass sie schon das Haus verlassen hat. Ihr Fahrrad war auch nicht in der Garage. Meistens fährt sie mit dem Rad bis zur Promenade. Alles zu Fuß ist ihr dann doch zu weit.«
»Am Strand«, sagte der junge Mann und kaute auf seinem Bleistift. »Könnte es sein, dass sie schwimmen gegangen ist?«
»Ausgeschlossen.«
»Wie sehen die Sportsachen aus?«
»Dunkles Zeug. Dunkelrote Sportschuhe der Marke Asos. Brandneu. Die alten trägt sie nicht mehr zum Laufen.«
»Welche Schuhgröße hat Ihre Frau?«
»39.«
Der Polizist nickte und rieb sich die Nase. »Hat Ihre Frau gesundheitliche Probleme, eine Erkrankung des Herzens vielleicht? Ist da etwas bekannt?«
Steffen Hinrichs schüttelte den Kopf.
»Depressionen? Hat sie Suizidgedanken geäußert?«
»Nicht direkt. Aber sie war immer schon sehr ängstlich.«
Mit gerunzelter Stirn betrachtete der junge Beamte ihn. »Sie war ängstlich? Warum sprechen Sie in der Vergangenheitsform über Ihre Frau?«
»Entschuldigung, ein Versehen. Sie ist ängstlich, wollte ich sagen.«
Der Polizist musterte den Bauunternehmer misstrauisch. »Also gut«, sagte er endlich. »Habe ich Sie richtig verstanden, dass Ihre Frau gesundheitlich vorbelastet ist?«, versuchte Jonker dem Mann unter die Arme zu greifen. »Physisch und psychisch?«
»Wenn Sie das meinen …«
»Es stimmt doch«, wagte sich Sebastian Jonker noch einmal vor, »Ihre Frau ist auf medizinische Hilfe angewiesen, richtig? Ich kann sonst nicht für Sie tätig werden.« Eindringlich suchte er den Blick des Mannes.
Steffen Hinrichs atmete auf. »Ganz genau, auf medizinische Hilfe«, sagte er, während sich ein Lächeln auf sein Gesicht stahl.
»Ihre Frau braucht dringend wichtige Medikamente wegen ihres Herzens?«
Hinrichs Lächeln wurde breiter. »Ich sehe, wir verstehen uns. Schön, dass Sie mir helfen wollen. Wann beginnen Sie zu ermitteln?«
Sebastian Jonker griff zum Telefon.
Der Anfang war gemacht. Als Nächstes musste er seinen Sohn Frank in Düsseldorf und anschließend die Nachbarn informieren. Egal, wie die Geschichte mit seiner Frau ausging, es war enorm wichtig, dass er als Unternehmer und Bürgermeisterkandidat nicht ins Gerede kam. Es durfte ihm kein Fehler passieren, denn so nah war er seinem Ziel noch nie gewesen. In der nächsten Woche stand ein Termin für ein Interview mit einem wichtigen Redakteur der Borkumer Zeitung an. Schon einige Male hatte er vor dem Badezimmerspiegel geübt und war sich nun sicher, sein Anliegen überzeugend vortragen zu können.
Nachdenklich begab er sich zur Bar, schenkte sich einen Whiskey Soda mit viel Eis ein und setzte sich damit vor den kalten Kamin.
Er wählte die Nummer seines Sohnes und war erleichtert, dass Frank sofort dranging.
»Frank, gut, dass ich dich erreiche, Mama ist verschwunden«, sprach er atemlos ins Mobiltelefon, »kannst du kommen?«
Sein Sohn, der als Bauunternehmer in Steffens Düsseldorfer Firma tätig war, versuchte, ihn zu beruhigen. Er solle sich nicht aufregen, sondern in Ruhe einen Whiskey trinken und abwarten. Falls seine Mutter am nächsten Tag immer noch nicht zurück wäre, solle er sich melden.
»Du hast Nerven«, sagte Steffen. »Sie ist deine Mutter! Und den Whiskey trinke ich bereits. Nützt aber nichts.«
»Lass sie bitte in Ruhe. Mama möchte hin und wieder ihr eigenes Leben führen, denke ich. Dazu hat sie jedes Recht. Du engst sie viel zu sehr ein.«
»Hat sie das gesagt?« Steffen wunderte sich. Frank hatte sich von der Familie distanziert. Fremd waren sie sich geworden in den letzten Jahren. Zu unregelmäßig standen sie miteinander in Kontakt, zu verschieden waren mittlerweile ihre Lebensstile.
»Lass ihr ihren Freiraum, Papa, dann kommt sie bestimmt bald zurück zu dir. Ich muss jetzt weitermachen. Ich hab gleich einen Termin mit einem Kunden. Wir müssen ein Projekt durchgehen. Ich melde mich morgen bei dir. In der Zwischenzeit versuche ich es mal auf Mamas Handy, falls dir das weiterhilft.«
»Ich bin nicht blöd, Frank, da habe ich natürlich schon mehrmals angerufen. Das Handy ist ausgeschaltet.«
»Ich werde es trotzdem versuchen. Mach’s gut, Papa, bis morgen!« Frank legte auf und ließ seinen Vater ratlos zurück, allerdings nur für wenige Sekunden. Dann hatte Steffen sich wieder im Griff und war bereit, den nächsten Schritt zu gehen.
Auswendig tippte er eine Telefonnummer in sein Handy.
»Nicola Köhler«, sagte die Frau am anderen Ende der Leitung.
Er schmolz dahin. Er liebte diese Frau abgöttisch, bekam sofort ein Kribbeln am ganzen Körper. Vor allem meldete sich ein gewisses Körperteil, das bei Sabine oft versagte. Anfangs hatte er es als sehr belastend empfunden, er hatte sogar deswegen Hilfe bei einem Arzt gesucht. Später war es ihnen jedoch nicht mehr so wichtig gewesen. Aber seltsamerweise hatte es bei Nicola von Anfang an wunderbar funktioniert. Und auch jetzt wäre er wieder bereit für sie, so was von bereit!
»Engelchen«, sagte er und brach in Tränen aus.
Sie war erschüttert, wollte wissen, was los war. Er konnte nicht reden, er schaffte es nicht. So sehr hatte er sich inzwischen mit der Rolle des verlassenen Ehemannes identifiziert.
»Sie kommt sicher bald zurück«, versuchte Nicola ihn zu trösten.
»Nein«, brachte er mit tränenerstickter Stimme hervor. »Ich habe das im Gefühl, wirklich, Nicola, sonst würde ich dir das nicht sagen. Ihr ist etwas passiert. Sie wollte mich verlassen, das weiß ich schon länger, aber nun ist etwas geschehen, das nicht hätte geschehen dürfen! So haben wir es nicht gewollt, so nicht, nicht wahr?« Er schluchzte ins Telefon.
»Wie meinst du das?«, wollte sie wissen.
»Kannst du vorbeikommen?« Er schniefte laut.
»Das geht nicht, mein Mann ist zu Hause …«
»Lass dir etwas einfallen, Engelchen. Ich gehe mal eben zu den Nachbarn rüber. Sieh zu, dass du bald hier bist. Ich warte auf dich!«
»Was willst du denn bei den Nachbarn?«
»Ich liebe dich«, sagte er. »Sei bitte in zwei Stunden bei mir. Spätestens, ja?« Dann legte er auf. Er musste sich beeilen, die Nachbarin aufzusuchen, solange er in dieser Verfassung war. Das war wichtig. Später wäre er vielleicht nicht mehr imstande zu weinen.
Steffen Hinrichs bemühte sich um einen besorgten Gesichtsausdruck, bevor er die Klingel betätigte. Drinnen bellte Uwe, der Familienhund, der ihn nervte, weil die Nachbarin ihn manchmal in den Garten ließ und ihn lange Zeit nicht mehr hereinholte. Susanne Scholz, genannt Susan, öffnete und blieb erschrocken auf der Schwelle stehen, als sie seine Augen sah.
»Susan«, sagte er mit erstickter Stimme, »es ist etwas Schreckliches passiert, etwas ganz Furchtbares. Sabine ist verschwunden!« Seit dem nachbarschaftlichen Angrillen vor zwei Wochen duzten sie sich. Susan und Jan-Peter waren einige Jahre jünger als Steffen und Sabine und hatten keine Kinder. In finanzieller Hinsicht führten sie ein sorgloses Leben, weil Jan-Peter Geschäftsführer einer gut gehenden Reederei in Emden war.
Die Nachbarin runzelte die Stirn. Sie hielt den jungen Berner Sennenhund am Halsband fest, damit er nicht ausbüxen konnte. Sein Bellen ging allmählich in ein Keuchen über. »Was heißt das?«, wollte sie wissen.
»Sie ist wie vom Erdboden verschluckt. Ich kann sie nicht erreichen.«
»Es verschwindet keiner einfach so auf der Insel. Hast du es auf ihrem Handy versucht?«
»Natürlich.« Er begann zu weinen. Ihr Gesichtsausdruck zeigte überdeutlich, wie erschüttert sie war. Alles lief nach Plan.
»Und?«
Er machte eine hilflose Geste. »Kein Empfang. Nichts.« Er warf sich in ihre Arme. Ihr schien das unangenehm zu sein, sie hielt ihn ein wenig auf Distanz. Der Hund bellte und ließ sich nicht beruhigen.
»Komm rein«, rief sie, um das Gebell zu übertönen. Darauf hatte er gewartet.
Wenig später saßen sie nebeneinander auf der Couch im Wohnzimmer. Vor ihm stand ein Glas Sprudelwasser. Immer wieder seufzte er, gab vor, kaum sprechen zu können. »Ich war bei der Polizei«, stieß er schließlich hervor.
»Bei der Polizei? Wie lange ist Sabine denn schon weg?«
»Seit ein paar Stunden.«
»Ist das nicht ein bisschen früh?«, fragte seine Nachbarin zaghaft und murmelte eine Entschuldigung, als sie sein betroffenes Gesicht sah. Sie tätschelte den großen Kopf ihres Hundes und schien erleichtert zu sein, dass er sich entspannt hinlegte.
»Susan, ich mache mir wirklich Sorgen um meine Frau. Ich habe sie oft gewarnt, dass es gefährlich ist, allein in den Wald zu gehen, um zu joggen, noch dazu so früh am Morgen, wenn kaum jemand unterwegs ist. Aber sie wollte nicht auf mich hören.«
»Woher weißt du, dass sie im Wald war?«
Er antwortete nicht gleich. »Susan, sie hatte seit Längerem das Gefühl, verfolgt zu werden«, sagte er schließlich. »Da war ein Mann vor unserem Haus und der …«
»Den habe ich auch gesehen. Du meinst den Mann mit der Lederjacke, oder?«
Er nickte.
»Der wartete dort nur. Einmal hab ich beobachtet, wie der Sohn des Nachbarn von gegenüber aus der Haustür kam und die beiden zusammen weggegangen sind.«
»Bist du sicher?«
»Absolut. Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen.«
Es entstand eine kurze Gesprächspause, in der Steffen zum Wasserglas griff.
»Hast du der Polizei von dem Mann erzählt?«
»Nein, extra nicht. Ich habe mir schon gedacht, dass das nicht wichtig ist. Nur Sabine … du kennst sie ja, sie wird immer gleich panisch.«
»Du doch gerade auch. Sie ist erst seit ein paar Stunden weg, Steffen. Da hätte ich noch abgewartet.«
Er holte tief Luft. »Der Unterschied ist, wenn ich mir Sorgen mache, dann sind sie berechtigt. Ich habe keine Phobien wie meine Frau.« Er bemerkte Susans verständnislosen Blick und schickte hinterher: »Ich möchte sie suchen und fände es schön, wenn du mitkämst. Vielleicht kannst du Uwe mitnehmen, er könnte Sabine erschnuppern, falls sie …«
Susan verzog das Gesicht. »Du glaubst nicht im Ernst, dass ihr etwas zugestoßen ist? Sabine ist fit, sie läuft regelmäßig und fährt Fahrrad.«
»Vielleicht hat ihr jemand was angetan.«
»Steffen … ich bitte dich! Wir sind hier auf Borkum und nicht in Frankfurt oder Berlin. Was soll bei uns schon passieren?«
Steffen Hinrichs legte seinen Kopf auf ihre Schulter. Weinend flehte er sie an: »Hilf mir, bitte! Lass uns zusammen mit Uwe in der Greunen Stee nach ihr suchen. Ich habe so ein ungutes Gefühl. Die Polizei unternimmt nichts. Der Beamte hat mich nicht einmal ernst genommen.«
»Ich wollte eigentlich gleich einen Kuchen backen«, sagte sie zaghaft. »Jan-Peters Mutter hat morgen Geburtstag. Und deine Frau wird sicher gleich wiederkommen. Jetzt guck nicht so. Ihr wird schon nichts zugestoßen sein.«
»Ich habe eine Idee«, sagte er. »Ich hole ein Kleidungsstück von Sabine und lasse Uwe daran schnuppern. Danach gehen wir in den Wald und suchen sie.«
»Uwe ist kein Spürhund«, sagte Susan seufzend. »Dazu ist er viel zu träge und faul. Das wird nicht funktionieren.«
»Eine Stunde«, drängte er, »wenn wir sie dann nicht gefunden haben, gebe ich auf und überlasse es der Polizei, sie zu suchen. Ich gehe jetzt rüber und hole einen Pulli von meiner Frau. Du machst doch mit?«
Die Nachbarin schien sich in die Enge getrieben zu fühlen und nickte wenig begeistert. »Wir treffen uns gleich draußen«, sagte sie matt. »Aber sei mir bitte nicht böse, wirklich nur eine Stunde!«
Nach anderthalb Stunden meinte Susan, es habe keinen Sinn, sie würden Sabine nicht finden und vermutlich sei sie in der Zwischenzeit ohnehin längst zu Hause.
»Du weißt, dass das nicht so ist«, fuhr er sie an.
Sichtlich unschlüssig stand er vor einem Heckenrosengebüsch, dessen intensiver Duft ihm unangenehm in der Nase brannte. Wie ein süßliches Parfüm, mit dem sich jemand zu intensiv eingesprüht hatte.
»Steffen, lass es gut sein. Wir finden sie nicht. Ich komme mir auch merkwürdig vor, mit dir durch den Wald zu spazieren. Wenn uns jemand sieht! Du weißt doch, wie die Leute reden, das muss nicht sein. Ich bin hundertprozentig sicher, dass Sabine inzwischen wieder zu Hause ist und sich alles aufklären wird.«
Steffen Hinrichs ließ nicht locker. Er schlug vor, sich noch einmal ein benachbartes Waldstück hinter den Dünen vorzunehmen, er habe das Gefühl, dass sie dort sein könne, denn Sabine gehe oft dort spazieren.
Mit dem Berner Sennenhund an der langen Leine zogen sie weiter durch den Birkenwald. In der Nähe tuckerte die Inselbahn vorbei, die die Urlauber zurück zum Fähranleger brachte. Unzählige Male rief Steffen Hinrichs den Namen seiner Frau. Seine Stimme wurde immer höher, heiserer, verzweifelter. Uwe interessierte sich vor allem für andere Hunde, deren Geruch er von Weitem witterte.
Noch einmal zog der Bauunternehmer Sabines Pullover aus dem Rucksack, hielt ihn vor die Schnauze des stattlichen Hundes, um ihn daran schnüffeln zu lassen. Doch Uwe hatte andere Pläne. Aufgeregt hechelnd wedelte er mit der buschigen Rute, legte sich dann auf den sandigen Waldboden, um auf einen Labrador zu warten, der freudig auf ihn zusprang.
Plötzlich kam Steffen Hinrichs eine Idee. Als Susan nun vehement zur Eile drängte, hielt er sie nicht zurück, sondern ging mit strammem Schritt neben ihr her zum Ausgang des Wäldchens.
Wieder zu Hause setzte er sich mit seinem Handy an den Esstisch. Er wählte die Nummer der Polizeistation und war erleichtert, sofort Sebastian Jonker am Apparat zu haben.
»Ich weiß jetzt, wo sie ist«, sagte er atemlos. »In der Greunen Stee. Ich habe den Pullover meiner Frau unter einer Birke gefunden. Er war voller Laub und Ästchen. Ich hatte einen Hund dabei. Der hat die Spur von meiner Frau aufgenommen. Leider hat er sie irgendwann verloren. Ich bin mir nun ganz sicher: Meine Frau liegt irgendwo bewusstlos im Wald und braucht Hilfe. Wenn sie nicht sogar tot ist.«
Die polizeiliche Suche nach Sabine Hinrichs begann unmittelbar nach dem Anruf. Der junge diensthabende Beamte hatte seinen Vorgesetzten Lutz Dabelstein informiert. Der kam extra aus dem Urlaub zurück und beorderte eine Mannschaftsstärke mit Diensthunden zum Strand und in den Wald, um nach der Vermissten zu suchen. Als es dämmerte, schickte Dabelstein einen Hubschrauber mit einer Wärmebildkamera los. An sämtliche Radiostationen im norddeutschen Küstenraum gab er eine Personenbeschreibung durch: »Vermisst wird Sabine Hinrichs, geborene Knoke, 47 Jahre alt, 164 Zentimeter groß, leicht untersetzt, schulterlange dunkelblonde Haare, wahrscheinlich zum Pferdeschwanz gebunden. Sie trägt vermutlich dunkle Sportkleidung und dunkelrote Sportschuhe der Marke Asos. Die Frau benötigt dringend Medikamente. Wer die Frau gesehen hat oder etwas über ihren Aufenthaltsort weiß, soll sich bitte an die örtliche Polizeidienststelle wenden.«
Sanfte Sonnenstrahlen fielen zwischen den Birken des Borkumer Inselwäldchens Greune Stee hindurch und ließen das Moos darunter lichtgrün leuchten. Stundenlang hatte es geregnet, sodass die Pflanzen vor Nässe glänzten und der Waldboden weich und aufgelockert war. Eichen, Kiefern und Birken waren hier im Laufe der Jahre zu einem Wald angewachsen. Das ältere Paar war schon seit einer Stunde unterwegs, um zwischen knorrigen Kieferstämmen nach brütenden Vögeln Ausschau zu halten. Angenehm kühl war es hier, und es duftete nach Holz, Blüten und frischem Grün.
»Was für ein idyllisches Fleckchen Erde«, sagte Annerose Heilmann und ließ ihren kleinen Hund an einem Baum schnuppern. Ihre Fahrräder hatten sie am Rand der Greunen Stee abgestellt. Annerose hatte ein Fahrrad mit Hundekorb gemietet, damit sie den Zwergdackel auf ihren Touren mitnehmen konnte. »So viel Grün findet man auf keiner anderen Insel. Ein richtiger Wald zum Wandern und Erholen. Hättest du so etwas auf Borkum erwartet? Also ich nicht!« Sie warf ihren Kopf in den Nacken und schnupperte. »Ich mag den Geruch der Nadelbäume und ich finde die Heckenrosen mit ihren pinkfarbenen Blüten so schön, auch die sumpfigen Stellen mit Heide, Schilf und Rohrkolben, es ist so lauschig und malerisch. Wenn ein Maler versuchen würde, das auf seiner Leinwand einzufangen, würde man seine Bilder vermutlich kitschig finden.«
»Du sprichst mir aus der Seele«, sagte ihr Begleiter und sah sie lächelnd von der Seite an.
Plötzlich kreiste ein Hubschrauber über ihnen und blieb lange an einer Stelle in der Luft stehen, ehe er abdrehte.
»Die suchen jemanden«, meinte Walter Torlage, schirmte mit der Hand seine Augen ab und blickte Richtung Meer, wohin der Hubschrauber verschwunden war.
»Vielleicht wird jemand vermisst und ist am Ende im Meer ertrunken«, sagte Annerose mit besorgter Miene. »Das soll öfter vorkommen, habe ich gehört.«
»Wollen wir es mal nicht hoffen. Vielleicht ist auch nur ein Kind ausgebüxt. Nicht immer vom Schlimmsten ausgehen!«
Eine Weile vernahmen sie noch den rotierenden Motor des Hubschraubers, dann wurde das Geräusch leiser und war schließlich kaum mehr zu hören. Sie gingen weiter.
»Noch drei Tage«, sagte Walter bedrückt, »dann muss ich dich wieder loslassen.« Er seufzte und griff nach der Hand seiner Begleiterin. In ihrer anderen Hand hielt sie eine Schleppleine, mit der sie ihrem Rauhaardackel Emil Auslauf gönnte und ihn trotzdem unter Kontrolle hatte, denn als Jagdhund war er ihr schon mehrmals entwischt.
»Wie war das mit dem halb leeren und dem halb vollen Glas?«, fragte Annerose zwinkernd. »Freu dich doch, dass wir noch drei komplette Tage vor uns haben. Für andere Leute ist das der ganze Urlaub.«
Er wiegte den Kopf. »So gesehen ist das richtig, Schatz. Aber wie viel Zeit bleibt uns noch? Wie viele Sommer liegen vor uns, wie viele Winter? In meinem Glück schwingt auch eine Spur Wehmut mit, dass ich dir jetzt erst im hohen Alter begegnet bin und nicht schon in jüngeren Jahren. Was hätten wir alles miteinander erleben können, auf wie viel Gemeinsames könnten wir zurückblicken. Vielleicht wären wir Großeltern, wer weiß.«
Sie blieben stehen und küssten sich, während der Rauhaardackel plötzlich wie wild an der Leine zerrte.
Annerose Heilmann ließ die Hand ihres Begleiters los und wickelte die Leine auf, von der jegliche Spannung gewichen war. Das Halsband baumelte lose an deren Ende. Emil hatte sich losgerissen und war inmitten des Heckenrosendickichts verschwunden. Seine graue Fellfarbe machte es unmöglich, ihn darin zu sehen. »Emil!«, rief sie aufgebracht. »Kommst du wohl zurück, du Frechdachs! Frauchen wird böse. Hierher, du Schlingel, aber schnell!«
Ein Rascheln war zu vernehmen, dann ein Winseln. Kurz erschien Emils Kopf, um gleich wieder abzutauchen. Wieder und wieder rief sie seinen Namen, immer lauter, immer energischer. Der Dackel hörte nicht. Er hörte sowieso fast nie.
Zu zweit machten sie sich auf die Suche. Walter half Annerose, indem er Zweige niederdrückte, damit sie leichter darübersteigen konnte. Ein ganzes Stück hatten sie sich ins Gestrüpp vorgearbeitet. Er ächzte und schnaufte. So viel Anstrengung war er auf seine alten Tage nicht mehr gewohnt. Plötzlich prallten sie schaudernd zurück. Sie hatten den Dackel gefunden. Hechelnd und aufgeregt mit der dünnen Rute wedelnd fixierte er auf einer sandigen Anhöhe mit Sanddorngestrüpp und Dünengräsern einen Reisighaufen, aus dem eine weiße Hand ragte.
Kriminalkommissarin Swantje Brandt blickte von ihrem Schreibtisch in der Polizeidirektion Osnabrück auf, als es klopfte. Ihr Chef wehte mit seinem aufdringlichen Rasierwasserduft herein, an dem die Kollegen schon beim Verlassen des Fahrstuhls erkannten, ob er im Haus war oder nicht.
»Frau Brandt, ich möchte Sie um einen Gefallen bitten«, sagte er ungewohnt kleinlaut. Keine Spur von dem dynamischen Auftreten, das er normalerweise an den Tag legte.
»Ich muss auch mit Ihnen reden«, wagte sich Swantje vor. Sie wollte ihm ihren Versetzungsantrag so schonend wie möglich beibringen und suchte nach den passenden Worten. Sie erhob sich, um ihn zu den Besucherstühlen zu bitten.
»Frau Brandt, ich habe einen Anschlag auf Sie vor.« Oleg Bödecke fuhr mit seiner Hand über die toupierten Haare. »Sie haben mir gegenüber einmal erwähnt, dass Sie Ihre Kindheit und Jugend auf Borkum verbracht haben. Richtig?«
Swantje fuhr der Schreck in die Glieder. Worauf wollte er hinaus? Sie sollte doch nicht etwa dorthin versetzt werden? Das war nicht der Plan. In eine andere Großstadt würde sie gerne ziehen, aber nicht auf eine Insel. Die Zeiten waren vorbei.
»Wunderbar. Um es kurz zu machen, Frau Brandt, genau dahin möchte ich Sie schicken. Wir haben soeben einen Anruf aus Borkum bekommen, einen Hilferuf, wenn Sie so wollen. Die dortige Polizeistation hat uns um Unterstützung gebeten, weil das Revier krankheitsbedingt unterbesetzt ist. Es geht um ein Tötungsdelikt. Eine Frau mittleren Alters. Gefunden wurde sie in der Greunen Stee, einem Waldgebiet auf der Insel. Als Alt-Borkumerin kennen Sie sich da sicher aus. Die Kollegen gehen von einem Sexualdelikt aus, weil die Leiche halb nackt im Gestrüpp gelegen hat. Ihr Slip wurde ihr ausgezogen, er ist noch nicht wieder aufgetaucht – falls sie überhaupt einen getragen hat. Eine Hose hatte sie ebenfalls nicht an. Auch ihre Schuhe und Strümpfe muss jemand mitgenommen haben, denn der Ehemann hat ausgesagt, sie habe mit dunkelroten Laufschuhen der Marke Asos das Haus verlassen und diese nie barfuß getragen. Die Schuhe seien neu, sie habe sie erst im letzten Monat gekauft. Ich möchte Sie bitten, sich umgehend auf die Insel zu begeben.«
»Das ist unmöglich«, platzte Swantje heraus.
»Pardon?« Oleg Bödecke schien ehrlich verblüfft zu sein. »Was ist daran unmöglich? Soweit ich weiß, haben Sie keine Kinder zu versorgen, keine pflegebedürftigen Familienangehörigen in Ihrem Haushalt, nicht einmal einen Hund oder eine Katze. Borkum ist schön, besonders jetzt im Mai. Wo liegt das Problem?«
»Ich kann nicht so schnell weg«, sagte die Kommissarin unbestimmt. Ein wenig hatte sie gestottert, was sie ärgerte.
»Frau Brandt, ich bitte Sie …«
»Ich wollte Ihnen sowieso heute sagen, dass ich weggehe aus Osnabrück«, fiel sie ihm ins Wort.
Er wich zurück und sah sie mit einem Ausdruck des Entsetzens an. »Nanu? Wo wollen Sie denn hin?«
»Nach Berlin!« Eigentlich hatte sie nicht so mit der Tür ins Haus fallen wollen. »Hier ist der Versetzungsantrag.« Sie streckte ihm einen großen braunen Umschlag entgegen. Wenn überhaupt, dann würde sie in eine Stadt gehen, die groß genug war, um ihr Schutz in der Anonymität zu geben und um sie vergessen zu lassen. Und für einen Neustart war die Hauptstadt wunderbar geeignet.
»Berlin«, schnaubte er, »alle Welt will nach Berlin. Warum? Die Mieten sind gigantisch und das unruhige Leben ist nichts für Sie, Frau Brandt. In Berlin kann ich Sie mir nicht vorstellen. Die Kriminalitätsrate ist hoch, viel höher als im beschaulichen Osnabrück. Und Sie, Frau Brandt, seien wir mal ehrlich, sind nicht mehr die Jüngste.«
Einer seiner Lieblingssätze. Swantje zog unwillkürlich ihren rechten Mundwinkel nach oben. Bödecke war einige Jahre älter als sie, was er jedoch nicht wahrhaben wollte. Im Moment schien es so, als wäre das Alter sein größter Feind, mehr noch als alle Straftäter Osnabrücks zusammengenommen. Dabei könnte ihr Chef jünger aussehen, wenn er sich nicht die Haare dunkel tönen und versuchen würde, ihnen mit Haarspray mehr Fülle zu geben. Seine Augenbrauen könnten auch gefärbt sein, denn sie passten farblich nicht zu seinem Kinnbart. Neuerdings schien er sich sogar Botox spritzen zu lassen, sein Gesicht sah partienweise viel zu glatt und gleichzeitig weniger interessant aus. Sie hatte ihn wohl einige Sekunden zu lange betrachtet, denn er räusperte sich und blickte auf den Tisch, auf dem nichts lag.
»Genau, nach Berlin. Mein Mann hat etwas Interessantes an der Charité in Aussicht«, log sie, »mit hervorragenden Karriereaussichten, trotz seines vorgerückten Alters. Aber er fühlt sich fit. Ebenso wie ich. Mit dem Älterwerden lassen wir uns noch Zeit. Er ist Arzt und … ähm …« Der letzte Satz stimmte. Arzt war er tatsächlich. Holger praktizierte zusammen mit einer Kollegin in einer Hals-Nasen-Ohren-Praxis am Schölerberg. Genau in diese Kollegin hatte er sich verliebt. Sie war zehn Jahre jünger als Swantje, zehn Kilo leichter und um einige Nuancen blonder. Das übliche Klischee eben.
Außerdem kleidete sie sich modisch feminin und nicht so unauffällig wie Swantje, die sich am wohlsten in den Farben Blau und Weiß fühlte. Praktisch war es obendrein, denn so konnte sie nach Belieben kombinieren und fand auf Anhieb passende Kleidungsstücke in ihrem Schrank.
»Tun Sie Ihren Job, Frau Brandt, bleiben Sie schön hier. Das heißt, erst einmal tuckern Sie ganz gemütlich nach Borkum!«
Swantje wandte aus einer Übersprungshandlung heraus ihren Kopf ruckartig nach rechts zum Fenster hin. Die regennassen Dächer und den verblühten Kastanienbaum nahm sie kaum wahr. Sie wusste nicht, was sie ihrem Chef entgegensetzen sollte.
»Liebe Kollegin, Sie sind die perfekte Person für diesen Job. Ich wüsste niemand Geeigneteren, den ich dort hinschicken könnte. Sie kennen die Insel wie Ihre Westentasche, Sie kennen die Borkumer, ihre Mentalität und Gewohnheiten und wissen mit ihnen umzugehen.«
Sie versuchte ihm mit einem Blick zu vermitteln, wie penetrant und grenzüberschreitend sie ihn fand.
»Wenn Ihr Ehegatte unbedingt nach Berlin will, Frau Brandt, dann lassen Sie ihn ziehen. Eine Fernbeziehung schadet nicht, wenn man schon so lange verheiratet ist, im Gegenteil, oft bereichert die Entfernung die Ehe.« Er grinste schmallippig. »Und zwischen Osnabrück und Berlin gibt es eine ausgezeichnete Zugverbindung. Nur drei Stunden im Intercity, ohne Umsteigen, was will man mehr!«
»Das meine ich nicht. Darum geht es nicht.« Erst vor Kurzem war sie auf Borkum gewesen. Die Auszeit hatte sie dringend gebraucht nach der völlig unerwarteten Trennung von ihrem Mann. Wenige Tage vor Weihnachten hatte Holger ihr beim Morgenkaffee mitgeteilt, dass er sich in eine andere Frau verliebt habe und mit ihr zusammenleben wolle. Holger hatte nie besonders viel Feingefühl besessen, aber diese Eröffnung hatte ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Es war ein Schock gewesen, von dem Swantje sich längst noch nicht erholt hatte. Hätte es diesen Bruch in ihrem Leben nicht gegeben, der zu ihrer spontanen Reise über Ostern nach Borkum geführt hatte, wäre die Sache mit Arne nicht passiert. Vieles wäre ihr erspart geblieben. Sie wusste nicht, wie es dazu hatte kommen können, dass sie – eine rational denkende, vernünftige, planende, eher ruhige Frau in den mittleren Jahren – sich zu einer unüberlegten heißen Affäre mit einem ostfriesischen Strandkorbvermieter hinreißen lassen hatte.
»Ein paar Stunden Zeit«, sagte Bödecke, »lasse ich Ihnen zum Packen. Ich verstehe ja, dass man in Ihrem Alter nicht mehr ganz so flexibel ist. Deshalb können Sie morgen früh in aller Ruhe fahren.«
»Nein, Herr Bödecke! Wirklich nicht. Fragen Sie jemand anders, ich habe im Moment anderes zu erledigen.«
Oleg Bödecke atmete tief durch. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißtropfen, die er mit einem Stofftaschentuch wegwischte. »Dies ist eine offizielle Dienstanweisung: Stellen Sie bitte unverzüglich einen Reiseantrag bei Frau Ehrlich. Selbstverständlich ersetzen wir Ihnen alle Kosten für Fähre, Frühstückspension, Mahlzeiten, Kurtaxe und so weiter. Sie müssen sich um nichts weiter kümmern, nur Ihren Koffer packen. Sie haben nichts anderes zu tun, als sich morgen früh in Ihr Auto zu setzen, das Navi zu programmieren und rechtzeitig die Fähre in Emden zu erwischen.«
»Was weiß man über die Tote?«, gab sich Swantje ermattet geschlagen.
Bödecke entspannte sich sichtlich. Er zog ein gefaltetes Papier aus seiner Brusttasche. »Es handelt sich um Sabine Hinrichs, die Frau des Bauunternehmers Steffen Hinrichs. Womit sie getötet wurde, weiß man noch nicht. Leider hat das Paar, das die Leiche entdeckt hat, dies erst heute Morgen zur Anzeige gebracht, obwohl es sie gestern Abend bereits gefunden hat. Sehr bedauerlich, wenn man bedenkt, wie viele Spuren in der Zwischenzeit verwischt worden sind, aber es sind ältere Leute, da muss man etwas Nachsicht walten lassen. Die sind wohl geistig nicht mehr so fit. Sie werden mit den Herrschaften schon umgehen können, feinfühlig, wie Sie sind.«
Swantje betrachtete den schlechten Ausdruck eines Fotos. Das Erste, was ihr auffiel, waren die roten Früchte eines Sanddornbusches. Dann wanderte ihr Blick zu der Frau, die barfuß daneben lag. Schmutzspuren im Gesicht, auf dem Körper und auf der Kleidung zeugten davon, dass der Täter sie mit Gestrüpp zugedeckt hatte. Ein rot-weißes Absperrband der Polizei und kleine Plastikschildchen, die in der Erde steckten, kennzeichneten den Bereich.
»Todeszeitpunkt gestern zwischen 8 und 11 Uhr«, teilte Bödecke sachlich mit. »Genauer lässt sich das noch nicht sagen. Äußerlich wurde keine Verletzung festgestellt. Eine Tatwaffe wurde nicht sichergestellt, obwohl die Kollegen den Tatort in einem Umkreis von etwa 1.500 Metern abgesucht haben.«
»Die Namen der Zeugen sind bekannt?«
»Selbstverständlich. Nähere Einzelheiten erfahren Sie vor Ort.«
»Vor Ort«, murmelte Swantje, »natürlich.«
»Sie nehmen«, sagte Bödecke schwer ausatmend, »die AG Ems um 11 Uhr. Sobald Sie sich in Ihrer Pension eingerichtet haben, finden Sie sich auf der Borkumer Polizeistation ein. Die Adresse ist Strandstraße 11. Man erwartet Sie dort bereits mit Ungeduld.«
»Werde ich dort allein sein?«
»Was meinen Sie mit ›allein‹?«
»Ob es noch jemanden gibt, der an dem Fall arbeitet.«
»Natürlich. Die Kollegen vor Ort werden Sie so weit wie möglich unterstützen. Die wenigen, die noch fit sind«, fügte er hinzu.
»Für wie lange soll das etwa sein?«, wollte sie wissen und hätte jetzt gerne einen Schnaps gehabt.
»So lange, wie es dauert. Vielleicht ein paar Tage, vielleicht auch Wochen. Bis zu Ihrem nächsten Urlaub sollten Sie den Fall gelöst haben, Frau Brandt, ich bin fest davon überzeugt, Sie schaffen das! Und wenn nicht, dürfen Sie sich trotzdem auf Ihren wohlverdienten Jahresurlaub freuen. Bis dahin ist die Borkumer Mannschaft sicher wieder komplett.«
Der Mann hatte einen guten Humor. Sie würde unweigerlich dem Strandkorbvermieter über den Weg laufen. Darauf könnte sie gut und gerne verzichten.
Sie war so tief in Gedanken versunken, dass sie nicht mitbekam, wie Bödecke aufstand und ihr Büro ohne Gruß verließ. Zurück blieb der Geruch seines moschusartigen Aftershaves.