Deine Wahrheit ist der Tod - Andrea A. Walter - E-Book
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Deine Wahrheit ist der Tod E-Book

Andrea A. Walter

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Beschreibung

Ein Psychothriller der besonderen Art: intensiv und bedrohlich . . . Klara Adam ist nach dem Tod ihrer Eltern Alleinerbin eines Wachauer Weinimperiums.Als sie Jonas kennenlernt, scheint ihr Leben eine glückliche Wendung zu nehmen. Doch kaum lässt sie sich darauf ein, häufen sich seltsame Vorkommnisse. Klara geht es körperlich und psychisch zunehmend schlechter. Erscheinungen ihrer herrischen Mutter und das Eindringen eines Fremden in ihr Anwesen bringen sie an den Rand des Wahnsinns. Entspringen die Geschehnisse ihrer Phantasie, oder treibt jemand ein perfides Spiel mit ihr? Und welche Rolle spielen dabei Jonas und ihre Halbschwester Marisa?

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Andrea A. Walter wurde 1980 in Melk geboren, lebte seitdem in Krems und in München. 2011 zog die ausgebildete Sozialpädagogin mit ihrer Familie zurück in die Wachau. Inspiriert von der Landschaft und den Menschen, schreibt sie regional angesiedelte Kriminalromane und Psychothriller.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2024 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, unter Verwendung der Motive von shutterstock.com/grafxart, shutterstock.com/Bernulius

Lektorat: Julia Lorenzer

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-219-2

Thriller

Aktualisierte Neuausgabe

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »In vino veritas – Deine Wahrheit ist der Tod« bei Books on Demand.

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Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

In Wirklichkeit erkennen wir nichts,denn die Wahrheit liegt in der Tiefe.

Demokrit

PROLOG

Das Meer tost in der Dunkelheit.

Ruhelos. Schäumend. Ein wütendes Rauschen aufgebäumter Wellen. Es flutet die Bucht und brandet gegen die Felsen.

Ich bin fast am Ufer angelangt und stelle den Motor des Dingi-Bootes aus. Ich lasse es darauf ankommen. Spiele das Roulette des Meeres. Ergebe mich seinen Regeln.

Hier in der Bucht hat sich der Sturm gelegt, aber die Wellen sind mächtig genug, um alles zu verschlingen, was es zu verschlingen gibt. Sie drücken sich gegen das Dingi, spielen mit ihm, spielen mit mir. Einmal devot und zärtlich, dann heftig und wild wie der Rhythmuswechsel im Liebesspiel. Ich verliere mich in den Schaukelbewegungen und rutsche weiter ins Boot.

Salzige Gischt dringt in meinen Mund und lässt meine Zunge taub werden. Ich schlucke, blicke zurück auf das Meer, diesen endlosen schwarzen Teppich.

Die Kälte ist tief unter meine Haut gekrochen, ist mit mir verwachsen. Eine lähmende Ruhe durchströmt meinen Körper, der kurz zuvor voller Adrenalin war. Flut und Ebbe in meiner Brust.

Ich habe das Bedürfnis, meinen Kopf anzulehnen, die Augen für einen Moment zu schließen. Ich möchte ausblenden, was war, viel mehr noch das, was sein wird. Es gibt nur mich, das Schaukeln des Bootes und den Schwindel, der alles dämpft und meine Ohren wattiert. Doch es gibt keine Zeit zum Ausruhen. Die Kleidung klebt an mir. Eng, nass. Ich werde mir den Tod holen, wenn ich nicht zusehe, dass ich ins warme Haus komme. Dort, wo das Leben weitergehen wird.

So oder so.

Jetzt, wo ich die Lichter von Paolos Haus erkenne, flackert ein kleiner Überlebenswille in mir auf. Ich strecke mich nach dem Motor. Mit tauben Fingern öffne ich Benzinhahn und Luftzufuhr, ziehe den Choke und reiße die Anlasserschnur. Der Motor heult und bäumt das Rettungsboot gegen die Wucht des Ozeans auf.

Das Land will mich nicht mehr haben.

Bleib draußen, peitscht mir der Wind entgegen. Du hast hier nichts zu suchen.

Meine ersten Schritte versinken im Sand, werden überspült und unsichtbar. So als hätte es die letzten Stunden nicht gegeben, als gäbe es mich nicht. Ich wage einen Blick zurück. Die Schaumkronen glitzern unter dem Mondlicht, locken verheißungsvoll, flüstern meinen Namen, rufen mich zu sich.

In einem Moment des Widerstandes ducke ich mich unter den näher kommenden Lichtblitzen. Dann höre ich auf zu denken und renne in Richtung Paolos Haus, wo mich eine Gruppe von Menschen, die ich nie zuvor gesehen habe, mit Taschenlampen und Laternen in Empfang nimmt. Eine Frau zerrt an meiner Rettungsweste, eine andere befreit mich von den nassen Kleidern. Ich spüre eine kratzige Wolldecke auf meiner Haut. Fremde Hände. Fremde Stimmen. Überall Worte und Gesten der Zuversicht und des Trostes.

Ich stehe da, lasse die Dinge um mich herum passieren, spüre Paolos Blick. Ich meine, eine Träne in seinen Augen entdeckt zu haben, aber Männer wie Paolo weinen nicht.

Unsere Blicke treffen sich und verhaken sich ineinander, bis er mir zunickt und sich mit der Gruppe von Helfern auf den Weg macht.

Auf dem Grund der Meere liegen seit Jahrtausenden die Wracks der Schiffe, die aufgebrochen waren, um die Welt zu erobern, und die Knochen derer, die diese Schiffe einst steuerten. Das Meer ist in all seiner Schönheit Quelle des Lebens und riesiger Friedhof zugleich.

Heute Nacht hat es meine Eltern verschluckt, und es wird sie nicht mehr hergeben.

1

Ein Jahr später

Der Wind ist für diese Jahreszeit zu warm, bläst mir wie ein Föhn ins Gesicht und lässt meinen Pony senkrecht stehen. Die Sonne brennt auf meiner Stirn, und auf meiner Oberlippe bildet sich ein salziger Schweißfilm. In spätestens drei Tagen werde ich mir Hautfetzen im Gesicht abziehen können.

Meine Füße bewegen sich schwammig über den Krankenhausparkplatz.

Den Riemen der Tasche über der Brust zusammengezogen, wappne ich mich für den Fußmarsch. Zwei Kilometer muss ich zurücklegen, bis ich wieder in der Innenstadt bin. Ich kneife die Lider zusammen und taste den Inhalt meiner Tasche nach einer Sonnenbrille ab. Natürlich habe ich keine dabei. Stattdessen berühren meine Finger die Einzelteile eines Kugelschreibers, einen zwei Jahre alten Flyer, der die Neuerscheinung eines Buches ankündigt, das ich längst in einer Rezension zerrissen habe, und die klebrige Spitze eines offenen Lippenpflegestiftes.

Meine Armbanduhr zeigt an, dass der nächste Bus in zwei Minuten abfährt. Anstatt in Richtung Bahnhof loszurennen, zweige ich in die Fußgängerzone ab.

Mit der Melancholie eines Betrachters lasse ich die Eindrücke auf mich wirken. Ein brabbelndes Baby, Lachende, Verliebte, Flanierende, Gehetzte, die ihren Kaffee aus Pappe trinken, und Geschäftsinhaber, die sich quer über die Straße unterhalten, um sich die Zeit der Hitzeflaute zu vertreiben. Selbst hier zwischen den historischen Häusern mit den Stuckfassaden, in den Gassen mit Kleinsteinpflaster und schmiedeeisernen Schildern liegt der Gärgeruch von Wein. Jedes Geschehen mündet früher oder später in ihm. Ohne ihn würde alles stillstehen. Er ist die Ursprünglichkeit, das Leben, das Blut in den Venen der Stadt und der gesamten Region. Wenn man die Augen schließt, dann mischt sich ein weiterer Geruch dazu. Der Geruch der Donau. Zum einen der, der als moderiges Gedenken in den feuchten Wänden vieler Häuser sitzt und an die Unerbittlichkeit des Wassers erinnert. Zum anderen ihr lebendiger Duft, der sich im Sommer wie ein kühlender Schutzmantel über die Dächer legt und im Winter die Kälte abschirmt. Und da sind die Menschen, dieses gemischte, eigentümliche Volk aus Mittfünfzigern in Poloshirts und Studierenden.

Der Kremser Trubel ignoriert mich, umspült mich wie Wasser eine Flussinsel. Kurz überkommt mich Unbehagen, kriecht an mir hoch und legt sich kalt auf meine Kopfhaut. Mir ist, als liefe jemand mit der gleichen Geschwindigkeit durch die Gassen wie ich. Es ist die stille Gegenwart eines Schattens, der mich verfolgt.

Ich halte an, drehe mich langsam um. Alles bleibt in Bewegung. Eine alte Dame, die an der Leine ihres Terriers zerrt. Ein Mädchen mit Haaren bis zum Po, das aufgeregt auf ihrem Smartphone herumwischt. Eine Frau mit Zwillingskinderwagen. Ein Bursche, aus dessen Rucksack Technobeats dröhnen, zu denen er sich tänzelnd fortbewegt. Dutzende Menschen, die mit einem Eis oder mit Einkaufstaschen in unbeschwerter Ziellosigkeit herumlaufen. Doch etwas fehlt plötzlich. So als wäre dem Sternbild Orion der Riesenstern Beteigeuze abhandengekommen. Auf den ersten Blick scheint alles normal, aber etwas ist falsch. In die Rückblende meines Bewusstseins schiebt sich das Bild einer Kontur, die im Arkadengang neben mir verschwindet. Ich atme tief durch und reihe mich wieder in den Strom der Passanten ein.

Die Augen auf die Ampel gerichtet, warte ich am Zebrastreifen. Sie springt auf Grün, und zusammen mit einer Touristengruppe überquere ich die Straße. Ein Dunst aus Zwiebeln, Pizza und Teer umhüllt mich. Es folgt der Geruch eines Parfums, dessen Unternote an Mottenkugeln und Dachboden erinnert. Ich schüttle den Kopf, als könnte ich meine Abneigung durch bloßes Verneinen vertreiben. Das ist eine Sache, die ich an der Stadt hasse. Diese permanente unaufgeforderte Nähe zu fremden Körpern und fremden Ausdünstungen. Eine meiner unzähligen Marotten, die in Summe das Psychogramm einer ausgewachsenen Sozialphobie darstellen, aber so genau will ich es gar nicht wissen.

Ich winde mich entlang der Fassaden, quetsche mich vorbei an Einkaufswütigen, Smartphone-Zombies und Touristen. Sämtliche Landessprachen dieser Welt verwickeln sich zum Sprachknäuel, bilden mit dem Gurren von Tauben und dem Motorenbrummen die städtische Geräuschkulisse.

Urlaub, Reisen. Wie lange ist es her? Zu lange. Fernweh verkeilt sich in meiner Brust. Verrückt, wenn man an einem der schönsten Orte der Welt lebt.

Ich sehe Bilder vor mir, gehe in Gedanken meine Liste der Orte durch, die zu besuchen ich mir vorgenommen habe. Venedig. Lake Taupō. Land’s End. In wenigen Stunden könnte ich überall auf der Welt sein. Aber ich bin ein Mensch, der sich von kurzen Impulsen und aufflackernden Ideen nährt wie eine Gelse von menschlichem Blut.

Im Kaffeehaus am Bahnhofsplatz habe ich freie Platzwahl. Ein Glück für mich, dass die anderen Gäste den Garten bevorzugen. Ich entscheide mich für einen Tisch, von dem aus ich das Geschehen draußen gut im Blick habe. Mit von mir gestreckten Beinen fläze ich mich auf die Bank und unterdrücke wiederholt ein Gähnen. Mein Eistee kommt prompt. Die kalte Flüssigkeit ist eine Wohltat. In einem Zug ist das Glas geleert. Ich hebe meine Hand, um der Bedienung zu bedeuten, mir noch einen zu bringen, doch in diesem Moment weckt etwas meine Aufmerksamkeit.

Es ist ein dunkler Lockenkopf außerhalb der spiegelblanken Fensterfront, dessen Blick für den Bruchteil einer Sekunde zu mir schweift. Dann ist er weg. Ich ertappe mich dabei, in einer eingefrorenen Bewegung hinauszustarren, bis ich das Gefühl habe, eine psychedelische Scheibe vor mir zu haben.

Da ist er wieder. Haselnussbraune Augen, sportlicher Körperbau, ein breites Lächeln, das eine Reihe blitzweißer Zähne preisgibt. Ich schätze ihn auf Anfang, höchstens Mitte dreißig. Eine Papiertasche baumelt an seiner Armbeuge. Das Logo des Buchgeschäftes, das darauf zu erkennen ist, entgeht mir nicht. Früher habe ich dort oft eingekauft, bevor ich damit begonnen habe, alles online zu bestellen und bis ans Tor meines Anwesens liefern zu lassen.

Was liest ein Mann wie er?, frage ich mich unvermittelt. Ich tippe auf historische Romane mit einer Präferenz fürs Mittelalter. Vielleicht auch nur triviale Spiegel-Bestseller oder die Tageszeitung. »Welche Bücher liest er?« sei das »Wie groß ist wohl sein Penis?« der Sapiosexuellen, habe ich von einem Facebook-Meme gelernt.

Der Fremde zückt eine Kamera, richtet das Objektiv auf den Hund mit Wuschelfell, der vor dem Eingang liegt. Er bewegt sich so gedankenverloren, dass er rücklings in eine alte Dame stolpert. Seine Lippen formen das Wort »Sorry«, und er legt in einer entschuldigenden Geste seine Hand auf ihre Schulter.

Dann ist er zum zweiten Mal verschwunden, lässt mich zum zweiten Mal mit einem Gefühl zurück, das ich nicht auf Anhieb benennen kann.

Es ist ein uneingelöstes Versprechen, das über mir schwebt.

2

Der Bus rollt die mit Marillenblüten gesäumte Straße entlang. Anbauflächen auf Löwenzahnteppichen erstrecken sich bis an den Rand der Donau, wo Weiden mit Obstbäumen verschmelzen. An dieser Stelle verläuft die Straße als schmaleres graues Abbild im Gleichklang mit dem Fluss. Ich sehe hoch zu den Steilhängen. Trockenmauern schneiden das Grün in geometrische Formen.

Der Busfahrer nimmt mich im Rückspiegel ins Visier. Ich fische mein Smartphone aus der Tasche. Zu spät.

»Ganz schön voll heute«, schnaubt er und fährt sich mit der Handfläche über den feuchten Nacken.

Nickend bejahe ich und bekunde mit einem Augenrollen Solidarität. Ich bin kein Small Talker. Ich habe genug davon, habe dieses ganze Gewäsch hinter mir. Samstagmorgen-Brunches und Geschäftsausflüge mit mir Unbekannten. Nicken, lächeln, Banalitäten austauschen.

Ich dränge mich gegen die kühle Fensterscheibe und schaue in ein Gesicht, das mir zunehmend unangenehmer wird. Feine Linien an den Rändern meiner Augen, die kaum noch als Lachfältchen durchgehen, das brünette Haar nicht mehr so glänzend wie früher. Der Teint selbst in der Spiegelung der Scheibe fahl. Irgendwie verblüht. Wie ein in die Jahre gekommener, abgewetzter Schmöker, der mit dem Cover einer Neuauflage nicht konkurrieren kann. Ein Alterungsprozess, der mit siebenunddreißig zu früh eingesetzt hat.

Die menschliche Vergärung kommt so schleichend, so hinterlistig, dass es einen unerwartet trifft. Ich denke an Rotweine, die erst nach jahrelanger Lagerung im Eichenfass ihre perfekte Note erreichen. Aber wie bei uns Menschen gelingt das nur den Guten, den Hervorragenden. Schlechte Weine werden im Alter nicht besser. Sie werden – wie ihre Trinker – säuerlich, ausgezehrt und ausgetrocknet.

»Sie sind doch die Adam-Tochter. Lena, oder?«

»Klara«, entgegne ich knapp und widerstehe dem Impuls, ihm meinen Mittelfinger zu zeigen. Klara ist unbedeutend. Klara ist ein Fragment, ein Teilchen. Ich bin da, aber man sieht mich nicht. Man erinnert sich nicht an mich. Man erinnert sich an Adam-Weine und an meine Eltern – vor allem an meine Eltern. Sie sind das Maß, an dem andere mich messen. Ich bin tief begraben unter ihrem Vermächtnis, bekomme darunter kaum Luft.

»Termine?«

Ich nicke. »Ja.«

»Da haben Sie sich ja das perfekte Wetter ausgesucht.«

Es ist für mich nicht abschätzbar, ob seine Aussage ironisch gemeint ist. Er stöhnt erneut auf.

Eine Welle der Übelkeit überrumpelt mich. Die Worte »Während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen« verschwimmen zum Aquarell. Ich versuche, sie wegzuzwinkern.

»Meine Frau war vorige Woche in einer Ihrer Wein-Boutiquen. Endlich mal eine Shoppingtour, von der auch ich etwas habe, abgesehen vom Minus am Konto.«

Der Fahrer lacht, weist im nächsten Moment einige Schüler an, die Füße von den Sitzen zu nehmen, und ist dann wieder ganz bei mir. Allmählich habe ich den Eindruck, dass er seinen Blick zu sehr auf mich richtet. Hoffentlich fährt er uns nicht in den Graben.

»Haben Sie schon die Ausstellung ›Wein, Weib und Malerei‹ besucht? Das müsste doch was für Sie sein.«

Klingt sexistisch, will ich antworten. Zudem ist die Idee nicht neu. »Wein, Weib und Gesang«. Johann Strauss’ Walzer von 1869. Ich hatte in den letzten Jahren viel Zeit zum Lesen, bin ein Sammelsurium an unnützem Wissen. Die perfekte Kandidatin für »Die Millionenshow«, wie meine Mutter gern herumerzählte.

»Noch nicht«, sage ich. »Aber wir haben die Ausstellung für das kommende Wochenende eingeplant.« Aus unerfindlichen Gründen erröte ich. Er kann nicht wissen, dass ich keine Ahnung vom Inhalt dieser Ausstellung habe. Er kann auch nicht wissen, dass sich meine Wochenendaktivitäten zumeist auf Sofa und Video-Streaming beschränken, wobei die eigentliche Beschränkung nur hinsichtlich der zu kleinen Auswahl an Filmen besteht. Er kann schon gar nicht wissen, dass es kein Wir in meinem Leben gibt.

Ich senke den Blick und richte die Augen auf meine im Schoß verschlungenen Hände. Der Busfahrer setzt an, noch etwas zu sagen, aber seine Worte verklingen im Refrain eines Lady-Gaga-Liedes, das einige Kinder in den hintersten Reihen anstimmen.

Meine Schritte knirschen auf dem Kies, als ich mich die Straße hochkämpfe. Die Temperatur ist noch einmal kräftig angestiegen. Ich fühle mich mit jeder Bewegung schwächer und würde mich am liebsten an Ort und Stelle hinsetzen. Auf meinem Shirt breiten sich nasse Schweißränder aus, und der Pony klebt platt an meiner Stirn. Seufzend betrachte ich den Weg vor mir. Eine schmale Zufahrtsstraße gräbt sich zwischen einer Allee aus Laubbäumen hindurch, windet sich zu meinem Anwesen hoch. Der Weg ist mit sandfarbenem Kies bedeckt und mündet hinter dem hohen Eisentor in Natursteinpflaster.

Mein Haus liegt eindrucksvoll über der Straße, gibt von unten den Blick auf einen Teil des Dachgiebels und auf die verglaste Galerie frei. Gerade so viel, um Begehrlichkeiten und Neugier bei Vorbeifahrenden zu wecken.

Meine Eltern haben dieses Grundstück vor vielen Jahren gekauft, samt architektonischem Betonhaus aus den frühen Neunzigern. Doch ihr Interesse galt nicht in erster Linie dem Haus. Es galt dem steilen Gelände, den Rebflächen. Das stahlgraue Hauptgebäude wurde zur Villa mit Mittelmeerflair umgebaut. Flach geneigtes Zeltdach mit rustikalen Mönch- und Nonnenziegeln, Arkadengang, warmer Kalkputz, dazwischen mediterrane Klinkerverblendung. Sogar die minimalistische Verglasung, das Relikt der ursprünglichen Bauweise, fügt sich stimmig ein, lässt das Innere des Hauses mit Lavendel, Schönmalven und Kletterrosen verschmelzen.

Das schmiedeeiserne Tor öffnet sich per Fingerscan. Mir fällt wieder ein, dass ich Lorenz daran erinnern muss, den Motor des Fußgängereinganges reparieren zu lassen.

Beim Durchschlüpfen ziehe ich ein kleines Paket mit Briefen aus dem Postkasten.

Hier drinnen kann ich durchatmen. Mein Zuhause ist wie der Schoß einer liebevollen Mutter, den ich nur ungern verlasse. Ich habe zur Beschaulichkeit gefunden, fühle mich als Außenseiterin der Gesellschaft gut aufgehoben in meinem Mikrokosmos. Dabei hatte ich nicht vor, dauerhaft in das Adam-Haus, wie man es hier nennt, zurückzukehren. Es ist ein Wendepunkt, ein neues Kapitel. Season drei, wenn mein Leben eine Netflix-Serie wäre.

Das erneute Aufeinandertreffen mit diesem Haus begann zaghaft. Wie eine alte Freundschaft aus Grundschulzeiten, die irgendwann unter der Last des Erwachsenwerdens Risse bekommen hatte, die es zu kitten galt, ehe wir uns wieder unvoreingenommen aufeinander einlassen konnten.

Ich verbrachte Stunden in jedem Winkel des Anwesens, lernte zum ersten Mal die Ruhe an diesem Ort kennen, der bis dahin als Schauplatz der feinen Gesellschaft fungiert hatte. Ich breitete meine Picknickdecke dort aus, wo einst Roben über den Kies geschliffen worden waren, wie man sie für gewöhnlich am Opernball sah. Wo kleine Stelldicheins zwischen Fremden so gesellschaftstauglich gewesen waren wie Champagner zum Frühstück oder das Anreisen eines Ehepaares im jeweils eigenen Bentley.

Die ersten Nächte waren von einer Stille durchzogen, die durchdringender war als jeglicher Stadtlärm. Ich fühlte mich umgeben von einem permanenten weißen Rauschen. Inzwischen ist mein Gehör für die leisen Spektakel um mich herum sensibilisiert. Ich vernehme Geräusche, die ich früher nie gehört habe. Igel, die nachts in ihren Laubhaufen wühlen, Äskulapnattern, die sich über feuchtes Gras schlängeln.

Die Pforten sind geschlossen. Abendempfänge und Dutzende Gäste gibt es nicht mehr. Sperrstunde. Wenn die Flügel des Eingangstores hinter mir ins Schloss fallen, gibt es keinen Ort auf der Welt, an dem ich mich sicherer und beschützter fühle als hier.

Wie immer zieht es mich sofort auf die Terrasse. Ich streife die Sandalen ab, spüre den geschmeidigen Travertin unter meinen Zehen. Es riecht nach Lavendel und Fuchsien. Die mit Oleander bepflanzten Terrakottakübel sehen wie zufällig platziert aus, aber meine Mutter hat nie etwas dem Zufall überlassen. Alles hier trägt ihre Handschrift. Eine Illusion von Imperfektion mit akribisch aufwendiger Planung.

Mit einem Blick vergewissere ich mich, dass ich allein bin, dann entledige ich mich meines Shirts, streife den Rock über meine Hüften und nehme Anlauf auf das Schwimmbecken.

Das Wasser prickelt auf meiner erhitzten Haut. Ich tauche unter, tauche wieder auf, bewege mich wie ein ungestümes Kind.

Lorenz Almássy, der fleißige Hausgeist, wie ihn meine Mutter nannte, hat sich um die Reinigung des Pools und um die ideale Wassertemperatur gekümmert. Ich sehe ihn von hier aus als kleinen Punkt im hintersten Teil des Anwesens, kann das Heulen seiner elektrischen Heckenschere hören.

Die Wartung des Schwimmbeckens ist neben der Organisation der Gärtner und Handwerker sowie der Erledigung der anfallenden Reparaturen eine seiner Hauptaufgaben. Er und mein Haus sind ein eingespieltes Team.

Kühler Wind leckt an meiner Haut, als ich aus dem Wasser steige. Bibbernd schlinge ich die Arme um meinen Körper und sammle die Kleidungsstücke ein, während ich in großen Schritten in Richtung Haustür laufe. Im Strahl der Sonne halte ich noch einmal inne, recke ihr mein Gesicht entgegen und sauge die Wärme in mich auf. Mein Blick gleitet über die Weinkulisse, die mein Anwesen rahmt. Auf dem Gehölz liegt der erste grüne Hauch, und schon bald wird er zu üppigen herzförmigen Blättern heranwachsen. Darauf folgen die Blütenstände, die nicht nur bezaubernd aussehen, sondern auch einen großen Teil meines Vermögens generieren. Doch das ist nicht annähernd so einfach, wie es klingt. Die heißen Frühlinge häufen sich. Ebenso die dürren Sommer und die schneearmen Winter. Zur Dürre gesellen sich weitere Feinde wie Hagel, Pilzbefall und Schädlinge. Ohne den Einfallsreichtum und Arbeitseifer meiner Mitarbeiter stünde der Vegetationszyklus im Weingarten schon im frühesten Stadium still.

Und ich wäre irgendwann pleite.

Aber ich wäre frei.

Der plötzlich aufkommende Kopfschmerz ist so durchdringend, als rüttelte etwas an meinem Gehirn. Etwas stimmt nicht mit mir. Dieser leidige Zustand dauert schon eine Woche an und hat heute Morgen seinen Höhepunkt erreicht. In der einen Sekunde stand ich auf und wollte das Ladekabel für mein Handy holen, in der nächsten lag ich auf dem Küchenboden. Renate, meine Reinigungskraft, zog mich auf das Sofa und tätschelte meine Wangen. Ich konnte sie davon abbringen, die Rettung zu rufen, musste ihr aber versprechen, mich von Lorenz zum Hausarzt bringen zu lassen. Dr. Thomas Wagenknecht befindet sich allerdings auf den Malediven, so bin ich doch im Krankenhaus gelandet. Die ausstehenden Befunde der Untersuchungen werden mir hoffentlich bald Klarheit verschaffen.

Mit nassen Füßen schlittere ich durch die Eingangshalle hinüber ins Wohnzimmer. Ich schwanke zum Sofa, sinke in die Kissen und döse vor mich hin.

3

Die Nacht ist rußschwarz. Ich stehe am ersten Treppenabsatz, und mein Atem geht so flach, als hätte ich ein Wettrennen hinter mir. Unruhe pulsiert in meiner Brust, hat sich wie ein Stachel in mich gebohrt. Unsichtbare Hände ziehen mich die Stufen hinunter und hinaus ins Freie. Kälte unter meinen Füßen. Das Wasser eine Lacke, so schwarz wie das Nichts. Eine Bewegung an der Oberfläche. Eine Erschütterung des Fundaments. Eine Hand, spindeldürr und bleich, die aus dem Wasser schnellt. Spitze Finger, die meine Waden umfassen, sich in mein Fleisch drängen.

Ein Schrei quillt in mir auf. Ich muss hier weg. Zu spät. Ich werde hineingezerrt. Das Wasser wird zur Säure und verätzt meine Haut. Blondes Haar wickelt sich wie Seetang um mich, spinnt mich ein und zieht mich unerbittlich nach unten. In gedämpften Bewegungen schlage ich um mich, versuche, mich loszureißen.

Die Poolscheinwerfer springen an. Große, blutunterlaufene Augen schauen mich aus einem grauen Gesicht heraus an. Mutter. Entsetzt starre ich auf das klaffende Loch an ihrem Unterkiefer und die Abschürfung an ihrer Stirn. Ich schreie, schreie meine Panik auf den Grund des Pools. Wasser strömt in meinen Mund, lässt meine Lunge bersten.

Triefend nass und mit rasendem Puls fahre ich hoch. Die Bergspitzen sind zu schwarzen Hügeln im Zwielicht geworden. Mein Wohnzimmer liegt in fast völliger Dunkelheit. Ich bin orientierungslos, taste benommen nach dem Schalter der Stehlampe. Ich kann nicht ausmachen, welcher Tag ist, finde keinen Orientierungspunkt, der mir dabei hilft, diesen Moment irgendeiner Tageszeit zuzuordnen.

Nun erinnere ich mich. Oh Gott. Wie konnte ich nur den ganzen Tag verschlafen?

Das Smartphone blinkt auf dem Glastisch, erinnert mich vorwurfsvoll an die entgangenen Anrufe und Nachrichten. Ich hole tief Luft und reibe mit den Handflächen über mein Gesicht. Dann sehe ich ihn. Er liegt auf dem Stapel mit Reklame und ungeöffneter Post.

Die vertraute Handschrift. Die fehlende Briefmarke. Nichts als mein Vorname auf einem weißen Umschlag.

»Klara«.

Liebste Klara,

heute muss ich an jene Zeit zurückdenken, als ich Dich zum ersten Mal sah. Du warst wie ein Gemälde, von dem ich jeden Pinselstrich erfassen und verstehen wollte.

Als sich unsere Blicke eines Tages kreuzten, da bemerkte ich es. Da verstand ich, womit Du mich so sehr in deinen Bann gezogen hattest.

Hast Du schon einmal leuchtende Nachtwolken gesehen? Um Zeuge dieses Phänomens zu werden, bedarf es besonderer Umstände. Nur wenn die Sonne einen Stand zwischen 6 und 16 Grad unter dem Horizont erreicht hat und spezielle Temperaturanomalien herrschen, kann man dieses Naturspektakel beobachten.

Ich entdeckte die leuchtenden Nachtwolken in Deinen Augen. Ein Meer aus Farben, von Indigoblau bis Goldgelb.

Hauchzarte Schleier, die auf Deiner Regenbogenhaut tanzten. Schimmernde Fasern und Bänder, zwischen denen sich Wellenmuster um Deine Pupillen aufspannten.

Doch das Leuchten verblasste mit den Jahren.

Sie haben Deine Zartheit gebrochen, haben Dich zur leeren Hülse gemacht, die sie nach ihren Vorstellungen mit Oberflächlichkeiten und Plattitüden befüllten.

Lange Zeit habe ich um Klara getrauert. Eines Tages jedoch hast Du mit deiner Staffelei am Wasser gesessen. Ich sah das kleine Funkeln in Deinen Augen und wusste, dass tief im Verborgenen das Leuchten nicht erloschen war. Es war noch da, doch es war tiefer und dunkler geworden.

Damals fragte ich mich, woran Du wohl dachtest.

Heute weiß ich es.

Auf bald,

Dein stiller Beobachter

Ich bin spät dran, habe die Morgenstunden am Smartphone vertrödelt und mich in Belanglosigkeiten verloren. Während einer schnellen Dusche habe ich die Uhrzeit fest im Blick. Um halb neun bin ich mit dem Makler im Gästehaus verabredet. Er soll sich um den Verkauf eines Ferienhauses in der Südsteiermark kümmern. Es liegt nahe an unserem steirischen Weingut, wo mein Vater die Produktion bis zuletzt selbst begleitete.

Faustgroße Hagelkörner haben den Wintergarten, den Pool und die Fassade im letzten Sommer stark beschädigt, aber die Immobilie hat genug Potenzial, um das Haus ohne Sanierung verkaufen zu können.

Mein Makler ist der Lebensgefährte der Steuerberaterin von Adam und erst kurz im Geschäft. Nachdem ich seine Website überflogen hatte, hatte ich ein gutes Gefühl dabei, ihm den Auftrag zu erteilen. Solide Vita, kompetenter Internetauftritt, einige Referenzen.

Ich schlüpfe in ein knielanges Chiffonkleid. Es ist jadegrün und von einer Leichtigkeit, an der es mir selbst fehlt. Vor dem Badezimmerspiegel versuche ich, meine Naturwelle und den widerspenstigen Pony mit kräftigen Bürstenstrichen zu bändigen. Es gelingt mir nicht, also fasse ich mein Haar am Hinterkopf zu einem lockeren Dutt zusammen. Den schiefen Pony stecke ich mit Haarnadeln aus meinem Gesicht. Der brünette Rahmen, der meine Züge weicher macht, fehlt nun. Ich sehe dünn und kränklich aus.

Aus der Schublade unter dem eckigen Doppelwaschbecken fische ich silberne Creolen heraus. Ich ziehe sie durch meine Ohrlöcher und lasse den Blick aus dem Fenster gleiten. Noch kein Auto in Sicht, also greife ich zu einer Tube Make-up. Der Farbton ist zu dunkel für meine Haut. Ich trage es dennoch auf und fühle mich dabei wie früher, wenn ich mich heimlich über die Schminksachen meiner Mutter hergemacht habe.

Auf dem Weg zum Hauswirtschaftsraum stelle ich fest, dass die Tür zwischen Garage und Haupthaus offen steht. Ich lasse sie nicht aus den Augen, während ich Schmutzwäsche in die Waschmaschine werfe.

Mein Haus und mein gesamtes Anwesen sind sehr sicher. Hohe Tore halten Eindringlinge davon ab, meinen Grund und Boden zu betreten. Eine Alarmanlage und Videokameras sorgen zusätzlich für Schutz. Umso ärgerlicher ist es, dass ich etwas Selbstverständliches wie das Schließen einer Tür vergessen habe. Kurz luge ich zur Garage hinüber, dann versetze ich der Stahltür einen Stoß. Als das Smartphone in meiner Hand vibriert, schrecke ich zusammen.

»Adam.«

»Hallo, Klara. Haben Sie meine gestrige Nachricht nicht erhalten?« Es ist Peter Janek, der Makler, und ich habe nicht die geringste Ahnung, von welcher Nachricht er spricht.

Während ich den Anruf auf Lautsprecher stelle, scrolle ich durch das Menü meiner Posteingänge.

»Hallo, Peter. Doch, natürlich. Wie schaut es aktuell bei Ihnen aus?« Ich bemühe mich um einen souveränen Tonfall.

Auf Zehenspitzen laufe ich zurück nach oben in mein Büro. Die Uhrzeit irritiert mich. Müsste er nicht schon längst hier sein? Ich blättere durch meinen Kalender. In dem Meer aus eingetragenen Notizen und Vermerken in krakeliger Schrift finde ich nichts.

»Der Interessent hat den Termin verschoben, deshalb werde ich es heute nicht zu Ihnen schaffen. Er bietet zweieinhalb Millionen. Damit liegen wir marginal unter den Erwartungen.«

Ich nicke, obwohl er es nicht sehen kann. »Das ist in Ordnung. Ich habe Ihnen innerhalb des vereinbarten Spielraumes jegliche Entscheidungskraft eingeräumt.« Gelogen. Ich habe aus purer Bequemlichkeit und Antriebslosigkeit alle Entscheidungen auf ihn abgewälzt, weil ich mich derzeit gerade einmal dazu in der Lage fühle, meine Mahlzeiten zu organisieren.

Peter Janek atmet hörbar auf. »Eine gute Entscheidung. Die zunehmenden Hagelschäden in der Gegend drücken die Nachfrage nach Immobilien enorm.«

»Das sehe ich auch so. Setzen Sie den Vorverkaufsvertrag auf, und ich maile Ihnen in der Zwischenzeit eine Vollmacht, damit Sie alles zum Abschluss bringen können«, erwidere ich.

Ich drehe einen Kugelschreiber zwischen meinen Fingern hin und her. Hier in meinem Büro bin ich die Geschäftsfrau, die Chefin, die Arbeitgeberin. Mühevoll habe ich mich in diese Rolle eingelebt, habe geschafft, worauf meine Eltern mich nicht vorbereiten konnten. Ich war wie ein Kind, das beim ersten Sturz ins Wasser schwimmen lernen musste, um nicht zu ertrinken. Außerhalb des Pflichtzeitraumes verschwendete ich nie einen Gedanken an die Arbeit, habe in mir nie das lodernde Unternehmerherz gespürt. Mein BWL-Studium habe ich halbherzig abgeschlossen, um meinen Eltern einigermaßen hilfreich zur Seite zu stehen. Doch ich war nie mehr als eine Hilfskraft im Büro, die im stillen Aufbegehren Rechnungen abheftete, Termine bestätigte und Kostenrechnungen eintippte.

Was mich wirklich interessiert, sind nicht die Umsätze. Es ist auch nicht der Geschmack des Weines, den mein Unternehmen umsatzstark über die Landesgrenzen hinaus bis in die Überseeländer exportiert. Mich interessiert das wechselnde Farbenspiel, das die Jahreszeiten mit sich bringen. Regentropfen, die an manchen Tagen wie kleine Diamanten auf den Blättern sitzen. Die Vielfalt der Brauntöne in den kleinen Furchen an den Ästen. Wahrscheinlich hegen viele, die nichts mit unserer Branche zu tun haben, genau diese romantische Vorstellung. Sie schließen beim ersten süß-würzigen Schluck Beerenauslese die Augen, sehen die malerisch thronenden Hänge vor sich. Sehen die Winzerfamilie, die sich voller Ehrfurcht bei Sonnenuntergang der Fruchtstände erfreut. Wir sind die lila Milchkühe der Weinindustrie, doch ich bin nur das schwarze Schaf.

Meine Leidenschaft hat schon immer der Kunst gegolten. Ich habe unsere Reben so lange beobachtet, bis ich jeden Farbton, jede Blattader und die unterschiedlichen Rundungen der Trauben mühelos mit dem Pinsel auf meine Leinwände zaubern konnte.

Deine Pinselei bringt uns nicht weiter, Klärchen, schnaubte mein Vater, als er einmal nach Mitternacht in mein Zimmer kam und mich beim Malen ertappte. »Klärchen«, ja – so nannte er mich, auch wenn er mich maßregelte. Ich brauche Hilfe, brauche jemanden, der die Buchhaltung nachkontrolliert, der die Lesehelfer organisiert. Das alles ist dein Job. Doch du träumst den ganzen Tag vor dich hin, dass du nachts vor lauter Ausgeruhtheit nicht einmal müde bist.

Damals befand ich mich in der Pubertät. Während sich andere Mädchen meines Alters mit Akne und Menstruationsschmerzen herumplagten und ihre ersten Zungenkusserfahrungen machten, plagten mich Sorgen rund um Rebmilben, Reifegrade und vernünftige Erntemengen. Andere Mädchen, normale Mädchen begannen in dieser Zeit damit, sich von ihren Eltern abzunabeln, ihre Individualität in die Welt hinauszubrüllen. Aber ich verwuchs mehr und mehr mit dem Unternehmen und mit meinen Eltern. Ich wurde zum geflügelten Wort. Die Adam-Tochter. Unter dem ständigen Druck, Teil einer am Winzerhimmel aufsteigenden Gesellschaft zu sein, blieb kaum Zeit für die normalen Dinge des Lebens. Demnach war meine erste sexuelle Erfahrung die, als ich meine Eltern am frühen Nachmittag beim angetrunkenen Sex auf dem Schreibtisch meiner Mutter ertappte. Das war ihre eigene Art des Feierns, als sie nach jahrelangem Straucheln endlich anhaltend schwarze Zahlen schrieben. »Bilanzsex« nannte ich es später und wusste, zu welchen Zeiten es besser war, die Büros meiner Eltern zu meiden.

Der Betrieb wuchs, und die Arbeiten, die auf meine Mutter und mich zurückfielen, wurden anspruchsloser. Man ließ die Dinge andere erledigen, denn man konnte es sich leisten. Das regelmäßige Posieren für die hiesige Klatschpresse war irgendwann unsere Hauptaufgabe. Sehen und gesehen werden.

Small Talk mit Geschäftspartnern und Kunden. Empfänge in schicker Abendrobe. Weinverkostungen mit der österreichischen B-Prominenz und Provinzpolitikern, denen man an der Wahlurne besser nicht seine Stimme schenkte. Lächeln. Nicken. Sichtbar sein. Selbst der Bilanzsex war irgendwann nur eine Erinnerung an die Anfänge einer einst euphorischen Erfolgsgeschichte.

»Ich werde Sie am Laufenden halten, Klara.« Janek klingt überschwänglich. Kein Wunder, denn das Geschäft wird eine ordentliche Provision für ihn abwerfen – eine mehr als ordentliche Provision für einen Mann seines Alters.

»Ja, bitte. Tun Sie das.«

Ich drücke den Anruf weg und trinke einen Schluck des kalten Tees, der seit den frühen Morgenstunden neben meinem Computer steht. Eine Weile betrachte ich die kreisrunden Abdrücke der Tasse auf meiner Tischplatte. Dann rufe ich den Eventkalender im Webbrowser auf und beschließe, die Arbeit für heute liegen zu lassen.

4

Es gibt Dinge in diesem Haus, die nie vollständig mir gehören werden. Das Auto meines Vaters, in dem ich wie eine kleine Legofigur aussehe, ist eines davon. Ich sehe ihn vor mir, denke daran, wie erpicht er darauf war, dass der Lack des Audis nach jeder Fahrt wie neu wirkte. Amüsiert schmunzle ich über die Erinnerung, wie er still grantelte, wenn die Stöckelschuhe meiner Mutter kleine Kratzer an der polierten Einsteigleiste hinterließen.

Lorenz betrachtet mich genau, als ich aus der Garage rolle. Seit er mich am Vortag am Krankenhaus abgesetzt hat, steht ihm die Besorgnis ins Gesicht geschrieben.

Sein Motorroller folgt mir die Straße hinunter. Ich schaue in den Rückspiegel, sehe die Spitzen seiner schulterlangen grauen Haare unter dem Helm hervorblitzen.

Ich kenne Lorenz seit fast drei Jahrzehnten, erinnere mich gut an den einst drahtigen Mann mit dem schwarzen Pferdeschwanz und dem verschmitzten Grinsen, der schon damals so gut wie nie ohne seinen Hut unterwegs war. Seither sind wir sechsmal innerhalb der Region umgezogen. Lorenz ist dabei immer an unserer Seite geblieben. Zuerst als gelegentlicher Helfer, dann als fester Angestellter. Lorenz ist einer der wenigen Menschen, die ich in meinem Haus dulde. Über die Jahre hinweg ist er Teil der Familie geworden, zumindest für mich. Er buckelte nie vor uns, biederte sich nie an. Er pumpte Luft in die Reifen meines Fahrrades, schrubbte mit mir den Pool, fuhr mich ins Kino und rettete mich vor monströsen Winkelspinnen. Wenn ich Bauchweh hatte, gab Gabi, seine Frau, ihm Suppe für mich mit. Ich habe ihr fast jedes meiner heimlichen Aquarelle geschenkt, die neben den Acrylgemälden, die meine Eltern im Laufe der Jahre auf Vernissagen gekauft hatten, ohnehin nie einen Platz gefunden hätten.

Das Letzte, was ich von Gabi hörte, waren ihre erzürnten Schreie am Telefon, nachdem meine Mutter Lorenz samt Gipsarm auf das Dach geschickt hatte, weil ein Sturm mehrere Dachziegel auf die Terrasse katapultiert hatte. Lorenz lehnte diesen Arbeitsauftrag nicht aus Feigheit ab. Sein Verantwortungsbewusstsein ging weit über das eines Angestellten hinaus.

Lorenz hatte eine weitere Fähigkeit. Er blickte nicht nur in die Abgründe unserer Abflussrohre, er blickte in die Abgründe in uns selbst. Er demaskierte uns. Meine Mutter hasste das, aber sie brauchte ihn zu sehr. Ihren Frust entlud sie an meinem Vater, wies ihn an, strenger mit Lorenz zu sein, ihm die flapsigen Sprüche und die frechen Blicke abzugewöhnen. Mein Vater sprach danach eine Oktave tiefer mit Lorenz, mit vibrierender, testosterongeladener Stimme. »Lorenz, entfernen Sie die Schlange aus unserem Poolhaus.« Lorenz kümmerte sich darum und lächelte sein typisches Lachen. Ich kam nicht umhin zu denken, dass er das alles für mich tat.

Seit dem Tod meiner Eltern hat sich vieles verändert. Ich spüre die Verbissenheit, mit der er seine Arbeiten erledigt. Ich spüre, wie mir unsere Freundschaft immer mehr entgleitet. Die Trauer um meine Eltern liegt wie eine Giftwolke über uns und regnet kontinuierlich auf uns herab. Lorenz arbeitet noch härter, mit noch mehr Ehrgeiz. Es ist eine unausgesprochene Schuld.

Lorenz war derjenige, der uns vor über zwanzig Jahren mit Paolo, seinem Bruder, bekannt gemacht hat. Paolo ist der Eigentümer des kleinen Yachthafens in Puerto Calero, dem Ort, an dem ich meine Eltern zuletzt lebendig gesehen habe.

Ein Hochgefühl überkommt mich, als ich die Kunsthalle erreiche. Früher war ich hier Stammgast, habe keine Ausstellung verpasst. Der Traum, hier irgendwann meine eigenen Bilder zu sehen, war stets ein Teil von mir.

Ich habe Glück, es rechtzeitig geschafft zu haben, denn heute ist einer der letzten Ausstellungstage. Trotzdem sind kaum Besucher da. Hier und da leises Geflüster, ein Hüsteln, das Quietschen von Gummisohlen auf den glatten Böden, das Klacken meiner eigenen Absätze.

Meine Augen sind darauf konditioniert, die gläsernen Weinregale mit den bunt bedruckten Flaschen zu bemerken. Unter jedem Gemälde steht ein Arrangement aus langhalsigen Weinflaschen, die das Gefühl des Bildes aufgreifen und alles zum stimmigen Gesamtkunstwerk zusammenfügen. Eine Idee, die meinen Eltern gefallen hätte.

In dieser Umgebung finden sich alle Farbtöne ausschließlich in den Bildern. Die Räume selbst nehmen sich mit ihren weißen Wänden und den hellen Böden zurück, überlassen die Bühne den expressionistischen Ölgemälden.

Ein zwei Meter großes quadratisches Werk fängt meinen Blick ein. Ein nackter Leib, der sich zu Gehölz formt. Feine Rot- und Gelbtöne des Laubes als Kontrast zu den groben Formen einer Dorfkulisse. Die Leidenschaft des Malers in jedem Pinselstrich greifbar. Es würde sich gut in der verglasten Galerie im Obergeschoss machen. Verstohlen ziehe ich das Smartphone aus meiner Umhängetasche und schieße ein Foto.

Ein Paar bleibt neben mir stehen. Glatt gebügelte Gesichter, beide weiße Saint-Laurent-Sneaker. Sie im Lacoste-Kurzarmpullover in Rosé, er im braunen Abbild. Designeroutlet im Doppelpack. Ihre Augen ruhen zuerst einige Sekunden auf mir, dann widmen sie sich dem Gemälde, in das ich mich soeben verliebt habe.

Leises Gemurmel und dumpfe Schritte kündigen eine größere Menschenmenge an. Als ich mich umdrehe, entert eine geführte Gruppe den Raum und bringt einen Schwall verschiedener Gerüche mit sich. Sonnencreme, Parfum, feine Nuancen von Schweiß und Lederschuhen.

Der Trubel ist mir zu viel. Ich trete die Flucht in die nächste Halle an. Zahlreiche Gemälde in ähnlichem Stil wie mein favorisiertes Bild wecken ein neuerliches Gefühlsfeuerwerk.

Eine Lust auf das Leben brodelt in mir. Da ist Sehnsucht.

Ich schließe die Augen, denke an ein kleines Cottage an der Küste Südenglands. Den Blick auf das Meer gerichtet, neben mir eine Staffelei und ein Farbkasten. Ja, ich könnte malen, könnte eine Provinzgalerie eröffnen und jungen Künstlern die Chance geben, sich ihren Traum vom Malen ebenso zu erfüllen.

»Dir steht die Welt offen«, verkündet eine verschnörkelte Schrift auf dem Kristallglas, das mir meine Eltern zum achtzehnten Geburtstag geschenkt haben. Aber welcher Teil der Welt stand mir jemals wirklich offen? Das Imperium meiner Eltern ist die goldene Fußfessel, die mir so viele Dinge ermöglicht und mir gleichermaßen so vieles nimmt. Beschämt stelle ich mir vor, wie mein Unternehmen den Bach hinuntergeht. Noch beschämter gestehe ich mir ein, dass sich ein Teil von mir genau das wünscht.

Es dauert nicht lange und sie ist da. Ich kann den Duft ihres perfekt frisierten Haares vernehmen, sehe die geschürzten Lippen und die hochgezogenen Augenbrauen. Klara, was soll der Undank? Siehst du nicht, was dein Vater und ich leisten? Was denkst du, für wen wir das tun? Du kannst dich wirklich glücklich schätzen, dieses Leben zu führen, aber du ziehst ständig dieses trübselige Gesicht.

Ich versuche, die Gedanken zu verjagen, aber sie sind wie Treibsand, in den ich umso tiefer sinke, je mehr ich dagegen ankämpfe.

Was tust du eigentlich hier? Du vergeudest deine Zeit mit irgendwelchem Blödsinn, während ich mir seit Wochen nicht einmal meine Maniküre gönne.

Meine Freude von vorhin verklingt unter der Erinnerung. Die Vorwürfe meiner Mutter haben sich so fest in mir eingenistet, dass sie selbst nach ihrem Tod mein Denken regieren.

Warum enttäuschst du mich immer wieder, Klara? Was tust du mir nur an?

Ich schlucke schwer, straffe die Schultern und gehe weiter.

Mein Blick bleibt unweigerlich an einem dreiteiligen Gemälde hängen. Der nackte Leib der Frau ist nur von einzelnen Blättern verhüllt, und ihre langen Arme ranken hoch zur Sonne. In der Sehnsucht in ihren Augen erkenne ich mich selbst. Es würde wunderbar neben dem Kamin in meinem Wohnzimmer aussehen. Dort, wo aktuell das kubistische Bild in kühlen Grautönen hängt, dessen Abgang ich schon beim Betreten der Ausstellung beschlossen habe.

In meiner Handtasche ertaste ich einen Notizblock und einen Kugelschreiber. Ich ziehe beides heraus und notiere die Namen der Werke, die in Gedanken bereits meine Wände zieren. Ich beschließe, mit dem Künstler Kontakt aufzunehmen, stehe da, ein Gefühl wie vor dem Sprung vom Fünfmeterbrett, ein – wie ich vermute – dummes Lachen mit offenem Mund. Ein Narr, der sich freut. Wann ist das Glück so armselig niederschwellig für mich geworden?

Kind, du musst an deiner Haltung arbeiten. Und wie kann es sein, dass man in deinem Alter noch immer Pickel im Gesicht bekommt?

Ich mahne mich zur Ruhe. Versuche, meine verkrampften Finger zu entspannen. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Vor meinen Augen tanzen kleine Lichtpunkte. Farben und Leinwände verschwimmen vor mir. Nicht schon wieder ein Schwächeanfall. Ich spüre, wie mich Besucher streifen, vernehme knappe Entschuldigungen in diversen Sprachen, höre Gelächter. Das Geschehen um mich herum läuft im Zeitraffer. Das Gefühl von Panik und Beklemmung kriecht mir wie eine Winkelspinne die Beine hoch. Kalter Schweiß bildet sich auf meiner Stirn und zwischen meinen Brüsten. Blicke kleben an mir wie der Stoff meines Kleides. Ich muss hier raus.

Eine Welle von Übelkeit blockiert meinen Fluchtreflex. Die Vorstellung, dass ein Putztrupp anrückt, um mein halb verdautes Frühstück zu entfernen, macht meinen Zustand noch schlimmer.

Ich taste um mich und finde Halt. Es ist ein weiches, warmes Etwas, an dem ich mich festhalte.

Ein Arm.

5

»Es tut mir leid«, stammle ich und ziehe meine Finger in einem Ruck zurück, als hätte ich mich verbrannt. Der Lockenkopf grinst mich amüsiert an.

Ich taumle wieder, greife ungeachtet dessen, was er von mir halten wird, erneut nach seinem Arm. Diesmal fester, zunehmend näher an der Ohnmacht.

»Was ist denn mit dir los?«, fragt er. »Soll ich die Rettung rufen?« Seine Stimme ist tief und samtig, sein Sprachrhythmus so geschmeidig wie der eines Radiomoderators. »Hey«, sagt er dann und legt seine Hand auf meine Schulter.

Ich spiele mein Unwohlsein mit einer wegwerfenden Geste herunter. »Ist nur der Kreislauf.«

Er umfasst meine Handgelenke. Der leichte Druck seiner Finger löst mein Ohnmachtsgefühl langsam auf. Mein Blick schärft sich wieder.

Ich betrachte den Fremden vor mir. Dunkle, fast schwarze Augen, Dreitagebart, olivfarbener Teint, knielange Leinenhosen, die ihm etwas Jungenhaftes verleihen. Wahrscheinlich ist er ein Tourist. Einer, der nun ein Häkchen neben »Regionale Kunst« in seinen Reiseführer setzen kann. So wie er aussieht, wird seine Freundin jeden Moment hinter ihm hergelaufen kommen. Kurvig, zehn Jahre jünger, umwerfend. Er wird glücklich aussehen, wenn sie seine Hand ergreift und sie gemeinsam ihre Runden drehen, während sie nur den Wunsch verspüren, so rasch wie möglich ins Hotelzimmer zurückzukehren.

»Langsam kriegst du wieder Farbe.« Er lächelt das schönste Lächeln, das ich seit Langem gesehen habe. Der Rausch meiner Gefühle holt meinen Körper wie eine Wiederbelebungsmaßnahme zurück ins Leben. »Soll ich dich rüber ins Café bringen? Vielleicht würde dir ein kaltes Cola guttun.«

Ich atme den Duft seiner Haut ein. Vielleicht findet er mich attraktiv genug, um mich nicht nur im Café abzugeben wie eine Mutter ihr Kind in der Spielecke eines Möbelhauses. Ich will das Risiko nicht eingehen, möchte seine Gegenwart auskosten.

»Es wäre schade, die Tickets verfallen zu lassen. Ich habe bisher kaum etwas von der Ausstellung gesehen. Willst du mich begleiten?« Ich befürchte, dass der Rhythmus meines Herzschlages an meiner Brust sichtbar ist, aber ich sehe lieber nicht nach.

»Na klar. Gern«, raunt er. Die Selbstverständlichkeit in seinem Tonfall verschlägt mir die Sprache. Als würde man einen alten Freund zum Kinoabend einladen. Na klar. Gern.

Ich zögere keine Sekunde, als er mir bedeutet, mich bei ihm einzuhaken.

Keine kurvige Schönheit, die auf ihn wartet. Zumindest nicht hier.

Der Fremde hat ein Auge für das Schöne, begeistert sich für dieselben Werke wie ich, aber er hat insgesamt wenig Ahnung von Kunst. Seine Unbefangenheit und die Art, wie er sich an den Gemälden erfreut, reißen mich geradewegs mit, auch wenn meine Blicke mehr an ihm hängen als an allem anderen.

Jede sich bietende Gelegenheit nutze ich, um ihn anzusehen, ihn zu studieren. Die einzelnen Augenbrauenhaare, die unkontrolliert abstehen. Den dunklen Bart, der seine eckige Kinnpartie betont. Die markante Nase mit dem leichten Bogen. Die sinnlich geformten Lippen, die Unterlippe etwas üppiger als die Oberlippe, ein kleines Muttermal am rechten äußeren Mundwinkel. Bestimmt ist er ein guter Küsser. Er ist ein schöner Mann, das kann ich nicht abstreiten. Ich verspüre den Drang, ihn nach draußen zu ziehen. Vielleicht in ein abgelegenes Café, vielleicht auch in meine Stadtwohnung. Verdammt, es ist so lange her.

»Wie wäre es jetzt mit einem Cola?«, bringe ich stotternd über die Lippen und rechne mit einer Abfuhr. Die Einladung sei sehr nett, aber er müsse dringend heim. Er müsse das Auto aus der Werkstatt holen. Seine Katze sei krank. Vielleicht ein anderes Mal. Vielleicht laufe man sich ja mal wieder über den Weg.

»Keine gute Idee«, bestätigt er meine Befürchtung, und ich spüre ein schmerzhaftes Brennen in der Brust. »Nach dieser Ausstellung ist mir viel mehr nach einem Glas Wein.«

Ein kräftiger, warmer Wind umhüllt uns, als wir die Kunsthalle verlassen. Er treibt die Wolken zügig voran und trocknet die Schweißränder an meinem Kleid. Wir spazieren in Richtung Donau und entscheiden uns für das Restaurant direkt am Fluss.

»Sollen wir es wagen?« Er deutet zum Himmel. »Es sieht nach Schlechtwetter aus.«

»Ich denke, es zieht vorbei.«

Wir wählen einen Tisch im Freien mit tiefen, gemütlichen Lounge-Stühlen. Unser Platz liegt etwas abseits vom Trubel und eröffnet einen direkten Blick auf das Wasser.

»Wie heißt du?«, fragt der Lockenkopf. Mir wird klar, dass ich mir diese selbstverständliche Frage in Bezug auf ihn bisher nicht gestellt habe.

»Ich heiße Klara. Klara mit K. Und du?« Ich möchte mir für meine Unbeholfenheit auf die Stirn schlagen. Klara mit K.

»Mein Name ist Jonas.« Er lächelt verschmitzt. »Jonas mit J.«

Wir lachen, und es stört mich nicht, dass diese Lacher auf meine Kosten gehen.

Ich bin nicht routiniert im Flirten. Mein letztes Date liegt mehr als ein Jahr zurück und endete in der Peinlichkeit, dass der Mann mir verriet, er habe einen Mikropenis. Das eigentlich Peinliche daran war, dass ich versuchte, so zu tun, als wäre ich daran gewöhnt, dass Männer mir zwischen Small Talk und einem Bier von ihren besten Stücken erzählten. Die Wahrheit war, dass ich zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich die einzige Frau auf der Welt war, der man noch nie ein Dickpic geschickt hatte, was sich bis heute nicht geändert hat. Mein erzwungener und zudem schlechter Witz über seinen Mikropenis und mein fehlendes Talent beim Karaokesingen trieben mir die Schamesröte ins Gesicht. Wahrscheinlich grinste ich dabei, wie ich es immer tue, wenn ich verlegen bin, doch so genau will ich mich gar nicht daran erinnern. Er stand auf, zog sich in einer übertrieben männlichen Geste den Gürtel stramm und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Meine letzte richtige Beziehung mit einem zwanzig Jahre älteren Hotelier ist auch nichts, woran ich gern denke. Und dann gab es vor knapp fünf Jahren diesen Barkeeper. Diesen sanften, dunkelhäutigen Liebhaber, der immer nach Zigarettenqualm roch, obwohl er nicht rauchte, mich verliebt ansah und mich postkoital »Baby« nannte. Wenn man mich fragt, weshalb es nach zwei Monaten wieder vorbei war, erzähle ich, ein Mädchen sei der Grund dafür gewesen. Das ist halb wahr und halb falsch.

Die Bedienung kommt mit einem nasalen »Grüß euch« an unseren Tisch.

Jonas’ Blick schwenkt nur langsam von mir zu ihr. »Wir hätten gern zwei Gläser Wein«, wendet er sich an sie. Und dann an mich. »Oder wäre dir etwas anderes lieber?«

»Wein ist in Ordnung.«

Wir. Ich weiß nicht, was mich nervöser macht. Das selbstverständliche Wir oder die Tatsache, dass er seinen Blick bereits wieder auf mich gerichtet hat.

Die Kellnerin legt zwei Getränkekarten zwischen uns auf den Tisch.

»Bringen Sie uns irgendeinen. Wir lassen uns überraschen.«

»Trinken Sie gern einen roten oder lieber einen weißen?«, gibt die Kellnerin die Entscheidung an uns zurück. An der Art, wie sie mit den Fingern auf das Boniergerät trommelt, erkenne ich Ungeduld.

»Ganz egal, denn neben dieser Dame«, er schaut mich eindringlich an, »wird ohnehin alles andere zur Nebensache.«

Eine Röte überzieht meine Wangen. Ich hole Luft, versuche, die Nervosität zu überspielen, indem ich hastig durch die Getränkekarte blättere. »Wir hätten gern den Adam Zweigelt.« Mit dieser konkreten Ansage verschwindet die Bedienung.

Ich könnte Jonas aufklären. Könnte ihm gestehen, dass ich jeden Wein auf der Karte kenne, denn ich kenne jeden Wein auf sämtlichen Weinkarten von hier bis ans andere Ende der Welt.

Eine Erinnerung kommt hoch. Ich sehe meine Eltern an einem der Tische an der Glasfront sitzen. Es war ein Besuch geschäftlicher Natur, was sonst. Ein lukrativer Handschlag zwischen Geschäker und Zuprosten. Hier, wie auch in jedem anderen In-Lokal im Bezirk, fanden unsere musikalischen Weinverkostungen statt, die meinen Vater zum Weinhelden emporhoben. Ein gutes Essen brauche den perfekt darauf abgestimmten Wein, und ein gutes Glas Wein benötige die perfekt darauf abgestimmte Musik, betonte mein Vater. Das Konzept ging auf. Oft verlangt ein Geistesblitz nicht mehr als geschicktes Marketing und Menschen, die auf den Zug aufspringen. Auf diese Weise wurde mein Vater der König Midas des Weines, und das kleine Weingut Adam, das seine Großeltern gegründet hatten, wuchs zum millionenschweren Imperium heran. Jede seiner Eventideen wurde zu Gold. Gemeinsam mit namhaften Musikern, Bands und unseren edelsten Weinsorten tourte er wie ein Popstar durch das Land. Die Medien fraßen uns auf. Die Konkurrenz verfluchte und umgarnte uns zugleich. Hundertzwanzig Hektar Weingärten, ein Weinmagazin, fünfzehn Weinboutiquen und Hunderte Donau-Weinkreuzfahrten später gab es niemanden mehr, der sich nicht darum riss, Teil unseres Unternehmens zu sein. Mein Vater brannte für seinen Job, er lebte dafür. Nun ist er weg, und es liegt an mir, sein Lebenswerk weiterzuführen.

Jonas’ Blick wandert über mein Gesicht. Die endlos langen Beine der Kellnerin erregen seine Aufmerksamkeit keine Sekunde. »Entweder bist du Trinkerin, was deinen Zustand in der Ausstellung erklären würde, oder du bist vom Fach«, schlussfolgert er.

Ich kichere wie ein kleines Mädchen, anstatt darauf einzugehen. Ich werde ihm diese Frage irgendwann später beantworten, falls es »irgendwann später« geben wird.

»Was bringt dich dazu, deinen Nachmittag mit einer Trinkerin zu verbringen?«

»Wie hätte ich diesem offensiven Flirtversuch widerstehen sollen? Es passiert mir nicht täglich, dass sich mir eine Frau einfach so an den Hals wirft.«

»Lass mich kurz überlegen«, kontere ich mit gespielter Nachdenklichkeit. »In welcher Rolle fühle ich mich wohler? In der Rolle der verwirrten Säuferin oder in der der verzweifelten Frau, die Männern auflauert?«

Seine Augen funkeln mich an. So tief, dunkel, unergründlich und spannend.

»Probiere es einfach ohne Rolle, Klara mit K.« Seine Stimme ist sanft, und seine Worte klingen wie eine Verheißung, die in jede Faser meines Körpers dringt. Er flirtet mit mir. Wie oft habe ich derartige Szenen in meinen Tagträumen durchgespielt. Wie oft scheiterten solche Vorhaben daran, dass ich es den ganzen Tag lang nicht vom Schreibtisch nach draußen schaffte und abends voll bekleidet auf dem Sofa einschlief.

Mein Puls beschleunigt sich, und ich verberge meine nervösen Finger unter dem Tisch, bis der Wein serviert wird und wir uns zuprosten.

»Auf diesen besonderen Tag«, sage ich und bin mir der Dramatik dieser Worte erst bewusst, nachdem sie sich nicht mehr zurücknehmen lassen.

»Auf die besonderen Tage, die hoffentlich noch folgen werden«, ergänzt er kryptisch und weckt damit viele Fragen in mir.

Ich versuche, etwas in seinen Zügen zu finden, das mir verrät, wie dieser Tag weitergehen wird. Ich spüre Ungeduld, bin wie ein kleines Mädchen, das vor einem verpackten Geschenk sitzt und wissen möchte, ob sich unter dem bunten Papier die ersehnte Puppe oder doch der praktische Rollkragenpullover befindet.

Der Rotwein brennt süßlich-herb in meiner Kehle. Obwohl ich einer Winzerfamilie angehöre, trinke ich nur sehr selten Wein und hoffe, dass der Zweigelt mich nicht sofort betrunken macht. Ich lasse es darauf ankommen, nehme einen großen Schluck, denn ich fühle mich wie ausgedörrt.

»Der beste Wein, den ich je getrunken habe«, schwärmt Jonas und schwenkt das langstielige Glas in seinen Händen.

Die Geste erinnert mich an meinen Vater, wenn er nach einem harten Arbeitstag bei Jazzmusik am Küchentresen saß und einen edlen Tropfen zelebrierte. Die Wehmut des Geistes der Vergangenheit vermischt sich mit der Glückseligkeit, die der Geist der Gegenwart zutage fördert, und unter der raschen Wirkung des Weines werden alle Gefühle verstärkt.

Ich bin zunächst nicht sicher, ob auch das Bild der Gestalt auf der anderen Seite der Donaupromenade dem steigenden Alkoholpegel zuzuschreiben ist. Aber dort ist jemand, der sich hinter einen Werbeaufsteller duckt, als mein Blick in seine Richtung schwenkt. Jemand beobachtet uns. Jemand, der nicht dabei gesehen werden will. Angestrengt inspiziere ich die Tafel. Die Spitzen von schwarzen Turnschuhen lugen unter den Metallbeinen hervor. Jemand hockt dahinter. Vielleicht einer von der Presse, der eine Story wittert? »Eine neue Liebe für die Adam-Tochter?« Es gibt nicht oft Presseberichte über mich, aber wer weiß, was den hiesigen Zeitungen während des Sommerlochs einfällt. Das Interesse galt meinen Eltern, vor allem meiner Mutter, die es verstanden hatte, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ihr medialer Ruhm brachte ihr kurzfristig sogar eine eigene TV-Show, in der sie betagte Unternehmer mit heiratswilligen Frauen verkuppelte. Ein Quotenflop, zum Glück.

»Klara?«

Ich fahre zusammen. »Wie bitte?«, stammle ich und richte meine Aufmerksamkeit wieder auf Jonas.

»Ich habe gefragt, wo du wohnst.«

»Altstadtnähe. Bist du auch von hier?« Meine Augen huschen zurück zur Werbetafel. Ich überfliege die Worte darauf: »Immer wieder Deix. Karikaturmuseum Krems«.

Die Turnschuhe sind verschwunden.

»Ja«, erwidert Jonas. »Ich wohne im Industriegebiet. Nicht gerade die nobelste Gegend, ich weiß.«

Er hat recht, doch ich winke ab. »Es kommt sowieso nur auf die Nachbarn an. Gemessen an ihnen ist mein Viertel auch gar nicht so nobel.«

»Darüber muss ich mit meinem Vermieter sprechen. Vielleicht lässt sich mit diesem Argument die Miete drücken.«

Ich werfe lachend den Kopf in den Nacken, spüre, wie der Wein meine Muskeln lockert und meine Nervosität vertreibt.

»Die Nachbarin über mir«, erzählt Jonas, »badet zweimal täglich. Dabei singt sie. Und wenn sie nicht singend badet, stänkert sie aus dem Fenster. Knallen Sie die Eingangstür nicht so zu. Der Hund muss draußen bleiben. Ihre Kinder sind viel zu laut.«

»Meine frühere Lieblingsnachbarin war dement«, erzähle ich. »Sie klopfte ständig an meine Tür, um bei mir zwei Semmeln zu kaufen. Irgendwann hatte ich immer welche für sie in der Brotlade.«

»Das ist eine gute Taktik, um sich das Einkaufen zu sparen. Nein, im Ernst. Das war sehr nett von dir.« Jonas legt den Kopf schräg. »Teilt dein Freund diese soziale Ader?« Er rollt mit den Augen und seufzt. »Wie peinlich. Sorry, das war plump.«

»Nein, das war es nicht. Ich habe keinen Freund.« Ich beobachte Jonas’ Reaktion. »Der Fairness halber stelle ich die Gegenfrage. Wie findet deine Freundin die singende und stänkernde Nachbarin?«

Jonas streicht sich die Haare zurück. »Ich bin seit zwei Jahren Single. Keine gefunden, die mich aushält, ein Job, der mich zeitlich auffrisst – das Übliche.«

Bei einem zweiten Glas Wein und einem Teller Gemüsechips, den wir uns teilen, erfahre ich, dass Jonas IT-Spezialist auf dem Gebiet der Internetsicherheit ist, dass er gerade dreißig geworden ist und aus Ungarn stammt. Er mag Vintagemöbel, liebt Indie-Pop und Science-Fiction-Filme. Sein Popcorn isst er am liebsten süß, seit er zwei Jahre lang in Berlin gelebt hat, wo es in seinem Stammkino nur Karamellpopcorn gab. Er reagiert allergisch auf Katzenhaare, hasst blumiges Parfum – zum Glück trage ich keines – und träumt von einer Skandinavienreise. Er ekelt sich vor Käfern und Gorgonzola, und er wurde als Teenie von seiner Mutter zu einem Tanzkurs verpflichtet, wo er mit Anita tanzen musste. Anita, sechs Jahre älter, mit blumigem Parfum, einem ausgeprägten Überbiss und dem Charme eines IS-Terroristen, fiel eines Tages nach dem Walzer über ihn her, packte und küsste ihn.

Ich beneide Anita.

Ich greife nach einigen Rote-Rüben-Chips und dippe sie in die Soße. Jonas tut es mir gleich. Die Knöchel unserer Finger berühren sich dabei. Der Drang, mich bei ihm einzuladen, um unser gemeinsames Schicksal mit First-Date-Sex zu besiegeln, zuckt in mir. Pulsierende Gedanken, in die ich mit jedem Schluck Wein tiefer hineingezogen werde.

Die Gäste um uns kommen und gehen. Ich nehme sie nur beiläufig wahr. Dass das Wetter von bewölkt auf heiter umgeschlagen hat, bemerke ich erst, als die Sonne so tief steht, dass ich die Augen zusammenkneifen muss, um Jonas ansehen zu können. Längst sind unsere Gläser leer, wofür wir immer wieder Blicke vom Personal ernten, das unseren Platz gern an neue Gäste vergeben würde.

»Erzähl mir mehr von dir, Klara.« Die Art, wie er meinen Namen betont, gefällt mir. »Was machst du beruflich?«

»Ich arbeite für einen Winzerbetrieb. Also bin ich doch irgendwie vom Fach«, erzähle ich wahrheitsgemäß, aber gekürzt. »Eigentlich war die Kunst schon immer meine Leidenschaft. Aber es hat mir an Mut gefehlt, um beruflich etwas daraus zu machen.«

Jonas schiebt den Teller zwischen uns zur Seite und stützt sein Kinn auf die Hände. »Du malst?«

»Schon lange nicht mehr. Ich bin kein großes Genie, aber es fühlte sich gut an.«

»Dann solltest du malen.« Er betrachtet meine Hände, die unruhig an einer Serviette zupfen. Er macht mich nervös, und das weiß er. »Bei deinen schönen langen Fingern habe ich vermutet, du würdest Gitarre spielen.«

»Nein, ich spiele kein Instrument. Na ja, ich habe Erfahrung darin, die zweite Geige zu spielen.«

Jonas rückt näher an mich heran, ist ganz bei mir. »Das sollte ich dringend ändern«, flüstert er so leise, dass ich meine, mich verhört zu haben.

Schon lange hat mich keiner mehr auf diese Weise angesehen, auf diese Weise mit mir geredet.

»Warum sind wir uns noch nie begegnet? So groß ist die Stadt schließlich nicht.« Jonas kommt der Wahrheit gefährlich nahe, aber ich möchte ihm nichts von Adam erzählen. Heute möchte ich nur Klara sein.

»Meine Eltern sind letztes Jahr ums Leben gekommen. Seither verbringe ich viel Zeit in ihrem Haus am Land.« Ich schlucke schwer. »Ich genieße die Ruhe. Und ich bin es ihnen schuldig, ihr Haus nicht verwaisen zu lassen.«

Jonas’ Hand liegt so plötzlich auf meiner, dass ich zusammenzucke. Eine Geste, die mir in den letzten Monaten sehr vertraut geworden ist. Viele verlieren ihre Eltern in meinem Alter. Ich war eine erwachsene Frau, als sie gestorben sind. Kein Kind, das man aus der Schule holte, um ihm mitzuteilen, dass Mama und Papa bei den Engeln seien. Aus irgendeinem Grund rufe ich jedoch genau diese Reaktion bei anderen hervor. Als ob es mir auf der Stirn geschrieben stünde. Die, die sonst niemanden hat. Die, die sonst nichts kann, außer Tochter zu sein.

»Gibt es jemanden, der Sie in Ihrem aktuellen Zustand ein wenig unterstützen kann?«, fragte die Ärztin gestern im Krankenhaus, während sie meine Anamnese in die Tastatur hämmerte.

»Nein«, flüsterte ich. »Niemanden, abgesehen von meinem Hausmeister und anderen Angestellten.«

Ich sah Betroffenheit in ihrem Blick aufflackern, als sie mir die Hand zur Verabschiedung reichte.

»Ein Autounfall?«, fragt Jonas, und ich spüre das Zögern in seiner Stimme, als wollte er die Worte zurückdrängen. »Es tut mir leid, ich wollte keine Wunden aufreißen.«

»Das tust du nicht«, sage ich rasch. Kurzes Schweigen. »Sie hatten einen Bootsunfall auf den Kanarischen Inseln. Mein Vater war ein leidenschaftlicher Segler, aber an diesem Abend sind sie in ein Unwetter geraten …« Ich unterbreche die Erzählung und trinke den letzten Tropfen des viel zu warmen Weines. »Meine Mutter wurde von Bord katapultiert. Mein Vater hatte einen Herzstillstand, als er ins Wasser gesprungen ist, um sie zu retten.«

Jonas senkt seinen Kopf und blickt starr auf den Tisch.

Menschen tun sich schwer damit, sich die Tragödien anderer anzuhören. Müsste ich im Nachhinein beschreiben, welche die schwierigste Phase nach dem Tod meiner Eltern war, so waren es genau solche Momente. Wenn ich dabei zusehen musste, wie andere meine Trauer betrauerten, wie sie um die richtigen Worte rangen. Worte, die es nicht gab.

»Wir sind uns bereits einmal begegnet.«

Jonas zieht seine Augenbrauen hoch. »Daran könnte ich mich ganz bestimmt erinnern.« Seine Stimme legt sich wie ein flauschiges Tuch um mich.

»Es war am Bahnhof. Du bist in eine Frau gestolpert, als du mit deiner Kamera beschäftigt warst.«

Jonas’ Hand entgleitet mir, als er sich nachdenklich zurücklehnt. Seine Stirn kräuselt sich, und er verschränkt die Arme hinter dem Kopf. »Noch ein Zusammenprall mit einer fremden Frau. Ich hoffe, das rückt mich jetzt nicht in ein schlechtes Licht«, murmelt er grinsend. »Du hast mich doch hoffentlich nicht verfolgt und gestalkt?«

»Dann haben wir wohl beide eine Masche und einen ziemlichen Schuss.« Ich lache, aber diesmal bleibt Jonas ernst.

»Es kann kein Zufall sein, dass wir uns heute getroffen haben.« Seine Stimme ist nicht mehr als ein Hauch. Der Lärm eines vorbeifahrenden Motorbootes schwillt an, aber mein Gehör filtert jedes seiner Worte heraus. »Es fühlt sich an, als hätte es so sein müssen.«

Mein Puls rast. Ich bin hypnotisiert von diesem Mann. Unsere Hände finden wie von selbst ineinander, die Finger umschlingen sich, spielen miteinander.

»Möchten Sie noch etwas bestellen?«, unterbricht die Kellnerin diesen Augenblick.

»Ich möchte gern zahlen.« Jonas zieht seinen Rucksack unter dem Tisch hervor und fischt eine Geldbörse heraus. Ich erhasche einen Blick auf den Bildband über Fotografie, der herausragt. Erst jetzt dämmert mir, wie unhöflich es ist, ihn die Rechnung begleichen zu lassen. Ich ziehe meine eigene Geldbörse aus der Tasche, aber Jonas zwinkert mir verschwörerisch zu. »Lass stecken. Die Malerei wird in den ersten Jahren ein brotloser Job sein. Da sollte dein Freund die Restaurantrechnungen bezahlen.«