Dem Chaos eine Form geben - Martin Hagemeier - E-Book

Dem Chaos eine Form geben E-Book

Martin Hagemeier

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Beschreibung

Cornelius Castoriadis (1922-1997) war politischer Aktivist, Philosoph, Sozialkritiker, Ökonom und Psychoanalytiker. Im Zentrum seines Denkens steht die Auseinandersetzung mit kreativen Elementen des Imaginären und dem politischen Streben nach Autonomie. Seine politischen Einstellungen und Theorien entwickelte er als Mitbegründer der französischen Gruppe Sozialismus oder Barbarei (1949-1967). In Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Veränderungen des 20. Jahrhunderts entwickelte er dabei nach dem Pariser Mai ’68 eigene philosophische Positionen, die ihn zu einem interessanten Impulsgeber für weiterhin aktuelle Perspektiven machen. Diese Einführung gibt einen Einblick in seine Biografie und eröffnet Zugänge zu seinem kritischen Denken.

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Inhaltsverzeichnis

1 Zugänge zu Castoriadis

Schriften und Reaktionen

Schwierigkeiten der Rezeption

Perspektivische Zugänge dieses Buches

1.1 Biografische Einblicke

Athen 1922-1945

Paris 1945 - 1968

Paris 1968-1997

1.2 Die Gruppe

Sozialismus oder Barbarei

(1948-1967)

Die revolutionäre Haltung

Der bürokratische Kapitalismus

Der gesellschaftliche Umbruch von 1958

Die Abkehr vom Marxismus

Zur Auflösung von

Sozialismus oder Barbarei

Ein Nachspiel im Mai 1968

2 Perspektiven durch das Labyrinth

2.1 Von der Psyche zur Ontologie

Die monadische Struktur der Psyche

Das Verhältnis der Psyche zum Körper

2.2 Von der Ontologie zur Sprache

Die Logik der Magmen

Die sozialen imaginären Bedeutungen

Die kreative Schöpfung

2.3 Von der Sprache zur Politik

Die Entdeckung der radikalen Imagination

Der Weg zur eigenen Rede

Kontingenter Nachgeschmack

3 Auswege aus dem Labyrinth

3.1 Politik – die Wiedergewinnung des Öffentlichen

Eine andere Aufteilung des Politischen

Von der Kritik an der Demokratie zur Postpolitik

3.2 Autonomie

Das Projekt der Autonomie

Autonomie im kapitalistischen Imaginären

Die performative Ausgestaltung der Autonomie

3.3 Die Sache mit der Revolution

4 Dem Chaos eine Form geben

Nur noch ein Kulturwissenschaftler?

Anhang

Abkürzungen

Glossar

Literaturverzeichnis

1Zugänge zu Castoriadis

Diese Einführung eröffnet Zugänge zu Cornelius Castoriadis, um einen Einstieg in die politische Biografie und die zentralen Themen seines Denkens zu ermöglichen. Die bestimmende Motivation richtet sich auf die Suche nach Anschlussmöglichkeiten zum Denken von Castoriadis und dem, was sich Castoriadis in einem seiner letzten Interviews wünschte: Eine Brücke zwischen seinen Ideen und den Menschen in der Gegenwart zu schlagen, die diese Ideen als zu weit entfernt von ihren eigenen Sorgen ansehen, oder die ihnen gar als irrelevant erscheinen.1 Dieser Brückenschlag, der auf eine Verbindung zwischen theoretischen Überlegungen und deren Überprüfung hinsichtlich ihrer praktischen Relevanz ausgerichtet ist, war zugleich ein wesentliches Merkmal seiner politischen Arbeit. Als Castoriadis am 26. Dezember 1997 in Paris starb, konnte diese Lücke durch ihn nicht mehr geschlossen werden.

In Castoriadis einen hilfreichen Ansprechpartner für die Gegenwart zu entdecken, bedeutet ihn innerhalb der politischen Debatten und theoretischen Diskussionen zu verorten, an denen er teilgenommen hat, zu denen er Stellung bezogen hat oder in denen er heute wieder entdeckt werden kann. Eine Annäherung an sein Denken eröffnet sich mit seiner Redeweise vom Labyrinth des Denkens.

„Denken heißt, sich in den Gängen zu verlieren, die es nur deshalb gibt, weil wir sie unablässig graben; am Ende einer Sackgasse umkehren, deren Zugang sich hinter unseren Schritten wieder verschlossen hat, bis endlich dieses Herumtappen im Kreise – ohne daß man wüßte, wie – begehbare Öffnungen in der Wand auftut.“ (Castoriadis 1981b, S. 7)

Denken bedeutet für Castoriadis, in ein Labyrinth einzutreten und einen Irrgarten entstehen zu lassen.2 In der Annäherung an Castoriadis werden wir mit diesem Labyrinth konfrontiert. Wir sind auf Zugänge angewiesen, die uns in dieses Labyrinth hineinführen, auf Perspektiven, die zur Orientierung in diesem Irrgarten helfen, um anschließend Auswege zu betreten, die aus diesem Labyrinth wieder herausführen.

Die Intention des ersten Teils dieses Buches ist es verschiedene Zugänge zu Castoriadis aufzuzeigen, die sich an der Rezeption seines Werkes, seiner Biografie und seinem Wirken in der Gruppe Sozialismus oder Barbarei orientieren. Die Perspektiven im zweiten Teil dieses Buches sind auf seine wesentlichen theoretischen Positionen gerichtet, wie sie in seinen Texten zugänglich sind. Dieser Teil entwirft eine thematisch gegliederte Perspektive auf sein Denken, um einen Überblick zu den verschiedenen philosophischen Aspekten seines Denkens zu gewinnen. Der dritte Teil konzentriert sich auf die Auswege, die Castoriadis mit seiner gesellschaftskritischen Analyse entwickelt und in denen seine politischen Positionen zum Vorschein kommen. Um sich Castoriadis über seine Lokalisierung im zeitgenössischen Diskurs anzunähern, wird im Folgenden zunächst eine Auseinandersetzung mit seiner Rezeption und seiner Kritik geführt. Daran schließt sich eine Übersicht über die einzelnen Teile dieses Buches an.

Die Texte von Castoriadis sind wegen der Verwendung einer wissenschaftlichen Sprache, die wenig Zurückhaltung in der Verwendung von Fremdwörtern, respektive philosophischen Fachausdrücken kennt, teilweise schwer zugänglich. Mit der intensiven Bezugnahme auf die politische Theorie der Antike übernimmt Castoriadis zahlreiche altgriechische Begriffe, die er oftmals noch mit einer eigenen Bedeutung versieht. Eine deutsche Übersetzung diese Begriffe würde die Lesbarkeit dieses Buches erhöhen, zugleich würden mit einer Übersetzung nur Facetten der Begriffsgeschichte erschlossen und möglicherweise wesentliche Bedeutungen ausgegrenzt. Um die Bedeutungsräume dieser Begriffe in der Auseinandersetzung mit Castoriadis zu erhalten, werden sie im Folgenden übernommen und in einem Glossar am Ende des Buches erläutert. Im Glossar aufgeführte Begriffe sind mit einem * markiert.

Schriften und Reaktionen

Die ersten Reaktionen auf Castoriadis’ Wirken finden sich in der politischen Auseinandersetzung in Griechenland und später in Paris.3 Castoriadis entwickelte seine Positionen zunächst in einem trotzkistischen Umfeld, ehe er sich ab 1948 von diesem Umfeld löste und als Mitbegründer der Gruppe Sozialismus oder Barbarei einen neuen Weg fand, um seine politischen Positionen zu diskutieren. Die von der Gruppe veröffentlichte Zeitschrift Sozialismus oder Barbarei war ihr Organ, um die intern geführten Debatten, mit ihren jeweiligen kritischen Positionierungen, in der Öffentlichkeit zu diskutieren. Mit der Gründung dieser Gruppe traf Castoriadis einen Nerv der Zeit. Die anti-stalinistische Haltung der Gruppe brachte Sozialismus oder Barbarei einen politischen Vorschuss ein, weil sie damit entschieden dazu beigetragen hat, eine von der Sowjetunion unabhängige radikale und sozialistische Bewegung in Frankreich aufzubauen.

Einem größeren Kreis wurden die Arbeiten von Castoriadis erst nach der Neuveröffentlichung seiner Aufsätze aus der Zeit von Sozialismus oder Barbarei ab den 70er Jahren zugänglich. Mit dieser gebündelten Herausgabe erschließt sich erstmals der Umfang seines Schaffens. In der Rezeption konnte Castoriadis als der Autor identifiziert werden, der zuvor unter verschiedensten Pseudonymen in Sozialismus oder Barbarei veröffentlicht hatte.4 Für die aktuelle Rezeption bieten diese Aufsätze eine gute Ausgangsgrundlage.

1975 veröffentlichte Castoriadis das Buch Gesellschaft als imaginäre Institution, das in der Regel als sein Hauptwerk charakterisiert wird. Inhaltlich schließt dieses Buch direkt an die Zeit von Sozialismus oder Barbarei an, weil darin nochmals seine Kritik des Marxismus abgedruckt wird, die in den letzten Ausgaben von Sozialismus oder Barbarei erschienen ist. Castoriadis bezeichnet den ersten Teil von Gesellschaft als imaginärer Institution als Bilanz des Marxismus. Dieser Bilanz stellt er seine eigene Gesellschaftstheorie gegenüber, die auf eine radikale Veränderung der Gesellschaft ausgerichtet ist. In diesem Buch finden sich die zentralen Aspekte seines Denkens wieder. Castoriadis entwickelt aus einer philosophischen Auseinandersetzung mit dem Konzept der Identität eine Theorie der Imagination und des Imaginären, die er in strikter Abgrenzung zu den damals vorherrschenden Theorien des Strukturalismus und der Psychoanalyse anlegt. In ihrer Dichte sind einzelne Diskussionen in diesem Buch nicht leicht zugänglich. Einzelne von Castoriadis kritisierte Punkte verlieren sich in der Vielschichtigkeit seines Vorgehens und durch die Ausrichtung auf eine theoretische Diskussion in wissenschaftlicher Sprache wird dieses Buch stilistisch wenig ansprechend. Dennoch bietet Gesellschaft als imaginäre Institution die beste Referenz auf seine Konzeption der Gesellschaft und den Schlüssel zum Verständnis von vielen seiner theoretischen und politischen Positionen.

Den Status als Hauptwerk nimmt Gesellschaft als imaginäre Institution vor allem ein, weil die weiteren theoretischen Schriften nicht mehr als fertiges Buch erschienen sind. Im Vorwort von Gesellschaft als imaginäre Institution kündigt er zwar noch eine weitere Studie über das Element des Imaginären an, die sich explizit mit den philosophischen Problemen seiner Theorie auseinandersetzten sollte, doch ist dieses Buch nicht mehr erschienen.5 Stattdessen fand er mit der seit 1978 erscheinenden Reihe Les Carrefours du labyrinth eine Form, um sowohl seinen theoretischen Diskussionen als auch seinen politischen Überlegungen einen Platz zu geben. Neben politischen und psychoanalytischen Themen finden sich darin Auseinandersetzungen mit der griechischen Antike, eine Kritik an der modernen Demokratie und weitere kritische Überlegungen zur Situation der modernen Gesellschaften.

Neben dieser Reihe steht mit Devant la guerre noch ein weiteres eigenständiges Buch, das 1980 als Analyse und Kritik der damaligen Sowjetunion erschienen ist. Seine Zielsetzung erschließt sich am ehesten über den zeitgeschichtlichen Bezug. Castoriadis arbeitete 1979 für die Zeitschrift Libre. Deren Redaktion diskutiert, wie innerhalb von Libre angemessen auf die sowjetische Invasion in Afghanistan reagiert werden könne. Er veröffentlichte daher in Libre den ersten Teil einer zu diesem Zweck verfassten Studie, in der die Sowjetunion als die weltweit führende Militärmacht dargestellt wurde. Castoriadis analysierte hier die Sowjetunion zu Beginn der 80er Jahre und sah sie dominiert von der Herrschaft des Militärs, einer Stratokratie*. Diese Stratokratie existiert innerhalb der Gesellschaft als eigenständiger Bereich, der die gesamte Gesellschaft leitet und auf militärische Dominanz und territoriale Expansion ausgerichtet ist. In dieser Stratokratie sah Castoriadis das größte Hindernis für einen innergesellschaftlichen Wandel. Zu Beginn der 80er Jahre konnte sich Castoriadis nicht vorstellen, dass eine soziale Reform aus dem Inneren der Kommunistischen Partei heraus gegen diese Herrschaft des Militärs entstehen konnte, wie sie seit 1985 mit Michael Gorbatschow einsetzte. Ein solcher Wandel konnte für ihn zu Beginn der 80er Jahre nur von außen kommen. In der Nachbetrachtung sieht er in dieser Einschätzung den einzigen Fehler dieser Studie, auch wenn die mit Gorbatschow einsetzenden Veränderungen nicht wirklich vorhersehbar waren.6 In Devant la guerre kommt nochmals nachdrücklich seine engagierte und kritische Haltung gegenüber der gesellschaftlichen Situation in der Sowjetunion zum Ausdruck. Allerdings sind die darin enthaltenden Analysen für die vorliegende Einführung von geringerem Interesse.

Schwierigkeiten der Rezeption

Castoriadis erscheint in der wissenschaftlichen Diskussion vor allem für sozialphilosophische Forschungsfelder interessant zu sein. Am bekanntesten ist in dieser Hinsicht das Auftauchen von Castoriadis in Jürgen Habermas Vorlesungsreihe Der philosophische Diskurs der Moderne. Am Ende dieser Reihe wendet sich Habermas aktuellen theoretischen Entwicklungen innerhalb der Soziologie zu und widmet Castoriadis einen gesonderten Exkurs, in dem er vorgestellt und diskutiert wird.7 Weitere Auseinandersetzungen finden sich in den Vorlesungen zur Sozialtheorie von Hans Joas und Wolfgang Knöbl, wo Castoriadis neben Alain Touraine und Paul Ricœur zu den französischen Anti-Strukturalisten gezählt wird.8 In den sozialwissenschaftlichen Theorien der Gegenwart kommt Castoriadis nur als Randfigur vor; eine Ausnahme bilden die Texte von Zygmunt Bauman, der in Castoriadis einen direkten intellektuellen Einfluss auf seine Arbeit ausmacht.9

Eine erste gebündelte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Werk von Castoriadis fand 1989 in einer Sonderausgabe der Zeitschrift Revue européenne des sciences sociales statt.10 Darin sind 29 Aufsätze gesammelt, die sich aus verschiedenen Blickrichtungen der Person und dem Werk annähern und einen guten Zugang für eine fundierte Auseinandersetzung anbieten. Diese Anknüpfungspunkte zu Castoriadis werden durch weitere Sonderausgaben verstärkt, die sich thematisch mit seinem Werk auseinandersetzen und in denen seine Bedeutung als Denker eine entschiedene Anerkennung findet.11

Diese Anerkennung spiegelt sich 1997 in den Nachrufen auf Castoriadis wieder, in denen sowohl die Originalität seines Denkens als auch seine Vertrautheit mit den zeitgenössischen Debatten besonders hervorgehoben wird. Diese Würdigungen bringen zudem zum Ausdruck, dass Castoriadis sich nicht den intellektuellen Moden seiner Zeit angeschlossen hat.12 Hierzu gehören die üblichen Verdächtigen: der offizielle Marxismus, der logische Positivismus, der Existenzialismus und die Psychoanalyse mit dem in den 70er Jahren tonangebenden Jacques Lacan. Des Weiteren lehnte Castoriadis die sich seit den 50er Jahren verbreitenden Ideen des Funktionalismus und des Strukturalismus entschieden ab. Diese Positionen wurden von ihm stark kritisiert und in Teilen regelrecht diffamiert.13 Am stärksten wiegen in dieser Hinsicht seine Ausfälle gegenüber dem Strukturalismus und seinen theoretischen Nachfolgern, die er als linguistische Epidemie und strukturalistische Ideologie abtut. Castoriadis überträgt diese Einschätzungen ebenfalls auf die Psychoanalyse von Jacques Lacan. Damit positionierte Castoriadis sich zugleich außerhalb einer geisteswissenschaftlichen Standarderzählung, wodurch eine Rezeption seiner Positionen erschwert wurde.14 In dieser Hinsicht ist es entscheidend, die zentralen Kritikpunkte von Castoriadis zu verdeutlichen, um nachvollziehen zu können, warum es hier zu keinem fruchtbarem Dialog gekommen ist und Castoriadis in zeitgeschichtlichen Darstellungen meist nur eine Nebenrolle einnimmt.

Die Kritik am Strukturalismus entzündet sich bei Castoriadis vornehmlich an dem strukturalistischen Vorgehen, das Subjekt nicht mehr als ein sinnstiftendes Element der Sprache mit in den Fokus der Auseinandersetzungen zu nehmen.15 Für ihn verschwinden damit in der strukturalistischen Denktradition in erster Linie ethische und soziale Perspektiven, aus denen sich alternative Handlungsoptionen für ein Subjekt ergeben können. Sein konkreter Vorwurf gegenüber diesen Denkrichtungen richtet sich damit auf das Fehlen von Zugriffsmöglichkeiten auf die sozialen Strukturen der Gesellschaft. Mit dem Denken von Unterschieden und der Differenz versteckt sich die politische Verantwortung hinter einer erkenntnistheoretischen Perspektive, die sich ihre eigene politische Wirksamkeit versagt. Innerhalb der strukturalistischen Theorie ist das Subjekt zwar nicht verschwunden, aber für Castoriadis zeichnen sich hier zwei perspektivische Sichtweisen des Subjekts ab, die er nicht teilen kann. 16 Die erste Sichtweise richtet sich auf die Auflösung und Dezentrierung des Subjekts, wodurch es auf rein funktionale Belange reduziert wird. Zu dieser Denktradition zählt Castoriadis Claude Lévi-Strauss, Louis Althusserl und Michel Foucault. Die zweite Sichtweise fokussiert sich auf die Auflösung des Subjekts in der Sprache. Hier bleibt das Subjekt als ein gesellschaftliches Individuum erhalten, dass seine Aktivität verloren hat und nur noch gesprochen oder geschrieben wird. Unter diesen Gesichtspunkten eröffnet sich über die Verbindung des Subjekts mit dem Unbewussten eine Denktradition, die von Lacan zu Roland Barthes und Jacques Derrida führt. In diesen theoretischen Positionen ist ein handelndes Subjekt nicht mehr enthalten, somit werden dem Subjekt praktische Möglichkeiten versagt, auf die Castoriadis allerdings nicht verzichten will. Für ihn ist das Subjekt nicht schlicht gegeben und den Verhältnissen in seiner Gesellschaft hilflos ausgesetzt. Vielmehr gibt es für Castoriadis etwas wie eine Arbeit am Subjekt. Ein Subjekt muss erschaffen werden und es muss einen Ort haben, an dem es sich selbst erschaffen kann. Dazu bedarf es einer über das bloße Denken hinausgehende Reflexivität und dem Willen zu einem überlegten Handeln.

„Subjekt und autonomes Subjekt zu sein, heißt immer noch, jemand und nicht alle oder irgendwer oder irgendwas zu sein. Es heißt immer noch, und in erster Linie, bestimmte Objekte zu besetzen und seine eigene Identität zu besetzen – die Vorstellung seiner selbst als autonomes Subjekt.“ (Castoriadis 2012a, S. 240)17

Ein autonomes Subjekt zielt auf die Bildung einer eigenen Identität ab. Das extreme Gegenbild dazu ist in der von Hannah Arendt beschriebenen Person des Adolf Eichmanns zu erkennen. In Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht über die Banalität des Bösen stellt Arendt heraus, dass Eichmann sich weigerte, ein Individuum zu sein. Er hatte sein Denken abgestellt, ihm mangelte es an Imagination.18 Eichmann verhielt sich damit nicht nur heteronom*. Er übernahm nicht nur die ihm übertragenen Befehle. Vielmehr zerstörte er in den Augen Arendts sein Menschsein, indem er nicht mehr über sein Handeln nachdachte und sich damit der Teilnahme an einer menschlichen Praxis entzog. Dadurch war er zugleich am weitesten von dem entfernt, was Castoriadis mit seinem Projekt vorschwebte.

Der von Castoriadis an der postmodernen Theorie kritisierte Verlust an ethischen und sozialen Perspektiven steht dabei exemplarisch für die sich in der Gesellschaft verbreitende Konformität. Seine Zweifel setzen hier bereits bei dem Begriff der Postmoderne an, der für ihn keine adäquate Charakterisierung der Gegenwart darstellt, aber gut den Zustand der Konformität ausdrückt, in dem sie sich befindet. Castoriadis verortet die Moderne in dem Zeitraum zwischen 1750 und 1950 und verbindet diese Epoche mit dem Hinterfragen des Gegebenen in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, besonders in der Philosophie, der Politik oder der Kunst.19 Dieses reflektierte und kritische Moment schwindet aber zusehends in den modernen Gesellschaften. Daran trägt nicht die postmoderne Philosophie die Schuld, aber sie drückt für Castoriadis in bezeichnender Weise die vorherrschende Stimmung aus, aus der sich sein Unbehagen speist.

„Wie eine der Koryphäen der zeitgenössischen Architektur 1986 auf einer Tagung in New York sagte: „Die Postmoderne hat uns endlich von der Tyrannei des Stils befreit.“ Mit anderen Worten, die Architekten sind von der Tyrannei befreit, sie selbst sein zu müssen. Sie können jetzt nach Gutdünken verfahren, einen gotischen Turm an eine ionische Säule klatschen und das Ganze in eine thailändische Pagode stellen. Sie werden nicht länger vom Stil tyrannisiert, sie sind jetzt wahrhaft individualistische Individualitäten: Individualität besteht von nun an darin sich links und rechts die diversen Elemente zusammenzuklauen, um daraus etwas zu „produzieren“. Doch das Gleiche gilt in noch konkreterer Form für den gewöhnlichen Alltagsmenschen: Er lebt, indem er Collagen anfertigt, seine Individualität ist ein Patchwork aus Collagen.“ (Castoriadis 2012b, S. 87)

Die Postmoderne ist besonders durch die mit ihr verbundene neue Architektur bekannt geworden.20 Ihre Auflösung von architektonischen Stilen ist für Castoriadis bedenklich. Darin sieht er bereits ein Zeichen für den sich ausbreitenden Konformismus in der Gesellschaft, der den Zerfall von sozialen Identifikationsstrukturen befördert. Besonders symptomatisch an dieser postmodernen Haltung ist für Castoriadis die Ablehnung einer gemeinsamen sozialen Perspektive, in der Wege zu einer Selbstlegitimierung der Gesellschaft bereitgehalten werden. Castoriadis bezeichnet diese Entwicklung als Anstieg der Bedeutungslosigkeit, der in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen zum Ausdruck kommt.21 Es ist das politische Aufbrechen der Unterscheidung von links und rechts, das sich unter anderem in dem Verschwinden von sozialen Kämpfen und programmatischen Gegensätzen der politischen Parteien zeigt. Es ist aber auch die immer stärkere Einbindung von kritischen Stimmen in das bestehende Gesellschaftssystem, wodurch jede Form der Kritik von vornherein vereinnahmt wird und an Wirksamkeit verliert.

Die Ursachen für diese Entwicklung sieht Castoriadis in der pseudo-rationalen Ausrichtung der kapitalistischen Grundstrukturen der Gesellschaft. Eine Investition in die Reproduktion von gesellschaftlichen Werten rechnet sich nicht mehr in der nach pseudo-rationalen Kriterien formierten kapitalistischen Gesellschaft. Dadurch entsteht in der Gesellschaft ein eklatanter Mangel an diesen Werten, der nur noch teilweise durch persönliches Engagement einzelner Menschen ausgeglichen werden kann, die sich noch an alten Identifikationsmustern orientieren.22 Castoriadis stellt die Frage, warum es noch unbestechliche Richter, gesetzestreue Beamte oder engagierte Lehrer gibt, die weiterhin eine soziale engagierte Haltung einnehmen, obwohl der neoliberal ausgeprägte Kapitalismus keinerlei Unterstützung für dieses Engagement bereithält. Innerhalb einer neoliberalen Ökonomie rentiert sich die Investition in gemeinsame gesellschaftliche Werte wie Unbestechlichkeit, Gesetzestreue oder Engagement nicht, sodass von dieser Seite aus keine gesellschaftliche Basis für eine Identifikation mit gemeinsamen Werten mehr bereitgehalten wird.

Bezeichnenderweise hält Castoriadis in der Mitte der 80er Jahre, zum Höhepunkt der Postmoderne, einen Vortrag über den Zustand des Subjekts, der diese Problemstellungen aufgreift.23 Für Castoriadis ist es Eines, zu behaupten, dass das Subjekt tot sei, es ein Ende von Bedeutungen, der Geschichte, eine Undurchdringlichkeit der Macht oder ein Ende der Politik gebe. Es ist aber ein Anderes, sich der daraus resultierenden Verantwortung zu entziehen. Castoriadis kann als Theoretiker diese Analysen teilen, aber daraus resultiert für ihn keine apolitische Haltung. Er plädiert vielmehr entschieden für eine Zunahme der eigenen politischen Verantwortung und verbindet diese Haltung mit seinem Projekt einer autonomen Gesellschaft. Castoriadis vehemente Forderung nach einer Berücksichtigung des Subjekts in der Philosophie verbindet sich mit seinem politischen Grundverständnis der Ausgestaltung der Gesellschaft, in der ein Platz vorhanden sein muss, um über sich zu reflektieren und um überdachte Entscheidungen zum Handeln treffen zu können. In dieser Hinsicht ist das Subjekt auf eine Gesellschaft angewiesen, in der eine derartige Reflexion möglich wird, wo es einen sozialen Raum gibt, in dem Regeln und Normen hinterfragt werden können und in dem eine Neuschöpfung von politischen und sozialen Bedeutungen möglich bleibt. Nur wenn es gesellschaftliche Räume gibt, in denen gemeinsame politische Interessen diskutiert und formuliert werden können, eröffnet sich für Castoriadis der Weg zu einer autonomen Gesellschaft.

Aus dieser Quelle speist sich der gesellschaftskritische Impuls von Castoriadis, der sich in seinem Streben nach individueller und kollektiver Autonomie verdeutlicht und die entpolitisierte Gesellschaft mit einer starken Kritik überzieht, die nach einer reflektierten menschlichen Praxis verlangt. Über seine vehemente Kritik am Kapitalismus ist er dabei eindeutig als ein linker Gesellschaftskritiker zu identifizieren und wird mit seinem Einsatz für Prozesse der Emanzipation zu einem Ansprechpartner für verschiedene politische Gruppen.

Sein Denken ist in verschiedenen politisch links zu verortenden Strömungen anzutreffen. Sei es in kapitalismuskritischen, ökologischen, basisdemokratischen oder libertären Diskursen, die er mit seinen theoretischen Ansätzen bereichern kann. Für eine Neubestimmung des Raums des Politischen ist Castoriadis demnach ein guter Ansprechpartner, weil er diesen Raum nie hat aufgeben wollen. In dieser Hinsicht ist es bezeichnend, dass dieser Bereich seit den 80er Jahren auch wieder von der post-strukturalistischen und dekonstruktivistischen Theorie erschlossen wird. Sei es in den späteren Arbeiten von Foucault oder Derrida, der sich entwickelnden Gendertheorie, den modernen Ansätzen zum Postpolitischen oder den Versuchen der Akteurs-Netzwerktheorie, die darauf ausgerichtet ist, den politischen Bereich von Objekten auszuformulieren.24

Perspektivische Zugänge dieses Buches

Zugänge zu Castoriadis sind auch immer abhängig von der Perspektive, mit der eine Lektüre seiner Schriften begonnen wird. Diese Zugänge eröffnen sich in Bereichen, in denen ein Schwerpunkt auf emanzipative und nach Autonomie strebenden Positionen gelegt wird. Die bisher angesprochenen Problemstellungen werden an verschiedenen Stellen dieses Buches deutlich und der folgende Abschnitt gibt einen Überblick über mögliche Perspektiven, aus denen eine Annäherung an Castoriadis beginnen kann.

Wer Castoriadis über seine Texte aus der Zeit von Sozialismus oder Barbarei kennenlernt, der kann in ihm einen Postmarxisten entdecken, der mit den Versuchen der politischen Umsetzungen der marxistischen Theorie ringt und sich sukzessive vom Marxismus löst, bis er keine Grundlage mehr für eine revolutionäre Theorie in ihm finden konnte. Simon Tormey und Jules Townshend schlagen diese Deutung vor, relativieren sie aber zugleich wieder, da sich Castoriadis gegen diese Deutung gewehrt hätte. Für sie ist er aber als ein Postmarxist lesbar, weil sich seine Radikalität gerade im und gegen den Marxismus entwickelte.25 In den biografischen Abschnitten in 1.1 wird ein Einblick auf die wesentlichen Stationen und Positionen seines Lebens vermittelt. Zu diesen Stationen gehören auch seine Berührungspunkte mit dem Marxismus, die in der Auseinandersetzung mit der Gruppe Sozialismus oder Barbarei in dem Abschnitt zur Abkehr vom Marxismus nochmals vertieft dargestellt werden. Diese Abschnitte sind nicht geschrieben worden, um Castoriadis als einen Postmarxisten erscheinen zu lassen. Hier geht es vielmehr um einen Einblick in die Zeit der Gruppe Sozialismus oder Barbarei, mit dem besonderen Augenmerk auf Castoriadis Beteiligung und Entwicklungen innerhalb dieser Gruppe. Diese Abschnitte werden Diskussionen und Stationen der politischen Auseinandersetzung der Gruppe Sozialismus oder Barbarei aufgreifen, stehen aber nicht für eine vollständige Geschichte von Sozialismus oder Barbarei. Eine derartige Geschichte muss facettenreicher angelegt sein, als an dieser Stelle zu leisten ist. Das Interesse liegt hier in der Vermittlung der von Castoriadis ausgebildeten theoretischen Positionen. Die Arbeiten von weiteren Mitgliedern der Gruppe Sozialismus oder Barbarei, die sich verstärkt in anderen Bereichen engagierten, oder die Inhalte der Gruppentreffen und zahlreichen Veranstaltungen von Sozialismus oder Barbarei werden nur kursorisch berührt.26

Wer über Gesellschaft als imaginäre Institution zu Castoriadis findet, wird ebenfalls mit seiner Kritik am Marxismus konfrontiert. Der erste Teil dieses Buches ist ein Wiederabdruck seiner letzten großen Artikelreihe aus Sozialismus oder Barbarei über Marxismus und revolutionäre Theorie, wodurch dieses Buch direkt an die Zeit von Sozialismus oder Barbarei anknüpft. Ohne diesen Wiederabdruck wäre sein Denken vielleicht eher dem Stempel des Postmarxismus entgangen, wodurch theoretische Anschlüsse in anderen Bereichen meiner Ansicht nach erschwert wurden. Im Anschluss an seine Kritik des Marxismus entwickelt Castoriadis hier eine interessante Kritik der Philosophie, die sich wie die anfängliche Systemtheorie stark gegen den Strukturalismus und den Funktionalismus wendete,27 aber mit einer Psychologie und einer politische Forderung nach einer sozialistischen Revolution einhergeht, die nur noch schwer unter einem Label zusammenzubringen sind. Die vertiefte Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse nimmt seit den 60er Jahren einen starken Einfluss auf seine Arbeit, was sich in Gesellschaft als imaginäre Institution deutlich zeigt, wenn er dort psychoanalytische Positionen verwendet, um vorherrschende ontologische Positionen in der Philosophie zu kritisieren. In diesem Buch wird die Tiefe seiner theoretischen Argumentationen greifbar, die sich ausgehend von seiner Kritik der Philosophie auf eine neue Bestimmung der Relationen von Psyche*, Ontologie*, Sprache und Politik richtet. In jedem Fall ist Castoriadis hier als ein originärer Denker zu entdecken, der sich kritisch gegenüber den dominierenden Theorien seiner Zeit positioniert und neue Perspektiven eröffnet.

In den Abschnitten des zweiten Teils werden die zentralen Aspekte seines philosophischen Denkens erschlossen, die Castoriadis bereits während der Zeit von Sozialismus oder Barbarei entwickelte, die aber erst nach dieser Zeit in die Gesellschaft als imaginäre Institution zusammengeführt wurden. Dieses Kapitel wird beginnend von der Psychologie über seine Kritik an der Philosophie und seinen ontologischen Gegenentwurf zu seiner Auseinandersetzung mit der Sprache und der Politik führen. Die zentrale Perspektive dieses Kapitels richtet sich auf Castoriadis’ Auffassung der sozialen imaginären Bedeutungen* als einer Ordnungsstruktur der Gesellschaft, mit welcher Denken, Sprechen und Handeln in einer Gesellschaft strukturiert werden. Über die sozialen imaginären Bedeutungen erschließt sich für Castoriadis die politische Wirksamkeit von Normen, Regeln oder Werten einer Gesellschaft. Zudem thematisiert Castoriadis ein spannungsreiches Wechselverhältnis zwischen den bereits instituierten und möglichen noch zu instituierenden sozialen imaginären Bedeutungen. In diesem Wechselverhältnis wird deutlich, dass es nicht nur ein bestimmendes Grundmuster einer Gesellschaft geben muss, sondern dass sich über eine Auseinandersetzung mit verschiedenen imaginären Bedeutungen einer Gemeinschaft auch Perspektiven auf hybride, kontingente und breiter angelegte Gesellschaften eröffnen.

Der dritte Teil wird sich den von Castoriadis angebotenen Auswegen aus dem Labyrinth zuwenden und über sein Verständnis von Politik, Autonomie und Revolution Interpretationen eröffnen, in denen er heute als ein postpolitischer oder gar postanarchistischer Denker gelesen werden kann. Im Bereich der Politik eröffnet sich für Castoriadis ein erster Ausweg, der über die Erschaffung der Demokratie in der griechischen Antike zu einer Kritik an den modernen Formen der Demokratie führt. Diese Kritik entzündet sich weniger an den Inhalten einer konkreten Politik als an dem gesellschaftlichen Raum des Politischen, in dem die Prozesse der Politik, für alle wirksam sind und von allen gelebt werden können. Castoriadis stützt sich damit auf eine Analyse, die heute wahlweise unter dem Ansatz postpolitischer und postdemokratischer Theorie diskutiert wird.28 Der Kern postpolitischer oder postdemokratischer Kritik richtet sich auf die Entpolitisierung der Gesellschaft, wogegen ein radikaldemokratischer Diskurs initiiert werden soll, der sich für die Rückgewinnung des Politischen als zentralen Ortes der Demokratie einsetzt. Castoriadis kann dieser politischen Denkrichtung zugeordnet werden, sodass er für die postpolitische Theorie zu einem interessanten Ansprechpartner werden kann.

An der Entpolitisierung der Gesellschaft bemängelt Castoriadis zwei wesentliche Punkte. Vordergründig führt die Entpolitisierung der Gesellschaft zu einer Aufsplitterung der politischen Themen in Partikularismen. Lösungsansätze richten sich nicht mehr auf die gesellschaftliche Totalität, sodass die Diskussion des Politischen auf einer Ebene bleibt, in der die Gesellschaft als Ganze nicht mehr vorkommt. Darüber hinaus wird der Bereich des Politischen nicht mehr als der Raum einer Öffentlichkeit erlebt, in dem politische Vorstellungen ohne Rücksicht auf private Interessen diskutiert werden. Die Öffentlichkeit, als politischer Raum, wird hingegen von privaten Interessen dominiert und verliert damit an Eigenständigkeit. Dies hat zur Folge, dass ein politischer Austausch oder Streit über die gemeinsamen öffentlichen Belange ausbleibt und es zu einer Abnahme der politischen Beteiligungsmöglichkeiten der Mehrheit der Menschen einer Gesellschaft kommt.

Gegen diese Tendenz begehrte Castoriadis mit seinem Verständnis der Politik auf. Ihm geht es nicht nur darum, einen radikaldemokratischen Diskurs zu initiieren, indem sich die Gesellschaft wieder dem Politischen zuwendet, sondern es geht ihm um eine konsequente Arbeit an der Umsetzung und Fortführung der Demokratie, die weder zu einer starren Verwaltung verkommen noch unter den Einfluss von privaten Interessen geraten soll. Erstarrt die Demokratie in strikten Formen, die nur noch verwaltet werden, dann entpolitisiert sich der Raum des Politischen, der immer in einem Prozess bleiben sollte, um der eigenen Entpolitisierung zu entgehen.29

Ein zweiter Ausweg aus dem Labyrinth erschließt sich über Castoriadis’ zentrale politische Forderung, dem Streben nach individueller und kollektiver Autonomie. Dieser Punkt wird in den vorhergehenden Abschnitten bereits zur Sprache gekommen sein, erfordert allerdings eine eigenständige Diskussion, um die wesentlichen Elemente herauszuarbeiten, die Castoriadis damit verbindet. Mit seinem Verständnis von Autonomie wird Castoriadis auch aus einer libertären Perspektive interessant. Starke Berührungspunkte von beiden Positionen finden sich hier in der Kritik der politischen Ordnung der modernen Gesellschaft, die sich an der politischen Form der Herrschaft entzündet. Castoriadis’ Einstellung gegenüber einer libertären Perspektive ist allerdings nicht ganz ungetrübt. Die wenigen meist negativen Bezugnahmen auf den Anarchismus richten sich gegen das optimistisch gehaltene Bild des Menschen, in dem Castoriadis einen ideologischen Fortschrittsgedanken ausmacht, der für die moderne Gesellschaft prägend sei.30 Für eine anarchistische Lektüre besteht eine weitere Herausforderung: Sein pragmatischer Realismus ist mit der Konzeption einer herrschaftsfreien Gesellschaft ohne explizite Machtinstitutionen nicht vereinbar. Castoriadis äußert vehemente Kritik gegenüber dieser Annahme: „(…) eine Gesellschaft ohne explizite Machtinstitutionen ist eine Absurdität, der sowohl Marx als auch der Anarchismus erlegen sind.“31

In der als postanarchistisch charakterisierten Diskussion werden diese Positionen neuerdings nicht mehr strikt geteilt, sondern gezielt infrage gestellt.32 Dadurch eröffnen sich neue Perspektiven, in denen sich Castoriadis für eine anarchistische Lektüre anbietet. Gemeinsame Schnittmengen finden sich hier in der Wertschätzung von gesellschaftlicher Selbstverwaltung und dem Streben nach Formen individueller und kollektiver Autonomie. Castoriadis hat in dieser Hinsicht auch kein Problem damit, die Forderung Michael Bakunins zu übernehmen, dass die Institutionen und Strukturen einer Gesellschaft verstehbar und kontrollierbar bleiben sollen.33 Dieser Weg verläuft in erster Linie über basisdemokratische Prozesse, von denen aus eine Reorganisation der Gesellschaft angestrebt wird. Über Elemente der gesellschaftlichen Selbstverwaltung erschließt sich dann eine Perspektive auf einen Begriff politischer Macht, der nicht mehr notwendig als staatliche Herrschaft gelesen werden muss. Castoriadis fasst Autonomie als Selbstbegrenzung auf, mit der sich Individuen und Kollektive Regeln, Werte und Normen setzen, als Ergebnis einer kollektiv getragenen Selbstbegrenzung.34 In dieser Selbstbegrenzung zeigt sich die von Castoriadis intendierte Form der Autonomie und in dieser Hinsicht eröffnen sich durch sein Projekt der Autonomie libertäre Perspektiven innerhalb seines politischen Denkens.

Castoriadis bezeichnete sich bis zum Ende seines Lebens als Revolutionär und über sein Verständnis der Revolution bietet sich ein weiterer Ausweg aus dem Labyrinth an.35 In dieser Hinsicht ist besonders nach der Ausprägung seines revolutionären Selbstverständnisses zu fragen und der Frage nachzugehen, inwiefern sich dieser Revolutionsbegriff seit der Zeit von Sozialismus oder Barbarei veränderte. Während der Zeit von Sozialismus oder Barbarei trat Castoriadis für eine sozialistische Revolution der Gesellschaft ein, dass sich in der Folgezeit in Auseinandersetzung mit seinem Verständnis von Politik und Autonomie zu einem Projekt der gesellschaftlichen Transformation wandelt. An dieser Stelle kann auch nach der Wehmut eines alternden Linken gefragt werden, für den nach dem Ende der Sowjetunion 1989 eine Welt zusammengebrochen sein könnte. Diese Wehmut findet sich bei Castoriadis allerdings nicht. Für den Kritiker der Sowjetunion stellt sich das Jahr 1989 als ein neuer gesellschaftlicher Aufbruch dar. Mit dem Ende der Sowjetunion setzten viele verschiedene Prozesse ein, die in den Jahren davor nicht möglich waren, aber sie führten nicht zur Ausbildung von politischen Systemen, wie Castoriadis sie gerne gesehen hätte. Das kommunistische System hat zwar verloren, aber die ehemals führenden Mitglieder der bürokratischen Staatsapparate wurden zu Gewinnern der Transformation. Ihnen fiel es leicht, sich in den transformierenden Staatsapparaten neue Wege und Formen der Bereicherung zu erschließen, sodass sie schnell wieder eine gesellschaftlich dominante Position einnehmen konnten. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Castoriadis in den Interviews von Beginn der 90er Jahre die demokratischen und emanzipatorischen Bewegungen in Osteuropa und den Ländern der ehemaligen Sowjetunion begrüßt und besonders ihre friedliche Haltung hervorhebt.36 Allerdings äußert er sich auch skeptisch gegenüber den sich vollziehenden politischen Entwicklungen, insofern in den sich transformierenden Gesellschaften die Position eines autonomen Subjekts in seinem Sinne nicht gefördert wird.

Das abschließende vierte Kapitel wird Castoriadis in einem kulturwissenschaftlichen Umfeld problematisieren. Er setzt sich seit den 80er Jahren verstärkt mit Fragen und Aspekten der Kulturwissenschaft auseinander, die dieser Abschnitt aufgreift. Hier wird Castoriadis zunächst als ein Kulturtheoretiker sichtbar gemacht, um anschließend seine entwickelten Auswege aus dem Labyrinth exemplarisch in dem Bereich der Kultur zusammenzuführen. Castoriadis spricht der Kunst einen besonderen Stellenwert zu, der sich in der Situierung seiner kulturtheoretischen Positionen zeigt. Er verbindet sein Verständnis der Kunst mit seinem sozialphilosophischem Programm, wodurch sich neue Anschlussmöglichkeiten für eine Interpretation und eine Weiterführung seines Denkens eröffnen, die den angestrebten Brückenschlag zwischen den Ideen von Castoriadis und den Menschen in der Gegenwart vollzieht.

1.1Biografische Einblicke

Athen 1922-1945

Seit den 70er Jahren geht Castoriadis in Artikeln und Interviews zunehmend auf einzelne Aspekte seiner Biografie ein.37 Aus diesen Erzählungen wird hier im Folgenden ein prägnanter Überblick zu den zentralen Stationen von Castoriadis Biografie entwickelt, der sich zunächst kurz seiner Jugendzeit in Griechenland zu wendet, um anschließend seine Zeit in Paris zu besprechen. Castoriadis wurde am 11. März 1922 in Istanbul geboren. Seine Eltern sahen sich, in Folge der griechisch-türkischen Separationspolitik nach dem Ende des Osmanischen Reiches, gezwungen nach Athen umzuziehen, wo er in einem bürgerlichen Umfeld aufwuchs. In Athen ging er zur Schule und hier besuchte er später die Universität.

In den biografischen Berichten zu seiner Kindheit und der Zeit bis zum Ende seines Studiums im Jahr 1945 dominieren dabei vor allem zwei Bereiche. Dies sind zu einem Teil Anekdoten, die seine intellektuelle Biografie und sein Studium thematisieren und zu einem anderen Teil Berichte von seinem politischen Engagement, das bereits seit seiner Jugendzeit von einer zunehmend kritischen Distanz zum Kommunismus geprägt war. Zu seiner intellektuellen Entwicklung hebt er hervor, dass neue Bücher schnell in den Haushalt aufgenommen wurden und er schon als Kind für seinen Vater französische Gedichte oder Passagen aus der Apologie des Sokrates rezitierte. Nach eigenem Bekunden erstand er im Alter von 12 oder 13 Jahren eine Geschichte der Philosophie, welche ihn mit der Geschichte der Philosophie und ihren zentralen Figuren in Kontakt brachte. Aspekte der philosophischen Positionen Immanuel Kants und Platons lernte er auf diesem Weg kennen. Er kam in Kontakt mit den Positionen des deutschen Neukantianismus und seine Beschäftigung mit den Positionen von Karl Marx setzt ebenfalls zu diesem Zeitpunkt ein.38

Die Schul- und Studienzeit von Castoriadis war geprägt von den innenpolitischen Auseinandersetzungen in Griechenland, das seit 1936 durch die repressive Militärdiktatur von General Metaxas regiert wurde. Unter diesen Umständen sammelte er seine ersten politischen Erfahrungen in der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei. Nach dem Wechsel an die Universität nutzte er seine politischen Kontakte, um sich dem kommunistischen Widerstand gegen General Metaxas anzuschließen. Zusammen mit weiteren Mitgliedern der kommunistischen Jugend versuchte Castoriadis zugleich einen Prozess anzustoßen, der den moskautreuen Kurs der griechischen Kommunisten hinterfragte. Sie gründeten dazu die Gruppe und Zeitschrift Nea Epochi, die ihnen als Diskussionsplattform diente. In dieser Zeitschrift veröffentlichten sie ihre Texte, aber unter den geopolitischen Vorzeichen des 2. Weltkrieges waren diese kritischen Positionen nicht mehr erwünscht. Castoriadis trennte sich 1943 endgültig von der Kommunistischen Partei, nachdem Stalin einseitig die internationale Kooperation in der III. Internationale aufgekündigt hatte. In der politischen Konsequenz bedeutet dies für Castoriadis, dass er sich der von Leo Trotzki gegründeten Gegenbewegung der IV. Internationale anschloss, die weiterhin für eine internationale Zusammenarbeit einstand. Damit schlug Castoriadis einen Weg ein, auf dem er sich in der Folgezeit in kritischer Opposition gegenüber den Entwicklungen in der Sowjetunion positionierte.39

Neben seinem politischen Engagement studierte Castoriadis während des Zweiten Weltkrieges an der Universität in Athen Philosophie, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften. In seiner Ausbildung stand er unter dem Einfluss von neukantianisch geprägten Professoren, die in ihm das Interesse am deutschen Idealismus und an der Sozialphilosophie Max Webers weckten, mit der sich auch eine seiner ersten Veröffentlichungen beschäftigte.40 Nach den Erfahrungen des sich zuspitzenden Bürgerkrieges in Griechenland ergriff Castoriadis 1945 die Chance auf einen abgesicherten Neuanfang in Frankreich. Er bewarb sich 1945 um ein Promotionsstipendium des Institut Française, um in Paris an der Sorbonne in Philosophie zu promovieren. Castoriadis erhielt dieses Stipendium und konnte sich damit den in einen Bürgerkrieg abdriftenden Entwicklungen in Griechenland entziehen. Mit dem neuseeländischen Flüchtlingsschiff Mataroa verließ er im Dezember 1945 Griechenland, zusammen mit einer ganzen Generation griechischer Intellektueller.41

„Es war eine eher faszinierende Reise. Wir durchquerten ein verwüstetes Italien in einigen völlig unglaublichen Zügen. Wir durchquerten die Schweiz, wo uns von den enormen Missgeschicken berichtet wurde, die der Schweizer Bevölkerung während des Krieges widerfahren war – es gab sogar einen Moment, im Dezember '43, als Gerüchte kursierten, dass vielleicht Schokolade rationiert werden würde. Die Schweizer haben uns gebeten ihre Schmerzen zu empfinden, wir nickten unsere Köpfe. Es muss gesagt werden das in Athen, während des Winters ’41-’42, die geschwollenen Leichen von Menschen, die an Hunger gestorben waren, auf den Straßen lagen. Als wir Basel verließen und in Frankreich ankamen, fanden wir uns in einem gewissen Sinn zu Hause wieder. Denn es gab Menschen, die lachten, die Würste aßen, Wein tranken, usw. Dann befanden wir uns in Paris.“ (Agora International 1990, S. 3)

Paris 1945 - 1968

Als Gründungsmitglied der Gruppe und der gleichnamigen Zeitschrift Sozialismus oder Barbarei ist Castoriadis später bekannt geworden. Die Herausgabe der Zeitschrift und die damit verbundene politische Arbeit waren für ihn eine gute Basis, um seine politischen und theoretischen Positionen in umfangreichen Artikelserien zu entwickeln. Die Keimzelle dieser Gruppe entstand bereits kurz nach der Ankunft von Castoriadis in Paris im Frühjahr 1946.42 Kurz nach seiner Ankunft in Paris knüpfte er Kontakte zur trotzkistischen Parti communiste international (PCI), wo er über sein Engagement Claude Lefort kennenlernte. In der Folgezeit entwickelte sich zwischen den beiden eine enge Zusammenarbeit. In einem späteren Interview mit der Zeitschrift anti-mythes