Dem Krebs auf der Spur - Herbert Lackner - E-Book

Dem Krebs auf der Spur E-Book

Herbert Lackner

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Beschreibung

Ihren Namen bekam die Krebs-Krankheit, gegen die kein Kraut gewachsen war, vom berühmten griechischen Arzt Hippocrates. Bis zur Entdeckung von Rudolf Virchow, dass die Krankheit in Zellen entsteht, dauerte es bis ins 19. Jahrhundert. In der Forschung ist seither kein Stein auf dem anderen geblieben: Immer mehr Menschen überleben ihre Krebserkrankung. Allein in den letzten fünf Jahren hat die Todesrate bei Männern um 6,5 Prozent und bei Frauen um 4,3 Prozent abgenommen. Der Onkologe Dr. Christoph Zielinski und der Journalist und Autor Herbert Lackner erzählen in diesem Buch die Geschichte dieses Erfolgs und erläutern, welche neuen Heilungschancen es, aufgrund von Forschungsergebnissen, schon in naher Zukunft geben könnte.

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ÜBER DAS BUCH

Dieses Buch soll Mut machen. Es handelt von der Krankheit Krebs, die in Europa alljährlich rund 2,8 Millionen Menschen befällt, davon eine halbe Million in Deutschland und 45.000 in Österreich. Etwa zehnmal mehr Menschen leben mit der Diagnose Krebs – aber sie leben immer länger und viele von ihnen werden geheilt. Darum geht es: zu zeigen, was die Krebsmedizin bereits heute vermag und warum wir in der Onkologie vor einer Zeitenwende stehen.

Es wird auch erzählt, wie es zu den Erkenntnissen kam, die diese Wende in der Krebsmedizin bewirkten. Mitunter waren es Zufälle, die zu neuen Medikamenten führten, oft ermöglichten erst langwierige Forschungen ein besseres Verständnis dieser komplexen Erkrankung und manchmal opferten Wissenschaftler dafür sogar ihr Leben, wie etwa Marie Curie und Henri Becquerel.

ÜBER DIE AUTOREN

Univ.-Prof. Dr. Dr. h. c. Christoph Zielinski ist einer der führenden internistischen Onkologen Österreichs. Er ist seit 1992 Professor für Innere Medizin und Klinische Immunologie. Er war von 2004 bis 2017 Vorstand der Universitätsklinik für Innere Medizin an der Medizinischen Fakultät Wien, Vizedekan für den klinischen Bereich und Vizerektor an der Medizinischen Universität Wien. Christoph Zielinski war dort von 2013 bis 2018 Leiter des Comprehensive Cancer Centers. Seit 2020 ist er Ärztlicher Direktor der Wiener Privatklinik.

Dr. Herbert Lackner, geboren in Wien, studierte Politikwissenschaft und Publizistik, war stellvertretender Chefredakteur der „Arbeiter Zeitung“ und danach 23 Jahre lang Chefredakteur des Nachrichtenmagazins „profil“. Er ist Autor zahlreicher zeithistorischer Beiträge. Zuletzt sind seine Bestseller „Als die Nacht sich senkte“, „Die Flucht der Dichter und Denker“, „Rückkehr in die fremde Heimat“ und „Als Schnitzler mit dem Kanzler stritt“ erschienen.

INHALTSVERZEICHNIS

ÜBER DAS BUCH

ÜBER DIE AUTOREN

VORWORT

EINLEITUNG

DIE FRÜHEN JAHRE

Schon vor eineinhalb Millionen Jahren litten Hominiden an Krebs – Wo Hippokrates die Ursachen der Krankheit vermutete – Leichenöffnungen bringen erste Fortschritte

MIT STAHL GEGEN KREBS

Das 19. Jahrhundert beginnt mit einem prominenten Krebstoten – Ein berühmter Arzt entdeckt, dass die Krankheit in Zellen entsteht – Die Chirurgen übernehmen

DIE STÜRMISCHE JAHRHUNDERTWENDE

Die Entdeckung der Röntgenstrahlen verändert die Medizin – Forscher geben ihr Leben für die Wissenschaft – Hormone als Krebsbeschleuniger

DIE MACHT DER CHEMIE

Die 1940er-Jahre: Neue Medikamente – Ein berühmter Baseballspieler ist einer der ersten Patienten, die mit „Chemotherapie“ behandelt werden

DER TOD KAM MIT DEM FALLOUT

Der Kalte Krieg befördert den Krebs – Die Zahlen über die Opfer der Atombomben-Versuche divergieren, diese gehen aber wohl in die Millionen

DAS GESCHÄFT MIT DEM LUNGENKREBS

Das biedere Magazin „Reader’s Digest“ tritt eine brisante Debatte los: „Rauchen verursacht Krebs“ – Die Tabakindustrie bekämpft wissenschaftliche Erkenntnisse

STAHL ALLEIN IST NICHT GENUG

Auch aggressive Operationen können Brustkrebs nicht heilen – Ein neues Medikament macht Furore – Das Zeitalter der Interdisziplinarität beginnt

WENDEPUNKT IMMUNOLOGIE: DER KÖRPER KANN SICH SELBST HEILEN

Tumoren unterdrücken das Immunsystem – Neue Therapien ermöglichen dem Immunsystem, Tumoren aktiv anzugreifen

SIND ES DIE GENE?

Der Abt Gregor Mendel entdeckt die Grundlagen der Vererbung – Der humane Genomatlas und seine Folgen für Krebsforschung und Krebstherapie – Ist Krebs vererbbar?

IMPFEN GEGEN KREBS

Einige Krebserkrankungen beginnen mit einer viralen Infektion, gegen die geimpft werden kann – Auch Parasiten können Tumoren verursachen – Vielversprechende Tests mit neuen Impfungen

DIE STUNDE DER SCHARLATANE

Esoteriker und „Wunderheiler“ sind am Tod vieler Krebskranker beteiligt – Manche Irrlehre hält sich bis heute – Auch die Politik mischt inzwischen mit

WIRKUNG UND NEBENWIRKUNG

Die gefürchteten Nebenwirkungen einer Krebstherapie werden immer beherrschbarer – Bewegung wirkt sich auf Wirksamkeit und Verträglichkeit der Therapie positiv aus

WO MAN BESONDERS OFT AN KREBS ERKRANKT

Die internationale Krebs-Statistik – Was die Staaten tun könnten und was jeder selbst tun kann

WIE DIE KLIMAKRISE DIE MEDIZIN VERÄNDERN WIRD

Die Klimaerwärmung und ihre Auswirkungen auf Therapien – Die Klimakrise ist für die Versorgung mit medizinischen Gütern eine Herausforderung

WAS TUN, WENN NICHTS MEHR GEHT?

Palliativmedizin als Partner der Onkologie – Auch auf diesem Gebiet gibt es Fortschritte

2050 – WAS UNS DIE ZUKUNFT BRINGEN WIRD

Steigende Erkrankungszahlen, aber geringere Sterblichkeit – Das nahende Ende der Chemotherapie – Die Zukunft der Immuntherapie

„ES IST KEIN BERUF, BEI DEM MAN EINFACH NACH HAUSE GEHT, SICH DIE HÄNDE WÄSCHT UND MIT DEN KINDERN SPIELT“

Herbert Lackner spricht mit Christoph Zielinski über Ängste, Chancen und das fordernde Fach Onkologie

NAMENSREGISTER

LITERATURVERZEICHNIS

ANLAUFSTELLEN FÜR BETROFFENE

VORWORT

Jeder erwachsene menschliche Organismus besteht aus ca. 3x1013 Zellen, die alle aus einer einzigen Zelle hervorgegangen sind. 3x10.000.000.000.000 Zellen also, die über viele Jahrzehnte fehlerfrei spezifische Funktionen erfüllen. Die schiere Größe und Komplexität dieser Leistung des Lebens ist ein noch immer nicht vollständig verstandenes Wunder der Natur.

Eine Schwachstelle dieses Wunders ist die Steuerung des Zellwachstums, das bei de facto allen Menschen nach Jahrzehnten außer Kontrolle gerät und zur Entstehung von Krebs führen kann. Aufgrund der im 20. Jahrhundert rasant gestiegenen Lebenserwartung sind wir die am intensivsten mit diesem Problem konfrontierte Generation des Homo sapiens.

Spätestens seit dem 1971 von US-Präsident Nixon ausgerufenen „War on Cancer“ hat die moderne Medizin große Anstrengungen unternommen, um diese moderne „Plage der Menschheit“ in den Griff zu bekommen. Aufgrund der in den letzten dreißig Jahren errungenen, zunehmend tieferen Einblicke in molekularbiologische Mechanismen des Zellwachstums stehen uns heute hochwirksame und vor einigen Jahren noch gar nicht vorstellbare Instrumente zur erfolgreichen Behandlung vieler Krebserkrankungen zur Verfügung.

„Dem Krebs auf der Spur“ ist ein wunderbares Werk zweier herausragender Persönlichkeiten. Christoph Zielinski, dem wahrscheinlich bedeutendsten klinischen Onkologen Österreichs unserer Zeit, und Herbert Lackner, einer Legende des österreichischen Journalismus.

Das vorliegende Werk ist nach dem sehr empfehlenswerten Buch „Die Medizin und ihre Feinde“ bereits die zweite Koproduktion dieses sich hervorragend ergänzenden Autorenduos. „Dem Krebs auf der Spur“ ist nicht nur ein für medizinische Profis und Laien lehrreicher Beitrag zu einem wichtigen Thema unserer Zeit, sondern auch ein medizinischer, historischer, soziologischer und wissenschaftlicher Kriminalroman, der sich jedenfalls eine breite Leserschaft verdient.

Univ.-Prof. Dr. Markus Müller

Rektor der Medizinischen Universität Wien

EINLEITUNG

Dieses Buch soll Mut machen. Es handelt von der Krankheit Krebs, die in Europa alljährlich rund 2,8 Millionen Menschen befällt, davon eine halbe Million in Deutschland und 45.000 in Österreich. Etwa zehnmal mehr Menschen leben mit der Diagnose Krebs – aber sie leben immer länger und viele von ihnen werden geheilt.

Darum geht es hier: zu zeigen, was die Krebsmedizin bereits heute vermag und warum wir in der Onkologie vor einer Zeitenwende stehen.

Dank neuer Therapieformen sinkt die Krebsmortalität seit 2016 pro Jahr um etwa zwei Prozent. Patientinnen und Patienten mit fortgeschrittenen Krebserkrankungen, die früher nur noch wenige Monate zu leben hatten, bekommen so weitere Lebensjahre und das in durchaus vertretbarer Qualität. Fünf Jahre nach der gefürchteten Diagnose schwarzer Hautkrebs (Melanom) leben heute noch mehr als 90 Prozent. Auch bei früh erkanntem Brustkrebs und Prostatakrebs liegt die Fünfjahres-Überlebensrate an der 90-Prozent-Marke. Zwei Drittel der an Darmkrebs Erkrankten leben fünf Jahre nach der Diagnose noch. Selbst bei fortgeschrittenem Lungenkrebs kann heute Patienten durch moderne Behandlungsmethoden Lebenszeit geschenkt werden. Noch vor wenigen Jahren führte diese Krankheit rasch zum Tod. Hodenkrebs, er befällt meist junge Männer, ist heute in fast allen Fällen heilbar.

In diesem Buch soll erzählt werden, wie es zu den Erkenntnissen kam, die diese Wende in der Krebsmedizin bewirkten. Mitunter waren es Zufälle, die zu neuen Medikamenten führten, oft ermöglichten erst langwierige Forschungen ein besseres Verständnis dieser komplexen Erkrankung und manchmal opferten Wissenschaftler dafür sogar ihr Leben, wie beispielsweise Marie Curie und Henri Becquerel, ohne die es heute keine Strahlentherapie gäbe.

In Zeiten, in denen gewisse Parteien Wissenschaftsfeindlichkeit für ihre Zwecke instrumentalisieren, ist es auch ein politisches Buch. Nicht zufällig widmet sich ein Kapitel darin der Scharlatanerie in der Krebsmedizin.

Krebs ist immer noch eine schwere Krankheit, die auch weiterhin vielen Menschen das Leben kosten wird. Schon allein aus demografischen Gründen – es gibt immer mehr Menschen, die immer älter werden – wird die Zahl der an Krebs Erkrankten in den kommenden Jahrzehnten steigen. Aber immer weniger von ihnen werden daran sterben. Verfeinerte Immuntherapien, bereits in Entwicklung befindliche Impfungen und neue Medikamente werden dafür sorgen, dass die Krebstherapie, die wir noch vor wenigen Jahren kannten, endgültig der Vergangenheit angehören wird.

Die künstliche Intelligenz wird die Medizin mit riesigen Datenmengen versorgen, die Tumoren und ihre Eigenschaften beschreiben. Damit werden optimale Therapieformen für diese ganz individuellen Charakteristika entwickelt werden.

Nein, der Krebs ist noch nicht besiegt, aber die Wissenschaft ist ihm auf der Spur. Darum der Titel dieses Buches.

Auf Fußnoten haben wir aus Gründen der Lesbarkeit verzichtet. Die Quellen sind detailliert im Anhang angegeben und jederzeit überprüfbar.

Wir wünschen viel Gewinn bei der Lektüre.

Herbert Lackner

Christoph Zielinski

DIE FRÜHEN JAHRE

Schon vor eineinhalb Millionen Jahren litten Hominiden an Krebs – Wo Hippokrates die Ursachen der Krankheit vermutete – Leichenöffnungen bringen erste Fortschritte

Der Autor war sicher: „Dafür gibt es keine Therapie.“ Er hatte versucht, acht Frauen mit einem Brenneisen Geschwulste an den Brüsten zu entfernen – keine überlebte.

Der Wundarzt, der uns von diesem Heilversuch an offensichtlich an Brustkrebs erkrankten Patientinnen berichtet, lebte vor etwa 4500 Jahren in Ägypten. Seine Erfahrungen als medizinischer Praktiker, der immerhin schon Knochenbrüche einzurichten wusste, schrieb er in einer Art Anleitungsbuch nieder. Im sogenannten Papyrus Edwin Smith, 1862 vom namensgebenden Forscher bei einem Händler in Luxor entdeckt, blieben sie erhalten.

Krebs begleitet die Menschheit seit ihrem Bestehen, sogar die Vormenschen waren schon davon befallen, wie 2016 ein Fund in der südafrikanischen Swartkrans-Höhle bewies. Die Forscher diagnostizierten an einer etwa 1,7 Millionen Jahre alten Zehe eine bösartige Geschwulst des Knochens – ein Osteosarkom.

Portugiesische Paläopathologen entdeckten bei einer viertausend Jahre alten ägyptischen Mumie mithilfe einer Computertomografie mehrere runde und dichte Tumoren an den Hüftwirbeln, in den Oberschenkel- und Oberarmknochen – typische Metastasen eines damals natürlich nicht behandelbaren Prostatakarzinoms. Der unglückliche Patient hatte ohne Zweifel eine lange und schmerzhafte Krankheitsgeschichte hinter sich, als er mit ungefähr 55 Jahren starb.

An der Universität Cambridge wurden 2024 an rund 4000 Jahre alten Schädeln aus ägyptischen Gräbern Spuren von Gewebswucherungen gefunden – offenbar Metastasen einer Krebserkrankung. Bei genauerer Analyse stellten die Forscher Schnittspuren an den Schädelknochen fest. Heiler oder Priester hatten offenbar versucht, diese Wucherungen operativ zu entfernen.

In der kasachischen Steppe unweit der Grenze zu China entdeckten Archäologen eine im eisigen Boden gefrorene Mumie einer jungen Frau. Sie lebte wahrscheinlich in einem nomadischen Stamm, der die Altai-Region durchstreifte. Der vor etwa 2600 Jahren bestatteten Frau waren alle Organe entnommen worden, gestorben war sie an Brustkrebs, wie Paläomediziner feststellten. In ihrem Gewebe fanden sich auch Spuren von Marihuana, das sie offenbar zur Schmerzbekämpfung verwendet hatte.

So eindrucksvoll diese Beispiele aus der Archäologie auch sind – in Tausenden Analysen von menschlichen Knochen und Mumien wurden dennoch nur 176 Fälle von malignen Veränderungen entdeckt. Ist Krebs also tatsächlich ein Leiden, das erst mit der Industrialisierung, mit der Exposition von Schadstoffen in Luft und Nahrung und der „westlichen Lebensweise“ so weite Verbreitung fand? Haben Überernährung und Fettleibigkeit, Bewegungsmangel, übermäßiger Alkoholkonsum und Tabakrauchen Krebs zu einer „Volkskrankheit“ gemacht?

Diese Faktoren haben sicher zur Steigerung der Krebsinzidenz beigetragen, aber die geringe Zahl von entsprechenden archäologischen Befunden täuscht. Denn erst in den letzten Jahrzehnten werden menschliche Relikte und mumifizierte Körper mit modernsten Geräten analysiert. Drei bis vier Millimeter große Tumoren werden erst seit 2005 durch hochentwickelte Computertomografen (CT) sichtbar gemacht. Winzige Knochenmetastasen, wie bei der ägyptischen Mumie mit der Todesursache Prostatakarzinom, hätten die Paläopathologen früher gar nicht entdeckt.

Außerdem ist Krebs eine Krankheit, die in zwei Dritteln der Fälle Menschen jenseits von 65 befällt – ein Alter, das früher nur sehr selten erreicht wurde, weil Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Malaria, Pest, Pocken, Cholera, simpler Durchfall oder einfach Hunger und Kälte die Menschen schon weit früher dahinrafften.

Im Alten Ägypten starben die Armen mit durchschnittlich 30 Jahren, Wohlhabende wurden im Schnitt zwischen 40 und 50 Jahre alt. Außerdem gab es eine hohe Kindersterblichkeit.

In Europa starb im Mittelalter die Hälfte der Kinder vor dem fünften Geburtstag. Eine Londoner Sterbestatistik aus dem Jahr 1632 weist Tausende Todesfälle im Kindbett oder wegen „Fiebers“, Auszehrung, Pocken, Masern und Durchfall aus – aber nur zehn Menschen starben in diesem Jahr in London laut Aufzeichnung der Stadt an der Krankheit Krebs.

In Deutschland überlebte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Viertel der Neugeborenen nicht einmal das erste Jahr. Die Sterberate junger Frauen nach der Entbindung lag zwischen 300 und 500 je 100.000 Geburten.

In den Staaten mit dem geringsten Einkommen und der schlechtesten medizinischen Versorgung rangiert Krebs deshalb auch bis heute nicht unter den zehn häufigsten Todesarten. Im Tschad etwa werden Männer im Durchschnitt bloß 51, Frauen leben drei Jahre länger. Das „typische Krebsalter“ wird in den ärmsten Entwicklungsländern, also in großen Teilen Afrikas, gar nicht erreicht.

Auch die Menschen in grauer Vorzeit waren Karzinogenen ausgesetzt. Hunderttausende Jahre lang brieten sie ihre Nahrung auf offenem Feuer – oft bis das Fleisch schwarz war. Feuer sorgte in den Verschlägen und Höhlen für Licht und Wärme. Es sorgte aber auch für Rauch und Ruß, in dem überdies noch Fleisch konserviert und damit auch krebserregend gemacht wurde.

Ihren Namen bekam die Krankheit, gegen diese offenbar kein Kraut gewachsen war, vom berühmten griechischen Arzt Hippokrates (460–375 vor unserer Zeitrechnung), der den größten Teil seines Lebens auf der Insel Kos verbrachte, aber zur Fortbildung auch Vorderasien bereiste.

Hippokrates von Kos: Er gab dieser geheimnisvollen Krankheit einen Namen – „Karkinos“, das griechische Wort für Krebs.

Er beobachtete an seinen Patienten geschwürformende Tumoren und solche, die keine Geschwüre bildeten. Weil sie sich seiner Meinung nach von der Geschwulst wie Krabbenbeine ausbreiteten, gab er dem Leiden den Namen „karkinos“, das griechische Wort für Krebs.

Hippokrates konnte nur Karzinome an der Körperoberfläche beschreiben, Leichenöffnungen zu wissenschaftlichen Zwecken gab es erst ab dem 16. Jahrhundert. Bis dahin waren sie sowohl bei den Christen als auch bei Juden und Moslems verpönt oder gar verboten. Den Grund für diese „karkinoma“, wie er sie auch nannte, sah Hippokrates in einem Ungleichgewicht der vier Körpersäfte gelbe Galle, schwarze Galle, Blut und Schleim. Dieses „Ungleichgewicht“ wurde bis ins 19. Jahrhundert als Ursache von Erkrankungen angesehen. Hippokrates behauptete, ein Übermaß an schwarzer Galle führe zu Krebs. Mit Diäten, Aderlässen und Abführmitteln versuchte er, dieses Übel und das vermutete Ungleichgewicht zu beseitigen.

Die „Viersäftelehre“ des Hippokrates wurde vom griechischen, in Rom lebenden Arzt Galenus (130–200 v. Chr.) präzisiert. Für den Krebs prägte er einen neuen Begriff: onkos, das griechische Wort für Geschwulst, das später die einschlägige medizinische Fachrichtung beschreiben sollte. Galenus stimmte Hippokrates zu, dass ein Übermaß an schwarzer Galle Krebs verursache, weil sich diese an einem Ort sammle und in der Folge zu einer festen Masse gerinne. Ein Zuviel an gelber Galle sei hingegen ein Zeichen für heilbare Tumoren, so Galenus. Er versuchte, sie mit einer Wundsalbe aus Opium, Rizinusöl und Schwefel zu behandeln.

Das Mittelalter und die frühe Neuzeit mit all ihren Wirren – Völkerwanderung, Seuchen, Kriege, Hungersnöte – waren kein Zeitalter des medizinischen Fortschritts. Aberglauben siegte meist über Erkenntnis: Frauen und Männer, die versuchten, Kräutermischungen und Destillate zu Heilzwecken herzustellen, wurden nicht selten der Hexerei und des Paktierens mit dem Teufel bezichtigt. Zwischen 1550 und 1750 wurden in Europa rund 60.000 Menschen als Hexen und Hexer verurteilt und bei lebendigem Leib verbrannt, oft auch ertränkt, gevierteilt oder zu Tode gefoltert. Zwei Drittel der Opfer waren Frauen, die Hälfte dieser von der Kirche gebilligten Morde fand in Deutschland statt, in Österreich gab es rund tausend Opfer der Hexenverfolgungen.

Auch die 70-jährige Mutter des Astronomen Johannes Kepler wurde 1615 in Heilbronn als „Hexe“ festgenommen, eineinhalb Jahre lang in einem tiefen Kerker angekettet und unter der Androhung schwerer Folter ständig verhört. Nach einer Brandrede ihres Sohns wurde sie freigelassen, starb aber wenig später an den Folgen der Haft.

Keplers Mutter hatte einige Frauen mit Heilkräutern behandelt. Eine Schwerkranke behauptete, die alte Kepler habe ihr „vergifteten Wein“ gereicht, worauf sie furchtbare Schmerzen bekommen habe. 24 weitere Zeuginnen schlossen sich dieser Behauptung an, einige fügten hinzu, sie hätten Frau Kepler durch die Wand gehen gesehen – ein damals als „Beweis“ für Hexerei vorgebrachter Vorwurf.

Pünktlich zu Beginn der Neuzeit trat der gebürtige Schweizer Theophrastus Bombastus von Hohenheim (1493–1541), bekannt unter dem „Künstlernamen“ Paracelsus, auf den Plan. Paracelsus verwarf nach mehr als tausend Jahren als Erster die „Viersäftelehre“ von Hippokrates und Galenus. Allerdings ersetzte er sie bloß durch die Theorie von den drei „Lebenssubstanzen“ Quecksilber, Schwefel und Salz.

Richtungsweisender war da schon seine Ansicht, Arzneimittel müssten durch chemische Separation von Pflanzen, Mineralien oder tierischen Stoffen gewonnen werden. Die Syphilis behandelte er nicht unerfolgreich mit Quecksilber, kam nach einigen Fehlgriffen durch Überdosierung aber zum legendären Schluss: „Erst die Dosis macht’s, dass ein Ding kein Gift sei.“

Paracelsus starb mit 48 Jahren in Salzburg – offenbar an einer Überdosis Quecksilber, wie spätere Untersuchungen seines Skeletts zeigten. Er hatte sich entweder bei seinen Versuchen selbst langsam vergiftet oder er litt ebenfalls an der Syphilis und hatte sich trotz seiner wichtigen Erkenntnis bei der Dosierung geirrt.

Etwa zur selben Zeit kam es zu einem entscheidenden Durchbruch in der Medizin und damit auch in der Erforschung dieser merkwürdigen Krankheit Krebs. Mitte des 16. Jahrhunderts gab die katholische Kirche ihren Widerstand gegen Leichenöffnungen zu wissenschaftlichen Zwecken auf. Bis dahin hatte es nur einige Lehr-Obduktionen an den Universitäten von Bologna, Padua und Montpellier gegeben. Nun wurde erstmals der komplexe Blutkreislauf beobachtet, jetzt konnten die Anatomen und die für die Onkologie besonders wichtigen Pathologen an vielen europäischen Universitäten mit ernsthaften Studien beginnen.

Die Schlüsse, die sie aus ihren Beobachtungen zogen, waren – was Krebs betrifft – von unterschiedlicher Qualität.

Der deutsche Professor Wilhelm Fabry (1560–1634) etwa führte Brustkrebs auf eine Verstopfung der Milchbahnen durch einen Milchpfropfen zurück. Fabry, ein zu seiner Zeit sehr bekannter Chirurg, nahm sogar eine spektakuläre Krebsoperation vor: Er entfernte das von einem Melanom befallene Auge eines Bürgermeisters.

Um 1670 meinte der französische Arzt François de le Boë Sylvius, die Ursache von Krebserkrankungen sei ein chemischer Prozess, bei dem die Lymphflüssigkeit von sauer auf bitter umgewandelt werde, was sich ein wenig an der „Viersäftetheorie“ des Hippokrates orientierte. Dauerhafteren Erfolg als diese Theorie hatte ein von François Sylvius erfundener Heiltrank aus Alkohol und Wacholderbeeren, den er unter dem Namen „Genever“ bei der Behandlung von Patienten einsetzte. Der Trank ist heute unter dem Namen Gin in jedem Supermarkt erhältlich.

Einen anderen Denkansatz verfolgte der niederländische Arzt Nicolaes Tulp (1593–1674), der eine Zeit lang auch Bürgermeister von Amsterdam war (ein Gemälde von Rembrandt van Rijn aus dem Jahr 1632 zeigt Tulp und seine Schüler bei einer der frühen Obduktionen). Krebs, so Tulps Theorie, sei eine Art Gift, das sich langsam im ganzen Körper verbreite. Tulps These wurde nach der Erfindung des Mikroskops zu Beginn des 18. Jahrhunderts durch eine wichtige Entdeckung untermauert: Krebs verbreitete sich tatsächlich über Blut- und Lymphbahnen, um sich schließlich in entfernten Körperregionen anzusiedeln, wo dann weitere Geschwulste entstanden.

Rembrandts Gemälde „Die Anatomie des Doktor Tulp“: Bei Krebs verbreite sich Gift im Körper, vermutete der Amsterdamer Arzt und Bürgermeister.

Aber noch tappte die Medizin bei der Suche nach den Ursachen für diese Erkrankung und nach einer Therapie weitgehend im Dunkeln.

Der Italiener Bernardino Ramazzini stellte 1730 die Theorie auf, die hohe Zahl von an Brustkrebs erkrankten Nonnen sei darauf zurückzuführen, dass diese nicht schwanger würden: Die überflüssigen Reproduktionsorgane würden sich zersetzen und wären damit anfällig für Krebs. Heute wissen wir, dass Brustkrebs mit hormonellen Veränderungen verbunden ist und eine Schwangerschaft das langfristige Risiko, an Brustkrebs zu erkranken, vermindert.

Der bekannte preußische Arzt Friedrich Hoffmann (1660– 1742) kam zu abstrusen Schlüssen, die auf Ramazzinis These aufbauten. Mit Frauen konfrontiert, die trotz regen Sexuallebens Brustkrebs entwickelten, postulierte er, zu heftiger Geschlechtsverkehr begünstige Brustkrebs, weil es dadurch zu einer Lymphblockade käme. Auch Hoffmann entwickelte eine Tinktur, die seine Theorien überdauerte: Die noch immer erhältlichen „Hoffmannstropfen“ sollen – so jedenfalls der Beipackzettel – bei Schwächeanfällen helfen.

Zunehmend stießen die frühen Mediziner aber auch auf bis heute gültige Erkenntnisse. So konstatierte der Chefchirurg der Pariser Charité Henry François Le Dran (1685–1770), Brustkrebs sei anfänglich eine Geschwulst lokaler Natur, die Heilungsaussichten würden sich erst verschlechtern, wenn der Krebs seinen Weg in die Lymphbahnen fände. Man müsse daher sowohl die Brust als auch die Lymphknoten in der Achselhöhle entfernen. Diese These war fast zwei Jahrhunderte lang der „Goldstandard“ in der Brustchirurgie.

Freilich: Ohne Anästhesie und bei fehlender Hygiene waren solche Operationen eine Höllenqual – und das meist mit Todesfolge. Der schottische Chirurg Alexander Monro (1697–1767), Begründer der Edinburgh Medical School und ein entschlossener Gegner der Operation bei Brustkrebs, hatte für seine Skepsis ein gutes Argument: Von 60 Frauen, denen wegen einer Krebsgeschwulst die Brust abgenommen wurde, lebten zwei Jahre später gerade noch zwei.

Aber langsam begannen sich die Nebel zu lichten und wie nicht selten in der Krebsmedizin war der nächste Schritt nach vorn mit einem besonderen Wissenschaftler verbunden. In diesem Fall war es der Londoner Mediziner Percivall Pott (1714– 1788), ein Spross der englischen Oberschicht, Universitätslehrer und Besitzer der lukrativsten Arztpraxis der Hauptstadt.

Londons Star-Mediziner Percivall Pott: Er beschrieb erstmals die Metastasierung von Krebs – ohne noch dieses Wort zu verwenden.

Schon 1739 beschrieb Pott in der angesehensten wissenschaftlichen Fachzeitschrift der Aufklärung, den „Philosophical Transactions“, einen interessanten Fall: Pott hatte einem Mann einen zwischen der Muskulatur des Oberschenkels gelegenen Tumor entfernt. Der Patient war zunächst beschwerdefrei, dann allerdings verschlechterte sich sein Zustand zusehends. Alle Behandlungen versagten, Kuraufenthalte in Bath brachten keine Besserung. Der Patient starb zwei Jahre nach der Operation. Pott sezierte ihn und fand viele weitere Tumormanifestationen in den Knochen, aber auch in anderen Organen.

Ohne den Begriff zu verwenden, beschrieb Pott damit erstmals detailliert die Metastasierung von Krebs, in diesem Fall jene eines aggressiven Liposarkoms, das sich aus Fettzellen entwickelt.