Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Republik hatten 1919 fast alle begrüßt: Die Hoffnungen die neue Zeit waren groß. Aber bald wurden Arthur Schnitzlers Aufführungen von rechtem Mob gestürmt, Stefan Zweig ist antisemitischen Repressionen ausgesetzt und aus München kamen Meldungen, ein gewisser Adolf Hitler ziehe mit einer Schlägerbande durch die Stadt. Manche Autoren lavierten sich geschickt durch Weimarer Republik, Faschismus und NS-Zeit. Andere erkannten früh die Gefahr und konnten dennoch nichts anderes tun, als die Flucht zu ergreifen. Herbert Lackner begleitet Albert Einstein, Bertolt Brecht, Franz Werfel, Alma Mahler, Elias Canetti, Hugo von Hofmannsthal, Stefan Zweig, Oskar Kokoschka und viele andere durch die dramatischen Zwischenkriegsjahre.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 285
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Über dieses Buch
In den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen, als der Faschismus und schließlich der Nationalsozialismus die Macht in großen Teilen Europas übernahmen, wurden auch die Dichter und Denker in den Strudel der Ereignisse gezogen.
Dieses Buch beschreibt, wie die kleinen Schritte aussahen, die zur großen Katastrophe des 20. Jahrhunderts führten und wie sie von den wichtigsten Autoren, Komponisten, Philosophen, Wissenschaftlern und Publizisten ihrer Zeit wahrgenommen wurden.
Herbert Lackner begleitet Alma Mahler und Franz Werfel, Arthur Schnitzler, Joseph Roth, Stefan Zweig, Karl Kraus, Robert Stolz, Sigmund Freud, Albert Einstein und viele andere durch diese dramatischen Jahrzehnte.
VORWORT
Wien 1914−1919
„WIE SCHÖN IST DOCH DER KRIEG“
Berlin/München 1919
DIE STUNDE DER FREIKORPS
Wien/Budapest/Salzburg 1919
DIE WUNDEN DES KRIEGES
Feldkirch/Wien/Salzburg 1919−1922
ES GEHT AUFWÄRTS!
Salzburg/München/Rom 1920–1924
WETTERLEUCHTEN
Venedig/Wien 1924–1925
LEBEN IM WINDSCHATTEN
Wien/Innsbruck/Vorarlberg/Steiermark 1923−1927
MAN RÜSTET AUF!
Venedig/Salzburg/ Wien 1927−1928
DAS „FIN DE SIÈCLE“ GEHT ZU ENDE
Berlin 1925–1929
KEINE ZEIT FÜR DEN WELTUNTERGANG
Wien/Venedig/Rom 1929–1930
IM STRUDEL
Wien/Berlin/Venedig 1930−1931
ENDSPIEL
Wien/Salzburg/Berlin 1932−1933
DIE NACHT SENKT SICH
Berlin/Salzburg/Garmisch 1933
„FLAMME EMPOR!“
Wien 1933–1934
FASCHISMUS IN GRÜN
Wien/Venedig/Berlin 1934–1938
FINIS AUSTRIAE
EPILOG
ZEITTAFEL 1918−1938
LITERATURVERZEICHNIS
PERSONENREGISTER
Michael Köhlmeier hielt am 4. Mai 2018, dem Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus, eine Rede in der Wiener Hofburg, in der er einen seither oft zitierten Satz sagte: „Zum großen Bösen kamen die Menschen nie mit einem großen Schritt, sondern mit vielen kleinen, von denen jeder zu klein schien für eine große Empörung. Erst wird gesagt, dann wird getan.“
Darüber lässt sich grübeln.
Wir lesen Geschichte ja notgedrungen von vorne nach hinten und können als Nachgeborene nur versuchen, in die Welt jener einzutauchen, die sie erlebt haben. Wir müssen rekonstruieren, wie diese kleinen Schritte, die zum großen Bösen führten, den Jahren zwischen den Kriegen, aussahen. Wir mutmaßen nur, ob man nicht erkennen konnte, ja sehen musste, wie das alles enden würde.
Dieses Buch will versuchen, in der Geschichte dieser Jahre die kleinen Schritte aufzuspüren, von denen Michael Köhlmeier sprach: Wie erlebte man diese Zwischenzeit, in der Faschismen jeglicher Spielart und schließlich auch der Nationalsozialismus große Teile Europas einnahmen? Warum wurden die Feuerzeichen nicht ernst genommen, warum hat man die Brachialrassisten, die Krawallredner, die Volksverhetzer unterschätzt, bis es zu spät war? Wer hat den Boden für diese Auswüchse gedüngt?
In diesem Buch sollen die Jahre zwischen den beiden großen Kriegen des 20. Jahrhunderts aus der Sicht der damaligen Dichter, Denker, Musiker und Wissenschaftler erzählt werden: Hat der Großbürger Arthur Schnitzler nicht gesehen, was da droht? Musste der ehemalige Revolutionär Franz Werfel nicht erkennen, wohin die Reise ging? Hätte sich Stefan Zweig auch den aktuellen Ereignissen und nicht nur historischen Biografien widmen müssen, er, der frühzeitig erkannte, was sich da zusammenballte?
Warum konnten Geistesriesen wie Albert Einstein, Sigmund Freud, Hans Kelsen, Bertolt Brecht, Thomas und Heinrich Mann mit ihren außerordentlichen Talenten und ihrem Ansehen bei einem wichtigen Publikum nichts bewirken?
Alle Genannten haben es auf ihre Weise und oft sehr mutig versucht und sind dabei gescheitert.
Andere haben sich einfach angepasst, sind mitgeschwommen mit der neuen Macht, haben oft davon profitiert, dass talentiertere Konkurrenten aus dem Weg geräumt wurden. Manche von ihnen stehen bis heute hoch im Kurs. Auch um sie geht es in diesem Buch.
Einige Lebensverläufe – Alma Mahler, Franz Werfel, Stefan Zweig, Arthur Schnitzler, Joseph Roth, Albert Einstein, Robert Musil – werden als rote Fäden durch die Erzählung dieser so verhängnisvoll verlaufenen Zeit zwischen den Kriegen gezogen.
Eine Geschichtsdarstellung dieser Art wäre ohne die in den letzten Jahren vorgenommene Digitalisierung wichtiger Quellen kaum möglich. Heute lässt sich etwa die Frage, wann und in welcher österreichischen Zeitung der Name Adolf Hitler erstmals genannt wurde, mit bewältigbarem Rechercheaufwand beantworten, weil die großartige Österreichische Nationalbibliothek ihr Zeitungsarchiv mit Volltextsuche ins Netz gestellt hat. Die Akademie der Wissenschaften hat Arthur Schnitzlers Tagebücher – gedruckt ein vielbändiges Werk – ebenfalls mit Volltextsuche digitalisiert und öffentlich zugänglich gemacht. Auch alle 36 Jahrgänge von Karl Kraus’ „Die Fackel“ sind jetzt dank der Akademie der Wissenschaften online.
„Als die Nacht sich senkte“ ist die Vorgeschichte zu meinem Buch „Die Flucht der Dichter und Denker. Wie Europas Künstler und Wissenschaftler den Nazis entkamen“. Erschienen 2017, begleitet es die Akteure dieses Buches auf ihrer dramatischen Flucht vor den Nationalsozialisten quer durch Europa – es ist also die Fortsetzung.
„Die Flucht der Dichter und Denker“ wurde von Kritikern und Publikum so freundlich aufgenommen, dass der Ueberreuter-Verlag von einer „Vorsetzung“ erfreulich leicht zu überzeugen war.
Ungenau gezogene Parallelen zur Gegenwart sind in diesem Buch nicht zu finden. Allerdings ist es logisch und wichtig, dass Geschichtserzählung von assoziierten Vergleichen und kollektiven Erfahrungen lebt. Für Assoziationen gibt es in der Geschichte der Jahre zwischen den Kriegen jedenfalls erschreckend viel Stoff.
* Originalzitate werden in kursiver Schrift in der damaligen Schreibweise wiedergegeben.
Egon Erwin Kisch und Franz Werfel machen Revolution – Die Witwe Alma Mahler in Turbulenzen – Die Sozialdemokraten entmachten die Rotgardisten
Sehnsüchtig wartet der 13-jährige Manès Sperber am 1. November 1918 am Wiener Nordbahnhof auf den Zug, mit dem sein Vater aus dem Krieg heimkehren soll. Obwohl das Schlachten noch nicht an allen Fronten zu Ende ist, zerfällt die Vielvölkerarmee des Kaisers. Ungarn, Tschechen, Ruthenen, Kroaten und Slowenen haben ihre Armeeteile verlassen und strömen über die Haupt- und Residenzstadt in ihre neuen Staaten. Das Militärstrafrecht und die Befehle der Heeresleitung sind Makulatur. Alles ist in Auflösung.
Am Nordbahnhof beim Praterstern beobachtet der junge Sperber, später ein hochgerühmter Autor, fassungslos, wie Soldaten einem Offizier die Mütze vom Kopf schlagen, ihr die Kokarde abreißen und sie auf die Gleise schleudern. „Mit einem Sprung war er unten zwischen den Gleisen, lief zum gegenüberliegenden Bahnsteig und verschwand durch die Seitentür. Ihn begleitete das laute Gelächter der Meuterer“, schreibt er später.
November 1918, ein Reich zerfällt. 17 Millionen Menschenleben hat der Weltkrieg bis jetzt verschlungen, jeder fünfte Soldat der österreichisch-ungarischen Armee ist gefallen. Dazu kommen Millionen Ziviltote, seelisch und körperlich Verstümmelte. Drei Kaiser – der österreichische, der deutsche und der russische – sowie der Sultan des Osmanischen Reiches verlieren ihren Thron. Noch nie in der Geschichte Europas hat es einen Umbruch dieses Ausmaßes in so kurzer Zeit gegeben.
In Wien gibt am 30. Oktober 1918 eine nur aus den deutschsprachigen Abgeordneten des alten Reichsrats bestehende Nationalversammlung dem neuen Staat – niemand weiß, wie er aussehen wird – ein Grundgesetz. Die Regierungsmacht übt nun ein provisorischer Staatsrat unter der Führung des Sozialdemokraten Karl Seitz aus. Aber noch ist der Kaiser im Amt.
Die Bevölkerung hat andere Sorgen. Es regieren Hunger und Elend. Seit 1917 kommt es immer wieder zu Hungerdemonstrationen und Streiks. Adelige werden in Prag dabei ertappt, wie sie aus Warenlagern der Armee kiloweise Schokolade, Tee, Kaffee und Marmelade holen, was die Volkswut noch mehr steigert. Besonders hart ist das Schicksal der Kriegsinvaliden. Ihnen steht eine Grundrente von nach heutiger Kaufkraft 38 Euro monatlich zu. Beim Verlust eines Beines gibt es einen Zuschlag von 13 Euro.
In der ausgemergelten Bevölkerung grassiert seit dem Frühsommer 1918 die sogenannte Spanische Grippe. Am Tag, an dem der junge Manès Sperber am Bahnhof auf seinen Vater wartet, stirbt im Westen der Stadt der 28-jährige Maler Egon Schiele, eines von 30 000 Opfern der Spanischen Grippe in Österreich. Drei Tage zuvor ist seine schwangere Frau Edith der Seuche erlegen.
Drüben in New York raffte das Virus kurz zuvor den 49-jährigen Frederick Trump dahin. Trump, ein in der Pfalz geborener Einwanderer, hat mit Saloons am Yukon während des Klondike-Goldrauschs ein Vermögen gemacht. Sein Enkel Donald wird 98 Jahre später Präsident der Vereinigten Staaten werden.
Ebenfalls am selben Novembertag versuchen einige Dutzend von den Fronten heimgekehrte Soldaten, die Tore der Rossauer Kaserne am Wiener Donaukanal aufzubrechen, um dort von der Militärjustiz inhaftierte Kameraden zu befreien. Als das misslingt, versammeln sie sich am Deutschmeisterplatz beim Schottenring und erklären sich zur „Roten Garde“. Sie wollen eine Revolution ähnlich jener, die im Jahr zuvor in Russland stattgefunden hat.
An die Spitze der Wiener Roten Garde setzen die noch bewaffneten Soldaten einen 33-jährigen Journalisten aus Prag, der es schon zu einiger Prominenz gebracht hat: Egon Erwin Kisch. Kisch hat 1913 aufgedeckt, dass Alfred Redl, der Geheimdienstchef der k. u. k Armee, der Spionage für Russland überführt und zum Selbstmord gezwungen wurde.
Nicht nur den später als „rasenden Reporter“ bekannten Kisch, auch andere Autoren und Künstler befällt in den Tagen, in denen die Republik noch nicht geboren und die Monarchie schon im Untergehen ist, der revolutionäre Eifer. Alles ist ungewiss, Utopien scheinen machbar, Fantasien haben freie Bahn. Schon am nächsten Tag reiht sich auch der Prager Lyriker Franz Werfel, er ist 28, in die Reihen der Revolutionäre ein.
Dass Schriftsteller und Künstler in diesem November 1918 plötzlich mit Rotgardisten durch Wien marschieren, mag vielen seltsam erscheinen. Schließlich hat es fast die gesamte Kulturelite des Landes geschafft, dem Fronteinsatz zu entkommen und im Kriegspressequartier, dem „KPQ“, Propaganda-Dienst zu schieben. Es war im Gasthof Stelzer in Rodaun, im heutigen 23. Wiener Gemeindebezirk, untergebracht. Dort, am Rande des Wienerwalds, verfassten rund 400 Mitarbeiter patriotische Kriegsreportagen, priesen die Armee in öligen Essays oder verherrlichten den Tod im Feld, um den Wahnsinn irgendwie zu legitimieren. „Sie schrieben dem Krieg seine eigene spezifische Sinnhaftigkeit zu. Die Sinnfindung war für Zivilbevölkerung und Militär gleichermaßen wichtig, um die Dauer der Kriegszeit überhaupt zu überstehen“, schreibt die Historikerin Elisabeth Buxbaum in ihrem Buch „Des Kaisers Literaten“. Es ging auch um Geld: Das Publikum sollte ermutigt werden, Kriegsanleihen zu zeichnen; im Falle des Sieges, an dem niemand zweifelte, wurden hohe Renditen versprochen.
Alles, was Rang und Namen hatte, saß irgendwann im KPQ: Franz Werfel, Egon Erwin Kisch, Robert Musil, Rainer Maria Rilke, Leo Perutz, Alfred Polgar, Felix Salten, Hugo von Hofmannsthal – fast durchwegs Stammgäste der Cafés „Central“ und „Herrenhof“ in der Wiener Herrengasse – zeigten ihre Kunst nun in der Propagandazentrale des Kaisers. „Heldenfriseure“ nannten sie sich selbst. So ließ sich der Krieg aushalten.
Auch eine Frau gab es dort: Die kriegsversessene Alice Schalek – Karl Kraus hat ihr in seinem Schreckens-Kaleidoskop „Die letzten Tage der Menschheit“ eine Art Denkmal gesetzt. In seiner „Fackel“ ätzt er: „Am schönsten ist es doch im Kriegspressequartier.“
Selbst Maler waren dort beschäftigt. Sie sollten Schlachtengemälde und Porträts von Kriegshelden anfertigen. Einer von ihnen war Oskar Kokoschka (1886–1980). Der Niederösterreicher hatte Alma Mahler (1879−1964), die Witwe des Hofoperndirektors und Komponisten Gustav Mahler, 1912, ein Jahr nach dessen Tod, kennengelernt und eine leidenschaftliche Beziehung mit ihr gepflegt. Alma später in ihren Lebenserinnerungen: „Die Jahre mit ihm waren ein einziger heftiger Liebeskampf. Niemals zuvor habe ich soviel Krampf, soviel Hölle, soviel Paradies gekostet. Wir haben uns aneinander wund gerieben.“
Ein Jahr später verewigte Kokoschka sich und seine Geliebte in einem Gemälde, wahrscheinlich seinem berühmtesten, der „Windsbraut“. Es zeigt ihn mit Alma in einem kleinen Boot als Schiffbrüchige auf hoher See. Noch zu Almas siebzigstem Geburtstag im August 1949, schrieb Oskar Kokoschka: „In meiner Windsbraut sind wir auf ewig vereint!“
Alma Mahler wurde schwanger und trieb das Kind gegen den Willen Kokoschkas ab. Die Beziehung zerbrach, Oskar Kokoschka litt schwer.
Als sich Alma 1915 endgültig dem Berliner Architekten Walter Gropius (1883−1969) zuwandte – sie hatte mit ihm schon während ihrer Ehe mit Gustav Mahler ein Verhältnis –, versuchte Kokoschka, seine Geliebte durch Heldentaten im Feld zurückzugewinnen.
Wie fast alle Künstler war er zu Kriegsbeginn in einen nationalistischen Taumel verfallen. „Wer immer zu Hause bleibt, wird sein ganzes Leben nicht fähig sein, diese Schande zu überwinden“, schrieb er an einen Bekannten und kaufte sich eine Uniform.
Ein Freund, der Architekt Adolf Loos, verschaffte dem liebeskranken Kriegsfreiwilligen die Einberufung zum Dragonerregiment „Erzherzog Joseph“, das eigentlich Aristokraten vorbehalten war. Beim Einsatz in Galizien wurde Kokoschka im August 1915 durch einen Schuss in den Nacken und einen Bajonettstich in die Lunge schwer verwundet. In einem Lazarettzug transportierte man den Maler nach Wien.
Adolf Loos rief auf Wunsch des Schwerverletzten Alma Mahler an: Sie möge doch ins Spital kommen und Kokoschka in seinem Leiden sehen. Alma blieb unerbittlich: „Ich antwortete ins Telefon, ich sei nicht mehr im Mindesten an Oskar Kokoschka interessiert. Loos stotterte: ‚Um Gottes Willen, machen Sie dem Armen doch die Freude!‘, aber ich hängte ab.“
Alma heiratete Walter Gropius. In ihr Tagebuch schrieb sie: „Oskar Kokoschka ist mir ein fremder Schatten geworden. Nichts interessiert mich mehr an seinem Leben. Und dabei habe ich ihn doch geliebt!“
Kokoschka, immer noch liebestoll, ließ sich in München eine in Alma nachempfundene Puppe in Lebensgröße nähen. Besonderen Wert legte er auf die Gestaltung der Geschlechtsmerkmale, für sie gab der Maler genaue Farbanweisungen.
Stefan Zweig (1881–1942) und sein Autorenfreund Franz Karl Ginzkey (1871–1963) waren nicht im Kriegspressequartier, sondern im Kriegsarchiv untergekommen. Dessen Aufgaben glichen jenen des Kriegspressequartiers: Stimmungsmache für den Krieg. Zweig war wegen einer „Narbe nach einer Rippenfell-Operation“ als untauglich für den Dienst an der Waffe befunden worden. Innendienst musste er ableisten.
Sein Freund Franz Karl Ginzkey tat, obwohl im Kriegshafen Pola zum Marineoffizier ausgebildet, von Beginn an Dienst in der Propagandazentrale. Anders als sein gepflegte Prosa bevorzugender Freund Zweig feuerte Ginzkey das Volk meist in Reimform an. Zum Beispiel so:
„Nun sich die Trommel rührt,
sie kommen, die uns einst geführt.
Mitreiten in der Lüfte Weh’n:
Radetzky, Laudon, Prinz Eugen.
Und all voran lorbeerumlaubt,
erstrahlt des Kaisers lichtes Haupt.“
1904 hatte Ginzkey das überaus beliebte, heute freilich recht rassistisch anmutende Kinderbuch „Hatschi Bratschis Luftballon“ veröffentlicht.
Stefan Zweig machte erst der Weltkrieg zu einem engagierten Pazifisten, zu Kriegsbeginn erfasste die Kriegstrunkenheit auch ihn. Im August 1914 schrieb Zweig in einem Feuilleton für die „Neue Freie Presse“: „Mit beiden Fäusten, nach rechts und links, muß Deutschland jetzt zuschlagen. Jeder Muskel seiner herrlichen Volkskraft ist angespannt bis zum Äußersten, jeder Nerv seines Willens bebt von Mut und Zuversicht.“ In seinen Kriegstagebüchern bejubelte er deutsche Siege im Westen und beklagte österreichische Laschheit im Osten.
Manche Tagebucheinträge Stefan Zweigs in diesen ersten Kriegsmonaten schockieren angesichts des späteren Œuvres des großen Humanisten. Am 14. Januar 1915 notierte er: „Etwas Herrliches für Österreich: Eine Erdbebenkatastrophe in Italien. Obzwar es auch 30 000 Menschen das Leben gekostet hat: Etwas mehr und wir wären die schwerste, die bitterste Sorge los gewesen.“
Der in Klagenfurt geborene Robert Musil (1880–1942) hatte schon 1906 mit seinem Romanerstling „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ einen Riesenerfolg gelandet. Dem Taumel zu Kriegsbeginn erlag auch er: „Treue, Mut, Unterordnung, Pflichterfüllung, Schlichtheit – Tugenden, die uns heute stark machen zu kämpfen. Wir haben nicht gewusst, wie schön und brüderlich der Krieg ist.“
Musil hatte zwei Jahre lang Gelegenheit, seine These von der Schönheit des Krieges in grausamen Schlachten in den Dolomiten und am Isonzo zu überprüfen. Nach einer schweren Erkrankung wurde der nun 37-Jährige ins Kriegspressequartier versetzt. Die Arbeit in Rodaun deutete der immer noch entflammte Musil in eine Art Fronteinsatz um: „Diese Tage wollen keine Unbeteiligten und auch das Fernesein von den Schlachtfeldern ist kein Außensein. Keiner hat das Recht ruhig zu schlafen im Ungeheuren der Erregung.“
Selbst nach Kriegsende war Musil nicht ernüchtert. Als er in Wien seinem Schriftstellerkollegen Soma Morgenstern begegnete, vertraute er diesem an: „Ich bin für Krieg, denn ich habe das große Erlebnis des Todes erfahren.“
Der 40-jährige Hugo von Hofmannsthal war wegen einer „Nervenschwäche“ schon drei Tage nach Kriegsbeginn von Istrien zurück nach Wien abkommandiert worden – natürlich ins Kriegspressequartier. Nicht unpraktisch: Das von Hofmannsthal bewohnte Fuchs-Schlösschen stand ganz in der Nähe.
Hofmannsthals „Jedermann“ war 1911 im Berliner „Zirkus Schumann“ unter der Regie von Max Reinhardt uraufgeführt worden. Natürlich ließ sich auch er von der Kriegsbegeisterung der Massen mitreißen. Aus Rodaun schrieb Hofmannsthal im ersten Kriegsherbst an einen Freund: „Der Umfang des Landesverrats im Süden, Osten und Norden ist einfach monströs. Kam dieser Krieg nicht bald, so waren wir verloren – und wohl Deutschland mit uns.“
In seinem Taumel schreckte Hofmannsthal vor Schwulst nicht zurück: „Geist und Sittlichkeit greifen um sich und die Stimmung hinter dieser Armee hat etwas morgendlich Mutiges, etwas nicht nur völlig Europäisches, sondern darüber hinaus, etwas in hohem Sinn Koloniales, mit dem Hauch der Zukunft Trächtiges.“
Bis heute hält sich das Gerücht, Hofmannsthal sei 1914 zum sprachlichen Feinschliff der Kriegserklärung an Serbien einberufen worden.
Anders als die genannten Autorenkollegen wollten sich Egon Erwin Kisch und Franz Werfel im Kriegspressequartier nicht für barocke Kriegshuldigungen hergeben. Kisch wurde in Kämpfen an der russischen Front schwer verletzt und beließ es im Kriegspressequartier bei nüchternen Reportagen.
Franz Werfel hatte alles darangesetzt, nicht an die Front zu müssen, und blieb bis 1917 Soldat in der Etappe. Dann wurde auch er ins KPQ geschickt. „Vorworte für Kriegsausstellungen und andere schöne Dinge“ habe er zu schreiben, berichtete er nach der Ankunft in Rodaun einer Freundin.
Im Spätwinter 1918 wurde Werfel zu einer Propagandamission in die neutrale Schweiz abkommandiert, wo zur selben Zeit Stefan Zweig im Auftrag des Kriegsarchivs gute Stimmung für die Doppelmonarchie machen sollte.
Aber Zweig war nicht mehr der kriegstrunkene „Heldenfriseur“, der siegreiche Generäle bejubeln wollte. Schon im Herbst 1915 meinte er unter den Wiener Intellektuellen Ernüchterung zu erkennen, wenngleich er auf Distanz zu ihnen blieb: „Es ist übrigens jetzt nicht mehr feuilletonistisch modern, kriegsbegeistert zu sein, man trägt jetzt Menschlichkeit.“
Klang da noch Ironie durch, war Stefan Zweig zwei Kriegsjahre später geläutert. Statt, wie vor seiner Propaganda-Tour in die Schweiz versprochen, guten Wind für Österreich-Ungarn zu machen, veranstaltete er dort gemeinsame Lesungen mit französischen (!) Pazifisten.
Im Frühjahr 1918, die Niederlage der Achsenmächte zeichnete sich ab, war Zweig pessimistisch: „Erbitterung wird sich nach dem Krieg nicht gegen die Kriegshetzer, die ‚Reichspost‘-Partei (die Christlichsozialen; Anm.), sondern gegen die Juden entladen. Ich bin überzeugt – felsenfest –, daß nach dem Krieg der Antisemitismus die Zukunft dieser ‚Großösterreicher‘ sein wird.“
Er sollte recht behalten.
Auch Franz Werfel hatte im letzten Kriegsfrühling auf seiner Schweizer Mission alles andere als Propaganda im Sinn. In einer Rede in Davos agitierte der Abgesandte der kaiserlichen Propagandazentrale halsbrecherisch gegen den Krieg und für die Bolschewiken, die wenige Monate zuvor in Russland die Macht übernommen hatten. Eine Ungeheuerlichkeit in der kriegführenden Habsburg-Monarchie, in der die Militärjustiz oft wegen weit geringerer Delikte Todesurteile fällte.
Die Journalistin, Übersetzerin und Salondame Berta Zuckerkandl – sie hatte durch Fürsprache ganz oben Werfel die Schweiz-Mission ermöglicht – befürchtete, man werde ihren Schützling vor ein Kriegsgericht stellen. Dieser kam allerdings kurz vor dem Zerfall der Armee mit einer Verwarnung davon.
An diesem Novembertag 1918, im zeitlichen Niemandsland zwischen Monarchie und Republik, marschieren die beiden Prager Kaffeehausliteraten Egon Erwin Kisch und Franz Werfel also an der Spitze der Rotgardisten über die Wiener Ringstraße, zuerst zum Rathaus und danach zum Parlament. Ihr Schriftstellerkollege Robert Musil steht am Straßenrand und schreibt am Abend in sein „Revolutionstagebuch“: „Mit ihm (Kisch; Anm.) zieht W., in diesen Tagen blaß, mager und heiser geworden. Hat anscheinend keine Ahnung, was er tut. Er ist enorm komisch.“ Kisch, so Musil, habe seine Frau Martha eitel gefragt, ob sie wohl zur nächsten Kundgebung der Roten Garde komme, um ihn zu sehen, er habe jetzt das Kommando über tausende Gewehre.
Nach dem Aufmarsch vor dem Parlament ziehen die Rotgardisten zum Schottentor. Laut Polizeiakt soll dort ein „Zivilist“ – es handelt sich um den entflammten Werfel – als Hauptredner angekündigt haben, die Revolutionäre würden bald „herniederschmettern auf alle, von denen sie jetzt ausgebeutet und ausgesaugt werden, dann würden sie auch die Geldpaläste besitzen“. Bei letzterer Äußerung habe der Redner auf das damals neue Gebäude der Creditanstalt in der Schottengasse gezeigt.
Werfel ist rasch ausgeforscht. Auf der Polizeistation bestreitet er nicht, den inkriminierten Satz gesagt zu haben, fügt aber hinzu, er habe daran die beschwichtigende Bemerkung geknüpft, „daß der Endsieg sicher und es daher nicht nötig sei, gegenwärtig etwas zu unternehmen, was der Würde der Kundgebung abträglich wäre“, so der Polizeiakt. Überdies habe er die Rotgardisten davon abgehalten, neuerlich die nahe Rossauer Kaserne anzugreifen. Auch diesmal wird Werfel nur ermahnt.
Alma Mahler-Gropius sitzt an diesem Novembertag 1918 in ihrer Wohnung in der Elisabethstraße 22 nahe der Oper, nur drei Straßenbahn-Stationen vom Ort des Geschehens am Schottentor entfernt. Ihre im vierten Stock eines Patrizierhauses gelegene Wohnung hat zehn Zimmer.
Sie ist seit drei Jahren mit Walter Gropius verheiratet, die beiden haben eine kleine Tochter, Manon. Den um elf Jahre jüngeren Franz Werfel hat die 38-Jährige im Herbst 1917 kennengelernt. Bald nach dem ersten Treffen war man füreinander entflammt, obwohl Alma den jüngeren Mann alles anders als attraktiv fand: „Werfel ist ein o-beiniger, fetter Jude mit wülstigen Lippen und schwimmenden Schlitzaugen“, schrieb sie damals in ihr Tagebuch.
Ihr Mann Walter Gropius stand da schon seit fast drei Jahren im Feld, am Sinn der Ehe mit ihm hatte Alma bald nach der Hochzeit gezweifelt: Hatte sie ihn nur geheiratet, um Kokoschka loszuwerden? Sie interessierte sich weder für den Menschen Gropius noch für sein Fach, die Architektur. „Meine Empfindung für Walter Gropius war einer müden Dämmerehe gewichen“, schreibt Alma später in ihren Memoiren, „man kann keine Ehe auf Distanz führen.“
Gropius wurde an der Vogesenfront von seiner Frau brieflichen Wechselbädern unterworfen. Einmal schrieb Alma: „Das erste mal, wenn wir uns wieder sehen, werde ich an Dir zu Boden sinken, kniend Dich bitten mit Deinen Händen das heilige Glied in den Mund zu stecken und alle meine Feinheiten, alles Raffinement, das ich an Dir erlernt habe, will ich anwenden.“ Dann wieder, Gropius wurde inzwischen zu einer Hundestaffel versetzt, raunzte sie: „Wenn Du irgendwo ein unreines Tier berührt hast, mir lieber nicht zu schreiben, wenn Du nicht die Möglichkeit hattest, Dich vorher gründlich zu waschen.“
Ende 1917, nicht lange nach dem ersten Treffen, schwängerte Werfel Alma. Sie ließ Walter Gropius, der zuvor auf Heimaturlaub war, im Glauben, er sei der Vater ihrer Leibesfrucht. Das Kind, ein Knabe, starb kurz nach der Geburt. Alma gestand Gropius den Fehltritt. Man trennte sich im Guten.
Als Werfel jetzt, an diesem denkwürdigen Novembertag 1918 der versuchten Revolution, in ihre Wohnung in der Elisabethstraße kommt, prallt Alma zurück. „Seine Augen schwammen in Rot, sein Gesicht war gedunsen und starrte vor Schmutz. Er roch nach Fusel und Tabak. Die jungen Literaten hatten die Rote Garde gegründet! Ich schickte ihn weg. Er war mir widerlich“, schreibt sie später in ihren Lebenserinnerungen: „Er hatte, auf Bänken auf dem Ring stehend, wilde kommunistische Reden gehalten und ‚Stürmt die Banken!‘ und ähnliche unbedachte revolutionäre Schlagworte geschrien.“
Wenige Tage später, am 12. November, wird die „Republik Deutschösterreich“ ausgerufen. Alma Mahler-Gropius steht mit Freunden am Fenster ihres Musikzimmers in der Elisabethstraße. Sie verachtet die Marschierer da draußen: „Den Zug der Proletarier zum Parlament hatten wir mit angesehen. Üble Gestalten, rote Fahnen, hässliches Wetter, Regenmatsch, alles grau in grau. Wir holten meine Pistolen hervor.“
Egon Erwin Kisch und sein 26-jähriger Co-Kommandant Leo Rothziegel, ein Schriftsetzer aus Debreczin, befehligen zeitweise bis zu 4000 Rotgardisten. Auch sie marschieren nun unter den Fenstern der Witwe Mahler in Richtung Parlament. Sie lagern in diesen Tagen auf Plätzen und in Parks, ziehen durch die Straßen Wiens und geben vor, für Ordnung zu sorgen.
Dieser Eindruck wird getrübt, als die Rote Garde die Redaktion der „Neuen Freien Presse“ besetzt. Kisch hat nicht an der Besetzung teilgenommen – vielleicht weil sein Bruder Paul dort Redakteur ist. Friedrich Torbergs Schnurre in der „Tante Jolesch“, Paul habe Egon damit gedroht, „der Mama in Prag“ von diesem Überfall zu erzählen, worauf die Rote Garde abgezogen sei, ist erfunden.
Karl Kraus, ein Gegner der „Neuen Freien Presse“ und wahrlich kein Freund der Rotgardisten ätzt: „Ach, wenn der ‚Neuen Freien Presse‘ nichts anderes widerfährt, als daß sie das Opfer des Putsches von Feuilletonisten wird, die selbst diesen Beruf verfehlt haben und über den Umweg der Roten Garde in eine Redaktion kommen möchten.“
Draußen in der Sternwartestraße 71, im sogenannten Cottage-Viertel Wiens, sitzt in diesen ersten Novembertagen 1918 der 56-jährige Arthur Schnitzler in seiner Villa, einer der meistgespielten Dramatiker seiner Zeit. Stücke wie „Das weite Land“ werden am Burgtheater uraufgeführt und danach an vielen deutschsprachigen Bühnen gespielt.
Jetzt, in diesen ersten Tagen des November 1918, fürchtet sich Schnitzler vor der Revolution. In sein Tagebuch schreibt er: „Regierung machtlos, Verwaltung kopflos. Die Villenviertel, insbesondere Cottage, wären natürlich vor allem gefährdet. Olga (Schnitzlers Frau; Anm.) verfällt in eine wahre Revolutionspsychose.“ Die Schnitzlers packen zur Sicherheit ihre Koffer.
Die Villenbesitzer in der Nachbarschaft, darunter der Schriftsteller Felix Salten („Der Schrei nach Liebe“, „Wurstelprater“, „Bambi“, „Josefine Mutzenbacher“), erwägen das Aufstellen von bewaffneten Wachen.
„Wenn wir doch auf diese Tage bald wie auf einen bösen Traum zurücksehen könnten“, trägt Schnitzler in sein Tagebuch ein. Die Republiksgründung vom 12. November kommentiert er mit etwas angewiderter Nüchternheit. „Ein welthistorischer Tag ist vorbei, in der Nähe sieht er nicht großartig aus.“
Aber nicht nur dem Bildungsbürgertum, auch den Sozialdemokraten sind die ungestümen Rotgardisten unangenehm. Ihr Chefideologe Otto Bauer ist gerade aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt. Jetzt beobachtet er auf den Straßen Wiens „von der Romantik der Revolution erfüllte Wehrmänner, sowie Intellektuelle und Literaten aller Art“. Auch „Agitatoren des Bolschewismus“ habe er in den Reihen der Rotgardisten ausgemacht, schreibt Otto Bauer. Der linke Sozialdemokrat war von Beginn an Lenins Revolution skeptisch gegenübergestanden.
In den ersten Novembertagen des Jahres 1918, an dieser Schnittstelle zwischen vermorschter Monarchie und ungewisser Republik, sind die Spielregeln des neuen Staates noch ungeklärt: Soll die Macht von Arbeiterräten in den Betrieben und Soldatenräten in den Regimentern ausgehen oder von bei Wahlen ermittelten Abgeordneten? Die radikale Linke – eine nicht unbedeutende Minderheit – ist in diesen Tagen des Aufruhrs für eine Räterepublik. Alle anderen Parteien, auch die Sozialdemokraten, setzen auf Parlamentarismus.
Die provisorische Regierung Karl Renners (1870−1950) behält daher die Rotgardisten im Auge. Als Kisch verlangt, man möge ihn und seine Truppe nach Schönbrunn vorlassen, ist Feuer am Dach: Im Schloss sitzen noch Kaiser Karl und seine Familie. Erst im Juli zuvor hatten die Bolschewiki in Jekaterinburg die gesamte Zarenfamilie ermordet.
Der Sozialdemokrat Julius Deutsch, 34, er ist provisorischer Verteidigungsminister und mit der Aufstellung der „Volkswehr“, einer regulären republikanischen Armee, beschäftigt, übernimmt es, die Revolutionäre zu zähmen. Er versichert ihnen, der Kaiser sei „ohnehin schon erledigt, da ist nicht mehr viel Ehre aufzuheben“. Kisch und seine Leute ziehen tatsächlich ab und verzichten auf den Sturm auf Schönbrunn.
Julius Deutsch hält von den Roten Garden ebenso wenig wie Otto Bauer. Kisch sei ein „nervöser Literat“ gewesen, schreibt er später. „Die Mannschaft bestand zum größten Teil aus Leuten von blindem Radikalismus, Draufgängern ohne jede Überlegung … Weil den Rotgardisten in Wien niemand den Gefallen tat, sich ihnen zu einer kleinen Straßenschlacht zu stellen, gingen sie auf die Suche nach einem Feind: Sie jagten Automobilen nach.“
Deutsch schleust nun bei der Roten Garde immer mehr loyale Männer ein. Am 11. November, einen Tag vor der Ausrufung der Republik, gelingt es ihm, Kisch durch einen seiner Gewährsleute, Hauptmann Josef Frey, zu ersetzen. Damit ist in Wien den Anhängern einer Räterepublik, wie sie wenig später in München und Budapest ausgerufen wird, der Boden unter den Füßen weggezogen. Die Vertreter des Parlamentarismus haben sich in der „Republik Deutschösterreich“ – so heißt der neue Staat – rasch durchgesetzt.
Joseph Roth ist zu dieser Zeitenwende ein 24-jähriger, aus Galizien zugewanderter Germanistikstudent. Nach seiner Ankunft in der Kaiserstadt bezog er mit seiner Mutter eine kleine Wohnung in der Wiener Wallensteinstraße, gelegen in einem Arbeiterviertel. Als sich der Pulverdampf legt, ätzt er in seinen Notizen: „Es stürzte eigentlich nichts: Der Thron verfiel wie eine morsche Sitzbank in einem vernachläßigten Park; die Monarchie löste sich auf wie ein Zuckerwürfel im Wasserglase. Als kein Kaiser da war, entdeckte man die Republik. Da man nicht mehr loyal sein konnte, wurde man revolutionär.“
Auch der Satiriker Anton Kuh (1890–1941), der wie Roth nicht an umstürzlerischen Aktivitäten teilgenommen hat, scherzt: „Der Geist der Menschenbefreiung reicht in Wien nämlich – sowohl leider Gottes wie Gott sei Dank! – nur bis Atzgersdorf (heute Teil des 23. Wiener Gemeindebezirks; Anm.). Im Café Central wurde tags darauf wieder friedlich Schach gespielt.“
Robert Musils Frau Martha schreibt am 28. Dezember 1918 an ihre Tochter: „Kisch sehen wir nicht mehr so oft. Er hat immer alles im Kaffeehaus mit, weil dort seine Garderobe ist. Er schläft seit 14 Tagen jeden Tag wo anders, weil er zu faul ist, sich eine Wohnung zu suchen.“
Der entmachtete Führer der Rotgardisten bittet seine Mama in Prag brieflich um Geld: Er werde aus politischen Gründen in Wiener Zeitungen nicht mehr gedruckt, habe sich aber „in besseren Kreisen einen guten Ruf erworben: Ich schreibe Dir das, damit Du siehst, daß ich zwar obdachlos, aber noch immer der alte Liebling der Welt bin“.
Bald darauf verlässt er Wien. Viele seiner Freunde aus den revolutionären Tagen in der Kaiserstadt sollte er 20 Jahre später auf der Flucht vor den Nazis wiedertreffen.
Arthur Schnitzler ist in diesen Dezembertagen 1918 in der Elisabethstraße bei Alma Mahler-Gropius zum Abendessen eingeladen. Danach rekapituliert er den Abend in seinem Tagebuch: „Frau Mahler confus-fahrig. Werfel sucht etwas verworren mir den Communismus zu erklären, ohne selbst irgendwie überzeugt zu sein.“
Der 64-jährige Sigmund Freud muss erkennen, dass er ein in Kriegsanleihen angelegtes Vermögen verloren hat. Der Untergang der Monarchie irritiert ihn: „Ich werde mit diesem Torso weiterleben und mir einbilden, daß er das Ganze ist“, vertraut er seinem Freund, dem Schriftsteller Ernst Lothar, an: „Anderswo möchte ich nicht leben. Emigration kommt für mich nicht in Frage.“
Zwei Jahrzehnte später wird Freud das Exil nicht erspart bleiben.
Luxemburg und Liebknecht ermordet – Räte übernehmen München – Der Gefreite „Hittler“ am Straßenrand
In Deutschland ist die Situation nach Kriegsende brisant. Die Sozialdemokratische Partei hatte sich bald nach Kriegsbeginn, im September 1914, in der Frage der Zustimmung zu den Kriegskrediten im Reichstag gespalten.
Der linke Flügel der SPD wollte sich mit dem Schulterschluss der Parteiführung mit den Kriegstreibern nicht abfinden und gründete eine eigene Partei, die USPD. Aus ihr löste sich die Spartakusgruppe und wenig später die Kommunistische Partei Deutschlands, KPD, ab.
Für die deutschen Sozialdemokraten, die wie jene in Österreich in den ersten Monaten der jungen Republik die wichtigsten Positionen besetzten, ist die Konfrontation mit den ehemaligen Genossen höchst unangenehm. Unter den führenden Spartakisten, der Speerspitze der Linken, sind schließlich zwei ehedem prominente SPD-Funktionäre: Der eine ist Karl Liebknecht, geboren 1871, Sohn des Parteipatriarchen Wilhelm Liebknecht. Zu seiner Geburt schickten Karl Marx und Friedrich Engels den Liebknechts herzliche Wünsche für das Wohlergehen des Stammhalters. Diesem gab Vater Wilhelm zu Ehren der beiden Vordenker den Namen Karl Friedrich.
Die abtrünnige Genossin, die den Sozialdemokraten in diesem Januar 1919 Sorgen bereitet, ist Rosa Luxemburg, wie Liebknecht und das deutsche Kaiserreich Jahrgang 1871.
Rosa Luxemburg, geboren in Polen, wurde in der männlich dominierten Welt der jungen Sozialdemokratie oft angefeindet. Sie vertrat die reine Lehre, wie sie Karl Marx 40 Jahre zuvor niedergeschrieben hatte: Der Kapitalismus schaffe für wenige ungeheure Reichtümer, während das Proletariat immer mehr verelende. Aber das stimmt nicht ganz, sagt die von Luxemburg und ihren Anhängern als „Revisionisten“ bekämpfte Parteiführung: Die Armen bekämen zwar nicht ihren gerechten Anteil ab, sie würden aber nicht immer mehr verarmen. Und der Kapitalismus – man müsse ihn natürlich bekämpfen – werde sich schon noch ein Weilchen halten.
Aber auch mit den ehemaligen sozialdemokratischen Genossen, die nun als Bolschewiki in Russland im Oktober 1917 eine Revolution gemacht haben, ist Luxemburg nicht einverstanden: „Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für die Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden.“
Der Gründer der österreichischen Sozialdemokratie, Victor Adler (1852–1918), machte aus seiner tiefen Abneigung gegenüber Rosa Luxemburg nie ein Geheimnis. Nach einer Sitzung der Internationale schrieb er im August 1910 an August Bebel, den großen Alten der deutschen Sozialdemokraten: „Schau Dir die liebe Rosa an. Es ist wirklich arg. Das giftige Luder wird noch sehr viel mehr Schaden anrichten, um so größeren, weil sie blitzgescheit ist, während ihr jedes Gefühl für Verantwortung vollständig fehlt. Und ihr einziges Motiv eine geradezu perverse Rechthaberei ist.“ Bebel versuchte, Adler zu besänftigen: „Trotz aller Giftmischerei möchte ich das Frauenzimmer in der Partei nicht missen.“
Bebel und Adler sind im Januar 1919 schon tot, als die nunmehrigen SPD-Führer Friedrich Ebert und sein Stellvertreter Gustav Noske ihre früheren Genossen Liebknecht und Luxemburg zum Abschuss freigeben. Ebert ist Chef des Rats der Volksbeauftragten, also der provisorischen Regierung. Noske befehligt als „Volksbeauftragter für das Heerwesen“ die in Berlin zusammengezogenen Truppen: Reste der kaiserlichen Armee, loyale Republiksoldaten und aus Front-Heimkehrern zusammengestoppelte Freikorps.
Einer dieser Freikorps-Soldaten ist der 18-jährige Rudolf Höß (1901–1947), der mit seinem Trupp bis ins Baltikum zieht, um dort gegen die russischen Revolutionäre zu kämpfen. 20 Jahre später wird Höß Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz.
Die Sozialdemokraten streben nach der Ausrufung der Republik rasche Wahlen zur Nationalversammlung an. Spartakus und KPD lehnen Parlamentarismus und rasche Wahlen ab und treten für ein Rätesystem ein. Die kriegswichtigen Industriezweige sollen noch vor Wahlen vergesellschaftet werden, so ihre Forderung.
Die Verhandlungen scheitern rasch, die Revolutionäre besetzen in Berlin mehrere Zeitungsredaktionen, darunter jene des sozialdemokratischen Parteiorgans „Vorwärts“. Am 9. Januar erlassen sie einen martialischen Aufruf: „Kampf den Judassen in der Regierung, sie gehören ins Zuchthaus, aufs Schafott. Gebraucht die Waffen gegen eure Todfeinde.“
Die Schießereien enden für die Spartakisten katastrophal. Fast 200 Revolutionäre sterben, die Militärs und Paramilitärs beklagen 20 Tote. Sieben Parlamentäre, die mit weißen Fahnen aus dem „Vorwärts“-Gebäude kommen, werden von der Soldateska erschossen oder erschlagen.
Rosa Luxemburg – sie war zwischen 1915 und 1918 fast durchgehend nach dem „Schutzhaft“-Gesetz im Gefängnis – hatte die Niederlage vorhergesehen und Liebknecht vor der bewaffneten Konfrontation gewarnt.
Als die militärischen Formationen am 11. Januar mit Flammenwerfern und Maschinengewehren mit der Räumung der besetzten Stadtteile beginnen, verstecken sich Liebknecht und Luxemburg in der Privatwohnung eines Freundes in Berlin-Wilmersdorf. Dort hängt eines der damals noch seltenen Telefone – Reichswehrminister Noske lässt es abhören.
Wenige Tage später, am Abend des 15. Januar 1919, werden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht von einem der Freikorps festgenommen und in das Hotel Eden gebracht.
Was dort geschah, sagt später Liebknechts Mitverschwörer Wilhelm Pieck bei einer Einvernahme aus: „Ich sah, daß ein Offizier, der von den anderen als Hauptmann angeredet wurde, herumlief, den Soldaten Zigaretten anbot und sagte: ‚Die Bande darf nicht mehr lebend das Edenhotel verlassen!‘ Kurze Zeit danach kam ein Dienstmädchen herauf, fiel einer Kollegin in die Arme und rief: ‚Ich werde den Eindruck nicht los, wie man die arme Frau niedergeschlagen und herumgeschleift hat.‘“
1949 wird der Augenzeuge Wilhelm Pieck erster Staatspräsident der neuen DDR. Danach tauchen Gerüchte auf, Pieck habe 1919 seine Genossen verraten, dafür habe man ihn laufen lassen. Beweise dafür gibt es nicht.