Als Schnitzler mit dem Kanzler stritt - Herbert Lackner - E-Book

Als Schnitzler mit dem Kanzler stritt E-Book

Herbert Lackner

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Beschreibung

Kunst im Spannungsfeld zwischen Freiheit – Politik - Publikum Wie Rechtsradikale wegen Schnitzlers "Reigen" die Wiener Kammerspiele verwüsteten – warum die Kirche wegen eines Besuchs von Josephine Baker Bußgottesdienste veranstaltete – warum Österreichs Regierung 1933 die Bücherverbrennung in Deutschland bejubelte – wie Stefan Zweig aus Österreich vertrieben wurde – welche Autoren schon früh zu den Nazis überliefen – wer das miefige Kulturklima der Nachkriegsjahre zu verantworten hatte – wie Valie Export, Hermann Nitsch, Peter Turrini und viele andere um ihr Werk kämpfen mussten. Herbert Lackner beschreibt in seinem neuen Buch das Ringen von Autor:innen, Musiker:innen und Künstler:innen um ihre Freiheit – eine politische Kulturgeschichte Österreichs. ·         Theaterskandal um Schnitzlers "Reigen" ·         Verbot des Kinofilms "Im Westen nichts Neues" 1931 ·         Bücherverbrennungen im Dritten Reich ·         Kampf gegen den Wiener Aktionismus ·         Proteste gegen die "Alpensaga" ·         Wirbel um die "Heldenplatz"-Uraufführung im Burgtheater ·         u. v. m.

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ÜBER DAS BUCH

Der Kampf der Künstler, Dichter und Denker um Existenz und Freiheit wurde im 20. Jahrhundert gegen wechselnde Gegner ausgetragen und

er war opferreich: Als Arthur Schnitzlers „Reigen“ 1921 erstmals in Wien aufgeführt wurde, zertrümmerten katholische und völkische Demonstranten das Theater und verprügelten das Publikum. Hugo Bettauer wurde von einem jungen Nazi ermordet, der schon zwei Jahre später wieder freikam. Bundeskanzler Ignaz Seipel wollte wieder die Vorzensur einführen, was nur durch den entschlossenen Widerstand der Autoren verhindert werden konnte (worauf sich der Titel dieses Buchs bezieht). Die Bücherverbrennungen in Nazi-Deutschland wurden 1933 in Österreich von Kircheund christlichsozialer Presse begrüßt – es betraf ja vor allem Juden.

Die Staatskünstler des Austrofaschismus wurden zu Staatskünstlern des Nationalsozialismus, diesem Ende aller Freiheiten. Er sollte lange nachwirken – auch in den Köpfen. Nach 1945, als der Einfluss der Kirche schwand, waren parteiübergreifend Engstirnigkeit, Antimoderne und Prüderie die Hürden, die Kunst, Kultur und Wissenschaft zu überwinden hatten.

Mit freundlicher Unterstützung durch den Zukunftsfonds der Republik Österreich

1. Auflage 2023

© Carl Ueberreuter Verlag, Wien 2023

ISBN 978-3-8000-7844-8 (print)

ISBN 978-3-8000-8065-6 (e-book, ohne Abb.)

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Lektorat: Mag. Marina Hofinger | Carl Ueberreuter Verlag

Covergestaltung: Saskia Beck | s-stern.com

Coverbild: © Austrian Archives / brandstaetter images / picturedesk.com

Satz: Lisa Wilfinger | Carl Ueberreuter Verlag

Konvertierung: bookwire.de | Frankfurt/Main

www.ueberreuter.at

@ueberreuterwien

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INHALT

VORWORT

Kapitel 1

„DAS GESINDEL TOBT“

Kapitel 2

„HÖCHSTE WOLLUST UND GRAUSAME FREUDE“

Kapitel 3

„NEGERSKANDAL IN WIEN!“

Kapitel 4

„BILDLICHE NUDITITÄTSORGIEN“

Kapitel 5

EIN BESTSELLER WIRD VERBRANNT

Kapitel 6

„ZERSETZUNG DER SITTLICHEN KRÄFTE“

Kapitel 7

„ENTGIFTUNG VON DEN BAZILLENTRÄGERN“

Kapitel 8

DIE VERTREIBUNG DES DOKTOR ZWEIG

Kapitel 9

GEIST UND GEISTLOSIGKEIT

Kapitel 10

„GEWALTIGER MANN, WIE KÖNNEN WIR DIR DANKEN?“

Kapitel 11

„SCHMUTZ IN GANZEN KÜBELN“

Kapitel 12

„DESTRUKTIV, FRIVOL, ZERSETZEND“

Kapitel 13

IN DEN KELLERN VON WIEN

Kapitel 14

AKTION UND REAKTION

Kapitel 15

DIE WIEDERENTDECKUNG DER HEIMAT

Kapitel 16

EIN STÜCK DES WEGES

Kapitel 17

ZOFF AM HELDENPLATZ

Kapitel 18

„LIEBEN SIE SCHOLTEN?“

Epilog

ZENSUR VON LINKS?

LITERATURVERZEICHNIS

PERSONENREGISTER

VORWORT

In der deutschen Sprache gibt es Begriffe, die wegen ihrer Vieldeutigkeit unpraktikabel werden. Einer davon, „Kulturkampf“, sollte eigentlich im Titel dieses Buches stehen, wegen seiner Beliebigkeit muss aber darauf verzichtet werden.

Ursprünglich bedeutete „Kulturkampf“ ja die Auseinandersetzung zwischen dem jungen, mehrheitlich protestantischen deutschen Kaiserreich und der katholischen Kirche, ausgetragen in den 1870er-Jahren zwischen Reichskanzler Otto von Bismarck und Papst Pius IX. Bismarck brach damit den Einfluss Roms auf die deutsche Politik.

In Österreich entstand wenige Jahre später angeführt von Deutschnationalen eine „Los von Rom“-Bewegung, aber die Macht der katholischen Kirche wurde durch diesen „Kulturkampf“ nicht nachhaltig geschmälert. Ihr Einfluss auf Staat und Gesellschaft überdauerte sogar den Zusammenbruch der Monarchie. In der Ersten Republik wurde ein Prälat Bundeskanzler (Ignaz Seipel) und ein späterer Kardinal (Theodor Innitzer) Sozialminister. Ihre Ansprüche setzte die katholische Kirche auf allen politischen Feldern mithilfe der Christlichsozialen Partei durch, auch auf jenem der Kultur.

Damit sind wir bei der völlig anderen Bedeutung des Begriffs „Kulturkampf“, um ihn geht es in diesem Buch: den Kampf der Künstler, Dichter und Denker um Existenz und Freiheit im dramatischen 20. Jahrhundert – und darüber hinaus.

Er wurde gegen wechselnde Gegner ausgetragen und er war opferreich: Als Arthur Schnitzlers „Reigen“ 1921 erstmals in Wien aufgeführt wurde, zertrümmerten katholische und völkische Demonstranten das Theater und verprügelten das Publikum. Der Journalist Hugo Bettauer, Autor des Romans „Stadt ohne Juden“, wurde von einem jungen Nazi ermordet, der schon zwei Jahre später wieder freikam. Als die Tänzerin Josephine Baker 1927 nach Wien kam, rüsteten Rassisten aller Schattierungen auf. Bundeskanzler Ignaz Seipel wollte wieder die Vorzensur einführen, was nur durch den entschlossenen Widerstand der Autoren verhindert werden konnte (worauf sich der Titel dieses Buches bezieht). Die Bücherverbrennungen in Nazi-Deutschland wurden 1933 in Österreich von Kirche und christlich-sozialer Presse begrüßt – es betraf ja vor allem Juden. Österreichs damals berühmtester Schriftsteller Stefan Zweig wurde so lange gemobbt, bis er 1934 das Land verließ. Die Staatskünstler des Austrofaschismus wurden zu Staatskünstlern des Nationalsozialismus, diesem Ende aller Freiheiten. Er sollte lange nachwirken – auch in den Köpfen.

Nach 1945, als der Einfluss der Kirche schwand, waren parteiübergreifend Engstirnigkeit und Sumpertum, Antimoderne und Prüderie die Hürden, die Kunst, Kultur und Wissenschaft zu überwinden hatten.

Heute taucht der Begriff „Kulturkampf“ abermals in neuer Bedeutung auf: Sind Cancel Culture und Identitätspolitik Zensur von links?

Dieses Buch besteht nur auf den ersten Blick aus voneinander unabhängigen Kapiteln. Tatsächlich ist es eine durcherzählte, fast romanartige Geschichte: Ein Ereignis ist ohne das vorangegangene nicht vorstellbar und die Akteure sind oft dieselben. Sie kann erstmals auf diese Weise erzählt werden, weil Quellen zugänglich wurden, die eine neue Sicht auf diese „Kulturkämpfe“ ermöglichen. Großartiges haben dabei die Österreichische Nationalbibliothek mit der Website „Anno“ und die Österreichische Akademie der Wissenschaften mit der Digitalisierung der Tagebücher Arthur Schnitzlers und der „Fackel“ von Karl Kraus geleistet.

Beim sach- und geschichtskundigen Paulus Manker bedanke ich mich für seine Beratung in Theaterfragen, bei meinem Freund Peter Turrini für viele Gespräche und für ein Interview über das Entstehen der „Alpensaga“.

Wie in meinen früheren Büchern habe ich auf das Setzen ermüdender und den Lesefluss unterbrechender Fußnoten verzichtet. Originalzitate sind kursiv gesetzt, die Quelle ist bei Zitaten aus Zeitungen im Text, bei Fachliteratur im Anhang angegeben. Alle Zitate sind jederzeit dokumentierbar.

Ich wünsche viel Gewinn bei der Lektüre!

Herbert Lackner

Kapitel 1

„DAS GESINDEL TOBT“

In Wien kommt es 1921 wegen Arthur Schnitzlers „Reigen“ zu antisemitischen Exzessen: Demonstranten zertrümmern die Kammerspiele und wollen Judengeschäfte in der Leopoldstadt stürmen. Der Staat stellt sich auf die Seite der Rechten.

Er hatte Ähnliches ja befürchtet, aber jetzt, da mit Stinkbomben, Stöcken und Schlagringen bewaffnete Randalierer die Kammerspiele in der Wiener Rotenturmstraße zertrümmern, ist Arthur Schnitzler (1862–1931) fassungslos. Er war selbst im Theater und ist dem Mob nur mit Mühe durch einen Hinterausgang entkommen.

Am späten Abend jenes 16. Februar 1921, an dem christlich-soziale und deutschnationale Schläger die Vorstellung seines Stücks „Der Reigen“ gestürmt haben, sitzt der 58-jährige Schnitzler immer noch aufgewühlt in seiner Villa in der Sternwartestraße im Wiener Bezirk Währing und notiert im Tagebuch das Geschehene: „Lärm, Garderobiere stürmt herein, weinend. Geschrei, Toben, Brüllen. Ein paar hundert sind eingedrungen, attackieren die Besucher, Publikum flieht, wird insultiert, das Publikum flieht auf die Bühne. Bänke und Sessel aus den Logen heruntergeworfen. Das Gesindel tobt.“

Der Sturm auf das Theater ist die fast logische Zuspitzung eines Ringens, in dem es um mehr geht als um ein freizügiges Theaterstück: Es ist das Wetterleuchten vor einem katastrophalen Unwetter, das sich mehr als ein Jahrzehnt lang zusammenbrauen wird, um sich danach umso gnadenloser zu entladen.

Geschrieben hat Schnitzler diesen „Reigen“ schon 1897. Er wollte darin die verlogene Moral der Wiener Fin-de-Siècle-Society vorführen, die Durchlässigkeit dieser dünkelhaften Klassengesellschaft aufzeigen, was das kleine „Pantscherl“ betrifft.

Als Mittdreißiger mit ständig wechselnden Liebschaften lebte Arthur Schnitzler damals mit seiner Mutter in der Frankgasse Hausnummer 12, neben dem Allgemeinen Krankenhaus am Wiener Alsergrund, und eröffnete gerade eine eigene Arztpraxis. Sein Vater, ein bekannter Kehlkopfspezialist, als dessen Assistent er in der Poliklinik gearbeitet hatte, war kurz zuvor gestorben.

Schnitzler, ein ansehnlicher junger Herr, war begabt und neben dem Arztberuf als Theaterautor durchaus erfolgreich: Sein Einakter-Zyklus „Anatol“ stand an mehreren deutschen Bühnen auf dem Programmzettel, das Schauspiel „Liebelei“ hatte 1895 gar am neuen Wiener Burgtheater am Ring Premiere.

An Wochenenden zog Schnitzler in jener Zeit um die Jahrhundertwende gern mit seinen Freunden Hugo von Hofmannsthal und Felix Salten durch den Prater, für ihn ein Stück Heimat – er wurde in der Praterstraße geboren und verbrachte seine ersten Lebensjahre hier. Nach einem dieser Streifzüge zwischen den Buden und Wirtshäusern des Wurstelpraters schrieb er seiner eifersüchtigen Geliebten, der berühmten Burgschauspielerin Adele Sandrock: „Haben wahnsinnig gedraht, sind nämlich im Schweizerhaus gesessen, haben Backhendln mit Gurkensalat und Salami gegessen und sind dann – bitte nicht verhöhnen – auf der Rutschbahn gefahren. Dabei ereignete sich auch nicht das geringste Stubenmädchen und alle Backen blieben ungekniffen (du bist erstaunt? Ich begreife das).“ Die ebenfalls recht lebenslustige Sandrock nannte den feschen Schnitzler in trauten Briefen oft „Oh, du süßes Menschenfleisch“.

Es waren diese großartigen Jahre, in denen ihm die Idee zum „Reigen“ kam. Die Handlung: Bei der Augartenbrücke am Donaukanal schleppt die Dirne den Soldaten ab, in der nächsten Szene treibt es der Soldat im Prater mit dem Dienstmädchen, das danach mit dem jungen Herrn auf den Diwan geht. Der junge Herr überredet die verheiratete Emma, Emma wohnt ihrem Gatten bei, der Gatte geht mit dem süßen Mädel fremd. Das süße Mädel gibt sich dem Dichter hin, der verbringt ein Wochenende mit der Schauspielerin, die Schauspielerin zieht den Grafen ins Bett, schließlich geht der Graf mit der Dirne bei der Augartenbrücke ins Hotel.

Der Reigen ist geschlossen.

Das alles spielt sich natürlich nur in Form von Dialogen ab, obwohl der Text gar nicht für eine szenische Aufführung geschrieben wurde. Schnitzler ließ auf eigene Kosten 200 Exemplare drucken, um sie bei bestimmten Anlässen als Geschenk an gute Freunde zu verteilen. An eine Veröffentlichung dachte er nicht.

Das Büchlein gefiel.

1903 bot sich der kleine „Wiener Verlag“ Schnitzler als Partner an, der sagte zu.

In Deutschland wurde das in überschaubarer Auflage gedruckte Buch sofort verboten, das trieb die Nachfrage hoch: Das Publikum erwartete sich nun besonders heiße Ware, wenngleich der „Reigen“ mit Pornografie im heutigen Wortgebrauch absolut nichts zu tun hatte. Die Aufregung stieg noch, als Schnitzlers Freund und Autorenkollege Hermann Bahr eine szenische Aufführung des „Reigen“ im Bösendorfer Saal in der Wiener Herrengasse plante. Die kaiserliche Polizei schritt umgehend ein.

Schnitzlers Verleger hatte inzwischen bereits 30.000 Exemplare der Buchversion verkauft. Im Jahr danach, 1906, brachte er mit „Josefine Mutzenbacher oder die Geschichte einer Wienerischen Dirne von ihr selbst erzählt“ tatsächlich scharfe Ware heraus – im limitierten „Privatdruck“ versteht sich, es gab nur tausend nummerierte Exemplare. Autor der schlüpfrigen Delikatesse war angeblich – Experten bezweifeln es – Schnitzlers Freund Felix Salten.

Auch Böswillige waren nun auf Arthur Schnitzler aufmerksam geworden. War das nicht der Kerl, der mit seinem „Leutnant Gustl“ den Ehrenkodex der Armee verspottet hatte? Ist das nicht jener Schnitzler, dessen Stück „Professor Bernardi“ zu Recht sofort verboten wurde: Ein jüdischer Arzt, der einer heiter Sterbenden die letzte Ölung verweigert, um ihr die Todesangst zu ersparen – jüdisches Machwerk ist so etwas! Und war nicht auch sein Verleger ein Jude?

Premieren von Schnitzler-Stücken wurden mancherorts schon seit einiger Zeit hasserfüllt kommentiert. Nach der Uraufführung von „Das weite Land“ hieß es 1911 in der katholischen Tageszeitung „Salzburger Chronik“: „Ach nein, dieser Schnitzlersche Hausherrensohn heißt ja gar nicht Hofrichter, sein Vater hat sicherlich Kohn oder Levi oder Teitelbaum geheißen und die ganze Gesellschaft des Weiten Land‘ besteht aus Wiener Salzgries- und Roßau-Juden, denen der dichtende Stammesgenosse arisch-deutsche Namen gegeben hat, um sie wenigstens für den ersten Blick der Theaterbesucher unkenntlich zu machen.“

Vielleicht war mit dem Vergehen der Monarchie auch ein neues Denken eingekehrt, hoffte Schnitzler nach dem Ende des Weltkriegs; die kaiserliche Sittlichkeitskommission gab es nun ja nicht mehr. Aber war die Macht der Zensur endgültig gebrochen? Angeregt von Regisseur Max Reinhardt überlegte er jetzt, den „Reigen“ als Dialogstück auf eine Bühne zu bringen. Aber Schnitzler hatte falsch kalkuliert – das Denken hatte sich nicht geändert und wenn, dann nicht selten zum Übleren.

Im Dezember 1918 etwa gab der Vorsitzende der christlichen Arbeiterbewegung, Leopold Kunschak (1871–1953), die Losung aus, die Schuld an der Niederlage im Krieg sei auf die Raffgier der Juden zurückzuführen. „Und die Juden wissen: Wenn das Volk dazu kommt, diese Abrechnung vorzubereiten, so wird für sie ein Urteilsspruch erwachsen, vor dem ihnen grauen muß“, donnerte Kunschak am Parteitag der Christlichsozialen. Im Wiener Gemeinderat forderte er die sofortige Abschiebung aller während der Kriegsereignisse aus den ehemaligen Kronländern zugewanderten Juden: „Man kann ruhig die Behauptung aufstellen: Die Juden sind nicht nur die Not, sondern auch die Seuche unserer Zeit.“

Später, 1945, wurde Leopold Kunschak, nun ÖVP, 74-jährig erster Nationalratspräsident der Zweiten Republik und blieb es bis zu seinem Tod acht Jahre später. Bis 2016 war ein Journalistenpreis nach ihm benannt, seither heißt die Auszeichnung „Alois-Mock-Preis“.

Die Christlichsozialen waren neben den weit kleineren deutschnationalen Parteien die Bannerträger des Antisemitismus, und Bürgermeister Karl Lueger war längst nicht der radikalste. Wer ein „Jud“ war, wollte er bekanntlich selbst bestimmen.

Noch unterschied sich dieser „christliche“ Antisemitismus, der das Judentum an der Religion festmachte, vom Rassen-Antisemitismus, wie ihn ab den 1880er-Jahren der niederösterreichische Gutsherr und Politiker Georg von Schönerer vertreten hatte. Einer von Schönerers Leitsprüchen definierte den Unterschied: „Die Religion ist einerlei/ im Blute liegt die Schweinerei.“ Auch längst zu einer anderen Religion übergetretene Juden seien deshalb immer noch Juden.

So sahen es später auch die Nazis.

Aber die Grenze zwischen christlichem Antisemitismus und dem von Schönerer gepredigten „Rassenantisemitismus“ war immer fließend. Das hatten Arthur Schnitzler und wohl alle anderen 180.000 Juden, die zu dieser Zeit in Wien lebten, schon selbst wiederholt zu spüren bekommen. Ihm war klar, dass in einem solchen Klima, in dem noch dazu nach Schuldigen für die klägliche Niederlage im Krieg gesucht wurde und in dem noch alle Gefühle aufgewühlt waren, das Projekt „Reigen“ mit großem Risiko behaftet war.

Die Behörden nahmen ihm vorerst alle Entscheidungen ab: Im Februar 1920 wurde sein Antrag auf Genehmigung einiger Aufführungen des „Reigen“ vom christlich-sozialen Innenminister abgelehnt – der war ein Monarchist.

Schnitzler wich nach Berlin aus, wo die Uraufführung des „Reigen“ einen Tag vor dem Heiligen Abend des Jahres 1920 im Kleinen Schauspielhaus stattfand, obwohl das Preußische Kulturministerium der Theaterdirektion mit sechs Wochen Haft gedroht hatte.

Schnitzler war nicht zur Premiere nach Berlin gefahren, am Abend der Aufführung saß er allein im Schreibzimmer seiner Villa in der Sternwartestraße. Seine Frau Olga, mit der er 19 Jahre lang verheiratet war, hatte sich nach langem Rosenkrieg von ihm getrennt und war kurz vor der „Reigen“-Premiere nach München übersiedelt. Die beim Vater verbliebenen Kinder Heini und Lili waren schon auf ihren Zimmern.

Noch in der Nacht der Erstaufführung wurde Schnitzler aus Berlin telegrafiert. Danach sein Eintrag ins Tagebuch: „Publicum demonstriert für mich, Aufführung scheint sehr mäßig gewesen, insbesondere Ettlinger als Dichter versagte.“ Er wusste jetzt auch, wer in Berlin das letztlich ohnehin nicht befolgte Verbot der Aufführung beantragt hatte: ausgerechnet der aus Wien stammende Komponist Franz Schreker. „Verbot vom Directorium der Musikhochschule erwirkt, angeblich um den Saal freizubekommen. Director ist Schreker, Dichter‘ und Componist!“, trug Schnitzler wütend in sein Tagebuch ein.

Mit der Aufnahme seines „Reigen“ durch das deutsche Feuilleton konnte er zufrieden sein. Alfred Kerr, der einflussreichste Kritiker seiner Zeit, schrieb in der Zeitung „Der Tag“: „Darf man Stücke verbieten? Nicht mal wenn sie schlecht geschrieben und schlecht gespielt werden. Hier aber ist ein reizendes Werk und es wird annehmbar gespielt. Der Erfolg war gut; die Hörerschaft wurde nicht schlechter davon. Und die Welt ist, zum Donnerwetter, kein Kindergarten! Es wird auf die Dauer zu fad, vor allen wichtigsten Begleitumständen der menschlichen Fortpflanzung sich tot zu stellen.“ Da herrschte in Wien, wo der zuständige Magistrat die Aufführung endlich bewilligt hatte, fünf Wochen später ein ganz anderer Ton. Zwar gab es bei der Premiere am 1. Februar 1921 in den Kammerspielen nicht die befürchteten Störmanöver, aber die Christlichsozialen mobilisierten heftig gegen Schnitzler und sein Stück.

Sie hatten jetzt das Sagen im neuen Staat. Bei den Nationalratswahlen 1920 waren sie mit 41,8 Prozent stärkste Partei geworden, ihre Minderheitsregierung wurde von den Deutschnationalen gestützt. Im christlich-sozialen Parteiblatt „Reichspost“, einer der wichtigen Tageszeitungen des Landes, hieß es am Tag nach der „Reigen“-Premiere: „Bordellprologe des Juden Schnitzler … Mit dem ‚Reigen‘ hat Schnitzler das Theater, das ein Haus der Freuden sein sollte, zu einem Freudenhause, zum Schauplatz von Vorgängen und Gesprächen gemacht, wie sie sich schamloser in keiner Dirnenhöhle abwickeln könnten.“ Auch das Publikum bekam in der „Reichspost“ sein Fett ab: „Schnaufende Dickwänste mit ihrem weiblichen Anhange, der den Namen der deutschen Frau schändet, sollen sich jetzt dort allabendlich ihre in wüstem Sinnentaumel erschlafften Nerven aufkitzeln lassen.“ Drohender Nachsatz: „Wir gedenken den Herrschaften das Vergnügen bald zu verleiden!“

Tags darauf hielt die „Arbeiter Zeitung“, Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei, drohend dagegen: „Man wird ja sehen, was die Klerikalen ‚gedenken‘; aber wenn sie denken, daß sie da kommandieren werden, so würden sie schon die Erfahrung machen, daß der Versuch nur zu ihrem Leidwesen ausschlagen würde.“ Das Stück selbst beschrieb der Theaterkritiker der „Arbeiter Zeitung“ etwas gestelzt als „Szenenreihe, die den Kreislauf der sinnlichen Liebe behandelt in der Art dieses Schriftstellers, der den Urtrieb der Menschen, der alles beherrscht und peinigt, mit ironischer Heiterkeit betrachtet.“

Der unverhüllte Aufruf zur Stürmung des Theaters durch die Zeitung der Christlichsozialen Partei schien eine Woche nach der Premiere, am 8. Februar, Früchte zu tragen: Zwanzig junge Männer versuchten, die Vorstellung zu sprengen, wurden aber schon im Foyer von Theaterarbeitern und Billeteuren abgedrängt. „Es wurden drei Arretierungen vorgenommen“, berichtete die „Neue Freie Presse“.

Tags darauf nahm die Staatsmacht in Gestalt von Innenminister Egon Glanz (Christlichsoziale) die Angelegenheit selbst in die Hand: Glanz untersagte unter Berufung auf ein Theatergesetz aus dem Jahr 1850 jede weitere Aufführung des „Reigen“. In der Begründung des Erlasses hieß es, der Wiener Magistrat habe zwar nach Anhörung des Zensurbeirats die Aufführungen bewilligt, es habe sich jedoch gezeigt, „dass diese Vorführung mit dem sittlichen Empfinden weiter Kreise der Wiener Bevölkerung in scharfem Gegensatze steht.“ Also Verbot.

Der Wiener Bürgermeister Jakob Reumann, ein Sozialdemokrat, erklärte umgehend, er werde diesen Erlass nicht zur Kenntnis nehmen. Für solche Bewilligungen sei ausschließlich der Magistrat, letztlich also er als Bürgermeister, zuständig und nicht das Innenministerium (Reumann bekam später vom Verfassungsgerichtshof recht).

Damit war die Causa endgültig zum Politikum geworden.

Schon am nächsten Tag, dem 10. Februar 1921, brachten die Sozialdemokraten im Nationalrat eine Dringliche Anfrage an Innenminister Glanz ein. Der beharrte auf seinem Aufführungsverbot: Im „Reigen“ würden „Vorgänge auf die Bühne gebracht, die auch bei kulturell tiefstehenden Völkern gewöhnlich mit einer gewissen Diskretion behandelt werden.“ Die Beurteilung seines Vorgehens überlasse er getrost „allen anständigen Leuten“.

In den Reihen der Sozialdemokraten wurde daraufhin entrüstet protestiert, einige Abgeordnete stürmten zur Regierungsbank. Um ihren Minister zu schützen, liefen jetzt christlich-soziale Abgeordnete die Stufen des ehrwürdigen Reichsrats-Sitzungssaals hinab, wo es zu einem Handgemenge kam. Albert Sever, einer der führenden Männer der Sozialdemokraten, bekam einen Faustschlag gegen den Kopf, die Rangelei drohte zu eskalieren. Erst nach dem Einschreiten von Ordnern ließen die Abgeordneten voneinander ab.

Am Abend dieses Tages schrieb Arthur Schnitzler in sein Tagebuch: „Seitz (Karl Seitz, Parteivorsitzender der Sozialdemokraten; Anm.) und Reumann für mich, natürlich nur im Sinne von gegen die Christlichsozialen. Beinahe Prügelei … Jedenfalls wird trotz des Verbotes der ‚Reigen‘ weiter gespielt.“

Arthur Schnitzler war ja keineswegs ein Sozialdemokrat, sondern als Spross einer wohlhabenden Ärztefamilie tief im Wiener Bürgertum verankert. Im November 1918 hatten er und andere Bewohner des noblen Währinger Cottage-Viertels gefürchtet, die durch die Innenstadt marschierenden Roten Garden könnten auch ihren Villen-Distrikt erreichen. Viele hatten damals Schmuck und Tafelsilber im Garten vergraben. Schnitzlers Frau Olga brachte Gegenstände von Wert auf den Dachboden und studierte hektisch Fahrpläne, um im Fall einer Revolution rasch nach Bayern zu entkommen.

Sein Freund Felix Salten floh vorübergehend sogar in eine Stadtwohnung, auch Barrikadenbau und Bewaffnung wurden erwogen. „Salten spricht durchaus antirepublikanisch und antidemokratisch“, notierte Schnitzler nach einem Spaziergang mit seinem Freund am Wiener Schafberg.

Als am 12. November die Republik ausgerufen wurde, konstatiert Schnitzler betont nüchtern: „Ein welthistorischer Tag ist vorbei. In der Nähe sieht er nicht sehr großartig aus.“

So fremd dem Wiener Großbürger Schnitzler eine Arbeiterpartei wie die Sozialdemokratie auch war – die bürgerlichen Christlichsozialen mit ihrem aggressiven Antisemitismus konnte er schon gar nicht wählen. Bei den Nationalratswahlen im Oktober 1920 votierte Schnitzler daher für die kleine „Jüdische Nationalpartei“, „weil die bürgerlich demokratische Partei (also die Christlichsozialen; Anm.) zum größern Theil gewiß undemokratisch, ja sogar leicht antisemitisch ist, und es bei der heutigen Weltlage unerlässlich ist, dass in der National Versammlung einige bewußte Juden sitzen, die sagen, was zu sagen ist“, wie er am Wahlabend in sein Tagebuch schrieb. Politisch stimme er mit dieser Jüdischen Partei allerdings überhaupt nicht überein (die Jüdische Nationalpartei schaffte 0,3 Prozent und damit bei Weitem kein Mandat).

Das Attribut „leicht antisemitisch“ für die Christlichsozialen war allerdings eine Untertreibung, wie der Dichter nun in der Auseinandersetzung um seinen „Reigen“ am eigenen Leibe feststellen konnte. Am 11. Februar 1921, also am Tag nach der turbulenten Debatte im Nationalrat, hieß es in der christlich-sozialen „Reichspost“: „Schnitzler ist Jude. Die Sozialdemokratie ist wieder als Schützer und Schirmer des Judentums aufgetreten … Die Sozialdemokratie steht wieder, ihrer Sendung gemäß, hinter jenem Judentum, das unser Volk moralisch und wirtschaftlich zu vernichten bestrebt ist!“

Nach der Weigerung von Bürgermeister Reumann, das Aufführungsverbot des Innenministers zu exekutieren, verschärften die Christlichsozialen ihre Kampagne. Am 13. Februar, drei Tage nach der Rangelei im Nationalrat, versammelten sich einige Hundert Mitglieder des „Katholischen Volksbundes“ in der Volkshalle des Wiener Rathauses, Prälat Ignaz Seipel (1876–1932), der Parteivorsitzende der Christlichsozialen (ein Jahr später war er auch Bundeskanzler), widmete seine Rede völlig dem Kampf gegen Schnitzlers Stück: „Das sittliche Empfinden unseres bodenständigen, christlichen Volkes wird fortgesetzt auf das Schwerste verletzt durch die Aufführung eines Schmutzstücks aus der Feder eines jüdischen Autors. Es ist wieder zutage getreten, dass die Sozialdemokratie stürmische Szenen machen muß, wenn es sich um die Verteidigung einer jüdischen Machenschaft handelt.“ Der in der ersten Reihe sitzende Erzbischof von Wien Friedrich Gustav Piffl applaudierte heftig.

Nach Ende der Versammlung marschierten 300 erhitzte Katholiken vom Rathaus durch die Wiener Innenstadt zu den Kammerspielen und versuchten abermals, das Theater zu besetzen. Noch einmal gelang es der Polizei, die Demonstranten zum Schwedenplatz und zum Stephansplatz abzudrängen.

Drei Tage später, am 16. Februar, wurden die Kammerspiele schließlich erobert und verwüstet.

Das also ist die Vorgeschichte der Ereignisse und Arthur Schnitzler kann nicht überrascht sein, dass seine Vorstellung zwei Wochen nach der Premiere gestürmt wurde, es war immerhin schon der dritte Versuch. Aber wäre er nicht rechtzeitig aus dem Theater entkommen – die mit Knüppeln und Schlagringen bewehrte Meute hätte ihn womöglich gelyncht.

Wie brutal die katholischen und rechtsradikalen Schläger vorgegangen sind, kann er tags darauf im „Neuen Wiener Tagblatt“ nachlesen: „Die von der Straße eingedrungenen Demonstranten gingen gegen das Publikum los, schlugen mit Stöcken und Fäusten drein und zerrten Männer und Frauen aus dem Theater. Viele Besucher wurden blutig geschlagen, manchen das Gewand vom Leib gerissen. Eine Dame wurde mit einem Lederriemen misshandelt, andere Damen geohrfeigt und beschimpft.“

Der christlich-soziale Polizeipräsident von Wien, Johann Schober, lässt nun nicht etwa die Gewalttäter verfolgen und bestrafen, sondern untersagt schon am nächsten Tag jede weitere Aufführung des „Reigen“. Begründung für die polizeiliche Maßnahme: „Die durch das Stück hervorgerufene Mißstimmung hat in der gestrigen Vorstellung einen elementaren Ausdruck gefunden.“ Die persönliche Sicherheit des Publikums und der Darsteller sei damit nicht mehr gewährleistet. Fazit: „Aus Gründen der öffentlichen Ruhe und Ordnung sind fernere Aufführungen einzustellen.“Dagegen ist auch Bürgermeister Reumann machtlos.

Schnitzler weiß in diesen Tagen nicht, worunter er mehr leidet – unter dem Verbot seines Stücks oder der Trennung von seiner Frau Olga: „Die unleidliche ‚Beileidstimme‘ mancher Leute: die nicht recht wissen, warum sie mich mehr beklagen sollen; um des Reigenskandals (er hat sich so ziemlich zum größten der Theatergeschichte entwickelt) oder um der Lebenskatastrophe, die offenbar geworden“, schreibt er in sein Tagebuch.

Er will nicht als Opfer gesehen werden, aber ihm wird nun zunehmend klar, mit welcher Wucht ihn seine Gegner bekämpfen. Als wenige Tage nach dem Wiener Tumult im Salzburger Kurhaus eine bloße Lesung des „Reigen“ stattfindet, wird auch diese gestürmt, auch hier werden die Zuhörer misshandelt.

Die Salzburger Tageszeitung „Volksruf“ jubelt am Tag danach: „Die Salzburger Jugend hat eine Antwort erteilt, daß den jüdischen und vom Judengeist verseuchten Herrschaften die Lust vergehen wird, nochmal die christlich-deutsche Bevölkerung von Salzburg herauszufordern. Der Saal wurde im Sturmschritt geräumt, einige Juden wurden etwas unsanft darüber belehrt, daß sie sich als Gäste in Salzburg anständig aufzuführen haben.“

Zu den schwersten Ausschreitungen kommt es jedoch nach der Tagung des zwei Jahre zuvor gegründeten „Antisemitenbundes“ am 13. März 1921 in Wien, also drei Wochen nach der Erstürmung der Kammerspiele. Nach dem Ende der Abschlussveranstaltung ziehen etwa 5.000 Teilnehmer vom Rathausplatz auf der Ringstraße Richtung Leopoldstadt, um dort jüdische Geschäfte zu verwüsten. An der Spitze des Zuges marschieren der Präsident des Antisemitenbundes, der christlich-soziale Nationalratsabgeordnete Anton Jerzabek (1867–1939) und der Wiener Promi-Anwalt Walter Riehl (1881–1955), der kurz zuvor den österreichischen Zweig der NSDAP gegründet hat. Die Demonstranten zertrümmern Fenster von Ringstraßen-Cafés, demolieren das damals neue Gartenbau-Kino, zerren Fahrgäste, die sie für Juden halten, aus den Straßenbahnen, verprügeln sie und bewerfen Polizisten mit Steinen. Der Durchbruch in die Leopoldstadt misslingt, weil die Polizei die Brücken über den Donaukanal halten kann. 16 Jahre später, in der Pogromnacht des November ’38, wird der Sturm mit tatkräftiger Hilfe der Polizei gelingen.

Mehr als das Wüten seiner Gegner beschäftigt Arthur Schnitzler jedoch das Scheitern seiner Ehe: Ein Versöhnungsbesuch bei Olga in München endet in einem Krach, auch eine Vermittlungsmission von Olgas Freundin Alma Mahler bringt nichts mehr: Olga und Arthur Schnitzler lassen sich im Juni 1921 scheiden.

Als der „Reigen“ nach einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs ab März 1922 wieder gespielt werden darf, agitiert Jerzabek im Nationalrat gegen die Kosten für den Polizeischutz, sein Antisemitenbund organisiert abermals Großkundgebungen.

Die Anfeindungen nehmen wieder an Vehemenz zu und der Autor resigniert. Tagebucheintrag Schnitzlers vom 8. Juni 1922: „Ein Schriftsteller Gießwein besucht mich und theilt mir mit, daß Demonstrationen (christl.-soz.) gegen mich geplant seien, was mich völlig kühl läßt.“

Ende Juni 1922 gibt Schnitzler in Sachen „Reigen“ entnervt auf und verfügt, dass das Stück nie mehr aufgeführt werden darf. In sein Tagebuch schreibt er: „Unter den zahlreichen Affären meines Lebens ist es wohl diese, in der Verlogenheit, Unverstand und Feigheit sich selbst übertroffen haben.“

Schnitzlers Sohn Heinrich verlängert das Aufführungsverbot über den Tod seines Vaters hinaus. Erst als Heinrich Schnitzler 1982 selbst stirbt, er war Vizedirektor des Theaters in der Josefstadt, ist der „Reigen“ wieder an vielen deutschsprachigen Bühnen, aber auch in Manchester und London zu sehen.

In Deutschland bedient man sich schon wegen des Sprachkolorits gern österreichischer Schauspielerinnen und Schauspieler: Am Schillertheater Berlin gibt Senta Berger die „Schauspielerin“, Peter Matic den „Ehemann“ und Helmut Berger den „Dichter“. In Frankfurt ist Paulus Manker der „Junge Herr“, am Münchener Residenztheater spielt Nikolaus Paryla den „Soldaten“, Hans Brenner ist der „Graf“.

Verfilmungen gibt es schon früher, etwa jene für den Oscar nominierte des deutsch-französischen Regisseurs Max Ophüls aus dem Jahr 1950, in der fast alle Stars des französischen Kinos mitwirken. In Vorarlberg darf der Film bis 1970 nicht gezeigt werden.

1973 läuft im Wiener Apollo-Kino die erste österreichische „Reigen“-Verfilmung an. Unter der Regie von Otto Schenk spielen Senta Berger, Erika Pluhar, Gertraud Jesserer, Peter Weck, Michael Heltau und Helmut Lohner.

Bundeskanzler Bruno Kreisky ist bei der Premiere Ehrengast – auch das ist wohl eine Demonstration.

Kapitel 2

„HÖCHSTE WOLLUST UND GRAUSAME FREUDE“

Hugo Bettauers neue „Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik“ hat in Wien gewaltigen Erfolg. Zu ihrer Bekämpfung sammeln sich dieselben Kräfte, die gegen Schnitzlers „Reigen“ zu Felde gezogen sind. Aber diesmal endet die Auseinandersetzung mit einem Mord.

Walter Riehl war bereits Nationalsozialist, als Adolf Hitler noch in einer zerschlissenen Soldatenuniform aus dem Weltkrieg ziellos durch München irrte. Der Promi-Anwalt mit Kanzlei am Wiener Stephansplatz war im Mai 1918 Mitorganisator jener Konferenz, bei der sich verschiedene deutsch-völkische Gruppen aus den ehemaligen Kronländern zur „Deutschen Nationalsozialistischen Arbeiterpartei (Österreich)“ DNSAP zusammenschlossen. Die „Reichsparteileitung“ wurde damals ins Büro Riehls verlegt, Riehl setzte die altindische Swastika, das Hakenkreuz, als Parteisymbol durch (Hitlers neue NSDAP übernahm es bald darauf auch in München).

Die Feindbilder von Riehls DNSAP waren – wenig überraschend – die Juden und die Marxisten. Auch Zuwanderung aus dem Osten wurde strikt abgelehnt. Nur logisch also, dass Riehl mit seinen Männern dabei war, als 1922 rund 5.000 Demonstranten von Anton Jerzabeks Antisemitenbund im Gefolge des Kampfes gegen Arthur Schnitzlers „Reigen“ Richtung Leopoldstadt marschierten, um jüdische Einrichtungen zu demolieren. Die Polizei verhinderte das Schlimmste, aber Schnitzler zog bald darauf den „Reigen“ zurück.

Dieser Erfolg festigt Riehls Stellung gegenüber den Hitler-Leuten in München. Hitler selbst kommt immer wieder zu Veranstaltungen nach Wien, mit Riehl duzt er sich. Aber Riehl braucht einen weiteren Erfolg, sonst bleibt er gegen die Parteifreunde im größeren Deutschland bloß ein kleiner Provinzfürst.

Bei den Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung im Februar 1919 hatte seine DNSAP jämmerliche 0,78 Prozent eingefahren. Durch geschicktes Verhandeln gab es wenig später bei den Salzburger Landtagswahlen eine gemeinsame Liste mit den Christlichsozialen, die der DNSAP einen Sitz im Landtag garantierten. Aber bei den Nationalratswahlen von 1920 und 1923 schaffen Riehls Nationalsozialisten nicht einmal die Kandidatur. Das von ihm ins Auge gefasste Wählersegment wird noch von der alten „Großdeutschen Volkspartei“ bedient.

Riehl hat aber einen neuen, Erfolg versprechenden Fall im Visier, mit dem sich punkten ließe, und er ist der Causa Schnitzler nicht unähnlich: den Fall Bettauer.

Hugo Bettauer (1872–1925), ist Journalist, geboren in Baden bei Wien. Er schreibt für die „Neue Freie Presse“ und beliefert die deutschsprachige „New Yorker Staatszeitung“ mit Nachrichten aus der jungen Republik Österreich. Außerdem organisiert er Spendenaktionen von in New York lebenden Altösterreichern für die Notleidenden Wiens.

Bettauer schreibt auch Romane, keine große Literatur. Meist sind es Kriminalgeschichten mit sozialer Komponente, Kolportageromane, die oft von Hausierern in Dörfer gebracht werden, in denen es weder Büchereien noch Buchläden gibt.

1922 veröffentlicht er einen völlig anderen Roman: „Die Stadt ohne Juden. Ein Roman von übermorgen“. Er wird sofort ein Bestseller. Bereits in der ersten Woche nach dem Erscheinen wird das Buch 80.000-mal verkauft, insgesamt setzt der Verlag 250.000 Exemplare ab.

Die „Stadt ohne Juden“ ist eine ebenso gespenstische wie prophetische Story: In einer großen Stadt – unzweifelhaft Wien – verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage, die Bevölkerung gibt den Juden die Schuld. Die Losung bei den Protestaufmärschen lautet: „Hinaus mit den Juden!“ Bei den folgenden Neuwahlen verlieren die Sozialdemokraten, weil viele ihrer Anhänger ebenfalls den „Juden raus!“-Parolen gefolgt sind. Die Christlichsozialen, die sich um ihren Bundeskanzler Dr. Karl Schwertfeger scharen, verstehen die Botschaft: Im Wahlkampf verspricht Schwertfeger, alle Juden außer Landes zu bringen. Im Nationalrat wird bald darauf das Ausweisungsgesetz mit den Stimmen der Christlichsozialen und der Deutschnationalen gegen jene der geschwächten Sozialdemokraten beschlossen.