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Eine Flüchtlingsgeschichte ... ... bei der man alle Akteure kennt. Sie waren weltberühmte Schriftsteller und gefeierte Dirigenten, Nobelpreisträger, Universitätsprofessoren, Juden und Christen, Politiker und Zeitungsredakteure, die ein gemeinsames Schicksal einte: Die Nationalsozialisten wollten sie ermorden. Im Juni 1940 organisiert Thomas Mann in New York eine beispiellose Rettungsaktion für verfolgte Dichter und Denker in Europa. Ausgestattet mit viel Geld und einer Liste mit 200 Namen wird der junge, exzentrische Amerikaner Varian Fry nach Lissabon geschickt, um diese Vertreter der geistigen Elite aus Europa zu schleusen. Unter den Flüchtlingen sind Franz Werfel und seine Frau Alma Mahler-Werfel, Alfred Polgar, Heinrich, Golo und Erika Mann, Hermann Leopoldi, Anna Seghers, Robert Stolz, Friedrich Torberg, Karl Farkas, Billy Wilder u. v. m. Herbert Lackner erzählt in diesem Buch ein wichtiges Stück Zeitgeschichte – ein Thema, das viele Parallelen zu heute aufweist.
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Seitenzahl: 263
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Über dieses Buch
Eine Flüchtlingsgeschichte …
… bei der man alle Akteure kennt. Sie waren weltberühmte Schriftsteller und gefeierte Dirigenten, Nobelpreisträger, Universitätsprofessoren, Juden und Christen, Politiker und Zeitungsredakteure, die ein gemeinsames Schicksal einte: Die Nationalsozialisten wollten sie ermorden.
Im Juni 1940 organisiert Thomas Mann in New York eine beispiellose Rettungsaktion für verfolgte Dichter und Denker in Europa. Ausgestattet mit viel Geld und einer Liste mit 200 Namen wird der junge, exzentrische Amerikaner Varian Fry nach Lissabon geschickt, um diese Vertreter der geistigen Elite aus Europa zu schleusen. Unter den Flüchtlingen sind Franz Werfel und seine Frau Alma Mahler-Werfel, Alfred Polgar, Heinrich, Golo und Erika Mann, Hermann Leopoldi, Anna Seghers, Robert Stolz, Friedrich Torberg, Karl Farkas, Billy Wilder u. v. m.
Herbert Lackner erzählt in diesem Buch ein wichtiges Stück Zeitgeschichte – ein Thema, das viele Parallelen zu heute aufweist.
VORWORT
Danzig, 1. September 1939
DER ERSTE SCHUSS
Paris, 3. September 1939
DER SCHLAFENDE KRIEG
Sanary-sur-Mer, 3. September 1939
IN DER ENKLAVE DER STARS
Frankreich, September/Oktober 1939
IN DEN LAGERN DER REPUBLIK
Westeuropa, 10. Mai 1940
DIE WEHRMACHT RÜCKT VOR
Paris, 14. Juni 1940
DIE WEHRMACHT STEHT VOR DER STADT
Compiègne, 22. Juni 1940
EIN SCHRECKLICHER WAFFENSTILLSTAND
Montauban/Südfrankreich, Juli 1940
DIE ZWISCHENSTATION DER ERSCHÖPFTEN
New York, 25. Juli 1940
GEHEIMTREFFEN IM „HOTEL COMMODORE“
Marseille, August 1940
PAPIERE MÜSSTE MAN HABEN
Pyrenäen, 12. September 1940
ÜBER DIE BERGE
Lissabon, September/Oktober 1940
EIN SCHIFF WIRD KOMMEN
Lissabon–New York, 4.–13. Oktober 1940
AN BORD DER „NEA HELLAS“
Marseille, Winter 1940/Frühling 1941
DIE LETZTE CHANCE
New York/Los Angeles 1941
AMERIKA, AMERIKA
EPILOG
WAS AUS IHNEN WURDE
INTERVIEW MIT JOHN SAILER UND THOMAS LACHS
ZEITTAFEL
LITERATURVERZEICHNIS
Dies ist ein Buch über Flüchtlinge. Flüchtlinge, die sich über Gebirgszüge schleppten, die auf klapprigen Kähnen über die Weltmeere fuhren, an Grenzzäunen scheiterten, in Städten verzweifelt um Aus- und Einreisepapiere kämpften, die von ihren Kindern getrennt wurden, ihre Eltern auf der Flucht verloren und manchmal in jenes Land zurückgeschickt wurden, aus dem sie eben geflohen waren und wo sie der Tod erwartete.
Szenen, wie sie sich heute an den Rändern des zunehmend befestigten Europa ereignen, auf der Balkanroute oder im Mittelmeer, spielten sich damals in der Mitte des Kontinents ab. Nach der Machtergreifung Adolf Hitlers in Deutschland 1933 begann eine Massenflucht, in den folgenden Jahren verließen Hundertausende ihre Heimat Mitteleuropa. Als Nazi-Deutschland im Frühsommer 1940 große Teile Westeuropas überrannte, strömten Flüchtlingsheere nun auf den Straßen von Holland und Belgien in Richtung Süden und schwollen rasch an. Im Juni 1940 fiel Paris. Nun ergoss sich die Welle der Flüchtenden in die Städte Südfrankreichs, aber auch sie waren bald kein sicherer Hafen mehr. Vielen der Vertriebenen blieben nur die wilden Pfade der Pyrenäen, um nach Spanien und schließlich in die Küstenstädte Portugals zu gelangen: Sie mussten auf ein Schiff, um ihren Häschern zu entkommen – ganz egal, wo dieses anlegen würde.
Nur eines war in diesen gebrochenen Leben gewiss: In ihre Heimat konnten sie nicht mehr zurück, dort warteten Erniedrigung und Tod.
Es waren nicht Kriegsvertriebene und Hoffnungslose aus den Städten, Wüsten und Einöden des Mittleren Ostens oder Afrikas, die hier um ihr Leben rannten, sondern Bürgersfamilien aus Berlin, Handwerker aus München, Philosophen aus Frankfurt, Journalisten aus Wien und Händler aus Prag.
Dieses Buch folgt Flüchtlingen, deren Namen jeder kennt, auf ihrer verzweifelten Stampede in überfüllten Zügen, in Viehwaggons und auf Schiffen, von denen man nicht sicher sein konnte, dass sie ihren Zielhafen erreichten.
Die Darsteller in diesem Flüchtlingsdrama heißen Thomas, Heinrich, Erika und Golo Mann, Franz Werfel, Alma Mahler-Werfel, Sigmund Freud, Alfred Polgar, Lion Feuchtwanger, Salvador Dalí, Ödön von Horváth, Alfred Döblin, Joseph Roth, Robert und Einzi Stolz, Stefan Zweig, Max Ernst, Erwin Piscator, Hannah Arendt, Anna Seghers, Friedrich Torberg, Bertolt Brecht, Marc Chagall, Oskar Karlweis, Walter Benjamin, Karl Farkas, Billy Wilder, Friedrich Adler, Hermann Leopoldi und viele andere.
Sie hatten das Geistesleben Europas geprägt und entkamen ihren nationalsozialistischen Verfolgern nur mit knapper Not auf den letzten Dampfern, die Europa verließen. Viele starben auf der Flucht.
Dieses Buch erzählt aber auch die Geschichte einer spektakulären Rettungsaktion, initiiert vom damals berühmtesten deutschsprachigen Schriftsteller, Thomas Mann, der bereits in New York lebte. Ausgeführt wurde das Bravourstück von einem amerikanischen Journalisten, dessen Name zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist: Varian Fry. Rund 2000 Menschen haben Fry und seine Helfer beim Herannahen der Nazis das Leben gerettet, darunter die noch in Europa ausharrende Kulturelite. Heute würde man sie Schlepper nennen.
Viele der Flüchtlinge hatten ihr Land, das sie nun ächtete, schon Jahre zuvor, sofort nach der Machtübernahme der Nazis, verlassen. Regisseure wie Billy Wilder, Fritz Lang und Ernst Lubitsch, Schauspielerinnen wie Marlene Dietrich und Lotte Lenya, die Komponisten Erich Wolfgang Korngold, Kurt Weill und Arnold Schönberg, die Wissenschaftler Albert Einstein, Max Horkheimer und Theodor Adorno lebten bereits in den USA, als ihre Kollegen in Europa noch um ihr Leben rannten.
Im Frühjahr 1941 machte das Nazi-Reich die Grenzen endgültig dicht. Bis dahin hatten rund 400 000 Juden Deutschland und das ab März 1938 besetzte Österreich verlassen. Mit der Tschechoslowakei war wenig später die letzte Demokratie Zentraleuropas von Nazi-Deutschland überrannt worden. In Italien herrschte der Kampfgefährte der Nazis, der Faschist Benito Mussolini. Im Osten paktierte Stalin mit Hitler.
So blieb als Fluchtpunkt nur Europas Westen. Im Mai 1940 begann Hitlers Westfeldzug, Ende Mai fielen die Niederlande und Belgien, am 14. Juni erreichte die deutsche Wehrmacht die französische Hauptstadt. Paris wurde von der französischen Regierung zur „offenen Stadt“ erklärt, also den Feinden kampflos überlassen, um es vor Zerstörung zu bewahren.
Paris war ab 1933 Heimstätte der Crème de la Crème deutschsprachiger Literatur, Kunst und Wissenschaft. Nach 1938 kamen auch österreichische Künstler. Im Juni 1940, Nazi-Deutschland hatte in einem Blitzkrieg Frankreich besiegt, begann ihre Flucht in den noch unbesetzten Süden des Landes. Wer Glück hatte, schaffte es, diesen der Zerstörung preisgegebenen Kontinent auf einem der letzten Schiffe zu verlassen.
Die meisten dieser aus ihren Heimatländern Vertriebenen waren Juden. Nichtjüdische politische Flüchtlinge waren in der Minderzahl, wobei die Unterscheidung unscharf ist: Nur ein Teil der Literaten, Denker und Tonkünstler, die nun verfolgt und vertrieben wurden, waren ihrer Religion verhaftet. Besonders unter den Linken war es üblich, sich als konfessionslos zu erklären. Man beging bestenfalls die Feiertage, als Jude fühlte man sich vor allem deshalb, weil es den Antisemitismus gab – zuerst den katholischen und dann den Rassen-Antisemitismus der Deutschnationalen und der Nazis.
Die Idee zu diesem Buch entstand an einem interessanten Ort. Stets an einem Sonntag im Juni lud Heinz Fischer während seiner Amtszeit als Bundespräsident rund um den Geburtstag seiner Frau Margit − auch sie ist ein Flüchtlingskind – einige Freunde (unter ihnen den Autor dieses Buches) zu einem kleinen Nachmittags-Fest in das obersteirische Präsidenten-Domizil Mürzsteg. Der bekannte Wiener Galerist John Sailer („Galerie Ulysses“), ein Jugendfreund Heinz Fischers, erzählte mir bei einem dieser frühsommerlichen Treffen von der Flucht seiner Familie durch Frankreich und über die Pyrenäen nach Spanien. Schließlich habe man sich nach Lissabon durchgeschlagen und durch viel Glück auf einem Schiff Platz gefunden, das Lissabon Richtung New York verließ.
John Sailers Vater Karl Hans Sailer war Redakteur der Wiener „Arbeiter Zeitung“ gewesen und hatte nach dem Verbot der Sozialdemokratischen Partei 1934 bis zu seiner Verhaftung 1936 die illegalen „Revolutionären Sozialisten“ im Untergrund angeführt.
John war drei Jahre alt, als man sich im Oktober 1940 in Lissabon einschiffte. Seine Erinnerungen an die mehrtägige Überfahrt nach New York sind naturgemäß vage, aber so viel hatten ihm seine Eltern oft erzählt: Auf der „Nea Hellas“, einem der letzten Schiffe, das auf direktem Weg New York ansteuerte, seien viele bekannte Künstler gewesen, darunter der damals schon weltberühmte Schriftsteller Franz Werfel und seine Frau Alma, die Witwe des Hofoperndirektors Gustav Mahler.
Ich ging John Sailers Hinweis nach und fand heraus, dass noch weit mehr europäische Geistesgrößen ihren Verfolgern auf dem unter griechischer Flagge kreuzenden Ozeandampfer „Nea Hellas“ entkommen waren. So prominent waren die Passagiere dieser Überfahrt in höchster Not, dass die Reporter aller New Yorker Zeitungen im Hafen auf die Emigranten warteten. Die „New York Times“ widmeten der Ankunft der berühmten Europäer den Blattaufmacher und die ganze Seite eins.
Darüber schrieb ich im Frühjahr 2015 ein Feature für das Nachrichtenmagazin „profil“ – in der Überzeugung, dass zu diesem Thema nach zusätzlichen Recherchen noch viel Interessantes zu erzählen wäre.
Wenige Monate später setzte die große Fluchtwelle aus den Kriegsund Krisengebieten des Nahen und Mittleren Ostens ein, die in vielem, wenn natürlich nicht in allem, der seinerzeitigen „Flucht der Dichter und Denker“ ähnelte. Die Flüchtlinge der Jahre 1933 und danach hatten oft mehr finanzielle Reserven. Es gab keine große kulturelle Kluft, sie waren mit der Sprache ihrer Fluchtländer wenigstens einigermaßen vertraut und konnten vielleicht eine Zeit lang bei Verwandten oder Freunden unterschlüpfen. Die Berühmtesten unter ihnen leisteten sich sogar Villen im Süden Frankreichs.
Allerdings waren ihnen, anders als den Flüchtlingen des Jahres 2015, ihre Verfolger auf den Fersen: die Nazi-Spitzel, die Gestapo, die Kollaborateure. Nach dem Einmarsch von Hitlers Truppen im Juni 1940 lebten Flüchtlinge auch im nicht besetzten und vom Marionettenregime des Marschalls Philippe Pétain regierten Südfrankreich keineswegs in Sicherheit.
Der lange Arm der Nazis reichte entsprechend dem Waffenstillstands-Abkommen von 1940 sogar bis in die französischen Kolonialgebiete, ein Thema, dessen sich der legendäre Film „Casablanca“ schon 1942 annahm. Regisseur war der in Budapest geborene Michael Curtiz (eigentlich Michály Kertész Kaminer; 1886–1962), der in den 1920er-Jahren über Paris in die USA ausgewandert war. Zwei erst kurz vor Drehbeginn vor den Nazis geflohene Altösterreicher, Paul Henreid und Peter Lorre, ließ Curtiz in „Casablanca“ tragende Rollen spielen.
In einem gibt es jedenfalls keinen Unterschied zwischen den Flüchtlingen von damals und jenen von heute: Weder die von den Nazis Gejagten noch jene, die seit dem Sommer 2015 dem Grauen in Syrien und im Irak entkamen, fanden viele offene Arme vor. Die einen stießen auch in ihren neuen Heimatländern auf tief verwurzelten Antisemitismus, die anderen sind mit dem Generalverdacht konfrontiert, islamistischem Extremismus anzuhängen, obwohl die meisten von ihnen doch gerade erst vor den Verwüstungen geflohen sind, die nicht zuletzt islamistischer Terror in ihrer Heimat angerichtet hat.
Bruchstücke dieser Geschichte der dramatischen Flucht vor Gestapo und SS zu den letzten noch offenen Häfen Europas tauchen wohl in Einzelbiografien auf, sie wurden jedoch noch nie zusammengefügt: Die Geschichte dieses Entkommens – und allzu häufig Scheiterns – wurde bisher noch nicht zusammenhängend erzählt.
Dies war insofern eine große Lücke, als sich viele dieser „Dichter und Denker“ ja noch aus glücklicheren Tagen in der Heimat kannten und oft für dieselben Zeitungen oder Zeitschriften gearbeitet, gemeinsam musiziert oder an demselben Theater gespielt, an denselben Universitäten gelehrt hatten. Sie waren ein beträchtlicher Teil der kulturellen und wissenschaftlichen Eliten Europas. Während ihrer Flucht trafen viele von ihnen immer wieder aufeinander, zuletzt sogar auf jenem Schiff, das sie in die Freiheit bringen sollte. Nicht selten beurteilten sie dasselbe Ereignis, dieselbe Gefahr oder dieselbe Chance in jenen Tagen, in denen eine „Balkanroute“ mehr als tausend Kilometer weit durch Westeuropa führte, völlig unterschiedlich.
Neu darstellen lassen sich diese dramatischen und oft tragisch endenden Flüchtlingsgeschichten durch Dokumente, die erst durch die Öffnung einiger historischer Archive und die Errungenschaft der Digitalisierung zugänglich sind: Passagierlisten, Botschaftsunterlagen, wissenschaftliche Arbeiten, Datenbanken der Nationalbibliotheken.
Allen Vertriebenen ist dieses Buch gewidmet.
Das deutsche Schlachtschiff „Schleswig Holstein“ eröffnet an diesem 1. September 1939 um genau 4.45 Uhr in der Danziger Bucht das Feuer auf polnische Stellungen. Es ist der erste Schuss des Zweiten Weltkriegs. 2076 Tage des Mordens und Grauens werden folgen. An jedem Tag dieses blutigsten Krieges der Geschichte müssen im Durchschnitt 30 000 Menschen sterben – im Granathagel zerfetzte Soldaten aus 60 verschiedenen Staaten, im Bombenregen verbrannte Frauen und Kinder, zu Tode geschundene Zwangsarbeiter, gefolterte Widerstandskämpfer, verhungerte Kriegsgefangene, systematisch ermordete Juden, Roma, Sinti und Homosexuelle.
„Seit 4.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen“, donnert Adolf Hitler am Vormittag dieses 1. September im Berliner Reichstag, ganz so, als hätten tatsächlich polnische Soldaten den grenznahen deutschen Sender Gleiwitz gestürmt, wie seine Propaganda behauptet. Hitler weiß natürlich, dass es verkleidete SS-Männer waren. Schon in den Wochen zuvor hatte die SS Häftlinge aus Konzentrationslagern in Soldatenuniformen zur Grenze gekarrt und dort erschossen. Tags darauf wurden sie als Opfer polnischer Übergriffe dargestellt. Auch in Gleiwitz ließ die SS einen erschossenen KZ-Häftling in deutscher Uniform zurück.
Hitlers Polen-Feldzug dauert etwas mehr als einen Monat. Am 6. Oktober fällt Deutschlands östlicher Nachbarstaat. Zwei Wochen nach Beginn des deutschen Angriffs, am 17. September 1939, lässt Stalin, wie zuvor mit Hitler-Deutschland abgesprochen, seine Rote Armee in Ostpolen einmarschieren.
Als eine der ersten Maßnahmen verfügen die deutschen Besatzer, alle Juden hätten ab sofort einen „Judenstern“ an ihrer Kleidung anzubringen, etwa handtellergroß, sechszackig dem Davidstern nachgeahmt. Mit schwarzer Schrift auf gelbem Grund hatte darauf in einer dem Hebräischen ähnelnden Schrift das Wort „Jude“ zu stehen. Im Deutschen Reich wird der „Judenstern“ erst im September 1941 obligatorisch, Reisepässen wurde bereits ab Oktober 1938 ein großes „J“ aufgestempelt.
Die Kennzeichnung der Kleidung und der Dokumente erleichtert später das Zusammentreiben der Todeskandidaten für die Transporte in die Vernichtungslager.
In Polen leben an diesem 1. September 1939, an dem Hitler das Land überfällt, rund 3,3 Millionen Juden. 90 Prozent von ihnen werden während der folgenden sechs Jahre ermordet. Nicht selten helfen Polens katholische Antisemiten den deutschen Besatzern bei der blutigen Arbeit.
Juden wurden in Polen sogar noch nach Kriegsende gejagt und umgebracht. In der Stadt Kielce südlich von Warschau verbreitete sich im Sommer 1946 das Gerücht, zurückgekehrte Juden hätten ein christliches Kind entführt, um es zu ermorden und dessen Blut für jüdische Rituale zu nutzen. In einem Pogrom, an dem sich auch Polizisten und Soldaten beteiligten, wurden 42 Überlebende des Holocaust ermordet. In der Stadt Kielce lebten bis 1941 rund 25 000 Juden; nach dem Krieg waren 200 zurückgekehrt.
In Deutschland gab es vor 1933 etwa eine halbe Million Juden. Bis zu diesem 1. September 1939, an dem Hitler den Krieg beginnt, haben 270 000 von ihnen das Land verlassen, also mehr als die Hälfte. Weitere 70 000 können bis 1941 entkommen, 160 000 Juden des „Altreichs“ werden ermordet.
In Österreich sind die Zahlen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung ähnlich: Die Hälfte der 200 000 Juden, die im März 1938 im Land leben, wandert bis Kriegsbeginn aus, weiteren 30 000 gelingt noch nach 1939 die Flucht. 65 000 Österreicher jüdischen Glaubens werden in den Konzentrationslagern, auf den Transporten oder auf Todesmärschen umgebracht.
Aber wo sind diese fast 400 000 jüdischen Flüchtlinge untergekommen, die zwischen Hitlers Machtergreifung und seiner Kriegserklärung an die Welt allein in Deutschland und Österreich Haus und Hof, Hab und Gut verlassen mussten? Wer hat sie aufgenommen und wer hat Widerstand gegen die Aufnahme der in ihrer Heimat Todgeweihten geleistet?
Wichtige Zielstaaten in Übersee waren in den Jahren vor Kriegsbeginn Argentinien (30 000 Flüchtlinge), Brasilien (16 000) und Chile (13 000) gewesen.
Erst im Frühjahr 2017 wurde nach dem Auffinden längst vergessener Dokumente bekannt, dass der „Zinn-Baron“ Boliviens, Moritz Hochschild (1881–1965), bei der bolivianischen Regierung bis 1939 Visa für rund 9000 jüdische Flüchtlinge aus Europa erwirkt hatte, sozusagen ein südamerikanischer „Schindler“. Hochschild – er war selbst deutschstämmiger Jude – galt freilich als Unternehmer, der sich ausbeuterischer Methoden bediente. 1952 wurden seine Minen verstaatlicht. Fast alle nach Bolivien ausgewanderten Europäer verließen das Land später wieder.
Europas Juden konnten, was ihren Fluchtort betraf, nicht wählerisch sein. Jeder Ort der Welt kam in Frage, so er nur ein wenig Sicherheit bot. Bezeichnend ist etwa der noch 1938 in Berlin erschienene „Philo-Atlas. Handbuch für die jüdische Auswanderung.“ Darin werden etwa Einreisebestimmungen, Grunderwerbsgesetze und medizinische Tipps auch für so exotische Destinationen wie Afghanistan, den Kongo und den Malaiischen Archipel aufgelistet. Die Handhabung von Moskitonetzen und die Symptome tropischer Augenkrankheiten sind ebenso Thema des Flucht-Atlas wie ein Verzeichnis der Länder, in denen regelmäßig die Pest ausbricht. Alles schien dem jüdischen Buchverlag als Herausgeber des Flüchtlings-Handbuchs sicherer als ein Leben in Nazi-Deutschland.
Aber wie hätten betagte, meist mittellose und keiner Fremdsprache mächtige Mitteleuropäer im afrikanischen Busch oder auf Inseln im Chinesischen Meer überleben können?
Pessimisten, die davon ausgingen, dass Hitler schließlich ganz Europa überrollen werde, hatten schon bald nach 1933 um eine Einreisegenehmigung in die Vereinigten Staaten angesucht.
Die USA hatten allerdings bereits 1924 ein striktes Quotensystem für Einwanderer eingeführt: Nur 27 000 Visa pro Jahr wurden für Deutschland und Österreich vergeben. Allein in Deutschland suchten 1938 zehnmal so viele Menschen um eine US-Einreisegenehmigung an. Insgesamt nahmen die Vereinigten Staaten zwischen 1933 und 1945 rund 300 000 Flüchtlinge aus Europa auf.
Nur zum Vergleich: Deutschland hatte allein 2015 den Zustrom von mehr als 800 000 Flüchtlingen zu bewältigen.
Für ausreichend prominente Wissenschaftler und Künstler galt die strenge US-Quote übrigens nicht: Mit großzügiger Visavergabe an Zelebritäten wollte die amerikanische Regierung einerseits den Wandlungsprozess vom reinen „Business country“ hin zur modernen Kulturnation befördern und andererseits der zum Sprung an die Weltspitze ansetzenden Industrie die nötigen Experten zuführen. Humanitäre Gedanken waren keine Kategorie der offiziellen US-Flüchtlingspolitik.
Auch heute zeigen sich die USA keineswegs großzügig – und das war schon vor der Amtsübernahme durch Donald Trump so. Am Höhepunkt der Flüchtlingswelle aus Nahost, im Spätsommer 2015, versprach Präsident Barack Obama 10 000 Plätze für geflüchtete Syrer innerhalb des nächsten Fiskaljahres zu schaffen (es beginnt in den USA im Oktober). Tatsächlich nahmen die Vereinigten Staaten nur 2000 Syrer auf. Mit „You help ISIS!“-Tafeln protestierten Arbeiter in Pennsylvania gegen die Behörden, als einige Flüchtlingsfamilien aus dem Mittleren Osten in ihrem County angesiedelt werden sollten.
Sind es heute Ängste vor dem Islam, waren es damals latenter oder nicht selten offener Antisemitismus, der die Aktivisten befeuerte.
Im Juli 1938 veröffentlichte das amerikanische „Fortune“-Magazin eine Umfrage, wonach trotz des nationalsozialistischen Terrors nur fünf Prozent der US-Bürger bereit waren, die strengen Einwanderungsquoten für Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland aufzuweichen. 18 Prozent waren für Zuwanderung unter Beibehaltung der Quoten, aber 68 Prozent stimmten dem Satz zu: „Wir sollten sie mit allen Mitteln von unseren Grenzen fernhalten.“
Deutlicher wurden die Verhältnisse bei einer ebenfalls in den USA im April 1939 durchgeführten Umfrage. Dabei wurde unter anderem folgende Frage gestellt: „Wären Sie Abgeordneter: Würden Sie dann ein Gesetz beschließen, das die Tore für europäische Flüchtlinge weiter öffnet?“ Das Ergebnis wurde auf Religionszugehörigkeit heruntergebrochen. Demnach bejahten 70 Prozent der befragten Juden, aber nur sechs Prozent der Protestanten und acht Prozent der Katholiken diese Frage.
Die zitierten Umfragen aus den Jahren 1938 und 1939 wurden übrigens 2016 von der „Washington Post“ ausgegraben, als in den USA eine Debatte über die Aufnahme syrischer Flüchtlinge aufflammte. In derselben Umfrage unter US-Bürgern wurde im April 1939 auch die Meinung zum damals diskutierten Plan abgefragt, 10 000 Kinder aus dem Machtbereich der Nazis – die meisten davon jüdischer Herkunft – in die USA zu bringen und sie hier von Gastfamilien betreuen zu lassen. 62 Prozent der Befragten meinten, die Regierung dürfe dies keinesfalls zulassen. Nur 30 Prozent waren eindeutig dafür, diese Kinder zu holen.
Das Meinungsklima im Land hatte dramatische Folgen, weil selbst der demokratische Präsident Franklin D. Roosevelt nicht mehr Großzügigkeit bei der Flüchtlingsaufnahme wagte, schon gar nicht ein Jahr vor der Präsidentenwahl, bei der er wieder antreten wollte. Im Gegenteil: Bei einer Pressekonferenz wiederholte Roosevelt die Behauptungen seiner Berater, jüdische Flüchtlinge seien von den Nazis zur Spionage gegen die USA gezwungen worden: „Sie sind keine freiwilligen Spione, aber in einigen anderen Ländern, in denen Flüchtlinge aus Deutschland aufgenommen wurden, besonders jüdische Flüchtlinge, wurde eine ganze Anzahl von ihnen der Spionage überführt“, so der Präsident.
Die amerikanische Historikerin Deborah Lipstadt, die 1986 in ihrem Buch „Beyond Believe“ den Angaben Roosevelts nachging, fand keinen einzigen Fall von erzwungener Spionage. Aber schon damals genügte es, wenn der Präsident behauptete, im Namen der „nationalen Sicherheit“ zu handeln.
Am 13. Mai 1939, wenige Wochen nach Roosevelts Pressekonferenz, legte der Transatlantik-Liner „St. Louis“ in Hamburg mit Zielhafen Havanna ab. Die „St. Louis“ hatte 937 großteils deutsche Juden an Bord, die im Besitz kubanischer Visa waren. Die Fahrt über den Atlantik verlief ruhig, die Frühlingssonne schien auf das Oberdeck. Als der Hafen von Havanna bereits in Sicht war, kamen Polizisten an Bord und überprüften die Visa. Wie sich rasch herausstellte, waren nur 28 Papiere in Ordnung, alle anderen waren ungültig. Ein kubanischer Botschaftsmitarbeiter hatte den Verzweifelten gefälschte Dokumente verkauft und in die eigene Tasche gewirtschaftet. Nur die Besitzer der 28 korrekten Visa durften an Land.
Die „St. Louis“ nahm nun Kurs auf Florida. Der deutsche Kapitän Gustav Schröder kabelte an Präsident Roosevelt und bat um Erlaubnis, mit den Flüchtlingen in Miami einlaufen zu dürfen. Er erhielt keine Antwort. Auch Kanada wollte die Passagiere der „St. Louis“ nicht aufnehmen. In Deutschland hatte die Nazi-Propaganda Wind von den Zurückweisungen bekommen und schlachtete sie hemmungslos aus: Seht her, niemand will diese Juden haben, lautete die Botschaft.
Die „St. Louis“ fuhr zurück nach Europa. Die Lebensmittel waren zur Neige gegangen. An Bord gründeten die verzweifelten Passagiere ein Komitee, das für den Fall der Rückkehr nach Deutschland einen Massenselbstmord ankündigte.
Kapitän Schröder erwog daraufhin, das Schiff vor der englischen Küste in flachem Wasser auf Grund zu setzen. In letzter Minute erklärten sich Großbritannien, die Niederlande, Belgien und Frankreich nach Vermittlung jüdischer Hilfsorganisationen bereit, die noch etwa 900 Passagiere unter sich aufzuteilen. In Antwerpen durften sie von Bord gehen.
Als die Wehrmacht ein Jahr später, im Mai 1940, Westeuropa überrannte, wurden 254 ehemalige „St. Louis“-Passagiere von SS und Gestapo festgenommen. Fast alle starben in Vernichtungslagern. Die amerikanische Regierung entschuldigte sich erst 2012 bei den Überlebenden.
Glück hatte, wer in den USA jemanden kannte oder auf Verwandte bauen konnte, die schon dort lebten, wie etwa der Wiener Komponist und Kabarettstar Hermann Leopoldi (1888–1959). Leopoldi war bereits ein Publikumsliebling, als er im März 1938 nach dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland mit dem ersten Transport ins KZ Dachau und wenig später nach Buchenwald deportiert wurde. Er hatte Wiener Gassenhauer wie „Schön ist so ein Ringlspiel“, „I bin a stiller Zecher“, „In einem kleinen Café in Hernals“, und „Schnucki, ach Schnucki“ geschrieben. Im Februar 1939 gelang es seinen Schwiegereltern, ihn freizukaufen – wegen seiner Popularität war dieser KZ-Häftling der ersten Stunde den Nazis ohnehin unangenehm. Leopoldis Schwiegereltern besaßen bereits seit Jahren ein gutgehendes Geschirrgeschäft in New York und hatten seine Frau und seine Tochter sofort nach seiner Verhaftung im März 1938 in die USA geholt.
Die Schweiz nahm in der Zeit der NS-Herrschaft rund 25 000 jüdische Flüchtlinge auf, aber mindestens ebenso viele wurden an den Grenzen abgewiesen, nachdem man das Land im August 1942 endgültig dichtgemacht hatte. Die Zurückgeschickten wurden damit dem nahezu sicheren Tod überantwortet. Als die Schweiz damit begann, ihre Grenzen für jüdische Flüchtlinge zu schließen, rollten gerade die ersten Züge in Richtung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau.
1970 setzte die Schweizer Bundesregierung eine unabhängige Untersuchungskommission ein, die das Verhalten der Eidgenossenschaft während der Weltkriegs-Jahre durchleuchten sollte. Die Kommission stellte ein eher mildes Zeugnis aus, kam aber dennoch zum Schluss: „Der in jedem Bürger steckende Egoist und latente Antisemit ließ ihn die Augen vor der Unmenschlichkeit gewisser Aspekte der behördlichen Asylpolitik verschließen.“
Freilich: Die Schweiz hatte selbst nur vier Millionen Einwohner und war durch die politische Lage in ihren Nachbarstaaten Italien und Frankreich gezwungen, auch noch andere Migrationsströme zu bewältigen.
Das vom Krieg ebenfalls verschonte Schweden rettete 1943 zwar 7500 dänische Juden vor dem Transport in ein Konzentrationslager, insgesamt war die schwedische Flüchtlingspolitik aber restriktiv: Jude in Deutschland oder Österreich zu sein galt im sozialdemokratisch regierten Schweden nicht als Fluchtgrund.
Der spätere Bundeskanzler Bruno Kreisky, damals 27, bekam im September 1938 selbst nach mehrmonatiger Gestapo-Haft in Wien sein Visum für Schweden nur deshalb, weil sich der schwedische Jungsozialisten-Chef Torsten Nilsson für ihn einsetzte. Er kannte Kreisky von Treffen der Sozialistischen Jugendinternationale. In seinen Memoiren beschreibt der ehemalige Bundeskanzler, der normalerweise nicht zu Sentimentalität neigte, die Gefühle eines Emigranten beim Verlassen seines Heimatlandes fast ein halbes Jahrhundert nach seiner eigenen Flucht so: „Man kann sich die Unsicherheit dieser Lage nur schwer vorstellen. Den wenigsten gelingt es, sich in das Denken derer hineinzuversetzen, deren Zukunft so viele Unbekannte enthielt. Der Versuch, meine Gefühle an dieser Stelle vermitteln zu wollen, wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt.“
20 Jahre nach Kreiskys Flucht waren Torsten Nilsson und sein ehemaliger Schützling gleichzeitig Außenminister ihres Landes.
Kreisky selbst verhalf schon wenige Monate nach seiner Ankunft in Schweden einem Freund und Genossen in die Freiheit, den er von den Gruppenabenden bei der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ) kannte. Otto Binder, Jahrgang 1910, war Obmann der SAJ Wien – Innere Stadt gewesen und hatte nach 1934 im Untergrund gegen den Ständestaat agiert. Die Nazis hatten den jungen Versicherungsangestellten sofort nach dem Anschluss verhaftet und zuerst nach Dachau und dann ins KZ Buchenwald gebracht. Einem internationalen Hilfskomitee der Sozialdemokraten mit Sitz in Paris, dem sogenannten „Matteotti-Komitee“, gelang es, den Nazis mehrere inhaftierte Sozialdemokraten „abzukaufen“, unter ihnen Otto Binder. Das Komitee trug den Namen des 1924 von Faschisten ermordeten Generalsekretärs der italienischen Sozialisten, Giacomo Matteotti. Sein Organisator war Karl Hans Sailer, bis 1934 Redakteur der in diesem Jahr verbotenen „Arbeiter Zeitung“ und danach, bis zu seiner Verhaftung durch die Ständestaat-Polizei, Chef der illegalen Sozialisten.
Bruno Kreisky, schon in Stockholm, organisierte für Binder im Mai 1939 ein Schweden-Visum. Vier Jahre später wurde Otto Binder und seiner Frau Anni eine Tochter geboren. Sie nannten sie Margit, weil das auch im Schwedischen gebräuchlich war und die Binders 1943 nicht damit rechneten, jemals wieder nach Österreich zurückkehren zu können. Margits jüngerer Bruder wurde Lennart genannt. 1949 gingen die Binders dann doch zurück nach Wien. Margit heiratete später den damaligen Parlamentssekretär Heinz Fischer.
Kurz vor Kriegsende verhandelte der schwedische Graf Folke Bernadotte SS-Chef Heinrich Himmler noch 19 000 KZ-Häftlinge ab, die meisten davon Skandinavier. Himmler wollte sich auf diese Weise für den bevorstehenden Zusammenbruch wappnen und – so die lächerliche Illusion – als „gemäßigter“ NS-Bonze Verhandlungspartner für Amerikaner oder Briten werden.
Großbritannien beherbergte zwar rund 65 000 jüdische Emigranten, wollte aber als Mandatsmacht in Palästina dort keine Zuwanderer zulassen, um den Konflikt mit den Arabern nicht noch weiter eskalieren zu lassen. Dennoch gelang es zwischen 1938 und 1942 rund 40 000 Juden aus von den Nazis besetzten Ländern Europas, in Palästina einzureisen.
In England selbst fand sozialdemokratische Prominenz aus Österreich wie der Chefredakteur der „Arbeiter Zeitung“, Oscar Pollak, und der spätere SPÖ-„Chefideologe“ Karl Czernetz Zuflucht. Auch der nachmalige SPD-Vorsitzende Erich Ollenhauer floh nach Großbritannien. Elias und Veza Canetti lebten ab 1938 ebenso dort wie Erich Fried, zeitweise Stefan Zweig und natürlich Sigmund Freud. Der Architekt Walter Gropius, zweiter Mann von Alma Mahler, lehrte ab 1937 in Cambridge, Oskar Kokoschka heiratete seine Frau Olga in einem Londoner Luftschutzkeller.
Als zwischen März 1938 und März 1939 sowohl Österreich als auch Tschechien von Nazi-Deutschland besetzt wurden, waren zwei wichtige Zufluchtsorte für Juden aus Deutschland nicht mehr verfügbar. Die Situation verschärfte sich noch: Nun machten sich auch aus diesen Ländern Flüchtlinge auf den Weg. Als Fluchtpunkt blieb nur noch Europas Westen. Wer es nicht nach Großbritannien schaffte oder eines der raren Visa für die USA ergattert hatte, versuchte in den Niederlanden, in Belgien, vor allem aber in Frankreich unterzuschlüpfen. Am Tag, an dem die „Schleswig Holstein“ vor Danzig die ersten Schüsse dieses Weltkriegs abfeuerte, lebten rund 60 000 jüdische Flüchtlinge in Westeuropa, legal oder illegal, die meisten von ihnen in Paris oder in den Vororten der Hauptstadt. Dazu kamen noch die politisch Verfolgten und die missliebigen Journalisten, die das NS-Regime mit besonderer Wut verfolgte.
Viele der Menschen, die durch Flucht der Entehrung, Erniedrigung und dem Tod zu entkommen versuchten, waren Nobelpreisträger, gefeierte Schauspieler, namhafte Komponisten, weltbekannte Schriftsteller oder prominente Politiker der europäischen Linken.
Selbst wenn sie keine Juden waren, wurde ihnen nach den Bücherverbrennungen vom 15. Mai 1933 klar, dass sie nicht mehr länger in Deutschland bleiben konnten. Alle Autoren, die davon betroffen waren, verließen spätestens jetzt jenes Land, dessen Propagandaminister Joseph Goebbels die „Kulturpolitik“ des Regimes so definierte: „Die deutsche Kunst des nächsten Jahrzehnts wird heroisch, sie wird stählern romantisch, sentimentalitätslos sachlich, sie wird national mit großem Pathos und gleichfalls verpflichtend und bindend sein, oder sie wird nicht sein.“
Aber auch in Frankreich, wo viele nun ein neues Leben suchten, war die Stimmung längst gekippt. Die durch die Weltwirtschaftskrise immer dramatischere Situation auf dem Arbeitsmarkt, eine gegen die Flüchtlinge hetzende Boulevardpresse und von Populisten geschürte Ängste, die den Unterschied zwischen den Nazis und den vor ihnen geflohenen Juden vermischten, hatten wesentlich dazu beigetragen.
An eben diesem 1. September 1939, an dem vor Danzig die ersten Kanonensalven des neuen Kriegs donnern, geht der 57-jährige Schriftsteller Stefan Zweig mit der 31-jährigen Lotte Altmann in der südenglischen Stadt Bath zum Standesamt, um sich für eine Verehelichung anzumelden. Der gebürtige Wiener Zweig, bereits ein Autor von Weltrang, hat Österreich schon 1934 verlassen, weil der austrofaschistische Ständestaat sein Haus am Salzburger Kapuzinerberg nach Waffen durchsuchen ließ. Die Nazis hatten wenige Monate zuvor in Deutschland seine Bücher verbrannt. In einer solchen Welt konnte Zweig weder leben noch arbeiten.
Von seiner Frau Friederike ist Stefan Zweig inzwischen geschieden. An diesem 1. September 1939 will er im südenglischen Bath seine ehemalige Sekretärin Lotte heiraten, mit der er schon ein Verhältnis hatte, als er noch verheiratet war.
Der Mann hinter dem Schalter am Standesamt hatte gerade begonnen, die Daten aufzunehmen, als das Entsetzliche eintrat, das erwartet werden musste. Zweig schreibt über diesen Moment in seinen Erinnerungen „Die Welt von gestern“: „In diesem Augenblick – es muß etwa elf Uhr gewesen sein – wurde die Tür des Nebenzimmers aufgerissen. Ein junger Beamter stürmte herein und zog sich im Gehen den Rock an. ‚Die Deutschen sind in Polen eingefallen. Das ist der Krieg!‘, rief er laut in den stillen Raum. Das Wort fiel mir wie ein Hammerschlag ans Herz.“
Es ist ein strahlender Spätsommertag in der französischen Hauptstadt. Das Thermometer zeigt am frühen Nachmittag 27 Grad Celsius an. In einer kleinen Wohnung im 16. Arrondissement von Paris sitzt der Wiener Feuilletonist und Schriftsteller Alfred Polgar und schreibt: „In Paris die Stimmung des ‚dróle de guerre‘. Schlafender Krieg, niemand weiß, wann er erwachen wird.“ Frankreich und Deutschland befinden sich seit heute, zwei Tage nach den Kanonenschüssen von Danzig, im Kriegszustand. Geschossen wird noch nicht. Aber die Deutschen werden kommen, das weiß Polgar. Und dann müssen seine Frau Lisl und er rasch weg von hier und wieder einen neuen Zufluchtsort suchen.
Polgar ist 66. Als junger Literat saß er in den 1890er-Jahren im Wiener Kaffeehaus „Griensteidl“ am Michaelerplatz am Tisch der noch nicht ganz Arrivierten: Bei Karl Kraus, Peter Altenberg, Arnold Schönberg, Adolf Loos, Alexander von Zemlinsky. Daneben, am Tisch der „Großen“, nahmen Hermann Bahr, Arthur Schnitzler, Polgars ehemaliger Schulkollege Hugo von Hofmannsthal und manchmal auch Felix Salten Platz.
Schnitzler scheint sich unter den Augen der Jungen nicht recht wohlgefühlt zu haben. Am 18. Oktober 1896 notierte er in sein Tagebuch: „Im Kaffeehaus Altenberg und seine Gemeinde, von der wir, besonders ich, unsäglich gehaßt werden.“ Ein Jahr später wurde das alte „Griensteidl“ am Michaelerplatz gesperrt und man übersiedelte ein paar Häuser weiter in die Herrengasse, ins „Café Central“.
Polgar ist ein Meister der „kleinen Form“, der Aphorismen, der Glossen, des Feuilletons. Im Jänner 1918, noch während des Weltkriegs, leitete er eine Zeitschrift mit dem programmatischen Titel „Der Friede“ – Mitarbeiter waren neben anderen Anton Kuh, Joseph Roth und Ferdinand Bruckner –, in der er mutig mit den verlogenen Heldensagen der Kriegspropaganda aufräumte: „,Sie starben, auf daß kommende Geschlechter schön und gut leben können‘, heißt es. Aber das ist eine verfluchte Lüge. Sie starben überhaupt nicht ‚auf daß‘. Sie starben, weil man sie nicht leben ließ.“
Als der Deutschnationale Max von Millenkovich, ab 1917 Direktor des Wiener Burgtheaters, im Haus am Ring sein „christlich germanisches Schönheitsideal“ pflegte, zerpflückte ihn Polgar in bissigen Rezensionen. Millenkovich wurde später Mitarbeiter des NS-Organs „Völkischer Beobachter“.
Gemeinsam mit seinem Freund Egon Friedell gab Polgar das satirische „Böse Buben Journal“ heraus. Für das „Prager Tagblatt“ schrieb er Theaterkritiken. Vom Sinn der eben gegründeten Salzburger Festspiele war er im August 1922 nicht überzeugt: