Die Medizin und Ihre Feinde - Herbert Lackner - E-Book

Die Medizin und Ihre Feinde E-Book

Herbert Lackner

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Beschreibung

Kaiserin Maria Theresia und Johann Wolfgang Goethe waren für die Pockenimpfung, Immanuel Kant, Andreas Hofer und Karl Lueger agitierten dagegen. Hexenjäger, Naturheiler, NS-Mediziner: Der Journalist und Autor Herbert Lackner und der bekannte Onkologe Christoph Zielinski suchen die Wurzeln der heutigen Wissenschaftsgegner-Bewegung in der Geschichte und beschreiben ihre profunden Irrtümer. Das Ergebnis ist die erste umfassende Darstellung eines Phänomens, das viele Fragen aufwirft: Warum marschieren plötzlich in ganz Europa Hippies mit Rasta-Locken in den Impfgegner-Demos Seite an Seite mit Rechtsradikalen? Was verbindet besorgte Mütter und abseitige Verschwörungstheoretiker? Warum vertrauen sie sonderbaren Wunderheilern mehr als der Wissenschaft? Und was ist aus der Sicht des Mediziners von ihren Argumenten zu halten? "Die Medizin und ihre Feinde" gibt die Antworten auf diese Fragen.

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INHALT

Kaiserin Maria Theresia und Johann Wolfgang Goethe waren für die Pockenimpfung, Immanuel Kant, Andreas Hofer und Karl Lueger agitierten dagegen.

Hexenjäger, Naturheiler, NS-Mediziner: Der Journalist und Autor Herbert Lackner und der bekannte Onkologe Christoph Zielinski suchen die Wurzeln der heutigen Wissenschaftsgegner-Bewegung in der Geschichte und beschreiben ihre profunden Irrtümer.

Es ist ein Phänomen, das viele Fragen aufwirft: Warum marschieren in ganz Europa Hippies mit Rasta-Locken bei Impfgegner-Demos Seite an Seite mit Rechtsradikalen? Was verbindet besorgte Eltern und abseitige Verschwörungstheoretiker? Warum vertrauen sie sonderbaren Wunderheilern mehr als der Wissenschaft? Und was ist aus der Sicht des Mediziners von ihren Argumenten zu halten?

„Die Medizin und ihre Feinde“ gibt die Antworten auf diese Fragen.

DIE AUTOREN

Dr. Herbert Lackner, studierte Politikwissenschaft und Publizistik, war stellvertretender Chefredakteur der „Arbeiter Zeitung” und danach 23 Jahre lang Chefredakteur des Nachrichtenmagazins „profil”. Er ist Autor zahlreicher zeithistorischer Beiträge in „profil” und „Die Zeit”.

Univ.-Prof. Dr. Dr. h. c. Christoph Zielinski ist einer der führenden internistischen Onkologen Österreichs. Er ist seit 1992 Professor für innere Medizin und klinische Immunologie unter besonderer Berücksichtigung klinisch-experimenteller Onkologie. Nachdem er von 2004 bis 2017 Vorstand der Universitätsklinik für Innere Medizin I, von 2004 bis 2014 stellvertretender Ärztlicher Direktor des Allgemeinen Krankenhauses Wien war, ist er seit Mai 2020 Ärztlicher Direktor der Wiener Privatklinik, Wien.

Christoph Zielinski wurde u. a. mit dem Großen Silbernen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich ausgezeichnet.

KLAPPENTEXT

Seit Jahrhunderten muss sich die Wissenschaft, besonders die medizinische, gegen religiöse Spinner, Scharlatane, Verschwörungstheorien und gewissenlose Geschäftemacher wehren. Schon Andreas Hofer, der große Tiroler Freiheitsheld, glaubte, man würde den braven Katholiken mit der übrigens schon damals hochwirksamen Pockenimpfung den Protestantismus einpflanzen. Johann Wolfgang von Goethe hingegen war ein entschlossener Befürworter der Impfpflicht.

Die heutigen Feinde wissenschaftlicher Erkenntnis beziehen ihr „Wissen“ aus hochkomplexen, nach dem letzten Stand der Forschung entwickelten Handys und Laptops, mithilfe derer sie sich gegenseitig bestätigen, gegen Covid würden warme Kleidung, ein paar homöopathische Kügelchen und Vitamin C helfen.

Wenn es nur so einfach wäre.

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© Carl Ueberreuter Verlag, Wien 2022

ISBN 978-3-8000-7796-0

978-3-8000-8225-4 (E-Book)

E-Book-Ausgabe der 2022 im Carl Ueberreuter Verlag erschienenen Buchausgabe.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie das öffentliche Zugänglichmachen z. B. über das Internet.

Lektorat: Marina Hofinger

Gestaltung & Grafik: Saskia Beck, s-stern.com

Abbildung Vorsatz: akg-images / picturedesk.com

Konvertierung: bookwire.de

www.ueberreuter.at

HERBERT LACKNERCHRISTOPH ZIELINSKI

DIE MEDIZINUND IHRE FEINDE

Wie Scharlatane und Verschwörungstheoretikerseit Jahrhunderten Wissenschaft bekämpfen

INHALT

Vorwort

Einleitung

In den Fängen der Religionen

Forschung am Menschen ist bis 1500 praktisch unmöglich – Alchemisten denken langsam um – Paracelsus erbost als Neuerer Ärzte und Obrigkeiten.

Die Hexenjagd – große Bühne für Verschwörungstheoretiker

60.000 Menschen werden in Europa als „Hexen“ und „Magier“ ermordet – Aberglauben statt Medizin, aber erstmals wehrt sich die Wissenschaft.

Der Aufklärer als Impfgegner

Massensterben durch die Pocken – Maria Theresia setzt auf die „Inoculation“ – Immanuel Kant sieht in der Impfung einen Eingriff in die „Vorsehung“ – Kranke Kühe retten ab 1796 Menschen.

Vernunft und Unvernunft

Johann Wolfgang von Goethe ist für die Impfpflicht, Andreas Hofer kämpft 1809 dagegen – Die Pocken kommen wieder, und mit ihnen tauchen antisemitische Impfgegner-Vereine auf.

Lebensreformer – die grüne Flucht vor der Moderne

„Natur macht gesund, nicht Wissenschaft“ – In Wien raufen 1907 Naturheiler mit Studenten – Bürgermeister Karl Lueger fördert die Impfgegner – Und Karl Kraus ätzt.

Eine ganz besondere Krankheit

Wie Donald Trumps Großvater 1918 starb – Ein Virus aus dem Mittelwesten und viele Verschwörungstheorien – Österreichs Kaiser Karl bestellt einen Gesundheitsminister.

„Rassenhygiene“ und „Wehrbiologie“

Der Nationalsozialismus pervertiert die Wissenschaft – Naturheilkundler gegen „jüdische Schulmedizin“ – Menschenversuche in den KZs: Zwei Haupttäter entkamen.

Ein Hoch der Wissenschaft!

Nach Kriegsende verstummt die Kritik an „Schulmedizin“ und Impfungen – Zwei neue Medikamente verändern die Welt – Doch dann treten neue „Lebenskultur“-Bewegungen auf.

Mit allen Mitteln

Systematische Wissenschaftsskepsis: Konzerne kontra Wissenschaft – Die ersten Studien „Rauchen verursacht Krebs“ – Die Tabakindustrie bekämpft wissenschaftliche Erkenntnis – Christoph Zielinski: Merkwürdige Erlebnisse im Parlament

Die Rückkehr der Radikalen

Rechte Recken und empathische Esoteriker verbünden sich – Die Infoquellen der Corona-Leugner – Wie die Impfgegner wählen – Christoph Zielinski: Erfahrungen mit der „germanischen Medizin“

„Hausverstand“ schlägt Wissenschaft

Gute Basis für Impfgegner und Scharlatane: Ein Drittel der österreichischen Bevölkerung hält von Wissenschaft und Wissenschaftlern nicht viel – Mehr als anderswo wird hier der „Hausverstand“ hoch geschätzt – Christoph Zielinski: Wie medizinisches Wissen entsteht

Die Internationale der „Verschwörungstheoretiker“

Wie mit der Propagierung medizinischen Unsinns Millionen verdient werden – Die Gurus der Szene – Die Kennedy-Family und ihr schwarzes Schaf

Die Wissenschaftsgegner und die medizinischen Fakten

Christoph Zielinski über den Mythos vom „starken Immunsystem“, die Angst vor „Genen“ und die notwendige Vermittlung von „Gesundheitskompetenz“

Von Kinderblut und Kanaldeckeln

Die Mechanik der Verschwörungstheorien – Warum Scharlatanen geglaubt wird – Die absurdesten Spekulationen

Epilog

Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Personenregister

VORWORT

„Unsere Demokratie … lebt … auch von dem Vertrauen in Fakten, und davon, dass überall da, wo wissenschaftliche Erkenntnis geleugnet und Verschwörungstheorien und Hetze verbreitet werden, Widerspruch laut werden muss.“

(Angela Merkel in ihrer Abschiedsrede als Bundeskanzlerin am 2. Dezember 2021)

Als die deutsche Bundeskanzlerin, eine akademisch ausgebildete Naturwissenschaftlerin, diese Rede hielt, war das Buch, das Sie in Händen halten, seit einigen Wochen in Arbeit.

Im späten September 2021 – die Covid-19-Infektionszahlen und der Lärmpegel der Impfgegner stiegen gerade wieder synchron an – saßen wir im Schanigarten des Cafés Landtmann und verstanden den Lauf der Dinge nicht: Wie konnte es sein, dass etwa ein Viertel der Bevölkerung völlig absurden Behauptungen glaubte und nicht der Expertise praktisch aller anerkannten Fachleute? Wieso sind bestürzend viele felsenfest davon überzeugt, Bill Gates wolle ihnen mit der Impfung einen Chip einpflanzen, um sie dann fernzusteuern? Warum krähen sie auf ihren Demonstrationen ausgerechnet gegen „Soros, Rothschild, Rockefeller“ an, die an diesem Schlamassel schuld seien, um daran zu verdienen?

Warum tirilieren blumenbekränzte Damen mittleren Alters und sichtlich bürgerlicher Herkunft auf diesen Impfgegner-Aufmärschen zwischen amtsbekannten Rechtsradikalen und bierdunstigen Dickbäuchen? Warum glauben sie im Internet zirkulierenden Videos, wonach sich in den Impfstoffen Wurmeier befinden und diese Würmer dann in den Körpern kriechen würden, um die Organe anzugreifen? Warum nehmen sie an, dass – wie diese Videomacher ebenfalls behaupten – in den Impfstoffen kleine Glassplitter seien, die uns die Zellen aufschneiden?

Warum schlagen so viele Menschen wissenschaftliche Evidenz in den Wind und lassen sich von Polit-Desperados begeistern, die ihnen Pferdemedizin empfehlen?

Man müsste die Wurzeln solch profunder gesellschaftlicher Verwerfungen wohl in der Geschichte suchen, meinten wir übereinstimmend. Und man sollte diesen Gegnern der Wissenschaft vor Augen führen, was die moderne Medizin auch in ihrem Leben bedeutet.

Zwei Espressi später beschlossen wir, ein Buch darüber zu schreiben.

Bei dieser Denk- und Schreibarbeit haben wir beide viel gelernt – voneinander und aus der Geschichte. Seit Jahrhunderten muss sich die Wissenschaft, besonders die medizinische, gegen religiöse Spinner, Scharlatane, Verschwörungstheorien und gewissenlose Geschäftemacher wehren. Schon Andreas Hofer, der große Tiroler Freiheitsheld, glaubte, man würde den braven Katholiken mit der übrigens schon damals hochwirksamen Pockenimpfung den Protestantismus einpflanzen. Johann Wolfgang von Goethe hingegen war ein entschlossener Befürworter der Impfpflicht. Wiens Bürgermeister Karl Lueger schlug sich auf die Seite der oft antisemitischen Impfgegner, sein Berliner Amtskollege boykottierte hingegen demonstrativ 1899 einen internationalen Kongress der Impfgegner in seiner Stadt.

Die heutigen Feinde wissenschaftlicher Erkenntnis beziehen ihr „Wissen“ aus hochkomplexen, nach dem letzten Stand der Forschung entwickelten Handys und Laptops, mithilfe derer sie sich gegenseitig bestätigen, gegen Covid würden warme Kleidung, ein paar homöopathische Kügelchen und Vitamin C helfen.

Wenn es nur so einfach wäre.

Den Titel dieses Buchs haben wir an Karl Poppers 1945 in London erschienenem Jahrhundertwerk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ angelehnt. Popper ging es darin um eine Gesellschaft, die auf rationalen Prinzipien beruht. Darum geht es auch hier.

Auf Fußnoten und Verweise, wie sie in wissenschaftlichen Arbeiten vorgeschrieben sind, haben wir aus Gründen der Lesbarkeit verzichtet. Alle wörtlichen Zitate sind in Kursivschrift hervorgehoben, finden sich in der im Anhang aufgelisteten Literatur und sind belegbar.

Wir wünschen Ihnen viel Erbauung und Gewinn beim Lesen.

Herbert LacknerChristoph Zielinski

EINLEITUNG

George Washington 1799 am Totenbett – seine Ärzte hatten ihn zu lange zur Ader gelassen.

Am Morgen des 14. Dezember 1799 erwachte George Washington mit starken Halsschmerzen. Der 67-jährige Gründungspräsident der Vereinigten Staaten von Amerika hatte bereits die Pocken, Diphtherie und Malaria überstanden, aber der 1,88 Meter große Mann war noch immer eine eindrucksvolle Erscheinung.

Heute würde man die Krankheit, die ihn an diesem Morgen quälte, nach allem, was man über sie weiß, als phlegmonöse Laryngitis diagnostizieren, also eine schwerere Form einer Kehlkopfentzündung, die in unseren Tagen aber dennoch problemlos zu therapieren ist. George Washingtons Leibärzte hatten ihre Sporen in den Lazaretten bei den Schlachtfeldern dieser jungen Nation verdient. In jenem Dezember 1799 versuchten sie, ihren Präsidenten mit einer Methode zu heilen, die seit den Zeiten des berühmten Hippokrates von Kos unhinterfragt angewendet wurde: Die Ärzte ließen ihn zur Ader und zapften ihm, so die Berichte, fast zwei Liter Blut ab. Dies sollte, so lehrte schon Hippokrates, die vier Lebenssäfte Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle wieder ins Gleichgewicht bringen. Überdies verabreichten sie Washington starke Abführmittel.

Am Abend desselben Tages starb der erste Präsident der USA aufgrund des hohen Blutverlusts an einem Schock, zu dem eine schlimme Dehydration durch die Abführmittel noch weiter beigetragen hatte.

Seit Hippokrates waren schon damals mehr als 2000 Jahre vergangen, aber eine ernsthafte wissenschaftliche Überprüfung der „Vier-Säfte-Theorie“ und des massenhaft angewendeten Aderlasses hatte es nie gegeben. Nicht nur die Militärdoktoren im Dienste George Washingtons, auch die berühmtesten Ärzte Europas schworen nach wie vor auf das „Therapeutikum“ Aderlass, wie etwa der berühmte niederländische Mediziner Herman Boerhaave und Kaiserin Maria Theresias Leibarzt Gerard van Swieten, der auch Pockenkranke zur Ader ließ.

Man kann nur vermuten, wie viele Menschen auf diese Weise wie George Washington vom Leben in den Tod befördert wurden.

Esoteriker, die etwa der Lehre der Hildegard von Bingen folgen, praktizieren den Aderlass noch heute zwecks behaupteter „Reinigung des Blutes von krank machenden Fäulnisstoffen und Schlacken“. Manche Heilpraktiker wenden ihn je nach dem Stand der Gestirne an.

Der Aderlass ist ein Beispiel für eine Verirrung einer noch nicht in der wissenschaftlichen Welt angekommenen „Medizin“. Diese musste aus verschiedenen Gründen jahrhundertelang darauf verzichten, wissenschaftliche Erkenntnisse durch das Infragestellen von scheinbar ewig gültigen Lehrsätzen oder durch das Auffinden neuer Untersuchungsverfahren zu gewinnen. Wusste man nicht mehr weiter, ließ man die Patienten erst einmal zur Ader.

Aber nicht alle Mediziner der Frühzeit handelten so, setzten damit Marksteine des medizinischen Fortschritts und stießen immer wieder auf Widerstand, wie die folgenden Beispiele zeigen.

Die ersten Leichenöffnungen

Der berühmte römische Arzt Galen von Pergamon reiste u. a. auch nach Alexandria, das Zentrum der Heilkunst zu jener Zeit und der einzige Ort der Antike, an dem Humansektionen durchgeführt wurden. Leichenöffnungen waren im zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung noch verboten, er bezog seine verblüffenden anatomischen Kenntnisse, die mehr als ein Jahrtausend lang die Medizin prägen sollten, aus der Sektion von Hunden und Affen; manchmal nahm er sich insgeheim auch einen der getöteten Gladiatoren vor. Später verboten alle monotheistischen Religionen die Forschung an Leichen.

Erst der Leibarzt von Kaiser Karl V., Andreas Vesalius, durfte 1537 dank seiner guten Beziehungen in Leuwen die erste legale Leichenöffnung durchführen. Darauf aufbauend konnte der Londoner Arzt William Harvey hundert Jahre später erstmals den Blutkreislauf des Menschen darstellen. Etwa zur selben Zeit malte Rembrandt sein berühmtes Bild „Die Anatomie des Dr. Tulp“: Sieben Männer, vermutlich Ärzte, beobachten skeptisch und fassungslos, wie ein achter Arzt den Unterarm eines Verstorbenen seziert. Nun konnten systematisch anatomische Studien durchgeführt werden.

Die ersten Impfungen:

Das Wissen über die Immunisierung durch das Einbringen von abgeschwächten Pockenerregern kam aus dem in Medizin und anderen Naturwissenschaften teilweise höherentwickelten Nahen und Fernen Osten nach Europa. Erste „Inokulationen“ mit abgeschwächten menschlichen Pockenviren gab es in Europa ab dem Beginn des 18. Jahrhunderts. 1796 verabreichte der englische Arzt Edward Jenner (1749–1823) erstmals Pockenimpfungen mit Kuhpocken-Viren. Vacca ist das lateinische Wort für Kuh, in der Folge wurde daher von „Vakzinationen“ gesprochen. Die Impfungen nach Jenners Methode waren äußerst wirksam: Im 19. Jahrhundert konnten die Pocken einigermaßen gezähmt, wenngleich nicht endgültig besiegt werden.

Der Widerstand gegen die Pockenimpfung war machtvoll: Immanuel Kant, Andreas Hofer, später Antisemiten, Lebensreformer und Naturheiler, schließlich auch der Wiener Bürgermeister Karl Lueger bekämpften die Vakzinationen.

Die ersten Hygienemaßnahmen:

Schon im Mittelalter vermutete man, dass Unsauberkeit Krankheiten verursacht – ein Schluss, den man aus den verheerenden Pestepidemien zog, ohne natürlich zu wissen, was ihre Ursache war. Deshalb wurden bereits im 14. Jahrhundert in einigen deutschen Städten Verordnungen zur Straßenreinhaltung erlassen, Schlachtungen mussten in eigens dafür eingerichteten Häusern durchgeführt werden. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurde erkannt, dass Hygiene auch in der Medizin von entscheidender Bedeutung ist. Der aus Ungarn stammende Arzt Ignaz Semmelweis (1818–1865) legte 1847/48 in Wien eine Studie zu den Ursachen des Kindbettfiebers vor, das Zehntausende Frauen hingerafft hatte und praktizierte evidenzbasierte, also auf empirische Belege gestützte Medizin, indem er eine methodisch korrekte Überprüfung wissenschaftlicher Hypothesen vornahm. Die Antwort fand er im eigenen Spital: Viele Arzt-Kollegen hatten sich nicht die Hände gewaschen, nachdem sie von den Obduktionen im Hoftrakt des Wiener AKH direkt auf die Geburtenstation gekommen waren. Ein Handwaschbecken am Eingang machte den Unterschied: Das Sterben auf der Geburtenstation hatte ein Ende, nachdem Semmelweis die auf dieser Station arbeitenden Ärzte überzeugt hatte.

Große Teile der Ärzteschaft lehnten Semmelweis’ Arbeit dennoch als „spekulativen Unfug“ ab, der noch dazu wegen der nötigen Hygienemaßnahmen unverschämt teuer sei. Der Druck seiner Widersacher setzte ihm schwer zu, überdies scheint eine fortschreitende psychische Erkrankung zu seinem Verfall beigetragen zu haben. Ignaz Semmelweis endete in einer Nervenheilanstalt.

Die Entdeckung der Genetik

Die katholische Kirche spielte in der Geschichte der Medizin eine komplexe Rolle, aber ein Augustinerpater aus Brünn leistete Großartiges: Gregor Mendel (1822–1884), Abt der Brünner Abtei St. Thomas, ein studierter Physiker, begründete Mitte des 19. Jahrhunderts im Garten seines Klosters durch Kreuzungsversuche mit 34 verschiedenen Erbsensorten die Vererbungslehre, auch wenn die Interpretation der Ergebnisse nach heutigen Maßstäben als unexakt zu bezeichnen wäre. Praktisch zeitgleich legte Charles Darwin (1809–1882) in den 1850er-Jahren in England seine Theorie zur Evolution durch natürliche Selektion vor. Die Forschungen Mendels und Darwins sind die Grundlagen der mehr als hundert Jahre später entwickelten Fachgebiete Molekulargenetik und Epigenetik, die in der heutigen Medizin – auch und besonders in der Onkologie – eine wichtige Rolle spielen. Darwins und Mendels Erkenntnisse wurden von unterschiedlichen Kräften bekämpft: Im Fall Darwins religiöse Bigotterie, immerhin pulverisierte er ja die biblische Schöpfungsgeschichte. Mendels Lehre stieß in Stalins Sowjetunion auf die ideologisch begründete Leugnung der Genetik: Stalin, auf seiner Datscha Hobbygärtner, war ein Anhänger der These, dass sich Pflanzen unbegrenzt formbar gegenüber den Umweltbedingungen zeigen würden. So etwas wie Gene gebe es gar nicht. Die Folge waren katastrophale Missernten, die man Saboteuren in die Schuhe schob.

Die Einführung der Anästhesie

Bereits im Altertum und später auch im Mittelalter wurden von verschiedenen Völkern im Orient und im Mittelmeerraum vor Eingriffen Betäubungen mit Mohn bzw. Opiumtinkturen, Mandragora und Bilsenkraut vorgenommen. Dabei kam es aber bei falscher Dosierung zu schweren Zwischenfällen oder gar zum Tod des Patienten. 1846 wurde im Massachusetts General Hospital – es gehört heute zur Harvard University – die erste Äthernarkose angewendet.

Absurderweise leistete ein Teil der Ärzteschaft Widerstand gegen diese Innovation: Schmerz wurde von diesen Medizinern als notwendiger Teil der Heilung angesehen, manche Chirurgen weigerten sich, an quasi Bewusstlosen zu operieren. In der Geburtshilfe wurde Anästhesie oft aus religiösen Gründen abgelehnt, und das mit Verweis auf das Buch Mose des Alten Testaments, in dem es heißt: „Du sollst mit Schmerzen Kinder gebären; und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, und er soll dein Herr sein.“

Alle diese Entdeckungen, Sternstunden der Medizin, deren wissenschaftlicher Wert heute unbestritten ist, wurden zu ihrer Zeit bekämpft – teilweise aus Unwissen, oft aus religiösen Gründen, aus Konkurrenzneid, aus Aberglauben, mitunter aber auch aus Skepsis gegenüber dem Staat: Man traute „denen da oben“ auch früher nicht über den Weg. Sogar die beliebte Kaiserin Maria Theresia hatte große Mühe, die Bevölkerung dazu zu bewegen, sich angesichts der verheerenden Pockenepidemien der zwar nicht ungefährlichen, aber durchaus wirksamen „Inokulation“, einer Impfung mit abgeschwächten Pustelsekreten an Pocken Erkrankter, zu unterziehen. Davon wird hier noch die Rede sein.

Die Argumente früher Wissenschaftsgegner finden sich in Teilen bis heute in den Agitationsmaterialen der Kämpfer gegen den medizinischen Fortschritt, wie in der Folge gezeigt wird. Auch die heutigen Impfgegner bedienen sich ähnlicher gedanklicher Konstrukte, meist ohne sich des historischen Hintergrunds ihrer „Querdenkerei“ bewusst zu sein.

Erst durch das Überwinden der Widerstände gegen den wissenschaftlich-medizinischen Fortschritt kam es zur Wissensvermehrung, die sich schließlich im Lauf der Jahrhunderte zunehmend in verbesserter Lebensqualität und verlängerter Lebensdauer niederschlug. Zu Zeiten des legendären Arztes Paracelsus, also im frühen 16. Jahrhundert, betrug die durchschnittliche Lebenserwartung bei Männern 32 und bei Frauen wegen der häufigen Todesfälle bei Geburten gar nur 25 Jahre. Heute leben Männer in Deutschland und Österreich im Durchschnitt 79 Jahre lang, Frauen 84 Jahre.

IN DEN FÄNGEN DER RELIGIONEN

Rembrandt van Rijn: „Die Anatomie des Dr. Tulp“ (1632)

Forschung am Menschen ist bis 1500 praktisch unmöglich – Alchemisten denken langsam um – Paracelsus erbost als Neuerer Kollegen und Obrigkeiten.

Wahrscheinlich hielten die Bio-Wissenschaftler der Universität Nottingham ihren Versuch selbst für etwas skurril – aber warum sollte man nicht etwas probieren? 2015 mischten die Mikrobiologen Freya Harrison und Steve Diggle eine Salbe, deren Rezept sie in einem der ältesten „Arzneibücher“ Großbritanniens, im „Bald’s Leechbook“, gefunden hatten, einer nur in einem Exemplar vorliegenden Handschrift aus dem 10. Jahrhundert. Manche der darin enthaltenen Tipps waren eher skurril: Hatte etwa ein Pferd Schmerzen, empfahl die Handschrift, man solle „Gesegnet seien alle Werke des Herrn der Herrn“ in den Griff eines Dolches ritzen, dann springe der Gaul wieder wie ein Fohlen.

Neben anderen wenig erfolgversprechenden Rezepturen fand sich in „Bald’s Leechbook“ auch eine für eine „Augensalbe“, eben jene, die Harrison und Diggle in Nottingham nachbauten: Knoblauch, Zwiebeln, Wein und Ochsengalle waren ihre Ingredienzien. Die Biologen waren erstaunt: In einem Messingkessel aufgekocht, tötete die Mixtur tatsächlich fast alle Kolonien des Bakteriums Staphylococcus aureus, die man in einer Petrischale angesetzt hatte. An der Texas Tech University erwies sie sich in Versuchen mit Mäusen als beinahe ebenso wirksam wie ein herkömmliches Antibiotikum.

Als frisch zubereitete Salbe könnte die Mischung aus dem „Leechbook“ zu ihrer Zeit verblüffende Erfolge erzielt haben, dauerhaft konservieren und somit transportieren ließ sie sich nicht. Außerdem gab es so etwas wie „Gesundheitspolitik“ und wissenschaftliche Kommunikation nicht einmal in Ansätzen, weshalb medizinische Erkenntnisse isolierte Phänomene blieben.

Aber das Beispiel der Salbe aus dem alten England zeigt, dass selbst im dunklen Mittelalter, als in ganz Europa etwa so viele Menschen lebten wie heute allein in Polen, Grundlagen medizinischen Wissens bruchstückhaft vorhanden waren, dieses sich aber noch lange nicht entfalten konnte. Aberglauben und Obrigkeiten, Religionen und manchmal auch praktische Faktoren wie die großen Distanzen und fehlende Verkehrswege unterbanden fast jede wissenschaftliche Regung.

Forschung am Menschen war jahrhundertelang de facto verboten, der berühmte römische Arzt Galen untersuchte Affen, Hunde und Schweine und leitete daraus Schlüsse auf den menschlichen Körper ab. Für Ägypter, Griechen und Römer galt der Leichnam als etwas Unantastbares, der entweder einbalsamiert oder möglichst rasch begraben oder verbrannt werden sollte. Hygienische Erfordernisse werden dabei bis heute in vielen Weltreligionen zu einem religiösen Regulativ überhöht.

Im antiken Rom wurden zunächst eher liberale Vorschriften zunehmend verschärft. Ab dem 2. Jahrhundert waren Leichenöffnungen untersagt.

Im Koran war es 500 Jahre später ähnlich: Der Körper des Toten sei zu waschen und in seiner ursprünglichen Form möglichst nahe dem Ort des Todes beizusetzen, um die Würde des Verstorbenen zu bewahren, hieß es da. Schließlich glauben auch Muslime an die Auferstehung, weshalb der Körper unversehrt bleiben müsse.

Angesichts solcher Behinderung der Forschung am Menschen durch Religionen ist es umso verblüffender, dass arabische Ärzte schon früh Blasensteine bergen, Frakturen einrichten und Abszesse versorgen konnten. Sie beobachteten die Erblichkeit der Hämophilie und führten bei bestimmten Krankheiten die Quarantäne ein.

Die Christen sahen das Treiben von Ärzten ähnlich skeptisch wie der Koran. Der Kirchenlehrer Augustinus verdammte im 5. Jahrhundert in seinem Werk „De Civitate Dei“ die Anatomen, die das „Wunderwerk der Schöpfung“ ohnehin nie verstehen könnten. Diese Ansicht wurde zum kirchlichen Gesetz. Dennoch führte man ab der Jahrtausendwende auch im christlichen Abendland vereinzelt Sektionen durch, die meisten in Italien. Mitunter gerieten diese zum öffentlichen Spektakel, wie etwa in Salerno, wo das Publikum einige Male gegen Bezahlung bei Leichenöffnungen zusehen durfte. Dazu rezitierte ein Lektor Texte des alten Galen. Die eigentliche Sektion wurde dann oft von einem Bader oder einem Handwerker vorgenommen. Der Erkenntniswert war entsprechend gering.

Barbarisches Mittelalter? Im November 2021 wurde in Portland (US-Bundesstaats Oregon) im Ballsaal eines Hotels vor zahlendem Publikum eine Live-Obduktion an einem 98-jährigen Covid-Opfer vorgenommen. Ticketpreis: 500 Dollar. 700 Gäste leisteten sich das Spektakel.

Zurück ins Mittelalter. Papst Bonifazius VIII. bekräftigte 1299 in einer Bulle das Verbot der Leichenöffnung und verdammte den Brauch des „Kochens von Leichen“, der besonders in Kreuzritterheeren üblich war. Um gefallene Ritter in heimatlicher Erde bestatten zu können, wurden sie auf recht drastische Weise einbalsamiert: Man entfernte die Eingeweide, zerkochte den Kadaver und löste die Knochen vom Rest der Leiche. Diese wurden dann nach Europa überführt.

Wegen der kirchlichen Ablehnung der Forschung am toten Menschen wurden den Universitäten auch keine Leichen zur Verfügung gestellt, nur an Hingerichteten durften sie forschen. Der englische Tudor-König Heinrich VIII. (1491–1547), der selbst zwei seiner sechs Ehefrauen köpfen ließ, gestand den Universitäten seines Inselreichs pro Jahr die Körper von vier Delinquenten zu – insgesamt.

Jenseits der Wissenschaft hatten die englischen Könige und auch viele andere europäische Herrscher wenig Hemmung am Zerteilen menschlicher Körper. Die Hinrichtungsart „Hängen, Ausweiden und Vierteilen“ wurde unter König Heinrich III. (1207–1272) erstmals ausgeführt und danach viele Jahrhunderte lang als Strafe für Hochverrat und Falschmünzerei angewendet. Der Delinquent wurde am Hals bis knapp vor dem Eintritt des Todes aufgehängt. Vom Galgen abgenommen schnitt man ihm bei lebendigem Leib die Genitalien ab und weidete die Gedärme aus. Danach wurde dem Toten der Kopf abgeschnitten, sein Torso wurde in vier Teile gesägt.

Auf diese grausame Weise starb etwa der schottische Nationalheld William Wallace 1305 in London. Heinrich VIII. dachte dieses Schicksal 1535 auch seinem abtrünnigen Lordkanzler, dem humanistischen Autor Thomas Morus, zu. Dieser wollte ihn nicht als geistliches Oberhaupt anerkennen, nachdem sich Heinrich mit seiner anglikanischen Kirche vom Vatikan abgespalten hatte. In Anbetracht von Morus’ Verdiensten ließ der König Milde walten und begnügte sich mit einer einfachen Enthauptung. Danach wurde der Kopf des Ex-Kanzlers an einer Stange einen Monat lang auf der London Bridge ausgestellt.

Aber bei der Zuteilung von Leichen an die Universitäten gab sich der blutrünstige König knausrig.

Das Judentum unterschied sich in Fragen der Medizin von den beiden anderen monotheistischen Religionen bloß in Details: Der Körper des Menschen muss zwecks körperlicher und seelischer Wiederkehr auch nach dem Tod unversehrt bleiben. Laut Talmud ist jeder, der einen menschlichen Leichnam berührt, für sieben Tage unrein.

Anatomische Kenntnisse erlangten auch die Juden durch Studien an Tieren. Bis heute lehnen strenggläubige Juden Obduktionen von Verstorbenen ab. Auf der aktuellen Website „Judentum Online“ heißt es: