Dem Lotus entgegen - Martina Bohnet-Gerber - E-Book

Dem Lotus entgegen E-Book

Martina Bohnet-Gerber

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Beschreibung

Erzählungen und Texte über Naturwissenschaften und philosophische Gedanken dazu. Kurzgeschichten im Spannungsbogen von Natur über Kunst und Kultur bis hin zu Gärten.

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Ich bin meinem Mann Hannes zu unaussprechlichem Dank verpflichtet. Ohne ihn wäre dieses Buch nicht entstanden. Er hat unermüdlich diese Schriftstücke gelesen und mit seinem Rat belegt. Auch als Lektor war sein Wirken ohne Beispiel. Diese Textsammlung widme ich ihm zusammen mit meiner Tochter Mirjam. In späteren Jahren werden vielleicht auch meine beiden Enkel darin eine Anregung finden können.

Martina Bohnet-Gerber wurde 1958 in Würzburg geboren, sie lebt heute in Roth in Mittelfranken. 1981 Abschluss Studium Dipl. Ing. Technische Chemie. Fernstudium der Literatur, jahrelange Leitung eines Lesekreises, Veröffentlichung mehrerer Bücher, Mitwirkung in etlichen Anthologien.

Inhaltsverzeichnis

Von Wassern gerahmt

Der Kreis schließt sich irgendwann

Ein demütiges Vorgehen

Keine Zeit lebt zwei Mal

Der Garten der Erinnerung

Sand – der sanfte Boden

Verschiedene Ansichten

Die Natur der Natur

Im Zentrum der Wellen

Beeindruckend oder bedrückend

Blaue Blumen

Wenn Verbundenheit zu Zweisamkeit wächst

Von Zahlen und Formen

Wo befreundete Wege zusammenlaufen

Das Lächeln der Augen

Der Anfangsgarten

An allem klebt der Zeitgeist

Wenn Gärten erwachsen werden

Den Abläufen angepasst

Die Tücken der Wortwahl

Bekannte Geräusche

Krieg im Frieden - Idylle auf dem Land

Ein Leben an den Wurzeln

Die Vergangenheit des Fortschritts

Glauben oder Wissen

Verschlungenes Grün

Kann es sein

Mitten im Leben einer fremden Familie

Pflanzenbekenntnisse

Ungeliebtes Duo

Vielleicht ist es so

Mit Silben allein

Wenn der Weg zur Sackgasse wird

Würden wir anders spüren?

Wenn Geschichte nachwächst

Die Stille kommt später

Aus dem Apfelbäumchen wird ein Baum

Das Wissen der vorherigen Tage

Am Ursprung

Gartenlust

Irgendwann fehlt der Platz

Es ist wie es war

Der Foerstergarten - ein wachsendes Denkmal

Farbige Wirklichkeit

Dem Lotus entgegen

Den Bienen sei Dank

Eine ehrliche Suche

Fragmente, keine Texte

Was wir wollen

Einkreisende Überlegungen

Unabsehbar scharf

Paarweise gegenüber

Freiheit in fremden Gärten

Wenn Verbundenheit zu Freundschaft wächst

Rosen- und Gewürzgärtlein

Die Veränderungen drängen

Jeder Tropfen zählt

Sie erzählte von Blumen und Steinen

Heutiges Wissen

Gefühle dieser Welt

Die Wahrheit in der Erinnerung

Es entwickelt sich

Andere Gedanken

Wachsendes Alter

Die Lederrose

Zwischen Zeigerwert und Pflanzenart

Grenzen des Gartens

Kreativität

Viola tricolor

Rein menschliche Abhängigkeiten

Gegebenheiten

Wenn es Zeit wird

Wieder im alten Park

Zu Füßen der Klee

Es begann im Winter, als wir uns trafen

Mikrokosmos - Makrokosmos

Der Garten im Winter

Wenn etwas berührt

Von Wassern gerahmt

Wenn Sie zuhause bleiben, haben Sie natürlich Gründe dafür. Vielleicht haben Sie einen Garten, zumindest eine Fläche oder Plätze, die Sie für grüngefärbte Gewächse vorgesehen haben. Haben Sie solche und verreisen dann und wann, könnte es auch Ihnen wie einstmals Goethe ergehen. Die Umgebungen der langsam im Meer versinkenden Stadt Venedig mögen zu einem seiner oft zitierten Aussprüche geführt haben. Der Geruch des Wassers in den Kanälen und die sich langsam zersetzenden, modrigen Hölzer in den schaukelnden Wellen, die andersartige Gleichmäßigkeit dieser landfernen Welt, auf Eichenpfählen gegründet, dieses Eigenleben, das diese Stadt in sich trägt, brachte ihn zu folgendem lyrischen Ausspruch:

„Bringet mich wieder nach Hause!

Was hat ein Gärtner zu reisen?

Ehre bringet ihm und Glück,

Wenn er sein Gärtchen besorgt.“

Doch auch Venedig hat Gärten zu bieten. Es sind ganz besonders gezielt angelegte Oasen, da die Stellen dafür so knapp und damit wertvoll sind. Es sind keine großen gestalteten Räume, sondern verdichtete Orte in einer gefestigten Ebene, die nicht sofort als solche erkannt werden können. Diese tiefen Einsichten beginnen sein bisheriges Bücherwissen zu zerstören. Wie hätte er wissen sollen, dass es so anderes gibt, wenn er wie gewohnt nur seine bisherige Erfahrung als Maßstab zugrunde legte. Alles liegt für ihn noch in schöner Verwirrung unentschieden beieinander. Das Gefühl schreibt sich bei ihm seitenweise ein. Wie im Rausch durchlebt er die einzelnen Stunden und saugt diese fremdländischen Ansichten förmlich in sich hinein. Ein nahezu nicht enden wollender Strom historischer Stätten und sensationeller Kunstwerke liegt nun in seiner Reichweite und er verbringt Wochen damit, diese ergiebigst und ausgiebig zu studieren. Seine späteren Werke zeugen von dieser eindringlichen Reichhaltigkeit, sowohl in ihrer Sprachfärbung als auch den verschlüsselten Inhalten und Örtlichkeiten. Sie bricht auch einem regelrechten Schreibschwall Bahn, davon zeugen die Unmengen Papiere und Briefe, die er bei diesem verlängerten Aufenthalt und danach in alle Himmelsrichtungen versendet. Aus dieser geheimnisvollen Bewegtheit schmiedet er eher Metaphern als Begriffe. Er verwandelt dieses Zwischenreich in Zwischenzeilen. Lässt sich von dieser Außenwelt überschwemmen. Wie von einer seltsamen Warte blickt er auf jenes Leben dort hinüber und hinein in ein anderes. Die schwimmende Lagunenstadt, in der er nicht lebt, eröffnet ihm eine völlig andere Perspektive. Es dauert, bis er zu einer Kontinuität der Empfindungen gelangt. Es ist ein Strom der überraschenden Eindrücke, die diese Aura in sich hat, die er allmählich in seine poetischen Texte und seine ausgedehnten Studien als Gelehrter übernehmen wird.

An jeder Woge, an jeder Blume wird ihm künftig diese Erfahrung als Gedanken hängen bleiben. Der charakteristische Geruch des alles rahmenden Wassers trägt auch die Farbe der Erinnerung weiter als das mühevolle Sprechen, wenn alles kunstvoll sein soll. Ein sprossender Baum wird in den dortigen Gärten von keiner Straßenlampe durchleuchtet. Die Meeres- und Wasserwege vielmehr brechen Mondlicht in hunderte Bestandteile auf. Dort kann man nur innehalten und staunend aufblicken, wenn die Flächen von Meer und Firmanent schwimmend ineinander übergehen. Dafür gibt es kein eigenes Farbenwort. Kein Pinselstrich, kein Ausdruck hat diesen Übergang bisher taufen können. An diesem Verfließen verliert sich die Zeit, an diesem außergewöhnlichen Phänomen kann man die Grenzen des Sagbaren ertasten. Diese Gärten dort sind trauter, verschlossener als ihresgleichen auf dem Festland. Sie sind kostbarer, begehrter als vergleichbare Anlagen in den Ebenen der breiten Flüsse. Die Gebäude bilden die Bühne für jedes Gewächs, für jedes Areal, das ein Besitzer sein Eigen nennen darf. Die Leute dort oben in der gemauerten, befestigten Welt reden weit über die Wasser hin.

Nicht nur die Gespräche werden in ihrer Vielstimmigkeit zu unkenntlicher Lautmalerei oder zu einem aufschwellenden Wort- und Geräuschgemisch. Das beständige Gluckern der auf- und absteigenden Wasserwellen mischt sich mit allen Tönen dieses Universums. Auch die Düfte und Gerüche trägt der Wind in einer Brise anders als an Land. Er treibt sie weit mit sich, wie die Nebel, gefüllt mit Salz und ätherischen Ölen. Er entlässt sie später als übersättigte Lösungen an die Umgebungen. Es gleicht einer Kunst, in dieser Atmosphäre den Boden vom Salz des Meeres zu befreien und eines dieser bewachsenen Juwelen, dieser monochromen Arrangements am Leben zu erhalten. Das Süßwasser zum Wässern sprudelt nicht reichlich, die Zisternen füllen sich mit Regenwasser. Zwischen den einfachen Räumen, die als versteckter Garten den größten Teil des Jahres im Schatten liegen und dem Himmel naheliegenden Dachterrassen sammelt sich alles an Zwischenstufen der machbaren Garten- und Architekturkunst. Empfindliche, rankende Pflanzen finden in der aufrechten, unerschütterlichen Standfestigkeit der zähen, harzigen Immergrünen einen Untergrund zum Festhalten. Palmen- oder Rosensammlungen wetteifern mit der verschwenderischen Farbigkeit orientalischer Blüten, gedeihen friedlich neben flachwurzelnder, pharmazeutischer Iris und führen ihren Dialog zwischen Farbe und Oberfläche, Duft und Wirkung. In der von Nebelschwaden gesättigten Kleinlandschaft täuschen die verdeckten Übergänge schmale, in sich gewundene Pfade und Hügel vor. Uneinsehbare Winkel verdichten sich zu magischen Orten, denen lediglich der Widerhall des Meeresrauschens Zeitlichkeit und Kontur gibt. Eine zwischen den Wellen der Kanäle aus den wilden Gerüchen entstehende Gegenwart, die immer einen Anteil morbider Vergangenheit in sich hat und die im nächsten Augenblick einen feuchtdunklen Torbogen einstellt, im dichten Grün verborgene Stufen freigibt, welche hinauf locken in leicht höhere Bereiche, in denen sich die Wurzeln der Gewächse verlässlich außerhalb jeden Hochwassers ausbreiten können, schenkt den Augen keine Müdigkeit, hinterlässt aber eine ungewohnt tiefe Sicht.

Eine schillerndgrüne Stille wie diese bleibt das wirklich erinnerungswerte Besondere unserer geräuschvollen Tage. In diesen Erinnerungen an sie wird kein Ton sein. Der Lärm ist abgestellt, ergibt einen Erinnerungsstummfilm, der nichts als natürliche Geräusche bereithält und menschenerzeugtes, technisches Gelärme auf die Kanäle und Wasserwege mit ihren meist motorgetriebenen Booten legt. Dies ist ein Ausschnitt, der dem heutigen Leben einen Moment gestohlen hat. Der Mensch braucht technikfreie Räume, Orte der Ruhe, naturgewachsene Umgebungen mit all ihren sanfteren Klängen. Die Besonderheit der kühleren Jahreszeiten, in impressionistische Gemälde eingetaucht, sie spricht dort von dunklen Zypressen, deren Schatten nahezu einfarbig bleiben, fast keinen anderen Farbton zeigen. Sie verstärken den Drang zum Nachdenken, einem anderen als üblich, jetzt, in der kurzen Gegenwart. Auch zwischen Lorbeer und Glyzinie bleiben Drinnen und Draußen, Schmerz und Tod, Abschied und die andauernde Trauer bindende Zusammenhänge in einer langsam aber stetig vergehenden, allmählich untergehenden Welt.

Schwärmerische, intensive Beschreibungen legen immer nur einen Ausschnitt der Empfindungen offen, sind mitunter die ganze Wirklichkeit nicht getreu wiedergebend, also idealisieren die Verhältnisse. Das heutige Venedig wird von Touristenmassen überrannt. Die meisten der ursprünglichen Bewohner haben der Stadt längst den Rücken zugewandt und sind aufs Festland gezogen, nur noch wenige Zehntausend halten dem Trubel stand. Zu allem Unglück, gegen den Willen der Bevölkerung, fahren tausende Besucher ausspuckende Personenschiffe direkt in die Lagune vor Ort ein, mit noch nicht bezifferbaren Schäden an Gebäuden und der restlichen Unterwasserwelt. Nach heftigen Protesten hat sich dieser Ablauf seit wenigen Monaten verändert, diese schwimmenden Städte müssen jetzt außerhalb des Zentrums anlanden. Der Markusplatz mit einem mehrstöckigen Schiff im Hintergrund hatte offensichtlich keinem gefallen. Mittlerweile werden, in einem ebenfalls ungewollten Großprojekt, etliche Stauwehre in den Untergrund vor den Toren der Stadt gepresst, die die Änderungen und Rauheit des Meeresspiegels und das permanente Absinken der Gebäude abmildern sollen. In der Jetztzeit stellen sich Fragen, die in Goethes Leben noch keine Rolle gespielt haben. Wie kann man solche Ziele für künftige Generationen erhalten? Wie kann man unsere Massenbedürfnisse und wie das Reisen sinnvoll begrenzen, wie die Schäden und deren Folgen geringhalten? Wie verhält man sich selbst, um möglichst glaubwürdig und widerspruchslos zu bleiben?

Dann und wann bricht der Schwarm Möwen auf. Er wirft keinen Blick zurück in die langsam versinkende Stadt auf Schwemmland. Das Licht nimmt die letzten Schatten mit und immer öfter verschwindet diese eigentümliche, altertümliche Stadt auch in den Gesprächen.

Der Kreis schließt sich irgendwann

Ein von seinem Leben geprägter Eichenstamm. Aus dem Boden gehoben, umgestürzt. Vom letzten starken Sturm ausgehebelt und gebrochen. Bewachsen mit Moosen, Flechten an manchen Stellen, in einem Riss seiner Rinde wächst ein leuchtend rosafarbenes Weidenröschen. Es sind die einzigen farbigen Blüten weit und breit, sie fallen auf. Sie sind der baldige Begleiter, falls in unseren Wäldern Baumlücken entstehen. Sein Erscheinen zeigt an, dass der hölzerne Riese schon länger liegt. Die Pilze an seiner Borke sind fest, sehr hart. Sie haben sich mit ihm auf die Seite gelegt. Bis dieses alte Leben der wuchtigen Stieleiche völlig verloschen ist, werden ganz andere, vielfältige Lebensgemeinschaften zu ihr kommen und sie bietet sich ihnen an, legt die Grundlage dafür. Es ist also wichtig, dass sie ihren Platz behalten darf, dass sie niemand wegräumt. Ist es dieses Wissen von den Zusammenhängen, das sich in uns rührt und die vielen Gefühle, die damit verbunden sind, die mit an die Oberfläche wollen? Dieser mächtige Eichenstamm bietet mehr Raum für Erneuerung, als jeder neu gepflanzte Baum geben kann. Ohnehin können in seinem Wirkungskreis junge Waldgewächse bestens von selbst keimen und wachsen.

Vielleicht ist es das echte, richtige Leben, das sich da zeigt. Er jedenfalls lebte mit der Natur. Aber was bedeutet das eigentlich? Wann ist die Natur eine ursprüngliche Wildnis? Wenn die Füße sie nicht mehr durchschreiten können ist das der entscheidende Schritt, der alles ausmacht? Dieser Baum lebte in vollen Zügen. Er hatte stattliche Ausmaße, bis eine Orkanböe kam, die deutlich stärker als seine Wurzelkraft war. Er war ein Teil der Natur, untrennbar mit ihr verbunden. In einiger Entfernung von ihm standen noch andere, gebogene Bäume, die sprachlos eine geringe Anzahl an Ästen ausstreckten. Gebeugt vielleicht von einer Wasserader auf der sie gedeihen mussten oder aber ebenfalls vom alles abschleifenden Wetter getroffen. Das Kennzeichnende eines Waldes bleibt, dass Jahreszeiten, Wind und Wetter ihn stets in den Armen der Natur belassen. Selbst wenn er von Menschenhand eingesetzt wurde, wird er sich in eigenen Zeiträumen wieder von der zweiten Natur in die ursprüngliche erste zurückverwandeln.

Die überirdisch anmutenden, ernst und dunkel aussehenden Eiben gaben den völligen Kontrast zur einzigen, gen Himmel strebenden Form, derjenigen der Pappel. Der Unterschied im Tonfall der beiden Bäume lässt sich nicht wegdenken. Wenn sich wieder einmal zwei ungleiche Luftdruckschichten treffen, beginnt das helle Blätterrascheln des sich um die Stiele drehenden, schnell flatternden Pappelgrüns das dumpfe, fast lautlose Wiegen der immergrünen, wertvollen Eiben zu übertönen. Gemeinsam lassen sich beide Klänge wie Gesänge der gefiederten Bewohner bis in entferntere Umkreise verwehen. Sie duldete keine Nähe bei sich, die abseitsstehende Birke. Sie hatte eine regelrechte Schutzzone um sich herum aufgebaut. Ihr Lichtbedürfnis war offensichtlich groß. Deswegen hat sie auch diese weiße Rinde, die zur Spitze hin immer eindringlicher, intensiver wird. Diese Farbe reflektiert das Sonnenlicht am besten und hält den Stamm dadurch kühler. Dadurch reißt die Rinde weniger auf. Birken erobern sich mit Leichtigkeit auch kältere, nordische Ländereien.

Eines der Bilder, die sich seit Jahren halten konnten, welches nahezu jedes Mal identisch in der Erinnerung auftaucht, holt sich immer noch die gleiche Spur an Gedanken. Unweit dieses liegenden Baumes stand das gedrungene, steinerne Bauernhaus, mit Fenstern, die sich längst nicht mehr öffnen ließen. Ihre Farbe hing in halben Kringeln locker am vergrauten Holz, das sich ebenfalls aus der einstmals angepassten Gerade gebogen hatte. Das Gestrichene war fast vollständig abgeblättert und von der Verwitterung zerkleinert. Die reif gewordenen Samenstände des Weidenröschens schlagen ebenfalls halbrund nach Außen auf, wie Schoten, die gespalten werden und dann eintrocknen. Die Fenster dichteten das Innere des verwinkelten Gebäudes nicht mehr gegen die heftigen Nord- und Westwinde ab. Die Regenmassen, die an diesen Gläsern stets abgelaufen waren, mögen schon Bäche gefüllt haben. Jetzt schaffen sie es nicht mehr, alle Tropfen abzuleiten. Der Leinölkitt im Falz war versprödet und konnte die Scheiben nur noch mühsam halten. Die Brennesseln, die fest mit ihrem weißen Wurzelwerk zwischen die teilweise sichtbaren Fundamentquader eingedrungen waren, können mit ihren oberen Spitzen in den einen Raum hinaufragen. Weshalb ist es ausgerechnet dieser Anblick, der sich so lange erhalten hat? Vielleicht wohnte noch jemand in dieser Einfachheit, mitten im Zustand des Rückbaus, der alle Alter zeichnet. Es bewegt einen, obwohl man selbst nicht so leben könnte. Aber man ahnt, dass es sich irgendwann um die eigene Realität handeln wird, sie wird so oder so ähnlich aussehen. Seltsamerweise trägt dieses Bildnis auch etliches an Schrecken mit sich, einen Anteil Angst. Ist diese Schwäche erlaubt, wenn man inzwischen mehr als eine Handvoll Lebensjahrzehnte hinter sich hat?

Mit Mauern aus Steinbrüchen in der Nähe hatte der Hausbau begonnen. Aber eventuell war es gar kein abfallendes Gelände, mit einem Hang, aus dem die Quader geschlagen wurden. Solche großen, behauenen Steine feinster Körnung waren Luxus. Sie waren bestimmt noch weit vor dem restlichen Abraum herausgearbeitet worden. Der Transport dieser tonnenschweren Fracht dürfte ebenfalls ein respektables Unterfangen mit einigen Schwierigkeiten dargestellt haben. Jede Person verrichtete ihr Handwerk. Man hatte Arbeitspferde zur Hilfe und verstand es, die Hebelgesetze anzuwenden. Es könnte auch eine Mulde im Untergrund des Waldbodens gewesen sein, aus der sie mit Keilen förmlich herausgesprengt worden sind. Heute zeigen sich solche Oberflächen voller Blaubeerkraut über verschieden hohen Erdaufwürfen. Die Dachfläche war ebenfalls nach innen geschwungen. Die Hölzer und Latten darunter gaben unter der Last inzwischen nach. Vielleicht hatten dies die schweren Schneeschichten vergangener Winter mit verursacht. Noch lagen alle Biberschwanzziegel an Ort und Stelle, wie seit über einem Jahrhundert gewohnt. Die Stärke des Wetters hatte keine Öffnung in die Dachhaut gerissen. Es sah ganz ruhig und gelassen aus direkt um dieses Haus. Beinahe glichen die Zeichnungen und Linien, die unterschiedlichen, rostbraunen Farbtöne vom Brennen der Dachdeckung den noch erkennbaren Jahresringen des Baumes, der stumm geworden war. Jeder Ziegel sah anders aus. Die Dachfläche wirkte lebhaft. Zwischen den Fenstern hielt ein Holzrahmen die kräftigen Türflügel zusammen. Diese Eingangstür wirkte verschlossen, sie hatte keinen Griff. Lediglich in ihrer Mitte gab es einen Knauf aus Metall, einfach, nur zum Gebrauch bestimmt, keine Zierde.

Einen solchen Anblick findet man bemerkenswert, fast romantisch. Er trägt eine längst vergangene Zeit, längst gelebte Jahre in sich. Er zeigt die bäuerliche Kultur, die heute auf der Schattenseite des dicht aufgewachsenen Waldes liegt. Menschenspuren, die sich einmal bis dorthin vorgewagt hatten, um ein arbeitsschweres, lastgebeugtes Dasein zu begehen, voller Bescheidenheit und immer in der Abhängigkeit vom Gebaren seiner Umwelt. Viel Spielraum ist ihnen da nicht geblieben. Ein Garten ist nicht mehr sichtbar. Kein Gewächs von außerhalb des Baumdunkels. Der Waldsaum rückt gemächlich vor, aber stetig. Er hat Zeit im Überfluss.

Ein demütiges Vorgehen

Es bleibt erstaunlich, wie unterschiedlich die Beziehung zu einem Garten auf jedem Kontinent ausgeprägt ist. Für uns Europäer bleibt es außerordentlich schwierig, den asiatischen Umgang mit Pflanzen, Steinen und ihren anderen Ausschmückungen eines umgrenzten Grüns richtig zu deuten und zu verstehen.

Wenn wir uns entschließen, einen japanischen oder chinesischen Gartenteil umzusetzen, fließen doch immer unsere grundlegend anderen Betrachtungen von Natur und ihren Geschöpfen mit ein. Wir sind es gewohnt, meist im Stehen oder höchstens im Sitzen von einem Stuhl aus unser Stückchen Erde zu betrachten. Die japanische Kultur zieht ein Niederlassen auf dem Boden direkt auf Augenhöhe eines wichtigen Bestandteils eines Gartens, dem Moospolster, vor. Dies ist natürlich auch dem feucht-warmen Klima geschuldet, das diese polsterartigen Nässespeicher kaum Austrocknen lässt. In einem japanischen Garten werden Zusammenhänge gezeigt, darin angelegt, die die Natur eher selten von selbst auflegt. Man will sich damit nicht über die Natur hinwegsetzen, sondern sie lediglich helfend unterstützen ihren vollendeten Zustand zu erreichen. Es ist dies kein einfaches Abbilden, sondern es wird ein besonderes Maß an Harmonie erreicht, mit dem sich der Gärtner den Willen der Natur zu eigen macht. Sie kennt sich besser aus als er, wächst zügiger und doch folgt er nicht jedem ihrer Ansinnen frei nach. Aber ebenso wenig zwingt er sie in gegensätzliche Muster. Man begeht das Leben demütig, fühlt sich als ein Stück dieses großartigen Erdballs und nicht als eine Krönung der Schöpfung. Der einzelnen Person wird auch kein besonderes Wesen zugeschrieben, das sie von anderen abheben könnte.

Selbst innerhalb der asiatischen Welt gibt es konträre Sichtweisen im Umgang mit der Ausgestaltung von Gärten. Während in chinesischen Gärten bestimmte Pflanzen, wie Bambus oder Pfingstrosen, Chrysanthemen, vielleicht noch Azaleen und selbstverständlich der wundervolle, farbige Fächerahorn einen gewichtigen Platz im Garten einnehmen, verzichten die urjapanischen Ausführungen gerne auf jede, doch nur eine kurze Blütezeit andauernde, farbige Ablenkung, wie dauerhafte Stauden und einjährige oder zweijährige Blumen. Ihr Augenmerk liegt eher auf den widerstandsfähigen Kiefern und der Darstellung einer Landschaft in den Variationen der grünen Tönungen. Eine Ausnahme bildet die Gruppe der Kirschbäume, zu denen während der kurzen Blütezeit regelrechte Pilgerreisen unternommen werden, es sind jährliche „Festtage“. In keiner der Anlagen wird auf das Element Wasser verzichtet, sogar das Spiel des Windes und die Töne des Regens werden in diese Atmosphäre eingebaut. Aus dem speziellen ZEN-Buddhismus wurde die Unendlichkeit der Bergwelt in Form bestimmter Steinausführungen und deren Ursubstanz, dem fein gebrochenen Sand, übernommen. Solche mit geschwungenen Linien durchzogenen Flächen fangen die Blicke des Gastes ein, genauso wie die Wellen der großen Meere, die sie darstellen. Ein derartiger Garten dient nicht, auch nicht dazu, darin Umherzulaufen oder Spazierenzugehen, sondern er beinhaltet das gesamte Dasein, fordert und fördert Ruhe und Zeiten des Nachdenkens. Viele asiatische Gärten sind ebenfalls, wie bei uns, in den lebensvernichtenden Kriegswirren zerstört worden, und zusätzlich bringen in diesen Erdteilen regelmäßig verheerende Erdbeben ganze Regionen zum Einsturz. Die Beschäftigung mit einem Garten ist nicht jedem gegeben, sie ist abhängig von den unterschiedlichen Gewohnheiten der Menschen, vielleicht auch dem Erleben in der jeweiligen Kindheit und den zu jeder Lebenszeit anderen Notwendigkeiten und Notlagen. So können aus fürstlichen Flaniergärten in unsteten Jahren schnell öffentlich zugängliche Orte werden, wie zum Beispiel in Bayern, als Kurfürst Carl Theodor, einem Rat folgend, im Angesicht der Revolutionsumwälzungen in Frankreich anno 1789 die Parkbegrenzungen des Englischen Gartens demontieren ließ, um einem Aufstand vor seinen eigenen Toren zuvorzukommen.

Keine Zeit lebt zwei Mal

Manchmal erwecken Texte den Eindruck von überaus schnell dahingeworfenen Gedanken und Erinnerungen, von Silben, die irgendwann zu festen Sätzen aufgewachsen sind. Doch wie lange ihre Entstehung dauerte und ob sie ihre geschmeidigen Inhalte ewig gedehnten oder kurzen Stunden verdanken, lässt sich aus ihnen nicht ablesen. Höchstens kann man an der Auswahl der Wörter, an den Formulierungen, an eingefügten, anschaulichen Beispielen und den in ihnen vorkommenden Dingen und Gegenständen ungefähr auf das Alter des Autors schließen. Egal, wie schnell jemand im Niederschreiben ist, wie oft er den Worten einen neuen Platz zuweist oder auf welche Art und Weise er den Klang eines Schreibens zustande bringt, es dauert eine gewisse Weile, bis sich die Fassung gut unter den Titel einfügen lässt. Die Zeit verstreicht bei dieser kreativen Arbeit, wohlgenutzt. Dieser in gleichmäßige Einheiten unterteilte Maßstab der Zeit stellt nur ein künstliches Hilfsmittel für uns dar, um uns mit anderen Menschen auch wirklich verabreden zu können. Noch bis nahe an die 1900er Jahre heran hatte jede Gemarkung, jeder andere Regierungsbezirk, gar jede Stadt eine eigene, die Uhr bestimmende Vorgabe. Dies musste bei Reisen oder wichtigen Angelegenheiten immer beachtet werden.

Genaugenommen gehört uns von der Zeit lediglich dieses jetzige in Momente zerlegte Stück. Alles andere halten wir schon nicht mehr. Es lebt bereits in einer anderen Zeitenebene. Uns bleiben nur unvergleichliche Blicke hinüber in eine für immer vorbeigezogene, ehemalige Gegenwart. Wir nähern uns in Tagträumen wieder an diese an, doch das gesamte Ereignis können wir nicht mehr gänzlich zusammentragen. Jede einzelne Person wird ein Geschehen nicht nur aus anderen Buchstaben zusammensetzen, sondern auch mit verschiedenen Höhepunkten und verschobener Dauer für sich notieren, um es schließlich mit dem eigenen Wortschatz seiner Umgebung mitzuteilen. Es ist etwas sehr Individuelles, genauso wie das Farbensehen. Jeder Mensch erkennt Farben anders. Um eine gemeinsame Grundlage zu schaffen, die sich vergleichen lässt, wurde eine Farbpalette, später dann eine normierte Farbtafel entworfen. Genau wie jeder von uns eine andere Beschreibung, seine eigene, persönliche Abtönung in eine Farbe hineinlegt, so wird er auch bei dem abgelaufenen Zeitgeschehen andere Schwerpunkte setzen, von denen er der Überzeugung ist, dass sie des Merkens würdig sind. Wir haben nie den völligen Ablauf solcher Zeitpunkte auf einmal im Kopf, sondern das Bild erweitert sich im Zuge des Erinnerns um immer mehr Feinheiten. Es wird auch nicht mehr die gleiche Energie sein, mit welcher wir eine Stelle in unserem inzwischen etwas länger gewordenen Lebenslauf nacherleben. Es ist anders geworden. Was wir jetzt als Nichtigkeit empfinden können, war in den damaligen Tagen bedeutender, wir deuten es inzwischen aber anders. Die abgeschatteten und beleuchteten Anteile des sich wandelnden Innenlebens finden darin auch ihren Widerhall, das macht es wahrscheinlich so schwierig, eine Selbstbeobachtung aus uns heraus zu legen. In unseren Erzählungen wirken Augenblicke auf einmal so, als ob es in ihnen niemals einen eisigen Winter oder eine trostlose Nacht gegeben hätte. Wir haben nur Einfluss auf diesen knappen Moment, in dem wir etwas tun oder lassen können. Nur dies können wir gestalten, ob wir ein freundliches oder nichtssagendes Wort in Gang setzen. Später bleibt nur ein ohnmächtiges Anstandsgefühl des Bereuens übrig. Das quält, aber erleichtert zumindest etwas, wenn das Eingeständnis noch rechtzeitig an die richtige Stelle gebracht werden konnte. Es gibt lediglich diesen kurzen Augenblick, der zwischen der Vergangenheit und der Zukunft liegt. Den Einfluss auf das Eine haben wir verloren, wir können nichts mehr ändern. Von dem Kommenden können wir vielleicht einen Anteil ahnen, was es sonst noch alles mitträgt entzieht sich unserem Wissen. Uns bleibt also nur diese kleine, unsichtbare Portion von allenfalls einigen Sekunden, die so kostbar ist. Die gilt es im Blick zu haben. An dieser sollten wir unser Handeln ausrichten, das bleibt schwer genug.

Der Garten der Erinnerung

Das Licht begann diffuser zu werden, schwächer, als ob sich ein Schleier vor ihre Augen schob. Sie senkte den Blick und versuchte die verwitterte Bank zu betrachten. Eigentlich sah diese nicht wirklich anders aus. Es war die harte Lehne mit einer Strebe in der Mitte, die den Rücken schnell schmerzen ließ, damals wie heute. Ihr eigener Körper war mit den langen Jahren deutlich gewachsen, sie spürte das Holz, es war immer noch fest. Und genauso wie einst nagten die Wespen die graue Oberfläche ab und bauten damit ihre manchmal fast kugelförmigen Nester auf. Sie saß darauf in einer entspannten Haltung, das linke Bein heraufgezogen, die Arme ums Knie geschlungen, wie früher, eigentlich wie immer. Wie konnte es sein, dass der gleiche Ort so vertraut und doch so fremd erschien? Oder war alles nur in ihr selbst? Auch sie war die gleiche, aber nicht mehr die selbe geblieben.

Sie hatte es sich doch immer gewünscht, sie wollte den alten Garten wieder sehen, in ihm verweilen, ihn fühlen. Jetzt, da sie hier war, spürte sie diese Gegensätze deutlich. So konnte sie, wenn sie genau hinsah, das Früher entdecken, ab und zu noch herausfinden. Das Gras der Jahre war durch den Garten gezogen. Nur noch der weiße Phlox mit dem karminroten Auge, „Kirmesländer“ war sein fröhlicher Name, schimmerte von der Stelle in der Mitte des Gartens, an der das weitläufige Staudenbeet, die Rabatte, gewesen sein musste. Dahinter stand der große Birnbaum in seiner typischen Pyramidenform, genau wie einst voll kleiner, rauer Früchte, die schnell abfielen, aber gut zum Trocknen geeignet waren. Sie waren für den Winter gedacht, landeten dann in der Weihnachtsbäckerei. Die Sorte hatte eigentlich einen lustigen Namen oder doch eher nicht. Der Großvater hatte immer gelacht, wenn er „Stuttgarter Geißhirtle“ sagte und regelmäßig, schmunzelnd erwähnt, dass der Baum 1750 auf die Welt kam. Es war eigentlich der betagte Mann gewesen, der meistens ein sonniges Gemüt zeigte, trotz der harten Zeiten, die er erleben musste. Daneben konnte sie noch die Taglilien, die Sorte mit dem Namenszusatz „fulva“, die seit 1562 bekannt war, erkennen. Sie war wüchsig wie eh und je, mit den braunroten Blüten des Sommers. Jede mit ein paar Stunden Lebensdauer, nicht mehr. Die standen damals in nahezu jedem Garten. Es war eine Art von Verlässlichkeit, ihnen zu begegnen. Man traf sich wie gute alte Bekannte, von denen man wusste, dass sie dort wohnten und nahezu immer zu Hause waren. All die anderen Blumen waren verschwunden, hatten das Alleingelassenwerden nicht überstanden. Drei breite, stahlfarbene Irisblätter reichten noch über das Gras hinaus, doch sie schien nicht mehr zu blühen, diese Schwertlilie. Ihre Rhizome liebten Licht und Sonne, keinen drängenden Pflanzenwuchs, mochten keine harte Konkurrenz. Das Paar der gewaltigen Kirschbäume war auseinandergebrochen, gespalten, sie trugen fast kein Laub mehr. Zartes Piepsen klang aus dem Inneren eines Stammes. Noch diente er Vögeln als Brutplatz, als schützendes zuhause. Der Apfelbaum war verwachsen und vergreist. Der Baum mit den einstmals leckersten Äpfeln der Welt, leuchtendes Gelb mit Orange. Auch für diesen hatte es einen klangvollen Namen gegeben. Er sei aus England zu uns gekommen und eine Muskatrenette, die „Cox Orange“ heißt. Ein Geburtsjahr hatte der Großvater, der Gartenmensch, bei ihm nicht angeben können. Irgendwann in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts habe man diesen nicht allzu großen, festen Apfel entdeckt. Hier trug er jetzt nur noch schorfiges Obst ohne Glanz und Farbe und war doch auch von damals. Sie erkannte den ausgreifenden, verzweigten Wuchs, das knorrige Geäst. Wie die wohl jetzt schmecken würden? Durfte sie sich eine dieser Früchte pflücken? Genaugenommen nicht, das Grundstück war längst verkauft.

Was hatte sie erwartet, erhofft? Die Geborgenheit der Kindheit wieder zu finden in dem fernen Garten, Gewissheit - Sicherheit. Wenn sie lauschte, konnte sie die Zeit der Veränderung wahrnehmen, den wilden Lärm, der fast alles ergriffen, auch hier vor diesem Garten nicht Halt gemacht hatte. Wenn sie fühlte, spürte sie die Nähe, und doch lag zwischen damals und heute etwas Unvertrautes. Sie spürte den Schmerz des Abschieds erneut, der einst dem Wechsel in ein anderes Leben vorausgegangen war. Diese Gegensätze des Daseins waren überall vorhanden, es gab diese Unsicherheit auch woanders, nur in der Kindheit war sie noch nicht ausgemacht. Diese Sehnsucht war immer schon und wird immer wieder unvermittelt auftauchen. Sie bemerkte, wie ihre Gedanken hin und her wanderten. Von der Wirklichkeit, vielmehr dem was sie sah, zurück in ihre Kindheit, quer durch die ersten Schuljahre und irgendwie plötzlich in den höheren Klassen waren die Empfindungen so mehrdeutig geworden. Obstgärten werden zu Straßen, zu Bauplätzen, oder die Natur holt sich, was ihr einstmals abgerungen wurde, zurück, mit der ihr eigenen Kraft und Phantasie. Andere Menschen haben ihre Jugend und erleben die für einen fremde Welt als geborgen, bis es sie trifft, sie an der Reihe sind. Alle Lebenszeiten tragen ein dauerndes Trennen, wieder Loslassen, ein Fortgehen und Lebewohl sagen mit sich herum, also hat es nicht nur mit der räumlichen Entfernung zu tun.

Es begann merklich kühler zu werden, sie schloss die Augen, versuchte die vielen Gedanken zu ordnen und so gut es ging keine weiteren Kapitel ihrer Biographie zu öffnen. Da fielen ihr die Worte ein: „Du hast dich überhaupt nicht verändert. Ich habe dich gleich wieder erkannt. Du siehst noch genauso aus. Hast dich gut gehalten.“ Sie hatte gelächelt, es als Kompliment auffassen, nicht als Stillstand bewerten wollen. Die meisten auf dem Treffen hatte sie nicht benennen können. Diese mit der Zeit gegangenen Gesichter, nur die Stimmen schienen ihr gewohnt. Nach den langen Jahren waren die Namen verloren. Wie so vieles, was lange vorbei war, auf einmal nicht mehr existiert. Man hatte sich an sie erinnert, sich sogar gefreut sie wieder zu sehen. Sie war es nicht gewohnt, solche Aufmerksamkeit zu erhalten, doch sie nahm sie gerne an.

Sand – der sanfte Boden

Sie werden nicht sehr geschätzt, diese für Teile Frankens charakteristischen Sandböden, in der Wirklichkeit der privaten und öffentlichen Gärten. Woran es liegt, dass sich viele Menschen in ihrer Freizeit gerne in diesen natürlichen, sandgeformten Gebieten bewegen, die prägend für unsere Heimat sind, aber im Alltagsleben in ihren Gärten ganz andere Werte festlegen? Dort füllen die Besitzer ihre Grundstücke tief mit fremder, dunkler Erde auf und dulden nur eine spärliche Auswahl an Pflanzen in ihren Beeten. Früher war der Ablauf ein anderer.

Man beobachtete, was um einen herum wachsen konnte, welchen Rahmen Natur schenkte. Man tauschte sich mit Nachbarn aus, nicht nur mit Worten, sondern bekam oftmals auch gleich einen Ableger oder Samen zugesteckt. Hinweise, wie eine Pflegeanleitung oder Wachstumsbedingungen, Erntezeit, Blütenfülle, samt Rezepten und Wissen über die Heilkraft gab es meist noch obendrauf. Bei Problemen holte man sich Rat und die entsprechenden Pflanzen bei der Baumschule oder Staudengärtnerei vor Ort. Auf jeden Fall in der Nähe, da das dort gezogene Grün den selben Klimabedingungen unterlag. Ganz nebenbei bekam man einen genauen Überblick über die Vielfalt der Pflanzengemeinschaften und deren Ausdrucksformen.

In der landläufigen Gartensprache werden Sandböden als „arme“ Böden, „magere“ Standorte bezeichnet. Sie sind von ihrer Struktur her durchlässig, trocknen schnell ab, erwärmen sich zügig. Ein Garten auf Sand hat seine eigenen Grüntöne, grundsätzlich dunkler, ins Blaugraue übergehend, manchmal silbrig überzogen. Nur kurzzeitig, vielleicht beim Neuaustrieb im Frühjahr oder nach längerem Regen, prägt sich auch der mittlere Grünbereich an einigen Gewächsen aus. So betrachtet wirkt ein sandiger Garten immer gereifter, dauerhafter, niemals mastig. In Wiesen behält man den menschlichen Überblick, auch als Kind. Man kann die einzelnen Strukturen hervorragend von oben, aus der Vogelperspektive betrachten.

Ein sandiger Grund erzieht seine Pflanzen. Das wuchernde Element ist beschränkt, „sozialer“ im Verhalten, die Artenvielfalt ist um ein Mehrfaches größer. Allerweltspflanzen ziehen sich zurück und Individualisten können aufleben. Selbstverständlich gibt es auch hier dominante Geister. Kronwicke und Quecke sind durchaus in ihrem Element, dem Giersch allerdings behagt es hier nicht sonderlich. Der Breitengang scheint allgemein verhaltener, als ob jeder den ihn umgebenden Nachbarn respektiert, auf eine lange Lebensgemeinschaft aus ist. Der Versuch, auf einem umgegrabenen Lehmboden eine blühende Wiese anzulegen, wird häufig scheitern, er muss scheitern. Nicht am Begrünen an sich, das äußerst zügig fortschreitet, sondern an der aufwachsenden Gleichförmigkeit der Mitbewohner. Es gelingt nur Wenigen einzuziehen und über längere Zeit harmonisch miteinander zu leben. Nach kürzester Zeit baut sich eine eintönige Gräsergesellschaft auf, die ziemlich üppig in die Höhe strebt und den damals mit ausgesäten Blumen und Kräutern jegliches Licht und jeglichen Platz zum Wachsen raubt. Vielleicht als Einzige schafft es die so oft gescholtene Brennessel, sich gebührend durchzusetzen. Heute möchte sie niemand mehr so richtig zulassen, diese alte Heil- und Nutzpflanze. Kaum vorstellbar, dass vor Jahrhunderten noch ihre groben Fasern geerntet und mit blanken Händen zu Nesselgewebe verarbeitet wurden. Aber die Rezepte für die Heilung der rissigen, juckenden Finger, wie Ringelblumensalbe, kannte man ebenfalls. Für die Haut zwar schonend, dafür aber für unsere Nasen intensiv erlebbar, bleibt eine angesetzte Brennesseljauche. Ein hervorragender Stickstoffdünger. Nicht umsonst legten alte Bäuerinnen früher Stücke des Krautes zuunterst in die Pflanzlöcher von Tomaten, Gurken oder anderen „Starkzehrern“. Man kannte immer einen Verwendungszweck.

Anders zeigt sich der Sandstandort. Er wächst zwar zögerlich zu nach dem „Anlegen“, aber bietet Raum für unterschiedliche Charaktere, entfaltet Heimat für Verschiedenheit und ist von seinem Wesen her nachhaltiger, so gesehen durchaus friedlicher. Auf Fettwiesen herrschen Gräser vor, Mengenwachstum. Magerwiesen haben reichlich Blühpflanzen und Kräuter zum Inhalt, die Bandbreite der Güte, das eigentliche Kennzeichen des Artenreichtums. Vielleicht ist diese Bodenart auch deshalb wertvoller, weil diese Pflanzen den wuchernden Ausbreitungsdrang, dieses Geltungsbedürfnis, nicht im Inneren tragen und toleranter, tugendhafter daherkommen.

Die Zeiten, in denen Regionen vom Ertrag ihrer Böden leben mussten, sind längst vorbei. Heute bewegen wir uns in zu großen Abhängigkeiten von erntesteigernden Hilfsmitteln oder Methoden mit umweltschädlichen Folgen. In dem Maß, in welchem erlebbare Natur verschwand, konnten Ende des letzten Jahrtausends sogar naturhafte Gärten etwas Aufwind erhalten. Einzelne zusammenhängende Flächen, als besonderer Lebensraum anerkannt, genießen inzwischen sogar Projektstatus. Von staatlicher Seite, über Landkreis- und Stadtgrenzen hinweg, entstand, von der öffentlichen Hand gefördert, die SANDACHSE FRANKEN als Biotopverbund der Sandlebensräume zwischen Weißenburg und Bamberg. Artenschutz beschränkt sich inzwischen nicht mehr auf einzelne Gattungen, sondern bezieht ganze Naturlandschaften mit ein. Unser persönlicher Firmengarten in Georgensgmünd war eine der ersten Anlagen innerhalb eines Gewerbegebietes, wurde von uns eigens für unser Ingenieurbüro geschaffen. Im Unterschied zu späteren Projekten hatten wir kostenlose Pionierarbeit geleistet, die dann nachgemacht und prämiert wurde. Aber in diesem Zusammenhang bleibt das Vervielfältigen ein Segen, da es mehr Natur zulässt. Ob dafür unbedingt Preise und finanzielle Zuwendungen nötig sind, erscheint mir fraglich. Überhaupt locken heutzutage nahezu sämtliche „Mitmachaktionen“ mit Prämien und Gewinnen. Es ist der durchsichtige Versuch, andere Menschen für das eigene Ziel, die eigene Aktion zu gewinnen, sich damit eigenes Lob oder Ruhm zu verschaffen, es ist meist zweckdienlich.