Über den Lotus hinweg - Martina Bohnet-Gerber - E-Book

Über den Lotus hinweg E-Book

Martina Bohnet-Gerber

0,0

Beschreibung

Zeitzeugenberichte und Beschreibungen, eine Rechtfertigung und ein Tagebucheintrag, Texte von den 1850er Jahren bis heute füllen diesen Band. Dazwischen schlängelt sich die Geschichte einer Frau mit den Leerstellen in ihrem Leben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 269

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ich bin meinem Mann Hannes erneut zu Dank verpflichtet. Ohne ihn wäre auch dieses letzte Buch der Lotustrilogie nicht entstanden. Wieder hat er unermüdlich diese Schriftstücke gelesen und mit seinem Rat belegt. Auch dieses Mal war er als Lektor für mich tätig. Neben ihm hat auch mein väterlicher Freund Ernst Neubauer mit seinem stets kritischen Ingenieurblick für ein Ausreifen der Druckwürdigkeit gesorgt. Auch diesen dritten Band, widme ich ihnen zusammen mit meiner Tochter Mirjam. In späteren Jahren werden vielleicht meine beiden Enkel auch in diesem Buch etwas Lesenswertes oder Wissenswertes für sich entdecken.

Martina Bohnet-Gerber wurde 1958 in Würzburg geboren, sie lebt heute in Roth in Mittelfranken. 1981 Abschluss Studium Dipl. Ing. Technische Chemie. Fernstudium der Literatur, jahrelange Leitung eines Lesekreises, Veröffentlichung mehrerer Bücher, Mitwirkung in etlichen Anthologien.

Inhalt

Die Risse im Lebensfaden eine Erzählung in IX Teilen

Der Seifenmacher Fritz Ribot

„Mein letzter Wille!“

Ehrenbürgerrecht

Patendank

Aus alter und neuer Zeit.

Der Bäckermeister Fritz Gerber

Schilderung meiner Gefangennahme

Die Brotfabrik Carl Gerber

Der nächste Bäcker Walter Gerber

Die Nachkriegsfolgepartei NPD

Höhepunkte der Hetze

Zeitzeugenbericht eines Jungen

Eine Rechtfertigung des Generals Georg Thomas

Zusätzliche kritische Notizen

Ein schwarzer Tag, der 26. April 1986

Ein Tag aus dem Leben einer Frau

Gezeichnete Orte, bezeichnende Menschen

Nachwort

Die Gauß’sche Normalverteilungskurve ist die einzige Naturfunktion, die die einzelnen Augenblicke des Lebens einfangen kann. Sie ist universell einsetzbar und setzt die Höhen und Tiefen, diese Ausdehnungen aller Dinge, in einen graphischen Zusammenhang. Jeder Punkt auf dieser Glockenkurve kann diesen kurzen Augenblick der Zeit darstellen, diesen Moment, den wir nutzen können, in dem wir gegenwärtig leben können. Ansonsten bleiben uns lediglich die Spanne der Vergangenheit, die abgeschlossen ist und die offenen Zeiten der Zukunft, die wir nur ahnen, aber in ihrer Ausformung noch nicht kennen können. Diese Zeit des Innehaltens und Daseins ist besonders kostbar.

Das Blau des Lotus erkaltet und der Duft versiegt, wenn die Menschen sich gegenseitig hassen. Wenn das Morden und Vertreiben durch die Täler zieht und die Ebenen verkahlen lässt, füllen sich die Köpfe mit Angst und die Gefühle erfrieren. Dann legt die Realität ihre Farben ab und kleidet sich erneut Braun ein. Wir hätten es schon eher wissen können. Die Zeichen waren deutlich genug. Wir fühlten uns so sicher, dass sich die Ereignisse der politischen Geschichte dieses Landes niemals wiederholen würden, weil wir glaubten, dass es keinerlei Nährboden mehr dafür gäbe. Wir übersahen, dass die Fremden, die zu uns kamen nicht unsere Erfahrungen gemacht hatten und deshalb auch nicht unsere Gewissheiten teilen konnten. Als wir endlich genau zu studieren begannen, bemerkten wir, dass sich vieles schon wieder braun eingefärbt hatte. Dann suchten wir krampfhaft nach den Rezepten, den Mitteln, die schon damals halfen. Doch diese mussten erst überarbeitet werden und diejenigen, die dies leisten konnten, waren verstorben. So gingen wir über den Lotus hinweg. Bis wir erkannten, dass diese Pflanze bei uns nicht derart wüchsig war, wie in ihrer ursprünglichen Heimat. Sie muss umsorgt und umhegt werden und sucht sich ihren Standort gezielt aus.

Sie wächst nicht überall, diese Demokratie. Sie benötigt Menschen, die sie leben und festigen. Menschen, die wissen, dass sie Teil dieser Natur sind und nicht über ihr stehen. Mit ihnen kann sich eine gleichberechtigte politische Tradition aufbauen und ausbauen. Nur wenn wir dies unseren Kindern erklären und vermitteln können, werden sie verstehen, weshalb wir nicht anders konnten.

Die Risse im Lebensfaden eine Erzählung in IX Teilen

Endlich gelang das Aufrichten und Sitzenbleiben selbstständig. Es kostete Kraft. Viel zu sehen gab es nicht. Die Dinge vor einem beengten das Blickfeld. Mittlerweile kam ihr die Umgebung immerhin bekannt vor. Direkt vor den Augen thronte der massive Holztisch, wie immer mit einer Tischdecke verhüllt. Über ihn hinweg ließ sich nur ein schräger Blick werfen, sitzend, von diesem tieferen Ort, dem zwar niedrigen, aber weichen Canapé aus. Dahinter hing der braune Vorhang, der fast ständig zugezogen war. Er teilte die schmale Kochnische von diesem Wohnraum ab. Optisch zumindest. Das Geschirrgeklappere, die Geräusche, die die Kochtöpfe beim Abwaschen in den Spülbecken machten oder den Geruch von gekochten Kartoffeln, nichts davon konnte dieser Stoff gänzlich abhalten. Das kräftige Material hatte eingewebte, hellere Rauten. Er wird nahezu zwanzig Jahre später wieder eine Küchenzeile abteilen, dann aber in der Großstadt Dienst tun. Es ist eben eine gute Qualität würden die Älteren dazu sagen, haltbar. Neben ihm auffällig war noch das glänzende, mit Silberbronze gestrichene Ofenrohr, das einen langen, geraden und einen weit kürzeren, gebogenen Weg einnahm, bis es zu dem Ofen aus blauschwarzem Emaile kam. Heute strahlte dieser Wärme aus. Das war nicht immer der Fall. Es wurde sparsam geheizt. Die Kohlen stets fest in Lagen des alten Zeitungspapiers von den Großeltern eingewickelt, damit die Glut nicht so schnell auseinanderfiel. Es waren dieses Mal nur Bruchstücke von Briketts hineingeschüttet worden, dadurch war die Lieferung deutlich günstiger gewesen, obwohl es mehr staubte. Auf der anderen Seite dieser Feuerstelle befand sich die bodentiefe Fenstertür, wie üblich verhängt mit dem luftigen, großmaschigen Vorhang, an dessen unterer Kante ein Bleiband Schwere weitergab. Dicht daneben thronte ein üppiges, Jungpflanzen ausbreitendes Grünliliengewächs. Ihre Augen gingen oftmals erwartungsvoll, eher neugierig, in diese Richtung. Bei geöffneter Tür ließ der Luftzug die Ranken tanzen und lustig wackeln. Die Pflanze belegte einen gelben Nierentisch, dessen Platten mit einer goldfarbenen Messingleiste gefasst waren. Die zweite verschobene Ebene des Blumenhockers in Orange gehörte einer Azalee, die beim Lüften stets sorgfältig abgedeckt wurde. Man sollte sie in der Blühphase nicht bewegen, damit ihre Knospen und Blüten nicht abfielen, und auf keinen Fall einer Zugluft aussetzen, denn das würden auch die ledrigen Blätter übelnehmen und abfallen. An dem langen Wandstück sah man vom Sofa aus noch den oberen Teil des Glasschrankes, einer Vitrine mit messingfarbenen Sprossen vor den Scheiben. Darin wurden die funkelnden, geschliffenen Trinkgläser aus Bleikristall und die schweren Aschenbecher aufbewahrt. Der wuchtigere in azurblauer Farbe und der andere, aus einfachem, hellem Pressglas. Letzterer wurde bevorzugt, da er leicht zu reinigen war. Die Rückstände der Zigaretten hoben sich farblich deutlich besser von ihm ab. Man hasste den strengen Geruch nach abgestandenem Rauch und die Spuren teerhaltiger Ablagerungen. Deshalb wurde durch das halboffene Fenster nach außen geraucht oder beim Rauchen eine der dicken Kerze angezündet. Angeblich verzehrte die Flamme den Zigarettenqualm, sollte die Schwaden zersetzen. Absolut reine Luft war damit nicht zu erzeugen, deshalb wurde auch dauernd gelüftet. Nur, wenn nicht gerade überall mit Holz oder Kohle geschürt, beziehungsweise alles Brennbare einfach in die Öfen und Herde geschmissen wurde, konnte dies auch gelingen. Ansonsten wurden die Dinge auf den Glasplatten im Schrank fast nie benutzt. Sie waren etwas Besonderes. Wurden nur dann hervorgeholt, wenn Gäste kamen, waren nicht für den Alltag gedacht. Man ging mit allem vorsichtig und schonend um, jetzt wo man sich endlich ein bisschen Wohlstand leisten konnte, wollte man die Dinge pflegen. Nur zu gut kannte man die ausgebombten Zeiten, in denen die Holzkarren das allerletzte Stückchen Heimat transportierten, die letzte Habe. Lediglich die Kranken und die Jüngsten, vielleicht auch die Allerältesten, durften darauf Platz nehmen. Ansonsten hieß es für Jeden entweder Gehen oder Ziehen.

Sie konnte inzwischen sogar sehr gut sitzen und beobachtete mit lässiger Neugier die Geschehnisse um sich herum. Sie hatte Hunger. Der Plastiklöffel voller Brei wanderte von der Fensterseite her zu ihr, das heißt, er sollte es. Aber das ältere Mädchen neben ihr schien sich einen Spaß daraus zu machen, ihn immer wieder wegzuziehen, wenn sie gerade den Mund aufsperrte. „Wie ein Vögelchen“, sagte die Mutter dabei immer. Die Natur hat diesen Automatismus nicht ohne Grund eingeführt. Er legt der Hilflosigkeit einen Akt des eigenen Tuns bei. Er war ein Zeichen des Überlebenswillens. Er könnte auch Instinkt genannt werden. Man fühlte sich gewachsener seit man ohne Hilfe in die sitzende Position gelangen konnte. Es schien, als schmecke alles anders, irgendwie leckerer. Zumindest waren die Aussichten besser, die räumliche Tiefe zu sehen tat gut. Die Großen waren nicht mehr ganz so niederdrückend, man begann einfach jemand zu werden. Doch jetzt half nur noch kräftiger, lautstarker Protest, denn abermals wurde der Löffel weggezogen und auch noch das Lied „Maikäfer flieg“ gesungen. Dieses alte Kinderlied. Eine entsetzliche Mischung des Textes aus einem Wiegenlied und dem Furchtbaren eines Krieges, furchteinflößend. Den Verfasser kennt keiner. „Der Vater ist im Krieg. Die Mutter ist in Pommerland und Pommerland ist abgebrannt. Maikäfer flieg“. Einzig die dazugehörige Melodie kommt angenehm daher, sie stammt von einem anderen bekannten Kinderlied, dem „Schlaf, Kindchen, schlaf“. Es dauerte nicht lange, der braune Stoff wurde zur Seite geschoben und die Mutter tauchte in dem Durchgang auf. Diese Erscheinung genügte, und das Essen gelangte jetzt wie durch Zauberhand zielstrebig in ihren kleinen Mund. Die Mutter war eine schlanke, gutaussehende Frau mit auftoupierten, schwarzen Haaren, die mit Haarspray in Form gehalten wurden. Sie war sorgfältig angezogen, liebte Kleider, Röcke und Kostüme. Hosen trug sie nur im Winter oder zu besonderen Tätigkeiten, wie dem wöchentlichen Hausputz oder dem arbeitsintensiven Waschtag. Eine Maschine für die Wäsche gab es noch nicht. Später wurde in dem Haus eine Schleuder gekauft. Um diese halbwegs auf der Stelle zu halten, musste man sich daraufsetzen, wenn sie rotierte, sonst wanderte dieses Gerät durch den gesamten, kalten Waschkeller, aber das Beschweren gelang ihr erst später, als sie schon einige Jahre älter war und ein gewisses Körpergewicht auf die Waage brachte.

Es gab nur noch wenige elektrische Geräte neben dieser rotierenden Wäscheschleuder im Keller und dem kleinen Kühlschrank neben dem Holzherd. Einen kräftigen doppelarmigen Handrührer, den man heute Mixer nennen und welcher ebenso wie der braune Stoff in der Zukunft noch weitere Wege antreten würde. Das Rührgerät würde später sogar noch in einem dritten Haushalt benutzt werden und dort bei der übernächsten Generation noch zuverlässig seine inzwischen etwas quietschende, aber altbewährte Arbeit verrichten. Dann gab es noch den Rasierapparat des Vaters mit seinem auf- und abschwellenden Gesumme und ebenso den Haarfön, der regelmäßig zu einem durch Rauschen gestörten Radioempfang führte und deshalb bei den übrigen Familienmitgliedern nicht sehr beliebt war. Die allergrößte und allerneueste Errungenschaft stellte allerdings der Handstaubsauger dar, inklusive verschiedener Bürsten und dem Shamponiergerät für die Orientteppiche, aber auch für die beiden stoffbezogenen, blassorangen und lindgrünen Sessel mit den hölzernen Armlehnen. Ansonsten war im ganzen Haushalt kräftige Handarbeit gefragt. Es standen auch heute sehr kurios wirkende Hilfsmittel, wie ein versilberter Tischbesen mit dazugehöriger Kehrschaufel oder ein Teppichfransenkamm, zur Verfügung. Das Handbohnergerät war von dem größeren Mädchen noch kaum zu bedienen, denn es setzte Muskelkraft voraus. Der schwere Quader mit der Bohnerauflage und der in einem Kugelgelenk gefassten Holzstange war für Leichtgewichtige nicht einfach hin und her zu schieben. Bloggen war anstrengend, aber das Ergebnis sollte eine gleichmäßig spiegelnde, streifenfreie Bodenoberfläche sein. Das sogenannte Stragula, diese feste Bitumenpappe, sollte glanzvoll sein und vor allem durch den Auftrag des Mittels länger haltbar werden. Damit auch niemand darauf ausrutschen konnte, hatte das Mädchen ein Warnschild mit der Aufschrift „Frisch gebohnert“ schreiben müssen. Das hing jetzt wackelnd am Geländer, direkt am unteren Pfosten, neben dem ersten Auftritt der Treppe. Auf die Idee, einen griffigeren und damit auch sichereren Fußbodenbelag herzustellen, der keinen Hochglanz auf sich trug, kam keiner der Erwachsenen. Die Frage des Kindes, weshalb man es nicht anders machte, wurde kurzerhand abgetan. Alle machten es so, so war es überall üblich. Jeder holte sich das gelbliche, halbfeste Wachs in der länglichen Plastiktube um die Ecke vom Drogisten, bei dem man nahezu alles bekam. Von Soda bis zum offenen Schwefel reichte das Angebot. Auch Seifen in unterschiedlichen Sorten führte er im riesigen Sortiment, hier im Haus wurden vorwiegend Kernseifenstücke und die einfachen, weißlichen Seifenflocken verwendet. Wenn der Großvater einen handgeschriebenen Zettel mit den benötigten Sachen mitgab, bekam das Mädchen auch die Dinge ausgehändigt, die nicht unbedingt in Kinderhände geraten sollten. Dann war alles eine reine Vertrauenssache, darauf war sie besonders stolz. Der Fachmann im weißen Kittel kannte sich nicht nur aus, sondern die Eltern und deren Eltern waren bekannt, ebenso ihre Vorlieben und die Notwendigkeiten. So gab er auch regelmäßig das selbst hergestellte Rasierwasser oder die Kopflotion und das Shampoo in Glasflaschen, die reichhaltige Handcreme oder die extra für das Wohnhaus zusammengemischte deckende Fensterfarbe, den wasserabweisenden Lack zusätzlich mit nach Hause. Stets aber die Menge, die ein Schulkind gerade noch tragen konnte, ohne eine übermäßig große Plage damit zu haben. Selbstverständlich befüllte er auch ohne ein Murren alle sauberen, mitgebrachten Gefäße und nahm seine ausgegebenen Tiegel oder Gläser wieder zurück, wenn sie unbeschädigt und grob vorgereinigt waren. Es schien sich jeder daran zu halten. Dieser Mann war nicht nur von seiner Statur her beeindruckend, sondern auch von seinem Wissen her und von der Güte und Freundlichkeit, die er unter seiner dicken Hornbrille hindurchschauend ausstrahlte. Doch blieb er eine Respektperson. Wenn man seinen Laden betrat und die Glocke über der Tür anschlug, tauchte man in eine andere Welt voller Regale und Schubläden ein. Voll mit Dingen, die Hausfrauen und Handwerker zum Arbeiten und Leben benötigten. Er versuchte sich auch in der Herstellung eines genialen Tintenlöschmittels, genaugenommen eines Entfärbemittels für Schultinte, was bei den Schülern die allerhöchste Wichtigkeitsstufe einnahm und von dem die vielen zugehörigen Erwachsenen normalerweise nichts wussten. Auffällig war nur, dass die Hefte und das Geschriebene darin jetzt plötzlich von den Schülern beinahe durchgängig sehr ordentlich geführt waren. Nur für die Hände und Finger durfte diese Lösung nicht Anwendung finden, diese Anweisung gab er stets sehr streng und deutlich und sie wurde auch strikt befolgt, denn keiner wollte einen hartnäckigen Ausschlag an den Händen bekommen, wie er es stets prophezeite. So lautete zumindest seine gestrenge Aussage. Ob diese Flüssigkeit wahrhaftig so ätzend war, wusste niemand. Es könnte sich auch nur um eine Erziehungsmaßnahme gehandelt haben. In die gleiche Richtung gehört auch eine Episode, die in Schwabach unter den dortigen Schulkindern die Runde machte. An ihrem täglichen Schulweg kamen Generationen von Kindern und Jugendlichen an dem kurzen Gartenstück des Konsuls Hüttlinger im Zentrum, in der Rathausgasse vorbei. Dort kultivierte dieser mit Inbrunst seine Weintrauben an der Gebäudewand. Er lehrte auch gerne die Kunst des richtigen Rebenschnitts. Doch wenn die Reifezeit der Trauben nahte, versah er seine Stöcke mit einem Schild und der warnenden Aufschrift: „Giftig! Vorsicht mit E605 gespritzt“. Nachdem man sich nie vollkommen sicher war, ob er dadurch lediglich jugendliche Räuber abhalten wollte, beließ man vorsorglich die prallen Beeren an ihren natürlichen Stellen. Man wollte lieber nichts riskieren. Natürlich überlegte man, dass er doch seine eigenen Weintrauben nicht mit Gift spritzen würde, dann könnte er sie doch selbst nicht essen. Doch ein Hauch von Zweifel lag über dem Reiz dieses Anblicks, der mächtig wirkte.

Eigentlich müsste jetzt irgendetwas Gehaltvolles, vielleicht auch Dramatisches, etwas Wesentliches in dieser Erzählung geschehen. Etwas, das die Stimmung ändern, wie eine neue Tapete den Raum anders auskleiden kann, genauso, wie man im Größerwerden sich andere Häute aus Kleidern schneidert und damit neue Wellenlängen einfangen kann. Doch es lief ein ganz einfaches Leben der Jahre ab. Sie lernte das Lesen, dessen Inhalte sie aufgeregt verschlang, tief in sich hineinsaugte, das Schreiben und auch das Setzen von Buchstabenreihen. Ihre Phantasie wanderte zwischen die Buchdeckel, dorthin, wo sie das Wissen vermutete. Damit konnte sie auch die Enttäuschung am ersten Schultag überwinden. Sie wusste damals nicht, dass in diesen sehr farbenfrohen Zaubertüten ein Inhalt schlummern sollte. War nur verwundert, als der Herr mit dem grauen langen Trenchcoat-Mantel und dem dunklen Hut mit Hutband ihr freundlich die Hand gab, ihr gratulierte und sie fragte, ob ihre bunte Schultüte denn sehr schwer sei. „Natürlich nicht“, erwiderte sie überrascht. Der Mutter war diese Frage unangenehm. Er aber fingerte einen Geldschein aus seinem Lederportemonnaie und reichte ihn der Mutter hin, mit dem begleitenden Satz: „Sie solle doch davon dem Schulkind etwas kaufen. Das Nötige“. Der wahre Zusammenhang ging ihr erst später im neuen Klassenzimmer auf. Aufgereiht in einer großen Runde um den Mittelpunkt des Raumes herum standen die Tische ganz dicht aneinandergestellt und die langen Schultüten lagen vor ihren stolzen Besitzern. Diese Art von Ritual zum ersten Schultag wurde dann erst wenige Jahre nach dem Krieg wieder populär. Inzwischen hatte ein gewisser Wohlstand fast alle Kinder erreicht und deren Eltern wollten, dass sich ihre Schulanfänger über dieses Geschenk freuten, dies erfuhren dort alle Kinder. Und dann fragte die Klassenlehrerin das Mädchen neben ihr, was denn alles in ihrer Papptüte mit dem Krepp-Papierrand versteckt wäre. Das Kind öffnete das Band und holte etliche Süßigkeiten, darunter echte Schokolade und Kaugummis aus der Tiefe heraus. Jetzt erst wurde ihr der Sinn dieser Gabe bewusst und sofort keimte die Trauer auf, oder eher die Angst, selbst gefragt zu werden. Sie spürte, wie sie sich schämte und leicht rot anlief. Es war gut, dass sie es verbergen konnte: Sie war arm. In ihrer Schultüte war nicht einmal Zeitungspapier. Ihre war gänzlich leer und deshalb derart leicht.

Schon bald fiel ihr auf, dass die anderen bereits etwas Lesen und Schreiben konnten. Sie waren fast alle in einem Kindergarten gewesen. Dieses Wissen fehlte ihr. Vielleicht hing auch dies mit ihrer Armut zusammen. Sie wusste es nicht und wagte auch nicht danach zu fragen. Sie mühte sich ab, bis eines Morgens die Lehrerin sie zu sich ans Pult zitierte, ihre linke Hand nahm und diese mit einer dicken, weißen Mullbinde einwickelte. Die ganze Klasse lachte, denn sie glaubte an irgendwelche Spiele, die jetzt sicherlich folgen würden. Nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, erläuterte die Lehrerin allen Kindern, dass hier die einzige Linkshänderin wäre und damit aus dieser auch eine Schülerin werde, welche die gute Hand verwendet, deshalb werde die falsche Hand eingebunden. Solange, bis das Schreiben flüssig mit den normalen Fingern möglich wird. Sie musste jeden Morgen zu Unterrichtsbeginn vorne warten und jeden Tag begann diese für sie peinliche Prozedur. Sie war nicht krank, hatte sich nicht verletzt und doch musste sie diesen Verband tragen, der sie bei all ihren Tätigkeiten störte. Sie sehnte sich nach dem erlösenden Schulschluss. Endlich hatte sie dann wieder zwei Hände. Langsam begann darüber eine Wut in ihr zu erwachsen, sie benutzte diese dazu, sich das Schreiben mit zwei Händen beizubringen. Schon bald stellte sich damit eine gewisse Geschicklichkeit ein. Es gelang sogar, gleichzeitig eine Überschrift und den Beginn einer Geschichte zu Papier zu bringen. Doch es musste ihr Geheimnis bleiben, denn ihre Schwester war beauftragt worden, darauf zu achten und etwaige Rückschritte sofort weiter zu melden. Denn auch die Mutter war der Meinung, dass es eine ordentliche, gute Hand und eine schlechte gäbe. Sie wuchs in eine unerbittliche Welt der Rechtshänder hinein. In den folgenden Schuljahren bemerkte sie zwar wenige, doch immerhin einige Kinder, die ihre Stifte in der linken Hand führen durften. Es wäre also auch anders gegangen. Auf die Frage, weshalb man bei ihr derart rigoros vorgegangen war, bekam sie keinerlei Erklärung. Nur Schweigen füllte die Zeit. Ein Schweigen, das bedeuten sollte: Hier stehst du, ein Kind, und hier stehen wir, die Erwachsenen. Kinder haben sich einzufügen wie die einzelnen Seiten eines Buches, die ihnen zugewiesen werden und nirgendwo anders. Derartige Dinge duldeten keinen Aufschub und keinerlei Widerspruch. Doch sie wollte ihre eigenen Entscheidungen treffen können, sie wollte ebenfalls so leben können, wie sie von ihrer Art her erwachsen würde.

Sie begann, sich durch Bücher zu erziehen, in den Bereichen, in denen sie keine wertschätzenden Vorgaben bekam. Der Mutter fehlte die Zeit, manchmal auch die Energie, die christlichen Regeln zu erklären oder zu begründen. Es war eben, wie es war. Sie wägte unter den unterschiedlichen Aussagen der Dichter, Denker und Wissenschaftler innerlich für sich genau ab und ermittelte ständig, welchen Weg eine solche Regel gehen könnte, denn verschiedene Fragestellungen erzeugten immer verschiedene Antworten. Damit diese sich nicht widerstritten, mussten sie untereinander abgetastet, regelrecht zerlegt, danach die richtige Antwort und die dann gültigen Ergebnisse festgehalten werden. In Büchern findet man Welten, zwischen denen irgendwo die Realität liegt, fand sie. Aus diesen Stimmungen muss sich die Stimme der Gegenwart herausschälen können, einer Wirklichkeit, die glaubhaft wahr sein kann. Einer Zeit, in die man nicht nur hineinschnuppern kann, sondern die man riecht, weil man das Bekannte und das Richtige in Sätze gießen konnte, indem man die Sehnsüchte einfing und gut konservierte. Sie war ehrgeizig geworden, wollte immer mehr wissen. Die weitere Schullaufbahn war problemlos. Ohne große Störungen vergingen die Jahre.

Fortsetzung I Seite 32

Der Seifenmacher Fritz Ribot

Bei seinem Eintritt in die Firma Phillip Benjamin Ribot war die Welt der Seifenherstellung noch eine primär, im wahrsten Sinne des Wortes, „kochende“ Angelegenheit. Meist wurden die einfachen Seifen hergestellt, die mit aus den tierischen Abfällen gewonnen Fetten „verseift“ wurden. Der Geruch, der sowohl im Inneren als auch in der Umgebung einer solchen Produktionsstätte lag, war deshalb nicht unbedingt sehr angenehm. Der Import pflanzlicher Öle und Fette war teuer und so setzte man seine Hoffnungen in die Weiterentwicklung der Rezepte auf chemischer Grundlage. Die Tatsache, dass in der Verwandtschaft in Amerika ebenfalls eine derartige Fabrik bestand und vor allem sein Wandertrieb bewirkten, dass die Schwabacher Stätte bald weiter ausgebaut wurde und manch neues Verfahren und auch verfeinerte Herstellungsmethoden Einzug hielten. Großen Anteil an dem ansteigenden Erfolg hatten inzwischen die jetzt amerikanisch inspirierten Werbemaßnahmen. Emailleschilder, die den Kunden zur Verfügung gestellt oder an öffentlich markanten Orten aufgehängt wurden, waren bereits üblich. Neu hingegen waren kleine Sammelbilder, die besonders die Kinder ansprachen. Damit konnten die Käufer zu regelmäßigerem Einkauf angehalten werden. Rabattaktionen und Kataloge mit allen verfügbaren Sorten ergänzten das Programm. Die Lichtreklamen verbreiteten später auch nachts ihre grellen Aufschriften und neben Papieraufstellern für die Geschäfte gab es auch noch etliche Waschanleitungen und Hygienehinweise. Es ist ein von ihm handgeschriebenes Rezeptbuch erhalten, dass diese Vielfalt eindrücklich beschreibt. Die Herstellungsvorschriften wurden exakt verfasst und selbstverständlich völlig geheim gehalten. Die Konkurrenz, vor allem aus Übersee, begann mit dem zunehmenden Schiffsverkehr ebenfalls zu wachsen. Auch in Europa und Deutschland entstanden die ersten mächtigen Fabriken, eine Konzernstruktur baute sich allmählich auf. Also musste man sich abheben von den anderen. Dies gelang mit einigen besonderen Produkten. So entwickelte man eine Seife, die schwimmen konnte, um damit dem bisher leidigen Seifenuntergang in der heimischen Badewanne entkommen zu können. Man nannte sie zuerst „Schwanenseife“, um nach einem Urheberrechtsstreit zu Schwalbenseife überzugehen. Diese Stücke waren durch ihre vielen Lufteinschlüsse sehr leicht und damit stets sicht- und greifbar. Als weitere verkaufskräftige Entwicklung erwies sich die sogenannte „Rayseife“ in Rautenform. Eine gelbe Seife, die es in mehreren Größen gab, wobei schon die Farbe darauf hinwies, dass darin sehr viel Eigelb verwendet wurde. Diese Sorte sollte dadurch auch sehr gesund für die Haut sein. Die Rezepturen der späten 1930er Jahre unterschieden sich nicht nur in ihrer Zutatenliste, sondern auch die Mengen zeugten von einer deutlichen Vergrößerung der Stückzahlen und damit des Umsatzes.

Einen Einblick in die Vielfalt der „Seifenzeit“ vor dem Ersten Weltkrieg geben die in exakter, altdeutscher Schrift geschriebenen Rezepturen. Alle Mengenangaben oder Prozentzahlen und die Versuche und Berechnungen sollten weiterhin das Geheimnis dieser altehrwürdigen Firma bleiben:

Savonal: Abfälle, Wasser, Lauge, Palmkernölfett, Condenswasser, Wasser, Quark oder die Schwalbenseife: Leinkernsud, Sebol, Erdnussöl, Palmkernöl, Natronlauge, Harz, Salz.

Einige Spezialseifen sollen einen weiteren Einblick in die Bandbreite der Produkte geben: Salmiak-Schmierseife, Carnauba-Seife, neutrale Glyzerinseife, dann die später oft erwähnte Eschweger-Seife, die offensichtlich zu den einfacheren Seifen gehörte, Cocosseife, Bimsstein-Seife, die auch heute noch übliche Kernseife, eine grundsätzlich gute Reinigungsseife, und natürlich gab es auch eine Goldseife, deren Herstellung allerdings nicht durchgängig beibehalten wurde, da sich diese dünnen Flitterpartikel gerne über den Körper verteilten und auch in jeder Bekleidung festsetzten. Rasierseifen und das dazugehörige Parfum, Rosenseifenparfum oder Blumenseifen von Heu über Veilchen bis Moschus ergänzten die Palette der Körperpflegemittel.

Im Jahre 1884, am 1. August, übergab Phillip Benjamin Ribot nach 35 Arbeitsjahren die Seifen- und Lichterfabrik an seine schon länger mitarbeitenden Söhne Fritz und Carl. Interessant ist auch, dass unter anderem das Ribot’sche Wohngebäude in der Nürnberger Straße und auch der Bärensaal in der Stadtmitte, der an die später erwähnte Gerber’sche Brotfabrik seines Schwiegersohnes Carl Gerber angrenzte, vom selben Baumeister, dem Ziegeleibesitzer Johann Carl geplant und umgesetzt wurden. Es gibt zwei sehr interessante Dokumente von Fritz Ribot, die als Zeitgeschichte angesehen werden können. Es ist Absicht, zuerst seinen von ihm selbst verfassten Beerdigungswunsch, seinen „Letzten Willen“, und dann erst den ausführlichen Bericht über seine Wanderjahre aufzulisten.

Ob es nur die Zeitgleichheit dieser wuchtigen Ereignisse war? Es ergab sich jedenfalls eine zweifache Zäsur in allen zivilen Leben und in der Zukunft der gesamten Welt. Um den Tag, an dem der Schwabacher Seifenfabrikant Fritz Ribot starb und dann nach Nürnberg überführt wurde, begann der Erste Weltkrieg. Damals noch ohne die Flut gewalttätiger Bilder, die nicht ausgewählt, sondern die größtmögliche Grausamkeit des Feindes zeigen sollen und heute ins weltumspannende Netz der Informationen eingestellt werden. Das, was früher Militärs und Kriegsreporter zu Gesicht bekamen und anschließend noch die Sanitäter, schwirrt heute mit irgendwelchen Texten oder Behauptungen, eher vermutet als belegt, zeitgleich bis in die letzten Winkel dieses Planeten. Nicht immer stimmen die Fakten. Damals konnten nur Eil- und Kurzfassungen, bedrohliche Schlagworte vom Kriegsbeginn aus Telegrammen und Depeschen entnommen werden. Weitere Entwicklungen teilten die ausführlichen Presseartikel und die Weltempfänger erst später mit. Immer im gedehnten Versatz, davor lag eine bleischwere Phase der Ungewissheit, der ängstlich machenden Unsicherheit. Die Jugend und die Soldaten waren begeistert und jubelten. Jeder wollte in den Krieg gegen die „Mittelmächte“ ziehen. Man glaubte, es wäre ein schnell zu erringender Sieg möglich wie im alten begrenzten Krieg mit Frankreich von 1870/71.

Dieses Mal aber werden die Friedhöfe nicht mehr ausreichen, werden die Völker dieser Welt sich heftigst gegenseitig bekriegen, ohne Rücksichten erstmalig Giftgas einsetzen. Der Feind wird lautlos und gründlich sein, die Gräber werden die Flure bedecken und keine Kirche wird in der Nähe sein, welche die Gebeine geordnet ablegen kann. Für Fritz Ribot stand am 27. und 28. Juli 1914 alles noch zur Verfügung. Er wurde in seiner Kutsche von der Nürnberger Straße in Schwabach ins ferne Nürnberg zur Einäscherung getragen. Die Schwabacher Bevölkerung wurde durch einen Aufruf des Rates der Stadt darum gebeten, als Allgemeinheit ihre Ehrung zum Ausdruck zu bringen, indem sie den Leichenzug der Familie bis zur Grenze der Stadt Schwabach begleiten sollte. Ihm zu Ehren wehten die Fahnen vor dem Rathaus auf Halbmast. In einem ausgewogenen, langen Artikel würdigte die örtliche Zeitung, das Schwabacher Tagblatt, den nun Verstorbenen. Sie druckte gleichzeitig neben den Traueranzeigen auch das ungewöhnlich freudige Vermächtnis, das Testament von Fritz Ribot vollständig ab.

(Die nachfolgenden Texte werden wie die Originale abgedruckt. Die darin enthaltenen Lücken ebenso wiedergegeben.)

„Mein letzter Wille!“

1. Neben der gesetzlich vorgeschriebenen handschriftlichen Bestimmung über die Feuerbestattung meines Leichnams Bestimme ich noch, dass die Überreste, die sog. „Asche“, auf unserem Haferfeld ausgestreut werde, damit sie meinen vierfüßigen Lieblingen noch dienlich ist!

2. Sollte das aus irgendwelchen zopfigen Vorschriften und Bestimmungen unmöglich sein, so bitte ich, die „Asche“ in einem hölzernen Behälter im Grabe meiner Eltern beizusetzen, damit sie der Verwesung anheimfällt; denn ich möchte nicht, dass mit einer Metall-Urne ein Kultus getrieben wird, der doch bei den kommenden Generationen endigt, und die Urne ist dann für Urenkel nur noch ein lästiger Ballast. Nach dieser Begründung darf ich wohl erwarten, dass meine lieben Zurückbleibenden auch diesem Willen Rechnung tragen!

3. Irgendeine feierliche Zeremonie soll mit der Beisetzung, wenn diese unbedingt notwendig ist, nicht verbunden sein!

4. Wenn es zur Beruhigung meiner Angehörigen dient, so habe ich gegen die Begleitung der Pfarrer oder die sog. „Aussegnung“ nichts einzuwenden; ich selbst verzichte darauf, denn ich bin mit meinem Gott stets ohne Vermittler fertig geworden!

5. Eine sog. Trauermusik vom Turm möchte ich unter keinen Umständen; dagegen habe ich gegen eine Begleitung meines Leichnams nichts einzuwenden; nur sollen keine Choräle oder Trauermusik gespielt werden, sondern schneidige Märsche, wie ich sie in meinem Leben geliebt habe!

6. Jammern und Wehklagen um mein Abscheiden aus dieser schönen Welt bitte ich dringend zu unterlassen, es liegt kein Grund dazu vor. Ich habe ein schönes und beneidenswertes Leben gelebt an der Seite meiner geliebten Sophie, die duldsam alle meine Schwächen und mich mit unendlicher Liebe umgeben hat; dann im Kreise meiner Familie, wo meine Kinder alles aufgeboten haben, um mir Beweise ihrer Liebe zu geben, und nicht zuletzt an der Seite meines lieben Bruders Konrad, der ehrlich und redlich Freud und Leid mit mir geteilt, mit dem ich gearbeitet und gesorgt habe, mit dem ich aber auch herrliche Stunden des Genusses verlebte; ich erinnere nur an die köstlichen Morgenstunden, die wir in Gottes schöner Natur, im Wald und auf der Heide, zusammen genossen haben; schließlich muss ich noch der Schar meiner Freunde, die ich allenthalben, wo ich war, hinterlassen habe, gedenken. Ja, es war ein gottbegnadetes Leben, deshalb ist keine Veranlassung zum Wehklagen gegeben! Gönnt es mir, dass ich ausruhe, statt ein kümmerliches, elendes Dasein zu fristen, mir und meiner Umgebung zur Last! Leben heißt bei mir arbeiten, schaffen, sorgen und genießen! Ohne das ist das Dasein kein Leben für mich! Ich wäre totunglücklich, mehr tot als ich jetzt bin, das leset, und unglücklicher als Ihr es Euch jetzt vorstellen könnt!

7. Traget keine Trauerkleider um mich; es ist ein heller Unsinn! Ich habe nie die schwarzen Farben leiden mögen, sondern immer das Helle, Sonnige im Leben geliebt; meint Ihr es muss der öffentlichen Meinung Rechnung getragen werden, so genügt dazu doch ein Flor um den Arm! Unter keinen Umständen zieht den Kindern, diesen sonnigen Geschöpfen, dunkle Trauerkleider an!

8. Meine beiden Russinnen „Orla“ und „Sascha“ sollen mich hinausziehen; nicht schwarz behangen mit Decken, sondern in dem schönen Kleide, dass ihnen die Natur verliehen hat!

9. Veröffentlicht meinen Abschied an meine Freunde und Bekannte; es mag ein wenig fremd kurios sein, aber ich halte es für eine Anstandspflicht, sich zu verabschieden!

10. Gebt meiner Loge eine Abschrift dieser Bestimmungen durch Fritz Weidner! – Und nun habt heißen Dank für all die Lieb‘ und Treue; auch für die Ausführung vorstehender Bestimmungen! Verzeiht meine Schwächen und Fehler! Noch 1000 Grüße und Küsse!

Euer dankbarer getreuer

Fritz.

Mit diesen seinen Wünschen würde er heute den Nerv der Zeit treffen. In den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts stellte diese Art des bewussten Abschieds etwas außergewöhnlich Charaktervolles dar. Es war ihm nicht vergönnt, dass seine Asche verstreut wurde. Eine seiner beiden Töchter, Tilly Ribot, heiratete Carl Gerber. Damit ist der familiäre Zusammenhang zu den jetzigen Nachkommen gegeben. Die heutigen Urenkel von Fritz Ribot aus der Gerber’schen Linie Hannes, Rudolf, Renate und Dorothee würden jedenfalls seine Metallurne in Ehren halten. Deshalb auch werden seine Worte in diesen Texten nochmals eingewoben, um sie, wie auch andere Beiträge dieses Buches, nicht dem Vergessen überlassen zu müssen. Sie sind es wert, dass man sie liest und sich seine Gedanken darüber macht. Auf dem Alten Friedhof in Schwabach neben der kleinen Dreieinigkeitskirche steht noch ein aufrechter Block aus Sandstein mit dem Namen von Fritz Ribot in der mittlerweile ganz aufgelassenen Fläche der ehemaligen Gräber. Es handelt sich um einen ungewöhnlichen Stein, einen der doppelt graviert ist. Auf der einen Seite erinnert er an Fritz Ribot, auf der anderen Seite weist er auf die „Ruhestätte der Familie Feuerstein“ hin. Nachdem aber die Überlieferungen davon berichten, dass der Kommerzienrat Ribot doch im Grab seiner Eltern beigesetzt wurde, scheint es sich um einen später her- und dann dort aufgestellten Erinnerungsstein mit einem halbrunden Kapitell, einen Gedenkstein zu handeln. Diese grasnarbige Fläche, aus der in unregelmäßigen Abständen Frühlingsblumenzwiebeln erwachsen, ist einer jener Orte, die zu Demut aufrufen und in die man seine Füße bewusst und ehrfürchtig setzt, denn unter einem wachsen die Gräser aus der Asche der Ahnen, daraus ziehen die Halme ihre Nahrung und diese, unsere Vorgänger bereiteten für uns den Boden vor.

Die Stadtverantwortlichen von Schwabach übergaben in einem feierlichen Festakt eine Urkunde an Fritz Ribot mit folgendem Inhalt:

Der Stadtmagistrat und das Collegium der Stadtbevollmächtigten der k.b. Stadt Schwabach haben unter dem 29. XI und 2. XII 1907 einstimmig beschlossen, ihrem hochgeschätzten Mitbürger, dem k. Commercienrat

Herrn Fritz Ribot in Schwabach

in Anerkennung seines vorbildlichen Wirkens auf allen Gebieten gemeindlichen Lebens während seiner Tätigkeit als 1. Vorsitzender des Gemeindecollegiums Schwabach in den Jahren 1896 mit 1907 gemäß Art. 24 der Bay. Gemeindeordnung v. 29. April 1896 das

Ehrenbürgerrecht

zu verleihen.

Mit Urkund dieses Briefes besiegelt und gegeben zu Schwabach im Dez. 1907.

Beurkundet vom Stadtmagistrat und dem Vors. des Collegiums d. Gemeindebevollmächtigten.