Den pädagogischen Alltag reflektieren - Birgit Thurmann - E-Book

Den pädagogischen Alltag reflektieren E-Book

Birgit Thurmann

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Beschreibung

Fundierte Reflexionen unterstützen nicht nur die methodische und fachliche Professionalisierung, sondern sie stellen einen unschätzbaren Wert für die pädagogischen Fachkräfte dar. Das Buch zeigt auf, warum professionelles Handeln in der Kita nicht ohne fundierte Reflexionen auskommt und warum trotz hoher Belastung regelmäßiges Reflektieren eine immens entlastende Wirkung entfaltet. Zahlreiche Anregungen und ausgewählte Fallbeispiele veranschaulichen die theoretischen Ausführungen.

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Seitenzahl: 134

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Birgit Thurmann

Den pädagogischen Alltag reflektieren

Birgit Thurmann

Den pädagogischen Alltag reflektieren

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Gestaltung: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe

Umschlagmotiv: © Xenia Artwork/shutterstock

Fotos im Innenteil S. 9: © 3D_generator – GettyImages; 27: © chronisyan – AdobeStock; 39: © MNStudio – AdobeStock; 55: © Soloviova Liudmyla – AdobeStock; 69: © psphotography – AdobeStock; 77: © ReeldealHD images – AdobeStock; 83: © Seventyfour – AdobeStock; 89: © wacomka – AdobeStock; 95: © BullRun – AdobeStock; 105: © Andrey Popov – AdobeStock

E-Book-Konvertierung: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe

ISBN Print 978-3-451-39275-7

ISBN EBook (EPUB) 978-3-451-82825-6

ISBN EBook (PDF) 978-3-451-82826-3

Danksagung

Insbesondere gilt mein Dank den Teilnehmenden unserer Weiterbildungen für ihre inspirierenden Fragen und die vielen Reflexionen, die ich in den vergangenen Jahren lesen und hören durfte. Den Entstehungsprozess dieses Textes hat Dr. Eva Burchardt von Beginn an mit Fachkenntnis und viel Geduld unterstützt. Unsere ausführlichen Diskussionsrunden waren mir eine ganz besondere Freude, auch ihr ein herzlicher Dank! Dann möchte ich meiner Kollegin Inga Hansen danken, mit der ich im Laufe der letzten Jahre zahlreiche der hier abgedruckten Reflexionsanregungen entwickelt und erprobt habe. Ebenfalls gilt mein Dank Dr. Martin Stahlmann, Dr. Gabriela Husmann sowie Hajo Löffler, die dem Manuskript durch ihre wertvollen Impulse den letzten Schliff gegeben haben.

Inhalt

Einleitung

1 Grundlagen der Reflexion – was, warum, wie und wozu?

1.1 Was bedeutet professionelle Reflexion genau?

1.2 Warum ist Reflexion eine pädagogische Kernkompetenz?

1.3 Wie kann Reflexion Intuition und Erfahrungswissen absichern?

1.4 »Leiter der Schlussfolgerungen«

1.5 Wozu nützt regelmäßige Reflexion – lohnt der Aufwand?

2 Reflexions perspektiven

2.1 Wodurch zeichnet sich eine „reflexionswürdige“ Situation aus?

2.2 Reflexionsthemen generieren mit dem „Vier-Faktoren-Modell“ der Themenzentrierten Interaktion (TZI)

2.3 Anlassbezogene versus kontinuierliche Reflexion

2.4 Reflexion mit wechselnden Spiegeln

3 Lob der Frage

3.1 Frage oder Tipp – was wirkt wie?

3.2 Die Besonderheit der „Warum-Frage“

3.3 Systemisch und lösungsorientiert gefragt

4 Systematisch reflektieren mit Reflexionszirkeln

4.1 What? – So What? – Now What?

4.2 Reflexionszirkel nach Graham Gibbs

4.3 Model for Structured Reflection – MSR-Modell nach Christopher Johns

4.4 „Kollegiale Beratung“ als strukturiertes Reflexionsverfahren

5 Denken mit der Hand – schreibendes Reflektieren

5.1 Vom Sinn und Nutzen des reflektierenden Schreibens

5.2 Das Reflexionsjournal

5.3 Einsteigertools

5.4 Sechs-Minuten-Schreiben

6 Reflexionstools für den Alltag – eine kleine Auswahl

6.1 Arbeitskleidung

6.2 Das war gut!

6.3 Sätze vervollständigen

6.4 Das Reflexionsmännchen

6.5 Zeitreise: Wer will ich gewesen sein? (nach Harald Welzer)

7 Reflektieren: Werte bewusst wahrnehmen

7.1 Welche Werte sind mir wichtig?

7.2 Werte im Team entwickeln

8 Reflektieren: Vom Nutzen theoretischer Grundlagen

8.1 Eine Situation – viele Reflexionsperspektiven

8.2 Verschiedene „Theorie-Brillen“ und ihre Verwendung

9 Kompetent reflektieren

9.1 Modell der Reflexionsintensität

9.2 Qualitätskriterien für eine „gute“ Reflexion

9.3 Reflexion – je konkreter, umso ertragreicher

9.4 Reflexionen bewerten

Reflexion zum Abschluss: Ressourcen-Mindmap

Literaturverzeichnis

Über die Autorin

Einleitung

Man kann auf drei Wegen Weisheit erlangen:durch Reflexion, das ist der nobelste,durch Nachahmung, das ist der leichteste,durch Erfahrung, das ist der bitterste.

Konfuzius

„Wir reflektieren eigentlich ständig im Team; aber woran können wir erkennen, dass eine Reflexion tatsächlich gut ist?“ Diese Frage stellte mir kürzlich eine angehende Heilpädagogin. Tatsächlich beobachte ich in meiner Tätigkeit als Lehrerin an einer Fachschule für Sozial- und Heilpädagogik, dass die Studierenden sehr viel über ihre pädagogischen Erfahrungen nachdenken und sich untereinander intensiv austauschen. Wenn es aber darum geht, der Reflexion mehr Tiefe, vielleicht auch eine (selbst-)kritische Note zu verleihen oder theoretische Aspekte sowie biografische Erfahrungen in die Überlegungen einbezogen werden sollen, dann macht sich manchmal eine gewisse Ratlosigkeit breit. Der Auslöser für die Ratlosigkeit scheint nicht eine mangelnde Bereitschaft zu sein, sich mit den Themen zu beschäftigen, es wird auch nicht die Bedeutung der Reflexion infrage gestellt, aber es ist unklar, wie man vorgehen soll. Die Schwierigkeit besteht nach meiner Beobachtung darin, dass methodisches Handwerkszeug fehlt und es keine Qualitätskriterien gibt, an denen sich die Güte einer Reflexion ablesen ließe.

Auf den folgenden Seiten wird nun anhand theoretischer Grundlagen und praktischer Übungen konkret und kleinschrittig aufgezeigt, wie man (systematisch) vorgehen kann, um zu einer ertragreichen Reflexion zu kommen, und welche Aspekte insbesondere bei der Interpretation und Analyse von Erfahrungen berücksichtigt werden sollten.

Es besteht kein Zweifel, dass Reflektieren zu den pädagogischen Kernkompetenzen gehört und als Querschnittskompetenz über alle Kompetenzbereiche hinweg bedeutsam ist. Ich möchte zusätzlich betonen, dass fundierte Reflexionen nicht nur die methodische und fachliche Professionalisierung unterstützen, sondern ebenfalls einen unschätzbaren Wert zur Entlastung der pädagogischen Fachkräfte darstellen. Ein tieferes Verständnis für Ursachen und Zusammenhänge lässt vieles handhabbarer erscheinen, und die Widerstandsfähigkeit, mit herausfordernden Situationen erfolgreich umzugehen, wächst.

Der Reflexion muss also nicht nur während der Ausbildung ein hoher Stellenwert eingeräumt werden, sondern sie sollte idealerweise auch den beruflichen Alltag erfahrener Pädagog*innen begleiten. Warum professionelles Handeln nicht ohne fundierte Reflexionen auskommt und warum trotz hoher Belastung regelmäßiges Reflektieren die bereits erwähnte entlastende Wirkung für die pädagogischen Fachkräfte entfalten kann, dazu finden sich auf den folgenden Seiten verschiedenste Hinweise. Zusätzlich wird durch zahlreiche Reflexionsanregungen aufgezeigt, dass man sich einer fundierten Reflexion auf vielerlei Wegen nähern kann. Ausgewählte Fallbeispiele veranschaulichen zusätzlich die theoretischen Ausführungen.

Das Kernanliegen dieses Buches ist es, Pädagog*innen einzuladen, eine Reflexionsfreude zu entwickeln. Es soll aufgezeigt werden, dass der zeitliche Aufwand, der für tiefgründiges Reflektieren notwendig ist, durch seinen Nutzen mehrfach aufgewogen wird. Darüber hinaus möchte ich Träger von Kindertagesstätten und sozialen Einrichtungen einladen, ihren Mitarbeiter*innen die für das Reflektieren notwendige Arbeitszeit zur Verfügung zu stellen.

Ich wünsche allen Leser*innen viel Freude und ertragreiche Erkenntnisse bei den unterschiedlichen Entdeckungsreisen, zu denen dieses Buch einlädt!

1

Grundlagen der Reflexion – was, warum, wie und wozu?

In diesem Kapitel erfahren Sie

was unter einer professionellen Reflexion zu verstehen istwarum pädagogische Kompetenz untrennbar mit professioneller Reflexion verbunden istwie differenzierte Reflexionsprozesse intuitives Handeln und Erfahrungswissen absichern könnenwozu regelmäßiges Reflektieren nützen kann

Der Begriff der Reflexion wird in verschiedensten Kontexten mit großer Selbstverständlichkeit genutzt, und jede*r scheint zu verstehen, was damit gemeint ist. „Sobald man jedoch anfängt, Reflexion und die Bedeutung des Begriffs näher zu betrachten, kommen Verwirrung und Unklarheit auf“ (Korthage u.a. 2002, S. 55).

1.1 Was bedeutet professionelle Reflexion genau?

Tür-und-Angel-Gespräche mit Kolleg*innen, das Nachdenken über die Geschehnisse des Tages während des Heimweges oder der Bericht über ein Vorkommnis mit einem Kind werden mitunter als Reflexion bezeichnet. Welche Tiefe derartige Nachdenkprozesse allerdings erreichen, hängt wesentlich davon ab, wie der Prozess gestaltet wird. Eine einfache Unterhaltung wird dabei vermutlich weniger neue Erkenntnisse zutage fördern als eine systematisch angelegte Reflexion, die sich einer bewusst gewählten Methode sowie gezielter Reflexionsfragen bedient.

Unter einer professionellen Reflexion wird ein (Nach-)Denkprozess verstanden, in dem pädagogische Situationen und persönliche Erfahrungen systematisch und unter Berücksichtigung verschiedener Gesichtspunkte analysiert werden. Dies dient dazu, neue Erkenntnisse zu generieren oder bereits bestehende Vorstellungen kritisch zu überprüfen.

Ohne den Wert des kollegialen Austauschs infrage zu stellen, zeigt die Definition, dass professionelle Reflexionen weit über ein einfaches Nachdenken oder einen entsprechenden kollegialen Austausch hinausgehen. Ein professioneller Reflexionsprozess kann als systematisch geplante „Forschungsreise“ verstanden werden, die darauf angelegt ist, ein immer tieferes und umfassenderes Verständnis für die vielen Fragen und Aspekte der pädagogischen Praxis zu entwickeln. Dazu ist es notwendig, den Fokus, auf den sich die Reflexion konkret beziehen soll, festzulegen, gezielte Reflexionsfragen zu generieren und den Nachdenkprozess bewusst zu gestalten.

Die Themen und Blickwinkel, die im Rahmen von Reflexionsprozessen bedeutsam werden können, sind vielfältig und immer abhängig von individuellen Wahrnehmungen und Einschätzungen. Genau diesen individuellen Einschätzungen, Themen und Blickwinkeln auf die Spur zu kommen, sie mit theoretischen Grundlagen oder bereits angelegtem Erfahrungswissen abzugleichen und daraus konkrete, möglicherweise neuartige Handlungsoptionen abzuleiten, ist das Ziel einer umfassenden und professionellen Reflexion. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Reflexionen einen wichtigen Beitrag dazu leisten, aus Erfahrungen zu lernen. Sie sind als dynamischer und aktiver Prozess zu verstehen, in welchem der Alltag unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet und durchdacht werden kann. Insofern leisten Reflexionen einen wichtigen Beitrag zur Professionalisierung der pädagogischen Fachkräfte.

Es liegt auf der Hand, dass diese „Forschungsreise“ niemals abgeschlossen werden kann und es angesichts der großen Verantwortung den Kindern und sich selbst gegenüber notwendig ist, dieser „Forschungsarbeit“ einen angemessenen (zeitlichen) Rahmen im beruflichen Alltag einzuräumen.

In den nachfolgenden Kapiteln finden sich zahlreiche Vorschläge, wie der Reflexionsprozess gestaltet werden kann, wie Themen und geeignete Reflexionsfragen generiert werden können und mit welch unterschiedlichen Methoden man sich dem „Forschungsprojekt“ der (Selbst-)Reflexion nähern kann.

1.2 Warum ist Reflexion eine pädagogische Kernkompetenz?

Der pädagogische Alltag mit seinen vielfältigen, unvorhersehbaren und oft widersprüchlichen Situationen sowie seinem hohen Handlungsdruck fordert von den pädagogischen Fachkräften umfassende Kompetenzen, die über theoretische und methodische Kenntnisse weit hinausgehen (zur Vielfalt des pädagogischen Handlungsverständnisses vgl. Stahlmann 2000, S. 84ff.).

In pädagogischen Handlungsfeldern geht es nicht um das lehrbuchartige, automatisierte Umsetzen von einmal erlernten Techniken; das Handeln muss sich in jedem Moment neu und oft mit hohem Tempo an der jeweils vorgefundenen Situation orientieren. „Der Anspruch an die pädagogische Professionalität ist mit der Erwartung verknüpft, dass eine Fachkraft sowohl ihre theoretischen, fachlichen Wissensbestände als auch ihr reflektiertes Erfahrungswissen so zu nutzen vermag, dass sie ihr Handeln auf die je spezifischen Bedingungen und Erfordernisse situativ abstimmen kann“ (Fröhlich-Gildhoff 2014, S. 21).

Zusätzlich muss die Fachkraft in der Lage sein, ihr Handeln vor dem Hintergrund eigener biografischer Erfahrungen zu reflektieren. „Die Beobachtung, Analyse und Reflexion selbst erlebter und gestalteter Praxis konfrontiert professionelle Akteure immer wieder mit der je eigenen, standortverbundenen Perspektive, mit ihren biografischen Prägungen, mit Stärken und Schwächen des eigenen Kompetenzprofils“ (ebd., S. 32).

Abb. 1: Kompetenzmodell (Fröhlich-Gildhoff u.a. 2014 in: Wadepohl 2015, S. 11)

Das Kompetenzmodell (Abb. 1) zeigt die umfassende Bedeutung der Reflexion: Das Fundament, auf dem alle Kompetenzen aufbauen, ist eine »(forschungs-)methodisch fundierte Praxis- und Selbstreflexion«. Kein Kompetenzbereich wird davon ausgenommen. Gleichzeitig können Reflexionen als zentrales Verbindungselement zwischen dem Kompetenzbereich der Disposition1 (Voraussetzung für pädagogisches Handeln) und dem der Performanz (Durchführung des pädagogischen Handelns) verstanden werden. Diese Verbindung wird noch zusätzlich unterstrichen, indem pädagogische Handlungen analysiert und evaluiert werden, was dem hier beschriebenen Reflexionsprozess entspricht. Auf diese Weise werden die jeweiligen Evaluations- bzw. Reflexionsergebnisse die Kompetenzen aus dem Bereich der Disposition stetig anreichern. In der Folge ergibt sich ein spiralförmig angelegter Prozess der Kompetenzerweiterung, in welchem das reflexive Wechselspiel zwischen tatsächlich vollzogener pädagogischer Handlung und dispositioneller Kompetenz zum zentralen Faktor wird.

Fröhlich-Gildhoff, K. u.a. (2011): Kompetenzorientierung in der Qualifizierung frühpädagogischer Fachkräfte. Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte.

WiFF Expertise, Band 19. München. Kostenfrei unter: www.weiterbildungsinitiative.de/ fileadmin/Redaktion/Publikationen/WiFF_Expertise_Nr_19_Froehlich_Gildhoff_ua_Internet__PDF.pdf.

Eine umfassende, wissenschaftlich fundierte und gut verständliche Zusammenfassung wesentlicher Kompetenzaspekte und -modelle für den frühpädagogischen Bereich.

1.3 Wie kann Reflexion Intuition und Erfahrungswissen absichern?

Der pädagogische Alltag zeichnet sich, wie bereits erwähnt, durch einen erheblichen Handlungsdruck und den Umgang mit vielfach deutbaren Situationen aus. Erzieher*innen sind oft „gleichzeitig in mehrere Interaktionsprozesse mit Kindern verwickelt, die sich ihrerseits mit verschiedenartigen Dingen beschäftigen“ (Leu 2014, S. 22). Lehrbücher bieten in der Regel keine probaten Lösungen für die verschiedenartigen Herausforderungen des Alltags. So kann man in keinem Lehrbuch nachlesen, wie man reagieren soll, wenn die zweijährige Ella in der erhobenen linken Hand einen großen Bauklotz hat, mit der anderen Hand nach der Brio-Lok, mit der Felix gerade spielt, greift und mit spitzer Stimme und grimmigem Gesichtsausdruck „Meins!“ ruft. Wann genau, ob überhaupt und wenn, mit welchen Mitteln, eingegriffen werden sollte, erkennt der/die erfahrene Praktiker*in oft unmittelbar. Viele pädagogische Situationen werden typischerweise dank einer gut ausgebildeten Intuition erfolgreich gemeistert.

Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass pädagogisches Handeln im Alltag zum Scheitern verurteilt wäre, würde nicht die Intuition dem/der berufserfahrenen Pädagog*in schnelles Handeln ermöglichen. Eine gut abgesicherte Intuition sorgt dafür, dass die zahlreichen Herausforderungen des Alltags mit einer gewissen Leichtigkeit gemeistert werden können. Die Erfahrung lehrt, Situationen zutreffend einzuschätzen und unmittelbar eine erfolgversprechende Handlungsstrategie auszuwählen.

Donald Schön bezeichnet dieses intuitive bzw. implizite Wissen als schweigendes Wissen, «tacit knowing» (1983, Pos. 791), weil es in vielen Fällen weder dem Bewusstsein unmittelbar zugänglich noch sprachlich genau zu fassen ist. Viele Praxisanleiter*innen kennen vermutlich die Situation, dass sie ihrem/ihrer Praktikant*in nur schwer erklären können, warum sie so sicher waren, dass eine pädagogische Intervention tatsächlich sinnvoll und richtig war, und es ist ebenso schwierig zu erklären, wie man überhaupt erlernen kann, Situationen schnell und zutreffend zu erfassen.

Intuition ist ein Wissen, das erst im Handeln sichtbar wird, es versetzt Praktiker*innen in die Lage, komplexe Situationen unmittelbar und erfolgreich zu bewältigen. Es wirkt für Beobachter*innen möglicherweise wie ein Handeln ohne Denken, und Erfolge scheinen sich dabei wie von Zauberhand einzustellen.

Der Intuition bzw. dem impliziten Wissen liegt offenbar ein Verständnis für Zusammenhänge zugrunde, das sich zunächst nicht auf explizit erworbene theoretische Grundlagen zu beziehen scheint. Die Einschätzung allerdings, dass Intuition ohne Denken auskommt, ist unzutreffend. Intuitives Handeln, das auf Berufserfahrung basiert, erfordert, dass zuvor in unzähligen Einzelsituationen entsprechende Hinweisreize abgespeichert wurden. Diese können bei Bedarf blitzschnell erinnert, kombiniert und dann handlungsleitend genutzt werden (vgl. Kahneman 2012, S. 23).

Intuitives Handeln basiert auf der blitzschnellen Erfassung relevanter Hinweisreize und den daraus abgeleiteten Handlungsstrategien.

Bei aller Bedeutsamkeit, die der Intuition zukommt, muss ihr doch mit einer gewissen Wachsamkeit begegnet werden. Die Herausforderungen des Alltags verleiten möglicherweise dazu, einer praktisch-pädagogischen Vorgehensweise und damit einer routinierten intuitiven Bewältigung den Vorzug zu geben. Dabei besteht die Gefahr, die gleichermaßen notwendigen theoretisch-pädagogischen Reflexionen zu vernachlässigen (vgl. Leu 2014, S. 22).

Gleichzeitig muss in Betracht gezogen werden, dass sich intuitiv genutzte Berufserfahrung unbemerkt mit Ansichten, Deutungsmustern oder Glaubenssätzen vermengt, deren Ursprung in (unreflektierten) biografischen Erfahrungen zu verorten ist. Unabhängig davon, ob es sich um Alltagserfahrungen oder spezifische Berufserfahrung handelt, muss davon ausgegangen werden, dass vorbewusste und damit zunächst verborgene Persönlichkeitsanteile durchaus machtvoll das Denken, Fühlen und damit auch das intuitive pädagogische Handeln beeinflussen, wie anhand der in Kapitel 1.4 dargestellten »Leiter der Schlussfolgerungen« nachgezeichnet wird.

Reflexionen sind im Hinblick auf intuitives Handeln gerade deshalb so bedeutsam, weil sie einen Professionalisierungsprozess einleiten, bei dem die Verbindung zwischen reiner Erfahrung und theoretisch abgesichertem Grundlagenwissen stetig anwächst.

Erst durch differenziertes Reflektieren verwandeln sich Erfahrungen in abgesicherte und dadurch professionell nutzbare Intuition.

Ob ein Erlebnis, eine pädagogische Situation allerdings Spuren im Erfahrungswissen der pädagogischen Fachkraft hinterlässt, hängt von der Intensität des Erlebnisses sowie der ihm jeweils zugeschriebenen Bedeutung ab. Es kann daher auch kein Curriculum für implizites Wissen geben, und seine Entwicklung lässt sich von außen kaum steuern. Derartige Lern- und Entwicklungsschritte müssen individuell und selbstständig vollzogen werden.

Aus diesem Grund lohnt es, sich der verschiedenen Ursprünge und Quellen der eigenen Intuition bewusst zu werden. Welche Erfahrung, welche Vorbilder, welche Informationen, welches Scheitern haben wichtige Spuren im intuitiven Wissen hinterlassen? Die folgende Reflexionsanregung ist geeignet, sich auf eine entsprechende Spurensuche zu begeben.

Timeline der Erfahrungsschätze

Der berufliche Alltag wird durchzogen von kleinen und größeren Lernanlässen, und wir sammeln im Laufe der Berufsbiografie einen entsprechenden Erfahrungsschatz an. Manch schwierige oder herausfordernde Situation trägt dazu bei, Lern- und Entwicklungseffekte auszulösen. Diese Erfahrungen reichern dann, insbesondere wenn sie erfolgreich bewältigt wurden, die Erfahrungsschätze an. Da der Ursprung der „Schätze“ oft in Vergessenheit gerät, lohnt es, eine Inventur der besonders gewinnbringenden Erfahrungen zu machen.

Sie intensivieren den Prozess der Inventur, wenn Sie die „Timeline der Erfahrungsschätze“ schriftlich anfertigen. Nehmen Sie ein (nicht zu kleines) Blatt im Querformat, ziehen Sie eine Linie quer über das Papier und versehen Sie diese mit entsprechenden Jahreszahlen als Orientierungspunkte – zum Beispiel das Jahr, in dem Sie Ihre Ausbildung begonnen/beendet haben, oder ein Jahr, in dem Sie die Stelle gewechselt haben. Anschließend notieren Sie in einer anderen Farbe Ihre Lern- und Entwicklungspunkte. In welcher Phase haben Sie gewichtige Erfahrungen gesammelt? Abschließend resümieren Sie, welche Erfahrungen Ihnen noch heute bei der Bewältigung des beruflichen Alltags nützen. Die folgenden Hinweise können Ihnen bei der Zusammenstellung Ihrer «Timeline» helfen:

Gehen Sie in Gedanken Ihre Berufsjahre nacheinander durch. Beginnen Sie Ihre Erinnerungsreise in der Ausbildung, eventuell sogar davor.Erinnern Sie sich an herausfordernde oder besonders berührende Momente.Welche Kompetenz wurde in der jeweiligen Situation von Ihnen gefordert und welche Entwicklungen oder Einstellungsänderungen hat die jeweilige Erfahrung bei Ihnen angeregt? Manchmal sind es gerade die schwierigen, unangenehmen, vielleicht sogar beschämenden Situationen, die besondere Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten bereithalten.Wie haben Sie sich damals verhalten? Welche Kompetenzen lassen bzw. ließen sich daraus ableiten?In welchen nachfolgenden beruflichen Situationen konnten Sie von den damals erworbenen Kompetenzen erneut profitieren?

1.4 »Leiter der Schlussfolgerungen«