Den Teufel an die Wand - Claudia Keller - E-Book

Den Teufel an die Wand E-Book

Claudia Keller

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Beschreibung

Teresa Specht, eine Büroangestellte von Anfang fünfzig, sucht einen Mann. Und zwar mit allen Mitteln. Sie studiert die Regeln von »Fischen und Jagen«, malt sich den Zukünftigen in allen Farben aus und plant das gemeinsame Leben bis ins kleinste Detail. Kurz vor Jagdbeginn tut sie ein Übriges: Sie geht zum Friseur und kauft sich ein seidenes Dessous. Dann legt sich Teresa Specht auf die Lauer. Und als Mathias Herrwinkel arglos ihren Weg kreuzt, schnappt die Falle zu ...

Charmant boshaft, wunderbar ironisch und zum Tränenlachen komisch – Claudia Kellers riesige Fangemeinde wird begeistert sein!

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Inhaltsverzeichnis
 
Buch
Autorin
 
Kapitel 1 - Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide!
Kapitel 2 - Was gibt uns wohl den schönsten Frieden, als frei am eignen Glück ...
Kapitel 3 - Bist du in deinem Hause Fürst? Ich bin’s!
Kapitel 4 - Was glänzt, ist für den Augenblick geboren.
 
Copyright
Buch
Teresa Specht sucht einen Mann. Und sie sucht ihn mit allen Mitteln. Sie studiert die Regeln vom »Fischen und Jagen«, stellt sich den Zukünftigen schon mal in allen Details vor und plant das spätere gemeinsame Leben bis in die kleinste Einzelheit. Kurz vor Jagdbeginn legt sie dann noch letzte Hand an: Sie geht zum Friseur, lässt sich stylen und kauft sich ein seidenes Dessous. Dann legt sich Teresa Specht - Anfang fünfzig, Büroangestellte, ledig und bisher für Männer eher »unsichtbar« - auf die Lauer. Und als Mathias Herrwinkel arglos ihre Wege kreuzt, schnappt die Falle zu.
»Man soll den Teufel nicht an die Wand malen!« Der Historiker und Professor Dr. Mathias Herrwinkel, Ehemann, Vater und Großvater, hat diese Mahnung stets beherzigt. Bis er anlässlich einer Tagung das tut, was angeblich alle machen: Er kitzelt den Teufel, indem er mit einer Unbekannten ins Bett geht und den Begriff »one night stand« in die Tat umsetzt. Irritiert über sich selbst, trachtet er anschließend danach, das Erlebnis so bald wie möglich zu vergessen. Doch da hat er die Rechnung ohne die zu allem entschlossene Teresa gemacht …
Wenn sich die Unerbittlichkeit einer zielstrebigen Frau und die Tollpatschigkeit eines Möchtegern-Draufgängers mit einem Schuss absurdem Zufall zu einer explosiven Mischung verbinden: Der neue Roman von Claudia Keller ist hinreißend boshaft, voll köstlicher Ironie und zum Tränenlachen komisch!
Autorin
Als Spross einer echten Künstlerfamilie verbindet Claudia Keller ihr Erzähltalent mit einem unverfälschten Blick auf die großen und kleinen Ungereimtheiten des Beziehungsalltags. Mit ihren charmant-boshaften Romanen hat sie sich seit Jahren einen riesigen Leserkreis geschaffen. Ihre Bücher erobern regelmäßig die Bestsellerlisten, wurden in mehrere Sprachen übersetzt und erreichten in kurzer Zeit eine Gesamtauflage in Millionenhöhe. Die Verfilmungen ihrer Erfolgsromane »Ich schenk dir meinen Mann!« (mit Hannelore Elsner in der Hauptrolle), »Einmal Himmel und retour« und »Unter Damen« wurden mit überwältigenden Zuschauerquoten ausgestrahlt.
1
Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide!
Am Abend vor ihrem zweiundfünfzigsten Geburtstag traf Teresa Specht endlich den Mann, auf den sie seit ihrem siebzehnten Lebensjahr gewartet hatte.
Der Pfeil der Liebe traf sie spät, aber nicht unerwartet. In der Jahrzehnte andauernden Ereignislosigkeit, in der ein Jahr dem anderen gefolgt war, ohne dass sich das Blatt gewendet hätte, hatte sie sich eingeredet, dass alles seine Zeit brauche und man die Dinge nicht forcieren solle. Wer in Panik geriet, machte Fehler. Wer sich Hals über Kopf in ein Abenteuer stürzte, würde es später bereuen.
Dies schien so etwas wie ein Gesetz zu sein.
Teresa, mit ihrer tiefen Abneigung gegen Unordnung, sagte sich, dass es geschickter sei, die Dinge nacheinander in die Wege zu leiten und das Leben einem Plan folgen zu lassen. Was in ihrem Fall hieß: Schulabschluss, Bürolehre, Stadtverwaltung.
 
In Mußestunden erfreute sich Teresa an der Auflösung des schwesterlichen Ehelebens.
Teresa hasste Rosalie, die ihr vor fünfunddreißig Jahren jenen Mann ausgespannt hatte, der der Richtige gewesen wäre und sich in einem gemeinsamen Leben mit ihr zum perfekten Ehemann und Vater entwickelt hätte - und nicht zu jenem unzuverlässigen Draufgänger, zu dem er an der Seite Rosalies verkommen war.
Im hinteren Teil des elterlichen Reihenhausgartens, zwischen Rhododendrenbusch und Rhabarberbeet, hatte Ben sie geküsst.
»Wir werden später ein eigenes Haus und einen Rosengarten haben«, hatte Teresa in sein Ohr geflüstert, und er hatte ihr im fahlen Schein der Straßenlaterne zugelächelt und spielerisch eine ihrer dünnen Haarsträhnen durch die Finger gleiten lassen. Dann hatte er ihr jenes Bleigewicht ins Herz gesenkt, an dem sie künftig zu tragen hatte.
»Du kannst uns natürlich jederzeit besuchen, Schwägerin.«
 
Ben plante, sich in Kürze offiziell mit Rosalie zu verloben, und genoss die letzten Tage in freier Wildbahn.
Er hatte sich noch einmal durch die Reihen der Vorstadtmädchen geschlafen und nebenbei herausfinden wollen, was es eigentlich mit Rosalies Schwester auf sich hatte, die so ganz anders war als alle Frauen, die er kannte. Er hatte das Geheimnis nicht lüften können, aber die Begegnung auf dem ausrangierten Sofa in der Laube des elterlichen Schrebergartens hatte eine verblüffende Erkenntnis gebracht: Unter dem flachen Busen der unscheinbaren Teresa schien ein geradezu Angst erregendes Feuer zu lodern.
Ein verzehrendes Feuer, wie er schaudernd feststellen musste.
 
Während sich Ben und Rosalie am Abgrund ihres Ehelebens entlang stritten - Teresa konstatierte zufrieden, wie das Feuer in den Augen beider Gatten erlosch, die Stimmen blechern wurden und die Kosenamen an Süße verloren -, nahm ihr eigenes Leben den ruhigen Verlauf, den es einmal eingeschlagen hatte.
Sie bestieg jeden Morgen um acht Uhr dreißig die S-Bahn, fuhr zwei Stationen Richtung City und stieg am Stadthaus aus. Sie teilte ihr Büro mit Chris, einer jüngeren Kollegin, die während der Dienstzeit lange Telefonate mit ihrem Lover führte und gern von den zusätzlichen Eroberungen erzählte, die sie mithilfe des Internets machte. Schließlich heiratete sie Bernhard Schlüter, einen Kollegen aus der Verwaltung, und verließ ihren Arbeitsplatz, ohne dass dieser neu besetzt wurde.
Teresa Specht rückte auf.
Anstelle von Chris teilte sie das Büro künftig mit einer Reihe kleiner Bäumchen, die sie aus den Kernen von Apfelsinen zog. Sie wuchsen auf der Fensterbank zu stattlichen Pflanzen heran, bis sie während eines Urlaubs vom Hausmeister vernichtet wurden, weil sie die Arbeit der Putzfrauen behinderten.
»Sie können Ihre gärtnerischen Triebe zu Hause ausleben, Frau Specht«, hatte er gesagt. »Und nehmen Sie die Ansichtskarten von der Wand, hier wird in Kürze renoviert.«
Wortlos gab Teresa die Aufzucht von Apfelsinenbäumchen auf. Sie schmückte den Schreibtisch nicht mehr mit einem Blumenstrauß und kaufte keine neue Kaffeemaschine, als die alte den Geist aufgab.
Die wenigen Ansichtskarten, die sie im Laufe des Jahres erhielt, pinnte sie nicht mehr an die Wand hinter ihrem Schreibtisch, sondern entsorgte sie, nachdem sie den Text kurz überflogen hatte.
An sonnigen Tagen nahm sie, auf der Fensterbank sitzend, ihr Frühstück ein, wobei sie den Blick über die Dächer der Stadt schweifen ließ.
In unmittelbarer Nähe des Büros befand sich der städtische Kindergarten. Das Gelächter der Kleinen klang wie Vogelgezwitscher zu ihr herauf.
Manchmal überfiel sie eine tiefe Traurigkeit, von der sie nicht wusste, woher sie kam.
 
Mit dem gleichen Kribbeln, mit dem andere auf die Verkündung der Lottozahlen warten, erfüllt von der unverzichtbaren Hoffnung, dass sich ihr trostloses Dasein von einer Minute zur anderen ändern möge, näherte sich Teresa jedem Urlaubsziel.
Nur im Urlaub, in einer anderen Galaxie, davon war sie inzwischen überzeugt, konnte sich das Wunder einer lebensverändernden Begegnung entfalten.
Der Gedanke an die jeweils nächste Reise gab ihr die Kraft, das Jahr durchzustehen und jenem Tag entgegenzuleben, an dem die Pflicht von der Lust abgelöst wurde.
Pflicht - das waren der Job, der Haushalt, die ewig gleichen Gänge zu Supermarkt, Reinigung und Schuster. Das waren Vorsorgeuntersuchungen, Zahnarzt und Friseur, Handwerker und Wartungsdienste. Es war der Ablauf einer gleichförmigen Woche, der ein gleichförmiges Wochenende folgte.
Wochenenden, die Teresa nutzte, um ihre Kleidung in Ordnung zu bringen, vorzukochen und durch den Stadtpark zu laufen.
Es hatte eine Zeit gegeben, in der Teresa den Spaziergang unterbrach, um im Parkcafé einen Kaffee zu trinken, aber sie hatte die Gewohnheit aufgegeben, als auch der Spaziergang und der Cafébesuch zur Pflicht geworden waren.
Gegen die Pflicht setzte sie die Lust.
Lust, das waren die Prospekte, die sie stapelweise aus den Reisebüros nach Hause schleppte. Lust waren die Vorbereitung der jeweils nächsten Reise und die belichteten Filme, die sie als Beute mit nach Hause brachte. Lust waren Einkäufe, die sommerliche Gefühle hervorriefen: leichte Kleidung, Strandsandalen und Badekappen.
Denn vielleicht würde ihr das Wunder in diesem Sommer begegnen. Aber die Jahre vergingen, und nichts geschah.
Urlauber reisten paarweise an und klammerten sich aneinander. Frauen streiften über die Strände und wurden fündig, so sie jung und gut gebaut oder alt und schwerreich waren. Singles bildeten Gruppen und besichtigten Kunstschätze und Kathedralen.
Teresa führte ein Reisetagebuch, in das sie die Namen der Orte, die Preise des Hotels und die wichtigsten Sehenswürdigkeiten eintrug.
Von menschlichen Begegnungen berichtete sie nie.
 
Mit der Geduld eines Reptils wartete Teresa ihre Zeit ab und nahm es hin, dass alle um sie herum heirateten, Kinder in die Welt setzten und sich ein Nest bauten.
Schnellentschlossene ließen sich scheiden und heirateten erneut. Häuser wurden aufgegeben und durch andere ersetzt.
Fotos unbekannter Babys flatterten ins Haus.
Teresa schenkte jedem Foto eine Anstandsminute der intensiven Betrachtung, ehe sie es zerriss und in den Papierkorb warf.
Das Verschicken von Bildern würde ihrer Erfahrung nach spätestens nach der Einschulung ein Ende haben, und mit Fotos des Zweitgeborenen würde sie kaum noch belästigt werden.
Eingeladen wurde sie nie.
Nach den Ehefrauen begann Teresa auch die Mütter zu hassen.
 
Als Rosalie ihr weinend mitteilte, dass Ben eine Geliebte habe und Kathi, ihre Älteste, den höheren Schulabschluss nicht schaffen werde, schien dies die gerechte Belohnung dafür zu sein, dass sie sich in der Rolle der scheinbar interessierten Zuschauerin so tapfer gehalten hatte.
»Ich würde Kathi von der Schule nehmen und sie eine Ausbildung machen lassen«, schlug sie vor und reichte Rosalie ein Taschentuch. »Die Stadtverwaltung …«
»Ich glaube nicht, dass gerade du geeignet bist, diesbezüglich Ratschläge zu erteilen«, erwiderte Rosalie.
Teresa antwortete nicht, aber sie hatte verstanden. Zuhören durfte sie jederzeit. Eine Meinung zu äußern, das stand ihr nicht zu.
 
Als sie neununddreißig Jahre alt wurde, unternahm sie mehrere Anläufe, das Ruder herumzureißen.
Sie schaltete eine Kontaktanzeige, auf die sich zwei Herren meldeten. Der eine suchte eine kapitalkräftige Partnerin zur Gründung eines Geschäftes, der andere war verheiratet.
Die Einladung zum gemeinsamen Wandern an den allein stehenden Vermögensberater, der die Wohnung gegenüber bewohnte, wurde erstaunt abgelehnt.
»Ich soll mit Ihnen spazieren gehen?«, hatte Wolf Schröder gefragt. »Aber um Gottes willen, warum denn?«
 
Eines Abends rief sie Ben an, der sich inzwischen eine eigene Wohnung gemietet hatte.
Der Hörer wurde abgenommen, und Fetzen von Musik drangen in Teresas Stille.
You get what you see.
Eine Frau lachte schrill.
Jemand rief: »Benny, der Schampus ist alle.«
Ohne ihren Namen zu nennen, legte Teresa den Hörer zurück auf die Gabel.
Sie klappte das Bügelbrett auf und begann die Blusen für die kommende Woche zu bügeln.
You get what you see …
Im Fernsehen lief die hundertste Folge einer Familienserie.
 
Wem schenkt man sein Herz, wenn niemand da ist, der es haben will?
Topfpflanzen bieten sich an, oder Kuscheltiere.
Teresa leistete sich einen Gummibaum, den sie »Benny« nannte und dessen grünfleischige Blätter sie regelmäßig polierte. Manchmal sprach sie mit ihm oder spielte ihm Beethovens Neunte vor, was nicht verhinderte, dass immer mehr Blätter gelb wurden und zusammengerollt auf dem Teppich lagen, wenn sie am Abend nach Hause zurückkehrte.
2
Was gibt uns wohl den schönsten Frieden, als frei am eignen Glück zu schmieden?
Nachdem auch der fünfundvierzigste Geburtstag verstrichen war, ohne dass sich an ihrer Situation etwas geändert hatte, fand Teresa, dass sich das Problem allmählich lösen müsse. Sie ging ja nicht nur ohne Mann durchs Leben, ihr fehlte auch ein Freundeskreis.
Am Abend nahm sie Papier und Bleistift und stellte eine Liste all derjenigen zusammen, die ihr nahe standen.
»Rosalie«, schrieb sie mit zusammengepressten Lippen. »Lydia Tanner …«
Sie stellte fest, dass ihr Rosalie nicht wirklich nahe stand und Lydia Tanner eine reine Zweckfreundschaft war, geschlossen zwischen zwei allein stehenden Frauen, die hin und wieder einen Urlaub miteinander verbrachten.
Teresa überlegte, ob sie einen weiteren Namen unter den von Lydia setzen könnte, aber ihr fielen nur die Namen der anderen Hausbewohner und die der Kollegen ein, die sie hin und wieder auf den Fluren des Stadthauses traf.
Es musste etwas geschehen, aber was?
Teresa begann, die Leihbücherei aufzusuchen und ein oder zwei Stunden in der angeschlossenen Lesehalle zu verbringen, weil ihr jemand gesagt hatte, dass die dort sitzenden Rentner einer Bekanntschaft nicht abgeneigt seien.
Überdies könnten sie lesen, und das sei doch schon ein Pluspunkt, wenn man bedächte, was sonst so »in freier Wildbahn« herumlaufe.
Was »in freier Wildbahn« herumlief, konnte Teresa nicht beurteilen, da sie die freie Wildbahn nicht kannte, aber dass von den Greisen, die sich hinter den Zeitungen versteckten oder stumpf vor sich hinstierten, keiner infrage kam, sah sie sofort.
Dennoch gewöhnte sie sich an, die Bücherei einmal in der Woche aufzusuchen, sich in eine der Leseecken zurückzuziehen, in Atlanten und Reisebüchern zu blättern und die anderen Bibliotheksbesucher zu beobachten.
An einem Nachmittag bemerkte sie eine Dame, die selbstvergessen in einem Buch las, aus dem sie ganze Passagen abschrieb. Manchmal hob sie den Blick und starrte eine Weile vor sich hin, versunken in eine innere Welt.
Es dämmerte bereits, als die Dame die Lektüre zur Seite legte und die Bücherei verließ.
Teresa erhob sich, ging zu deren Platz hinüber und nahm das Buch zur Hand.
Es trug den Titel: »Die andere Seite der Macht«.
Untertitel: »Nutze dein Unterbewusstsein«.
Der Autor war Cary William Curson.
Teresa schlug die erste Seite auf.
»Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, wird sich Ihr Leben verändern. Wenn Sie mithilfe dieses Buches Ihr Unterbewusstsein aktiviert haben, wird jeder Ihrer Wünsche in Erfüllung gehen. Sie können sich den Staatspräsidenten von Burma bis in Ihr Bett hineinwünschen, wenn Sie sich sein Bild nur fest genug einprägen.«
Teresa war es nicht gewöhnt, nach den Sternen zu greifen. Ihr hätte der Vermögensberater von gegenüber genügt, und sie hatte sich viele Abende detailliert vorgestellt, wie es wäre, wenn er über den Flur kommen und den Finger auf den Klingelknopf zu ihrer Wohnung legen würde.
Aber anstatt bei ihr hatte er an der Wohnung im Parterre geklingelt, in die die junge Lehrerin gezogen war, und kurz darauf hatte er sie geheiratet.
Es war eine Junihochzeit voller Rosen gewesen, und dass Rosen Dornen hatten, hatte Teresa ein wenig getröstet.
 
Das schlechte Ergebnis ihres intensiven Wunschdenkens gab Teresa zu denken, aber die Zeit verflog, und irgendwann konnte sie es sich nicht mehr leisten, an der Existenz von Wundern zu zweifeln.
Geschockt von der plötzlichen Gewissheit, dass das Leben endlich und auch ihre Zeit begrenzt war, wurde der Glaube an Cursons Lehre zwingend notwendig. Auch hatte er für ihr Versagen auf dem Gebiet des suggestiven Wunschdenkens eine einfache Erklärung: Teresa hatte sich den Geliebten nicht intensiv genug vorgestellt.
Wie sollte das Unterbewusstsein tätig werden, wenn nicht eindeutig feststand, wie der Typ beschaffen sein sollte, den es herbeizudenken galt?
Zugegebenermaßen war sie nach Dienstschluss oft müde gewesen und hatte die Übungen ausfallen lassen.
Von nun an nahm sie sich jeden Abend eine halbe Stunde Zeit, um in ihrem Kopf das Bild des Zukünftigen entstehen zu lassen. Sie nannte ihn »Mathias«, nach ihrem verstorbenen Vater, was nicht gut war, denn die Vision nahm automatisch die väterlichen Gesichtszüge an, die sich im Laufe weniger Wochen überdies veränderten.
Anfangs hatte Mathias dichte dunkle Haare gehabt, war aber rasch gealtert, und anstelle der feschen Tolle war ihm nur ein Haarkranz geblieben, der sich grauweiß-meliert über den Ohren kräuselte.
Was nicht alterte, war sein Mund.
Mathias’ Lippen waren jung, wie die von Ben es gewesen waren, als er sie zwischen Rhododendronbusch und Rhabarberbeet im Garten ihrer Eltern geküsst hatte.
 
Als sie ihren fünfzigsten Geburtstag nahen sah, beschloss Teresa, das Problem dreidimensional anzugehen. Laut Curson sollte man den Boden, auf dem die Realisierung eines Wunsches stattfinden sollte, gut vorbereiten.
Wünschte man sich ein Reitpferd, so war es unumgänglich, vorher aufs Land zu ziehen, und wollte man in einer Modeboutique Haute Couture verkaufen, so würde sich wiederum ein Geschäft in einem Dorf nicht lange halten.
Wie also sah das Bild aus, dem Teresa sich in ihren Träumen hingab? In welcher Kulisse traf sie sich am häufigsten mit dem Geliebten?
Die Frage war nicht schwer zu beantworten, denn wenn man das Doppelbett einmal außer Acht ließ, das zu visualisieren unmöglich war, da es sich in völliger Dunkelheit befand und Teresa sich sogar in ihren Träumen den Wunsch versagte, die Szene zu beleuchten, so traf sie sich meistens mit Mathias an einem sonnigen Frühlingsmorgen.
Sie saßen an einem schön gedeckten Tisch im Garten und frühstückten - inmitten blühender Forsythien.
Das Suchen und Finden der neuen Behausung machte keine Schwierigkeiten. Teresa folgte Cursons Regeln, als sie sein Prinzip »Wisse genau, was du suchst« anwandte, und nur wenige Wochen später besichtigte sie ein zweistöckiges Haus mit Garten.
Das Haus befand sich in einer stillen Straße in einer Reihe von Häusern gleicher Art, aber das spielte keine Rolle. Es war exakt das Zuhause, das sie für sich und Mathias gesucht hatte.
Teresa nahm diesen Umstand als Beweis dafür, dass Cursons Lehre funktionierte.
 
Das Häuschen hatte unten ein geräumiges Wohnzimmer, eine Einbauküche, Bad und Gästetoilette und ein Zimmer, das Mathias als Arbeitszimmer dienen würde.
Teresa ließ dieses Zimmer unmöbliert. Mathias sollte kein fertig eingerichtetes Haus vorfinden, sondern Raum haben für persönliche Gestaltung.
Außerdem hatte er ja irgendwo ein Zuhause und würde einige der gewohnten Gegenstände mitbringen wollen.
An dieser Stelle drängte sich eine unangenehme Frage auf: War Mathias eigentlich verheiratet?
Eine Frage, die Curson unbeantwortet ließ.
 
Dass die Einrichtung ihrer bisherigen Behausung reichlich abgenutzt war, war in der alten Wohnung nicht weiter aufgefallen, aber nun waren die Möbel dem Sonnenlicht ausgesetzt, und Teresa musste ihrem sparsamen Herzen mehrere Stöße versetzen, bis sie imstande war, sich nach neuen Möbeln umzusehen.
Die Couchgarnitur aus Büffelleder, die sie nach langer Überlegung wählte, platzierte sie an die Hauptwand des Wohnzimmers, mit Blick auf den Bücherschrank, den sie von ihrem Vater geerbt hatte und auf dessen unterem Brett die stattliche Reihe nummerierter Fotoalben einen Platz fand.
Direkt darüber standen achtzehn Jahrgänge Das Beste, Ergebnis der Sammelleidenschaft einer lange verstorbenen Cousine, und darüber der große Brockhaus aus dem Jahre siebenundfünfzig, Band für Band zusammengetragen.
Ganz oben waren die Reisebücher untergebracht, und in der zweiten Reihe die Abenteuerromane und Schilderungen von Expeditionen mit ungewissem Ausgang, Teresas bevorzugte Lektüre, die sie ebenso geheim hielt wie die ihrer Kitschromane.
 
Neben dem Schrank in der rechten Ecke, halb schräg, stand der Fernseher, ein älteres Modell, das selten in Betrieb war, und daneben bekam »Benny«, der in der Düsternis der alten Wohnung beinahe aufgegeben hatte, eine letzte Chance.
Das Schlafzimmer, bestehend aus einem sechstürigen Kleiderschrank, Nachtkonsölchen und Doppelbett, alles in einem freundlichen Esche-Imitat, übernahm sie von ihren Vorgängern. Die Bettelbachs wollten in ein Altersheim ziehen, in dem das Mitbringen eigener Möbel unerwünscht war.
Sie hatten ihr das Schlafzimmer geschenkt.
Anfangs war es ein wenig merkwürdig, sich abends in einem Zimmer zur Ruhe zu legen, in dem ein fremdes Paar geschlafen, gelitten und bis zuletzt geliebt hatte.
Die Gegenstände in der Nachttischschublade, die die Bettelbachs vergessen hatten, sprachen jedenfalls dafür.
Teresa hatte sie, auf der Bettkante hockend, mit klopfen betrachtet. Sie waren ein Zeichen dafür, dass das eheliche Leben vom Alter unberührt blieb.
 
Mit einem warmen Gefühl in der Herzgegend legte Teresa Cursons Ratgeber zu den anderen Dingen in die Schublade ihres Nachttisches und sich selbst in Frau Bettelbachs Bett.
Die Stelle, die sie abends vor dem Einschlafen regelmäßig lesen würde, hatte sie rot markiert: »Mache dir bei der Visualisierung deines Partners eines deutlich: Der Mann ist keine Vision, er lebt! Vielleicht auf einem anderen Kontinent, vielleicht in der Nachbarstadt.
Vielleicht ganz in deiner Nähe!
Möglich, dass er schon morgen deinen Weg kreuzt.«
Um für die bevorstehende Begegnung gerüstet zu sein, erstand Teresa in der Wäscheabteilung des örtlichen Kaufhauses einen seidenen Unterrock.
Dann stellte sie Überlegungen an, in welchem Urlaubsort ihr ein Mann wie Mathias - gebildet, mittleren Alters und konservativ - am ehesten über den Weg laufen könnte.
Sie entschied sich für Karlsbad.
3
Bist du in deinem Hause Fürst? Ich bin’s!
Mathias Herrwinkel betrachtete sich im Spiegel und war mit dem Ergebnis seiner Bemühungen zufrieden. Er fuhr mit zwei Fingern glättend über die Brauen und zupfte mit dem Stilkamm seiner Frau die Locken hinter den Ohren zurecht. Dann strich er sich mit der Hand prüfend über die Stirn.
Das Haar war inzwischen stark zurückgewichen, aber Mathias Herrwinkel gehörte zu den Männern, denen eine Halbglatze gut steht.
Sie krönte das Gesicht des Intelligenzlers, und die gute Kopfform mit dem lockigen, melierten Haarkranz (Pfeffer und Salz nannte seine Frau Lisa diese Farbe) hatte ihm im Alter einen kleinen künstlerischen Touch verliehen. Die kraus hinter den Ohren abstehenden Haarbüschel zeugten von Wissen, Humor und Freigeist.
Dass in der Brust des Historikers ein heimlicher Künstler wohnte, der darauf lauerte, endlich ans Licht zu kommen, ahnte niemand. Man konnte es allenfalls an den originellen Weihnachtsgeschenken erkennen, die Mathias am Ende eines jeden Jahres an gute Freunde verteilte.
Die kleinen Taschenkalender waren handgeschrieben und koloriert und enthielten für jede Woche einen Aphorismus, den Mathias selbst ersonnen hatte. Wenn der Job an der Uni, die Vorträge und die Arbeit an der Fachzeitschrift, für deren Leitartikel er verantwortlich war, erst vorüber wären (was er sich allerdings vor Beendigung des sechsten Lebensjahrzehnts nicht vorstellen konnte), dann wollte Mathias Herrwinkel Bücher schreiben. Zuerst seine Memoiren, später eine Anthologie mit dem Titel »Kuriositäten der Geschichte«. Zusätzlich wollte er seine Aphorismensammlung erweitern: »Gedankensplitter von Mathias Herrwinkel«.
Für ihn sollte noch einmal ein ganz neuer Lebensabschnitt beginnen.
Er würde keine Anzüge mehr tragen, sondern Cordhosen und Rollkragenpullover, lässig weiche Jacketts und Kaschmirschals. Die beiden frei wehenden Schalenden, die er deutlich vor sich sah, galten ihm als Symbol der Freiheit.
Aber das war eine Vision.
Letztendlich, und das war ihm im tiefsten Inneren klar, würde es ihm schwer fallen, das Leben als eine bekannte Persönlichkeit in einer Kleinstadt aufzugeben: das wohlige Gefühl der Zugehörigkeit, die Präsidenten- und Vorstandsmitgliedschaften, das Lächeln, das Grüßen und das Auf-Schritt-und-Tritt-erkannt-werden, wenn er durch die Straßen von Eppenhofen ging.
Denn dass er sich die Stadt zu Eigen gemacht hatte, stand außer Frage:
Mathias Herrwinkel spielte jeweils tragende Rollen im Geschichtsverein, bei den Bankern und Rotariern, und er eröffnete alljährlich den Herbstball und die Golfsaison. Er hielt viel beachtete Reden bei allen nur erdenklichen Anlässen und war überdies für seine Nachrufe berühmt, die niemand so geschliffen zu schreiben wusste wie er.
Sein Leben bewegte sich in einem festen Raster von Sitzungen, Tagungen, Reisen, gesellschaftlichen Verpflichtungen, Vorträgen, beruflichen und privaten Treffen - und deren Wiederholungen.
Und bei nahezu jeder Beerdigung stand er in der ersten Reihe.
 
Mathias Herrwinkel beendete seine Morgentoilette, indem er sich Rasierwasser auf die Wangen klopfte und in sein Jackett schlüpfte.
Der perfekte Sitz der maßgeschneiderten Jacke gab ihm wie stets das gute Gefühl, den Anforderungen des Tages gewachsen zu sein. Im Schlafzimmer warf er einen letzten Blick in den Spiegel: perfekt!
Sein Äußeres signalisierte jedem, den er traf, dass der Lebensweg, den er eingeschlagen hatte, der richtige gewesen war, dass er die Dinge in der Hand hatte und dass dies auch in Zukunft so sein werde.
Nur die Haarbüschel hinter seinen Ohren wiesen darauf hin, dass es auch für Mathias Herrwinkel mehrere Möglichkeiten gegeben hätte, das Leben zu bestehen, und dass noch nicht aller Tage Abend war.
Mathias schloss automatisch den zweiten Knopf seiner Jacke, straffte die Schultern und stieg die Treppe zum Erdgeschoss hinunter. Das ehemals recht bescheidene Haus An den Hainbuchen, das er und Lisa seit dreißig Jahren bewohnten und das im Laufe der Zeit durch zwei Anbauten erweitert worden war, hatte sich zu einem beliebten Familienzentrum gemausert.
Darüber hinaus war es das Zentrum seines Lebens: großzügig, Geborgenheit vermittelnd und vorzeigbar.
Das Esszimmer mit der Durchreiche zur Küche und dem Blick in den Garten war anlässlich seines fünfzigsten Geburtstags neu möbliert worden
Chippendale statt Teak und anstelle des rustikalen Tellerregals ein großer Geschirrschrank, hinter dessen Butzenscheiben das Familienporzellan für besondere Anlässe aufbewahrt wurde: Hutschenreuther mit Reliefrand.
Während er an der Stirnseite des ovalen Tisches Platz nahm, kam Lisa auf ihn zu und begrüßte ihn mit dem »Frühstückskuss«, einer Zeremonie, die sie an ihrem Hochzeitstag eingeführt und dreiunddreißig Jahre lang beibehalten hatten. In der gut gelaunten Eile, in der sie alles tat, lief sie in die Küche und kehrte mit dem vorbereiteten Frühstückstablett zurück. Sie legte ihm ein Brötchen auf den Teller und schenkte den Kaffee ein.
Die schnelle Perfektion, mit der Lisa den Alltag meisterte, war die Eigenschaft, die Mathias am meisten an ihr schätzte. Lisa hatte ein »Händchen für die Dinge« und zeigte Persönlichkeit, ohne ihren Mann in den Schatten zu stellen. Niemals musste Mathias sich sorgen, dass Lisa ihn blamieren würde, so wie Kollege Bayer, dessen Frau durch ein zu schrilles Lachen, ungeniertes Flirten und eine zu kräftige Ausdrucksweise auffiel und die das Wort nicht mehr abgab, wenn sie es erst einmal erobert hatte.
Mathias Herrwinkel, in seinen Bewegungen nicht weniger effizient als seine Frau, warf einen Blick in die Zeitung, schob sich den Rest des Brötchens in den Mund, trank den Kaffee und erhob sich.
»Auf in den Kampf.«
Lisa sah lächelnd zu ihm auf.
Er sah gut aus!
Stolz blickte sie ihm nach. Die beiden Haarbüschel rechts und links der Ohren sahen aus wie kleine Flügel.
 
Im Gegensatz zu vielen Männern wusste Mathias Herrwinkel, was er an seiner Frau hatte. Ohne Lisa wären seine Karriere, das Haus, die wohlgeratenen Töchter und das, was er seine »innere Sicherheit« nannte, nicht zu machen gewesen. Er nahm sich vor, in der Rede zum Abschied seines Universitätslebens, die er in zwei Jahren halten würde, darauf hinzuweisen.
»All das« - hier würde er eine wirkungsvolle Pause einschalten - »und noch viel mehr« - Lächeln ins Publikum - »verdanke ich meiner Frau Lisa, ohne die ich heute nicht an diesem Platz stünde. Zumindest nicht so frisch und so fröhlich.« Während er zur Garage eilte, hörte er den Beifall.
Nachdem ihr Mann gegangen war, trank Lisa Herrwinkel eine letzte Tasse Kaffee und steckte sich die erste der drei Zigaretten an, die sie sich pro Tag erlaubte.
Sie genoss die Ruhe vor dem Sturm, die Zeit der kleinen Laster.
Während sie rauchte, blätterte sie in ihrem Terminkalender. Auch dieses Büchlein war ein Geschenk ihres Mannes, wöchentlich versehen mit klugen Gedanken, die er für sie persönlich ausgesucht hatte.
Diese Woche begann mit dem Hinweis: »Unser wahres Leben sind unsere Träume«, ein Satz, der Lisa lächeln ließ, denn sie hatte nur einen Traum: dass ihr »wahres« Leben so bleiben möge, wie es war.
 
Mathias Herrwinkel betrat die Universität mit einem ähnlichen Gefühl, mit dem er auch sein Haus An den Hainbuchen betrat: Alles mein!
Er bestieg den Fahrstuhl, ärgerte sich wie jeden Morgen über herumliegendes Papier und neue Graffiti, mit denen die Wände beschmiert waren. Die Parolen wurden überdies immer primitiver und hatten in der letzten Woche ihren Tiefstand erreicht. Fuck your university.
An die Nachteile, die die Öffnung für die breiteren Schichten, für die er als junger Mann gekämpft hatte, mit sich brachten, hatte damals niemand gedacht. In seinem tiefsten Inneren wünschte er sich die Zeiten zurück, in denen sich der Staat eine Elite hielt, zu der er, das stand außer Zweifel, an exponierter Stelle gehört hätte. Angewidert hakte sich sein Blick an dem Kaugummi fest, den jemand neben dem Knopf zum fünften Stock platziert hatte.
Der Fahrstuhl hielt, und Mathias entspannte sich. Eilig durchschritt er den Gang, und mit dem Öffnen der Glastür am Ende desselben, ausgewiesen durch das Messingschild mit seinem Namen, ließ er die Welt der Banalitäten hinter sich und betrat gehobenes Terrain.
Um sein Büro zu erreichen, durchquerte er den kleinen Besucherraum, ausgestattet mit zwei Ledersofas und einem Glastisch, an der Wand die Ludwig-Kirchner-Grafik, die er selbst ausgesucht hatte, und öffnete dann die Tür zu dem Refugium, in dem er sich am sichersten fühlte.
Er hatte sich schon einmal gefragt, wohin er flüchten würde, wenn der letzte Tag der Menschheit aufgerufen würde, und automatisch war ihm der Platz hinter diesem Schreibtisch eingefallen.
Ein Platz in einem tiefen Ledersessel mit Blick auf das Regal mit historischen Werken und einer Galerie von Familienbildern und weiter zum Fenster hinaus über die Dächer seiner Stadt. Ein Blick, der sowohl nach Süden als auch nach Wesen ging, denn Herrwinkels Büro lag, als Zeichen seines besonderen Ranges, in einem der begehrten Eckräume.
Die Tür öffnete sich, und der Kopf von Frau Fröhlich erschien. Mathias hob die Augen von dem Vortrag, den er heute Nachmittag halten wollte.
»Ja?«, fragte er über den Rand seiner Brille hinweg, indem er die Brauen leicht hob.
Frau Fröhlich formte die Lippen zu einem lautlosen Wort.
»Kaffee?«
Mathias antwortete mit einem milden Lächeln.
Das Lächeln bedeutete: »Ja!«
Ähnlich wie mit Lisa verstand er sich auch mit Frau Fröhlich ohne Worte.
 
Es dämmerte bereits, als Mathias den Wagen durch die Stadt lenkte.
Er fühlte sich wohl.
Der Vortrag, den er heute Nachmittag vor versammeltem Haus gehalten hatte, war ein voller Erfolg gewesen, denn Mathias war ein blendender Rhetoriker. Er wusste die Stimme an den richtigen Stellen zu heben und fühlte instinktsicher, wann er eine Pause einlegen und den Blick ins Publikum richten musste. Und er versäumte es nie, seinen Reden jenen kleinen persönlichen Touch zu verleihen, mit dessen Hilfe er, wie er zu sagen pflegte, »über die Rampe kam«.
»Über die Rampe zu kommen«, das bedeutete, nicht nur das Hirn, sondern auch das Herz seiner Zuhörer zu erreichen. Dies war ihm nie schwer gefallen, und wenn er den herzlichen Applaus hörte, der jede seiner Reden am Schluss krönte, so dachte er manchmal, dass vielleicht ein guter Schauspieler aus ihm hätte werden können.
Er tastete nach seinem Terminkalender und schlug die Seite des heutigen Tages auf.
Das Wort Theater war mit einigen Rufzeichen versehen. Die Rufzeichen bedeuteten: Nicht vergessen, wichtig!
Also stand der Shakespeare-Abend heute an.
Er seufzte leicht, denn Theater schätzte er eigentlich nur, wenn er selbst der Darsteller war. Aber Lisa mochte es sehr, neben ihm in den blausamtenen Logensesseln zu sitzen, festlich gekleidet und zart nach Soir de Paris duftend.
Mathias seufzte noch einmal.
Shakespeare!
Das wurde ein Dreistundenabend. Er musste höllisch aufpassen, dass er nicht einschlief.
 
Die Gefahr einzuschlafen ergab sich nicht.
Lisa hatte den Theaterabend versehentlich auf den Abend gelegt, an dem auch der Jahrestreff ihrer Schulfreundinnen stattfand, der keinesfalls abgesagt werden durfte. So etwas wäre ihr früher nicht passiert.
»Ich werde alt«, hatte sie sich selbst mitgeteilt und Ann-Sophie gefragt, ob sie bereit sei, den Papa an ihrer Stelle zu begleiten. Ann-Sophie hatte ein wenig geseufzt und dann zugestimmt. Als Lieblingstochter des Vaters galt es, dann und wann Opfer zu bringen. Mathias’ Müdigkeit, einschließlich der Langeweile, die ihn bei dem bloßen Wort Shakespeare heimlich zu überfallen pflegte, verflog auf der Stelle, als ihm Lisa die Programmänderung des heutigen Abends mitteilte.
Sie legte ihm die Arme um den Hals.
»Du zeigst dich doch gern mit deiner hübschen Tochter.«
Er grinste ironisch.
»Woher weißt du das?«
»Instinkt! Echte Frauen wittern die Rivalin.«
Lisa wertete es als Zeichen einer gelungenen Partnerschaft, dass sie noch immer miteinander lachen konnten.
»Na, solange sie Ann-Sophie heißt!«
Sie sah ihm nach, wie er federnd die Treppe hinaufeilte.
Schon der Name seiner Lieblingstochter erzeugte einen Zuwachs an Jugendfrische und Lust am Leben.
4
Was glänzt, ist für den Augenblick geboren.
Es hatte eine Zeit gegeben, in der Mathias weniger gern an seine älteste Tochter gedacht hatte. Sie war das Vorzeigekind im Kindergarten und später in der Schule gewesen, die beste Sprinterin im Hürdenlauf und das strahlende junge Mädchen, das die Siegerplakette beim Skirennen entgegennahm.
Ein Zauberkind ohne Allüren. War sie jemals in der Pubertät gewesen? Nicht, dass er sich erinnert hätte. Die Zeit der Pickel und Probleme war scheinbar spurlos an ihr vorbeigegangen, und nahtlos hatten sich Abitur und Medizinstudium aneinander gereiht.
Aber dann, nach dem ersten Staatsexamen, das ihn seines mittelmäßigen Ergebnisses wegen enttäuscht hatte, schien sie die Allüren nachzuholen.
Spätpubertät!
Wie alle Krankheiten, die den rechten Zeitpunkt verpasst hatten, war die Pubertät heftiger ausgefallen, als sie es normalerweise gewesen wäre.
Ann-Sophie hatte das Studium geschmissen, war in die linke Szene abgerutscht, hatte jegliche Arbeit verweigert und war schließlich mit einem Revoluzzer im Ausland verschwunden.
Einem Wortrevoluzzer, natürlich, der heute im Nobelviertel Hamburgs eine Sechszimmerwohnung mit Eichenparkett und Stuckdecken bewohnte.
Lisa hatte sich bei ihrer besten Freundin Gilda ausgeweint und ansonsten Haltung bewahrt.
Mathias hatte die Katastrophe weggelächelt.
»Die Jugend, die Jugend! Wenn ich da an uns denke …«
Er dachte gern an seine Jugend zurück, die ein exemplarisches Beispiel von angepasstem Verhalten und Funktionieren nach elterlichem Vorbild gewesen war: Abitur, Studium, erste Freundin, Examen.
Dann Lisa: Dreizimmerwohnung, Geburt von Ann-Sophie.
Hausbau! Künftig also An den Hainbuchen.
Hier war Bea geboren worden, die zweite Tochter. Wieder kein Sohn, aber hübsch und gesund.
Im Windschatten der älteren Schwester, die bald an Sohnes Stelle die Hoffnungen der Eltern erfüllen sollte, wuchs Bea relativ sorglos heran. Sie war keine gute Schülerin, gewann keine Medaillen, trat nicht im Laientheater auf. Nach dem eher mäßigen Abitur besuchte sie einige Semester lang eine Modeschule und eröffnete dann eine Boutique. Der Papa, sorgenschwer und an der Lieblingstochter hängend, hatte, ohne zu murren, gezahlt.
Er war zu diesem Zeitpunkt bereits abgehärtet und bescheiden geworden. Und er hatte seine Lektion gelernt: Kinder taugen selten dazu, das Leben der Eltern zu bereichern.
Es sollte sich dann alles regeln.
Ann-Sophie verließ ihren Revoluzzer und kehrte in den Schoß der Familie zurück. Anstatt Ärztin zu werden, heiratete sie einen Arzt mit wohlklingendem Namen: Bero C. Brenner.
Befreites Aufatmen in der Familie. Nach einem Ausflug in den Nebel der Unaussprechlichkeiten rückten sich die Dinge zurecht, nahmen Gestalt an und waren wieder vorzeigbar.
Verlobung und Hochzeit in der Krone, dem einzigen standesgemäßen Restaurant für Ereignisse dieser Art. Mathias hielt eine seiner berühmten Reden, mit der er den Vater des Bräutigams, einen schon etwas trockenen Juristen a. D., um Längen schlug.
Lisas Augen strahlten im alten Glanz. Sie hatte den Ausflug ihrer Ältesten in unbekannte Gefilde inzwischen als Jugendtorheit abgehakt, und das abgebrochene Studium schien mit der geglückten Gattenwahl bereinigt.
Ann-Sophie würde »ein Haus führen«, die Praxis eine erste Stadtadresse haben: Am Römer 1.
Ihren Namen hatte sie behalten. Nicht Brenner, sondern Herrwinkel.
Zukünftige Nachkommen würden ebenfalls kleine Herrwinkels werden. Die Summe, die der Papa zum Start ins neue Leben gespendet hatte, war nicht eben gering gewesen.
Bero C. Brenner musste das zugeben.
So bekam alles nachträglich einen Sinn.
Lisas Lächeln kehrte zurück.
Wie schön in diesem Jahr die Rosen dufteten.
Die Ankunft des ersten Enkels bestätigte vollends, dass der Lauf der Zeit die Dinge geregelt hatte.
Max-Mathias wurde im Januar geboren.
»Steinböcken ist Erfolg beschieden. Die wollen immer nach oben.«
Lisa schmolz dahin wenn sie sich im Lächeln des kleinen Thronfolgers badete, und Mathias förderte längst begrabene Wünsche ans Licht. Vielleicht würde der Enkel bringen, was ihm die Töchter versagt hatten. Genie, das weiß man, überspringt gern eine Generation.
Dr. med. Max-Mathias Herrwinkel.
Mathias rechnete aus, ob er den Ritterschlag noch erleben würde. Neunzig müsste er schon werden, aber diesbezüglich quälten ihn keine Sorgen. Er hatte nicht nur finanziell gut vorgesorgt, selbstverständlich war er auch bestens versichert und mit den bekanntesten Ärzten der Stadt schon lange auf Du. Aber mit den Nachfolgern auch?
Sie schienen ihm so geschäftsmäßig glatt zu sein, den Hinweis auf die Freundschaft zum Papa geschmeidig ignorierend. Zwei der Alten dagegen, denen er jahrzehntelang Freundschaft gewährt hatte, waren schon gestorben. Herzinfarkt!
Auch Mathias spürte in letzter Zeit oft so ein Ziehen zur linken Schulter hin.
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1. Auflage Taschenbuchausgabe April 2006 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
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München in der Verlagsgruppe Random House GmbH LW ⋅ Herstellung: Heidrun Nawrot
eISBN : 978-3-641-01035-5
 
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