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Albert Kitzler versteht es wie kein zweiter, antike Philosophie und modernes Leben miteinander zu verknüpfen. In seinem aktuellen Buch geht es um unsere Gesundheit. Er zeigt, was die Philosophie dazu beitragen kann, mit den seelischen Gefährdungen unseres Alltags fertig zu werden: Stress, Unruhe, Erschöpfung und manchmal sogar Angst belasten unsere Psyche. Albert Kitzler ist überzeugt: Das Weisheitswissen von Seneca, Buddha, Konfuzius und anderen antiken Denkern ist ein wirkungsvolles Heilmittel, um mit diesen Herausforderungen fertigzuwerden. Er übersetzt das Gesundheitswissen antiker Philosophen aus Ost und West anschaulich in unsere Lebenswirklichkeit und macht ihr philosophisches Therapeutikum nutzbar – als Weg zu Ausgeglichenheit und Daseinsfreude und zum Wohl unserer Seele.
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Seitenzahl: 363
Albert Kitzler
Philosophie für ein gesundes Leben
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Albert Kitzler versteht es wie kein zweiter, antike Philosophie und modernes Leben miteinander zu verknüpfen. In seinem aktuellen Buch geht es um unsere Gesundheit: Unser Alltag fordert uns viel ab – Stress, Unruhe, Erschöpfung und manchmal sogar Angst sind die Folge und belasten unsere Psyche. Albert Kitzler ist überzeugt: Das Weisheitswissen von Seneca, Buddha, Konfuzius und anderen antiken Denkern ist ein wirkungsvolles Heilmittel, um mit diesen Herausforderungen fertigzuwerden. Er übersetzt das Gesundheitswissen antiker Philosophen aus Ost und West anschaulich in unsere Lebenswirklichkeit und macht ihr philosophisches Therapeutikum nutzbar – als Weg zu Ausgeglichenheit und Daseinsfreude und zum Wohl unserer Seele.
Widmung
Motto
Vorwort
I Gesunddenken mit der Weisheit der Alten
Die alten Griechen, die [...]
Vom Denken zu heilsamen Gewohnheiten
Therapeutische Allianz
II Heilmittel gegen die Leiden der Seele
Überlastung, Überforderung
Die Ursachen
Erstes Heilmittel: Hinterfrage deine Wertvorstellungen und relativiere sie
Zweites Heilmittel: Achte auf die Grenzen der eigenen Leistungsfähigkeit
Drittes Heilmittel: Lerne, dir selbst zu genügen
Umgang mit den Heilmitteln
Heilmittel gegen Überforderung im Überblick
Ängste
Die Ursachen
Erstes Heilmittel: Hinterfrage deine Wertvorstellungen und relativiere sie (Selbsterkenntnis)
Zweites Heilmittel: Reduziere deine auf Äußeres gerichteten Begierden und lenke sie auf anderes
Drittes Heilmittel: Setze innere Werte anstelle von äußeren
Viertes Heilmittel: Denke weniger an die Zukunft und konzentriere dich auf das Hier und Jetzt
Fünftes Heilmittel: Mache dir die Vergänglichkeit aller Dinge bewusst
Sechstes Heilmittel: Denke an den eigenen Tod
Siebtes Heilmittel: Denke von Beginn an, dass deine Unternehmung scheitern kann
Achtes Heilmittel: Mache dir die Grenzen der eigenen Erkenntnisfähigkeit bewusst
Heilmittel gegen Ängste im Überblick
Zorn, Ärger, Wut, Hass
Die Ursachen
Erstes Heilmittel: Erkenne im Zorn einen Krieg im Kleinen
Zweites Heilmittel: Verzichte auf eine unmittelbare Reaktion
Drittes Heilmittel: Beziehe die Feindseligkeit nicht auf dich
Viertes Heilmittel: Denke daran, dass alles vergänglich ist
Fünftes Heilmittel: Prüfe dich selbst und lerne zu verstehen
Sechstes Heilmittel: Sei nicht verbissen in deinem Wollen
Siebtes Heilmittel: Vernünftige Überlegungen allgemeiner Art
Das Einüben
Heilmittel gegen Zorn, Ärger, Wut und Hass im Überblick
Sorgen, Kummer
Sorgen als Krankheit und Gegensatz zu Glück und Weisheit
Die Ursachen
Erstes Heilmittel: Ändere deine Vorstellungen
Zweites Heilmittel: Konzentriere dich auf das Hier und Jetzt
Drittes Heilmittel: Sei geduldig
Viertes Heilmittel: Löse Anhaftungen
Fünftes Heilmittel: Reduziere dein Wollen
Sechstes Heilmittel: Sei mit dir selbst im Reinen
Umgang mit den Heilmitteln
Heilmittel gegen Sorgen im Überblick
Entfremdung
Das Selbst
Die Ursachen
Erstes Heilmittel: Wahre das Eigene und meide die Pfade der Menge
Zweites Heilmittel: Erkenne dich selbst
Drittes Heilmittel: Sieh auf das Vorbild
Viertes Heilmittel: Wende dich an den Freund
Fünftes Heilmittel: Ziehe dich in dich selbst zurück
Heilmittel gegen Entfremdung im Überblick
Leidenschaften
Die Ursachen
Erstes Heilmittel: Nicht zu nah und nicht zu fern
Zweites Heilmittel: Wahre das rechte Maß
Drittes Heilmittel: Prüfe deine Wertehierarchie
Heilmittel gegen übermäßige Leidenschaften im Überblick
Trauer
Erstes Heilmittel: Denke an die Vergänglichkeit von allem
Zweites Heilmittel: Vergesse die Lichtseiten des Lebens nicht
Drittes Heilmittel: Übe dich im Ertragen des Unvermeidlichen
Viertes Heilmittel: Bedenke den Sinn der Trauerarbeit
Fünftes Heilmittel: Halte Maß in der Trauer
Heilmittel bei Trauer im Überblick
Habgier, Geiz
Heilmittel gegen Habgier und Geiz im Überblick
Neid, Eifersucht, Missgunst, Schadenfreude
Heilmittel gegen Neid, Eifersucht, Missgunst und Schadenfreude im Überblick
Gier
Heilmittel gegen Gier im Überblick
Ehrgeiz
Heilmittel gegen übermäßigen Ehrgeiz im Überblick
Überheblichkeit, Hochmut
Heilmittel gegen Überheblichkeit und Hochmut im Überblick
Nachwort
In der Antike wurden [...]
Leseempfehlung
Die nachfolgenden Texte haben [...]
Literaturverzeichnis
Die zitierten Philosophen
Dank
Für
Joachim Meinecke
Man wird wie das, was im eigenen Sinn und Denken herrscht – das ist das immerwährende Geheimnis.
Upanishaden
Sokrates sagte einmal, dass er nicht der allgemeinen Meinung folge, wonach ein gesunder Körper auch die Seele gut mache. Es sei vielmehr umgekehrt, dass eine gute Seele durch ihre Weisheit dem Körper die beste Pflege zukommen lasse, die man sich vorstellen könne.1
Im antiken Weisheitsdenken in West und Ost lässt sich vielfach die Auffassung nachweisen, dass Körper und Seele in die beste Verfassung kommen, wenn wir unseren Seelenhaushalt in Ordnung bringen. Dies aber geschehe vor allem dadurch, dass wir uns von falschen Vorstellungen befreien, die sich durch vielfältige Prägungen tief in unsere Seele eingegraben haben. Diese Befreiung beginne im »richtigen« Denken und vollende sich in angemessenen Haltungen und Einstellungen zum Leben. Die beste Verfassung von Körper und Seele, die damit angestrebt werde, sei nichts anderes als ihre Gesundheit. Sei diese einmal hergestellt, so stelle sich von selbst ein, wonach jeder Mensch strebe: das Gefühl von Wohlbefinden, Zufriedenheit und Glück. Zwar könne ein Körper, der sich in der besten Verfassung befinde, auch einmal von einer Krankheit heimgesucht oder durch Gewalt oder Unfall verletzt werden. In solchen Fällen aber biete ein gesundes Seelenleben die beste Medizin für eine Heilung und schnelle Genesung. Alles »Gute«, vor allem aber Glück und Gesundheit können daher auf ein Denken zurückgeführt werden, das unserer Seele nachhaltig wohltue und sie gut mache und damit zugleich die körperlichen Funktionen stärke.
Dieser Zusammenhang von Denken, seelischer Verfassung, Körper, Gesundheit, Glück und Wohlbefinden, der hier sehr verkürzt wiedergegeben wurde, stellt den wesentlichen Kern der antiken praktischen Philosophie im alten Ägypten, Griechenland, China und Indien dar. Es ist diese Philosophie, mit der wir uns beschäftigen wollen. Sie war weniger eine auf Pflichterfüllung beruhende Ethik, als vielmehr eine auf Glück, Wohlbefinden und seelische Gesundheit ausgerichtete therapeutische Philosophie. Einer ihrer maßgeblichen Ausgangspunkte war daher das alltägliche Leiden am Leben. Zwar ging es den praktischen Philosophen auch um eine Erweiterung des Wissens und die Aufdeckung von Irrtümern und falschen Vorstellungen; ihr damit verfolgtes Ziel aber war es, Leitgedanken anzubieten für die Gesundung und Heilung des Seelenlebens und damit zugleich des Körpers. Der Schwerpunkt lag auf den zahlreichen großen und kleinen Alltagsleiden, die die Menschen daran hindern, sich am Leben zu erfreuen und ein gutes und glückliches Leben zu führen.
Über viele Jahrhunderte hinweg war diese Auffassung weitgehend in Vergessenheit geraten. Zwei Entwicklungen in der jüngeren Vergangenheit geben aber berechtigten Anlass zu der Hoffnung, dass wir dieses überlieferte Weisheitswissen wieder zurückgewinnen und für unsere Lebenspraxis nutzbar machen werden. Im Zentrum der einen Entwicklung stehen die neueren Forschungen auf dem Gebiet der Medizin im weitesten Sinne, insbesondere die Untersuchungen im Bereich der Neurobiologie, der Epigenetik, der Psychoneuroimmunologie, Biopsychologie, der Stressforschung, aber auch verschiedene Ansätze der psychosomatischen Medizin, der tiefenpsychologisch orientierten Psychotherapie, der kognitiven Verhaltenstherapie, des Achtsamkeitstrainings oder der Weisheitstherapie2. Deren Untersuchungen und Forschungsergebnisse bestätigen vielfach – ohne dass dies beabsichtigt oder stets bewusst wäre – die Angemessenheit und Wirksamkeit antiker Weisheitslehren für die Überwindung, Vermeidung oder Reduzierung seelisch-körperlicher Leiden.
Die zweite Entwicklung hat in der Philosophie selbst ihren Ausgang genommen. Seit etwa einem halben Jahrhundert wächst auch in akademischen Kreisen zunehmend das Interesse an der praktischen Philosophie der Antike. Man entdeckt in ihr nicht nur brauchbare Konzepte für eine gelingende Lebensbewältigung, die auf einer vernünftigen Konzeption des menschlichen Miteinanders beruhen. Auch die antike Vorstellung von Glück und seelischer Gesundheit als das Ergebnis richtig verstandener Selbstsorge und philosophisch fundierter Selbsterziehung, die das ganze überlieferte Weisheitswissen in West und Ost wie ein roter Faden durchzieht, rückt immer mehr in den Fokus der aktuellen philosophischen Diskussion.
Beide Entwicklungen bestätigen die Kernthese der alten Denker und Weisen: den Einfluss und die Bedeutung des Denkens auf unser seelisches und körperliches Wohlbefinden. Es scheint daher gerechtfertigt, die Zusammenhänge von Denken und Leiden, seelischem Wohlbefinden und körperlicher Gesundheit, Glück und Zufriedenheit, wie sie die großen Denker des Altertums gesehen haben, in diesem Buch vorzustellen. Dies geschieht nicht aus historischem oder akademischem Interesse. Der Blick ist auf unsere Lebenspraxis gerichtet. Gefragt wird, was wir von den Weisheitslehren der Antike lernen können. Was haben die Alten empfohlen, um ein gesundes und zufriedenes Leben zu führen und dem Leiden aus dem Weg zu gehen und, wo dies nicht möglich ist, es beherzt zu ertragen? Kann uns dieses Wissen auch nach zweitausend Jahren noch etwas sagen? Bietet vielleicht gerade der große zeitliche Abstand die Chance, eine neue bereichernde Sicht auf unsere Lebensführung zu gewinnen?
Auch wenn manches, was im Folgenden dargestellt wird, dem Leser bekannt oder selbstverständlich vorkommen mag, so deutet die Tatsache, dass wir nach wie vor die meisten Leiden durch unser eigenes Denken, Werten und unsere Vorstellungen selbst verursachen, darauf hin, dass wir irgendetwas an dem scheinbar so Selbstverständlichen noch nicht hinreichend bedacht, verstanden oder umgesetzt haben.3
Es geht nicht darum, »positiv zu denken«, wenn damit gemeint ist, Negatives schlicht zu ignorieren und sich Positives einzureden. Das Gesunddenken, von dem das vorliegende Buch handelt, beschreibt vielmehr ein philosophisches Denken, das in der Antike in Ost und West entwickelt und vielfach auch gelebt wurde und das auf ein besseres Verständnis von sich und der Welt gerichtet ist. Es beruht auf ganzheitlichen Anschauungen und zielt auf eine nachhaltige Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, die uns widerstandsfähiger macht gegen Last und Leid des Alltags und uns lehrt, bewusster, freudvoller und weiser mit unserem Leben umzugehen.
Bei allem Bemühen um Praxisnähe und Anwendbarkeit der philosophischen Gedanken, die hier vorgestellt werden, bietet das Buch weder Patentrezepte für ein gesundes Leben noch einen Leistungskatalog, der abgearbeitet werden will. Es sind vielmehr Angebote für Denkwege und Verhaltensweisen, die der Leser für sich prüfen, ausprobieren und mit seinen eigenen Erfahrungen vergleichen kann, um in einzelnen Bereichen Änderungen seiner Denk- und Lebensweise vorzunehmen. Philosophische Heilmittel kann man nicht »einnehmen«. Sie sollen vielmehr bedacht, verstanden und eingeübt werden. Bewähren sie sich und passen sie für uns, sollten wir sie zu einem Teil von uns selbst machen, zu einer inneren Haltung. Erst dann entfalten sie vollends ihre heilende, wohltuende Wirkung für Geist, Seele und Körper. »Die Stärke eines Menschen kommt nicht von dem, was er verschlingt, sondern von dem, was er verdaut«, sagte ein griechischer Arzt der Antike.4
Die alten Griechen, die unsere westliche Kultur begründet haben, nannten ihre wichtigste Weisheit und Tugend »Besonnenheit« und meinten damit vor allem eine maßvolle, ausgewogene Lebensweise. Das griechische Wort dafür lautet sophrosýne und setzt sich zusammen aus den Worten »gesund« und »verständig denken«.5 Tatsächlich waren den Griechen die Weisheit und die Liebe zu ihr, die sie Philosophie nannten, eine Art »Gesundheit des Denkens« (Homer) oder Gesunddenken.6 Durch die Fokussierung auf das Denken klammerten sie das Handeln und die Praxis eines gesunden Lebens nicht etwa aus, ganz im Gegenteil. Aber sie wussten, dass unser Handeln und Fühlen ganz maßgeblich davon abhängen, was und wie wir denken, welche Vorstellungen wir haben, wie wir die Welt verstehen, die Dinge bewerten, worauf wir unser Wollen und unsere Begehrlichkeiten richten. Sie verkannten nicht, dass unser Handeln oftmals von unseren Emotionen und Trieben, von unbewussten Denk- und Verhaltensmustern gesteuert wird und Entscheidungen häufig »aus dem Bauch« heraus getroffen werden. Aber sie erkannten, dass all diese Faktoren maßgeblich von unserem Denken (mit)geprägt und beeinflusst werden.
Ein Beispiel: Ist uns jemand auf den ersten Blick unsympathisch, so wird sich daran nichts ändern, wenn wir ständig an das denken, was uns unsympathisch vorkommt, im Gegenteil: Unsere Abneigung wird immer größer. Das wird unser Verhältnis zu dieser Person entscheidend prägen. Wenden wir unsere Gedanken aber davon ab und richten sie auf andere Seiten dieses Menschen, versuchen ihn zu verstehen und konzentrieren uns auf Aspekte seiner Persönlichkeit, die uns näher oder sogar sympathisch sind, und halten den Fokus darauf gerichtet, dann kann es leicht passieren, dass sich die anfängliche intuitive Abneigung in ein positiveres Gefühl verwandelt. Wahrscheinlich wird dieser Mensch dadurch nicht unser Freund, aber er ist auch nicht mehr jener unsympathische Zeitgenosse, für den wir ihn anfangs hielten. Wahrscheinlich werden wir nach diesem »Umdenken« besser mit ihm auskommen.
Steuert oder beeinflusst unser Denken nicht nur unsere Handlungen, sondern auch, was wir fühlen, erleben, empfinden, so hat es auch Einfluss darauf, ob wir uns seelisch wohl fühlen, ob es uns »gut«geht, ob wir uns stark und energiegeladen fühlen oder eher unsicher, ängstlich, antriebsarm, deprimiert. All diese negativen Gefühle, Stimmungen und Belastungen der Seele waren für die alten Griechen – ebenso wie für die Ägypter, Inder und Chinesen – ein Leiden. Dieses Leiden der Seele nahmen sie nicht weniger ernst als das Leiden des Körpers. So galten auch die Formen des seelischen Leids wie die des Körpers als »Krankheiten«.
Da sie erkannt hatten, dass das Denken maßgeblichen Einfluss auf unser Fühlen und Handeln und damit auf unser seelisches Wohlbefinden hat, gab es für sie heilsames, »gesundes« Denken und solches, das zu seelischem Leid führt, es aufrechterhält oder sogar vergrößert. Wie der Arzt, der uns Medizin verschreibt, Ratschläge erteilt und uns dabei hilft, dass unser Körper wieder gesund wird, so war derjenige, der das Gleiche für die Seele tat, eine Art Heilkundiger für die Seele. Die Lehre oder Wissenschaft aber, die sich mit dem richtigen, das heißt »gesunden« Denken befasste, nannten sie Philosophie. Über dem Tor der Bibliothek von Alexandria, der mit Abstand größten Bildungsstätte der antiken Welt, stand daher die Inschrift »Hospital der Seele« (griech. psyches iatreion).7
Tatsächlich war die Philosophie in der Antike vorwiegend eine Art »Seelenheilkunde«. »Fürs Leibliche haben die Menschen zwei Wissenschaften: die Heilkunde zur Erhaltung der Gesundheit und die Gymnastik für die Stärkung und Widerstandsfähigkeit. Für Schwachheiten und Leidenschaften der Seele ist aber die Philosophie die einzige Arznei.«8
Ziel dieser Philosophie war es, die Menschen von seelischem Leiden zu befreien, das heißt, die Seele ganz, heil, »gesund« zu machen. Zwar umfasste die Philosophie auch andere Bereiche, aber der Schwerpunkt und das Endziel allen Philosophierens waren Fragen des »guten Lebens«, eines, das seelisches Leid vermeidet und nachhaltig Wohlbefinden hervorruft. Von dieser praktischen Philosophie als Seelenheilkunde, die sich zum Ziel gesetzt hat, seelisches Leiden wie eine Krankheit zu behandeln und zu kurieren, handelt das vorliegende Buch.9
Die »Krankheiten«, die hier behandelt werden, sind nicht mit psychischen Störungen oder seelischen Krankheiten im heutigen Sinne zu verwechseln, denn diese können – was auch die Antike wusste – weder von der Philosophie noch von einem räsonierenden Denken geheilt werden. Das seelische Leiden darf keinen solchen Grad erreicht haben, dass wir den Betroffenen mit bloßen Worten nicht mehr erreichen und ihm keine Linderung seiner Leiden verschaffen können. Es geht vielmehr um alle Formen und Stufen seelischen Leids, die unterhalb dieser Schwelle liegen und sich bis zu dem idealen Zustand vollkommener Abwesenheit von seelischem Leid erstrecken. In diesen Bereich fällt die ganz überwiegende Mehrzahl unserer Alltagsleiden. Die Grenze zur seelischen Krankheit im engeren Sinne ist fließend. Sie genauer zu bestimmen braucht hier genauso wenig zu geschehen wie der Versuch, »gesund« und »krank« »objektiv« zu definieren. Aristoteles, der gemeinsam mit Sokrates und Platon die abendländische Tradition philosophischer Begriffsklärung begründet hat, räumte selbst ein, dass wir uns im Bereich der richtigen Lebensführung – und das heißt auch für ihn eine solche, die seelisches Leid vermeidet und zur »Glückseligkeit« führt – mit einem geringeren Grad an wissenschaftlicher Genauigkeit zufriedengeben müssen. In der praktischen Philosophie gehe es weniger darum, zu definieren, was Glück, Wohlbefinden oder seelische Gesundheit sei, als vielmehr darum, glücklich zu werden und seelisches Leid zu überwinden.10
Für die nachfolgende Erörterung seelischer Leiden und ihrer philosophisch begründeten Überwindung oder Linderung reicht es daher aus, sich darauf einzulassen, bestimmte belastende Seelenzustände wie chronischen Stress, Ärger, Angst, Sorgen, Entfremdung, zügellose Leidenschaft, Eifersucht, Neid, Habgier, Formen der Trauer und Selbstsucht etc. als seelisches Leiden und – wie es die Alten taten – als eine Art von »Krankheit« zu verstehen. Die Abwesenheit von seelischem Leid wäre danach die »Gesundheit« der Seele. Die dabei ständig mitgedachte Analogie zu körperlicher Krankheit und Gesundheit, die von den Alten immer wieder herangezogen wurde, kann uns einerseits dabei helfen, die Diskussion um ein »gutes«, »gelungenes«, »erfülltes«, »glückliches« Leben auf eine andere Ebene zu verlagern, abseits von verbrauchten Worthülsen und Moralisierungen. Andererseits vermittelt sie den zutreffenden Eindruck, dass es hier nicht um spekulative Philosophie geht – die zweifellos ihre Berechtigung hat –, sondern um eine praktische, genauer: therapeutische Philosophie, die eine gewisse Nähe zu medizinischen und naturwissenschaftlichen Fragestellungen aufweist.
Ein Beleg dafür ist die Tatsache, dass die wissenschaftlichen Ergebnisse der modernen Neurobiologie, Epigenetik, Psychoneuroimmunologie, der psychosomatischen Medizin und anderer Forschungsgebiete die Plausibilität und Angemessenheit antiken Weisheitswissens vielfach bestätigen. Die in diesem Buch erörterten seelischen Beschwerden und Belastungen, in denen die antike praktische Philosophie Krankheiten sah, wirken auf Dauer wie sogenannte Stressoren. Sie führen im Körper zu biochemischen Reaktionen, die ohne entsprechenden Ausgleich in vielfältiger Weise unsere Gesundheit beeinträchtigen, zur schnelleren Alterung beitragen, das Leben verkürzen und bei der Entstehung und Entwicklung der meisten schweren Krankheiten eine wichtige, wenn nicht entscheidende Rolle spielen.11
Der veränderte Blick auf unsere alltäglichen seelischen Leiden kann zudem dabei helfen, innere Barrieren oder Blockaden zu überwinden und zu lösen, die uns davon abhalten, uns für philosophisch begründete, mentale Übungen und Gedanken zu öffnen, mit denen die Antike seelischem Leiden begegnet ist.
Schließlich kann eine Perspektive, die alltägliches Leiden und das ihr zugrundeliegende Verhalten nicht als eine Normalität oder moralische Verfehlung, sondern als eine Art Krankheit ansieht, diesem Leiden und seiner Behandlung die Ernsthaftigkeit vermitteln, die es verdient. Sie kann es von moralischen Bewertungen befreien, die es nicht verdient. Wir sind es gewohnt, bei den kleinsten körperlichen Symptomen den Arzt aufzusuchen, mit unseren seelischen Alltagsleiden aber bleiben wir häufig – weil wir das Krankmachende daran unterschätzen – allein und ohne Hilfe. Nicht selten bis zu einem Punkt, wo das Leiden schließlich in eine massive psychische oder physische Erkrankung umschlägt. Sehr aufschlussreich für das Verhältnis von seelischem Leiden, Krankheit, eigenem Verhalten und praktischer Philosophie ist in diesem Zusammenhang eine Bemerkung eines seinerzeit sehr angesehenen griechischen Philosophen:
Die Zunft der Ärzte wünscht sich, der Mensch möge überhaupt nicht erkranken. Wenn er aber erkrankt, soll er wenigstens nicht ignorieren, dass er krank ist, wie es leider bei allen seelischen Leiden der Fall ist. Wenn Menschen töricht handeln, zügellos leben und Unrecht tun, wollen sie gar nicht glauben, dass sie sich verfehlen, sondern einige meinen auch noch, sie würden sich richtig verhalten. Noch niemand hat das Fieber Gesundheit genannt, die Schwindsucht Wohlbefinden, die Gicht Schnellfüßigkeit oder die blasse Gesichtsfarbe gesunde Röte. Die ungestüme Wut aber nennen viele Tapferkeit, das sexuelle Verlangen (nach Knaben) Freundschaft, den Neid gesunde Konkurrenz und die Feigheit kluge Vorsicht. Die Folge ist, dass körperlich Kranke die Ärzte herbeirufen, weil sie fühlen, dass sie ihrer für die Behandlung ihrer Erkrankungen bedürfen, während seelisch Kranke die Philosophen meiden, weil sie sich selbst in den Bereichen erfolgreich agieren sehen, wo sie in Wirklichkeit schwere Fehler begehen.12
Es ist vielfach darauf hingewiesen worden, dass unser westliches Gesundheitssystem tendenziell zu spät einsetzt, nämlich erst wenn seelische und körperliche »Krankheiten« bereits ausgebrochen sind.13 Unsere westliche Medizin ist eine körperorientierte, mechanistische Akut- und Defektmedizin, die in vielen Bereichen außerordentlich erfolgreich ist, in anderen Bereichen wie etwa bei chronischen Entzündungserkrankungen, funktionellen Störungen, Autoimmunerkrankungen aber große Defizite aufweist.14 Die teilweise sehr lange Phase der allmählichen Entstehung einer Krankheit mit all den seelischen, ereignis- und verhaltensbedingten Faktoren bleibt weitgehend unberücksichtigt und unbehandelt. Manche halten es für einen großen Vorteil der traditionellen chinesischen Medizin, dass diese ihren Schwerpunkt auf die Prävention und die Vermeidung von Krankheiten gelegt hat. So lernen chinesische Kinder, auf körperliche Symptome und Befindlichkeiten zu achten, um Funktionsstörungen bereits in einem frühen Stadium wahrzunehmen.15 »Man muss wirken auf das, was noch nicht da ist« und »für Schweres sorgen, solange es leicht ist«, sagt Laotse.16 In dieser Tradition stehend bemerkt der japanische Gelehrte und Philosoph Kaibara Ekiken, selbst ein Arzt, der sich Zeit seines Lebens mit seelischen wie körperlichen Gesundheits- und Erziehungsfragen beschäftigt hat: »Der Weg der Lebenspflege besteht darin, achtsam zu sein, wenn man frei von Krankheit ist.«17
Platon, der seine philosophischen Ansichten gern mit Mythen untermauerte, sagte, dass der Gott Asklepios die Heilkunst in erster Linie für Gesunde erfunden habe, weshalb man für die Erziehung und Lebensschulung des gesunden Menschen verstärkt die Medizin heranziehen solle.18 Indem die Alten in seelischen Alltagsleiden und -belastungen eine Art Krankheit sahen, der sich die praktische Philosophie als »Seelenheilkunde« zu widmen habe, schloss dieser Teil der Philosophie im Ergebnis die Lücke in der Gesundheitsvorsorge, die heute als ein schmerzliches Defizit sowohl der Biomedizin wie auch der Psychotherapie empfunden wird. Vor dem Hintergrund der wachsenden wissenschaftlichen Erkenntnisse über die vielfältigen, hochkomplexen Wechselwirkungen von Psyche und Immunsystem einschließlich des Nerven- und Hormonsystems gewinnt das Heilungs- und Gesundheitswissen der antiken praktischen Philosophie an Bedeutung und Relevanz. Sokrates’ Forderung, sich den Alltagsleiden zuzuwenden und die Menschen zu lehren, wie sie ihren Seelenhaushalt führen können, um solche Alltagsleiden zu vermeiden, scheint aktueller denn je.
»Also müssen wir erwägen«, sagte Sokrates, »ob einer von uns die rechte Ausbildung hat hinsichtlich der Behandlung der Seele und imstande ist, sie richtig zu behandeln, und wer darin gute Lehrer gehabt hat.«19 Für den Ausdruck »Behandlung der Seele« steht im griechischen Text psyches therapeia, was so viel heißt wie: die Seele pflegen, warten, ihr dienen. Es ist bedauerlich, dass der gute, wohltuende, gesunde Umgang mit den eigenen Seelenkräften, für den es zu Sokrates’ Zeiten offenbar noch Lehrer gab, heutzutage weder in der Schule noch an der Universität gelehrt wird.20
Es soll nicht verkannt werden, dass es auch seelisches Leid gibt, das unvermeidbar oder sinnvoll ist, etwa Formen der Trauer, des Betrübtseins, des Befürchtens und Zweifelns, der Verunsicherung und Entfremdung. Sie können Symptome sein und uns auf etwas Übergangenes hinweisen, vor größerem Leid warnen oder uns den Weg aus einer Krise heraus in einen besseren Seelenzustand zeigen. Konfuzius sagte einmal, dass jemand, der »sein eigenes Selbst noch nicht entfaltet habe, dies sicher in der Trauerzeit tue«.21 Wie die Gefahr zugleich den Moment des Rettenden in sich birgt, so kann auch das Leiden eine Chance sein.
Das griechische Wort krísis, das unserem Wort Krise zugrunde liegt, hat eine ähnliche Ambivalenz. In der Medizin bezeichnet krísis von alters her den Wendepunkt, in dem eine Krankheit sich zuspitzt, um entweder zum Guten oder zum Schlechten auszuschlagen. Bei aller Sinnhaftigkeit und Bedeutsamkeit des Leidens ist es gleichwohl nicht das Leiden, das wir mit unserer Lebensführung anstreben, sondern das Gegenteil davon, die Freiheit von »Angst und Schmerz«, worin Epikur nichts weniger als eine angemessene Bestimmung des menschlichen »Glücks« sah.22 Wir müssen uns allerdings eingestehen, dass wir dieses Gegenteil, nämlich Leidfreiheit, Wohlbefinden, Gesundheit, Glück, wohl nur durch eine Auseinandersetzung mit erlebtem Leid erlangen können; dass wir es dem Leiden immer wieder aufs Neue abringen müssen. »Das Erleichtern des Leidens muss man aus der Kraft des Leidens heraus meistern«, sagt ein japanischer Philosoph.23 Oder wie sich ein antiker chinesischer Philosoph ausdrückte: »Menschen von Charakter, Scharfsinn, Klugheit und Weisheit haben in der Regel lange in Not und Elend gelebt.«24
Wenn dieses Buch sich nahezu ausschließlich auf das Weisheitswissen der Antike in West und Ost als »Seelenheilkunde« und »philosophische Therapeutik« beruft (vor allem aus der Zeit von 500 v. Chr. bis 200 n. Chr.), so deshalb, weil ich der Auffassung bin, dass bereits in der Antike in auffälliger Übereinstimmung alles Wesentliche zur Überwindung seelischen Alltagsleids ausgesprochen worden ist. Die Analyse dieses Leids und die Mittel seiner Überwindung oder Linderung sind seinerzeit in einer Tiefe, Klarheit und Breite erörtert worden, die in späteren Zeiten im philosophischen Schrifttum nicht wieder erreicht wurde.25
Auf diese Bedeutung der Philosophie hat bereits Kant hingewiesen, ebenfalls unter Berufung auf die Antike, namentlich auf Sokrates und Platon. Für ihn war die praktische Philosophie die »Aufbewahrerin der Weisheitslehre«. Er unterschied einen Schul- und Weltbegriff von Weisheit. Der Schulbegriff meine das System der Erkenntnis in logischer Stimmigkeit. Der Weltbegriff der Weisheit beziehe diese Erkenntnis auf das praktische Handeln der Menschen und den alltäglichen Lebensvollzug, in dem diese Erkenntnis erst ihren eigentlichen Nutzen unter Beweis stellt. Auf sie sei letztlich alle Philosophie bezogen. Daher sei »der praktische Philosoph, der Lehrer der Weisheit durch Lehre und Beispiel, der eigentliche Philosoph«.26 So wenig das »große Publikum« in der Lage sei, an den »subtilen Untersuchungen« der Schulphilosophie Anteil zu nehmen, so notwendig sei es doch, dass die Philosophie auch beim allgemeinen Publikum praktisch werde und Lehren vermittle, die dem Leben derjenigen Menschen, die keine Philosophie studiert haben, als »Richtschnur« dienen können, »um den Weg zur Weisheit (seelischer Gesundheit), den jedermann gehen soll, gut und kenntlich zu bahnen, und andere vor Irrwegen« abzuhalten. 27
Ferner ist vielen Spruchweisheiten eine große Einprägsamkeit eigen, ein Grund, warum sie mehr als zweitausend Jahre überlebt haben. Oft ist es eine besonders klare, treffende, ungewöhnliche oder bildhafte Formulierung, die sich in unserem Denken festsetzt und an die wir uns in Situationen erinnern können, in denen uns die in ihr festgehaltene Einsicht eine wichtige Orientierung geben kann. Sie haben schließlich einen »appellativen« Charakter, der die Selbstbestimmung und Selbstreflexion anregen und unterstützen soll.28
Da es jedoch nicht meine Absicht ist, eine historische Darstellung zu geben, sondern zu fragen, was uns die Weisheit der Alten bei der Bewältigung unserer alltäglichen seelischen Leiden sagen kann, ist der Ausgangs- und Endpunkt der nachfolgenden Betrachtungen stets die eigene Lebenspraxis. Sie ist der leitende Gesichtspunkt, unter dem wir die wichtigsten Weisheitstexte der Antike auf ihre praktische Relevanz für den heutigen Menschen befragen. Es gilt, wie Konfuzius einmal bemerkte, das überlieferte Weisheitswissen mit der eigenen Erfahrung zu einer neuen Erkenntnis verschmelzen zu lassen.29
Wir werden feststellen, dass es im Bereich der Lebensweisheit wenig wirklich Neues gibt. Vieles wird dem Leser bekannt vorkommen. In der Weisheitslehre ist nur der Irrtum neu, die Weisheit selbst ist schon seit langem entdeckt. Weisheit hat stets bei der Natur des Menschen und den Gesetzen des Lebens angesetzt. Mögen sich die äußeren Lebensumstände noch so sehr verändern, die Natur des Menschen bleibt im Wesentlichen gleich. Seit vielen tausend Jahren hat der Mensch im Grunde die gleichen existentiellen Sehnsüchte, Bedürfnisse, Ängste, Probleme, Sorgen, Freuden und Leiden. Wir können daher unsere Bemühungen darauf konzentrieren, das überlieferte Wissen in unsere Sprache zu übersetzen, an die geänderten Umstände anzupassen und mit den eigenen Erfahrungen zu verknüpfen. Es kann zu einer enormen persönlichen Bereicherung führen, die wichtigen Themen des Lebens, das seelische Leid wie sein Gegenteil – Glück, Erfüllung, seelische Gesundheit – einmal nicht in dem allzu bekannten Jargon der Gegenwart, sondern in der historischen und sprachlichen Brechung neu zu bedenken, in der uns die bedeutenden Weisheitstexte der Antike begegnen. »Aus der grauen Vorzeit mag man die Gegenwart verstehen«, sagte Konfuzius.30 Wir können so dieselbe Sache wie durch ein Prisma in anderen Farben, Zusammenhängen und Perspektiven wahrnehmen. Das kann uns dabei helfen, unsere Lebenswelt selbst neu und anders zu erfahren und aus einem gewandelten Verständnis heraus die Kraft zu finden, etwas zu verändern.
Bevor wir zu den einzelnen Leiden der Seele und ihrer philosophisch begründeten Überwindung oder Linderung kommen, ist es hilfreich, ein allgemeines Schema zu erläutern, auf das wir bei den einzelnen Kapiteln immer wieder zurückkommen werden. Es betrifft die Frage, wie wir mit Hilfe des Denkens und den dabei gewonnenen Einsichten und Weisheiten seelisches Leiden »heilen« können. Denn die Einsicht allein ist noch nicht die Heilung. Wir wissen viel und tun es doch nicht. Weise ist nicht, wer viel weiß, sondern wer danach lebt. In der einen oder anderen Form ist das Schema, das nachfolgend vorgestellt werden soll, auf nahezu alle seelischen Beschwerden anwendbar. Es bildete einen wesentlichen Bestandteil der antiken praktischen Philosophie in Ost und West.
Der erste Satz der »Gespräche« des Konfuzius lautet: »Etwas lernen und sich immer wieder darin üben, schafft das nicht Freude?«31 »Freude« steht für Glück, Zufriedenheit, seelisches Wohlbefinden oder Gesundheit. Für die Philosophen der Antike war das Verbindungsstück zwischen Denken und seelischer Gesundheit das Einüben von Gewohnheiten. Dieses Eingewöhnen neuer Denk- und Verhaltensgewohnheiten, das Abgewöhnen und Umgewöhnen von als schlecht erkannten Mustern im Denken, Wollen und Handeln, war das philosophische Heilmittel für jede Art seelischen Leids. Es war der eigentliche Lernprozess auf dem Gebiet der praktischen Philosophie und der einzige Weg, seine Freude am Leben nachhaltig zu nähren und zu mehren. Wer keine Gewohnheit ändert, der ändert nichts.
Für Aristoteles sind wir nichts anderes als das, was wir tagtäglich tun. »Aus unseren Tätigkeiten erwächst unsere Haltung.«32 Wir werden zu dem, was wir tun. Wir sind unsere Gewohnheiten. Dazu zählen insbesondere auch unsere Denkgewohnheiten: »Man wird wie das, was im eigenen Sinn und Denken herrscht – das ist das immerwährende Geheimnis«, heißt es in den altindischen Upanishaden.33 Unsere Gewohnheiten sind unser Charakter. Sie sind nach Aristoteles unsere »zweite Natur«, die sich mehr oder weniger über unsere Erbanlagen und frühkindlichen Prägungen, die »erste Natur«, legen und sie maßgeblich formen. Der Charakter ist etwas, »was sich … ausbildet«, eine Gewohnheit, die durch Wiederholung und Einübung entsteht. Durch ein bewusstes Eingewöhnen eines bestimmten Denkens oder Verhaltens formen und verändern wir unseren Charakter und bilden unsere Persönlichkeit.34
Wodurch werden wir sportlich? Indem wir uns angewöhnen, regelmäßig Sport zu treiben. Wodurch werden wir gelassen? Indem wir uns abgewöhnen, uns über andere, das Schicksal oder irgendeine Sache unnötig aufzuregen. Wodurch werden wir mitfühlend? Indem wir uns angewöhnen, im anderen uns selbst wiederzuerkennen und die Sorgen anderer zu teilen. »Wandel heißt Wandel in der Gewohnheit«35, heißt es in einem Klassiker antiker chinesischer Philosophie.
Die meisten Gewohnheiten entstehen unwillkürlich und ohne darüber nachzudenken. Es sind verinnerlichte, häufig unbewusste Denk- und Verhaltensmuster, »irrationale Seelenelemente«, wie Aristoteles sie nennt.36 Sie sind aber, und das ist die entscheidende Beobachtung des Aristoteles, nicht in Stein gemeißelt und für ewig festgelegt. Wir können uns durch unser Denken dazu entschließen, uns in Zukunft anders zu verhalten oder anders zu denken, und wenn wir es dann auch tun, uns umgewöhnen. Das meint Aristoteles, wenn er sagt, dass die verinnerlichten Denk- und Verhaltensmuster, der »Charakter«, in der Lage sind, »nach Maßgabe des befehlenden Rationalen dem Rationalen zu folgen«.
Ein Bild Platons aufgreifend, beschreibt ein anderer Philosoph diesen Vorgang so: »Da kommt es der Denkkraft zu, nunmehr wie ein Wagenlenker das Gespann der zusammen aufgewachsenen Rosse, der Begierde und des Gefühls (irrationale Seelenkräfte), zu regieren und zu beherrschen.«37 Dieses Regieren aber geschehe, indem wir uns durch die Umstellung unserer Gewohnheiten selbst erziehen: »Denn in den unvernünftigen Kräften der Seele kann kein Wissen entstehen, sowenig als in den Rossen, sondern diesen wird die ihnen eigene Tüchtigkeit (Weisheit) durch eine Art unbewusster Gewöhnung zuteil, dem Wagenlenker dagegen durch vernünftige Belehrung.«38 Dem »Wagenlenker« in diesem Bild entspricht unser vernünftiges Denken. Dieses kann »belehrt« werden und lernt eigentlich ständig dazu, bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger, sei es durch Gespräche, Bücher, persönliche Erfahrungen oder eben durch philosophische Unterrichtung, die im Zitat gemeint ist.
Die Weisen der Antike sahen sehr klar, dass die Einsicht und das Wissen zwar grundlegend und wichtig sind, um unsere Persönlichkeit zu entwickeln und etwas in unserem Leben zu verändern. Sie sind aber keineswegs ausreichend.
Hinzukommen muss, dass wir unsere »wilden Rosse« erziehen, das heißt die von »Begierden und Gefühlen« beeinflussten, häufig unbewussten Denk- und Verhaltensmuster verändern. Sie teilten daher die praktische Philosophie in zwei Teile: »das Wissen und die Seelenverfassung«. »Denn wer den Lehrgang durchgemacht und richtig begriffen hat, was zu tun ist und was zu meiden ist, ist noch nicht weise, und zwar nicht eher, als bis er eine innere Umwandlung durchgemacht hat, durch die seine Seele ganz mit dem, was sie gelernt hat, verschmolzen ist.«39
Der Transmissionsriemen zwischen der intellektuellen Einsicht und einer »gesunden« Seelenverfassung, also der Totalität sowohl unserer Einsichten als auch unserer Begierden, Gewohnheiten und Haltungen, ist somit die Übung. In der Bhagavadgita, einem zentralen Lehrgedicht des altindischen Weisheitsdenkens, gibt der Gott Krishna dem Helden Arjuna, dessen Wagenlenker (!) er ist, folgende Weisheit mit auf den Weg:
Wohl ist, o Held, zu zügeln schwer
Des »Herzens« Vielbeweglichkeit,
Doch bannet es, o Kuntis Sohn (Arjuna),
Die Übung und Besonnenheit.40
Immer wieder stoßen wir in den alten philosophischen Texten auf diesen Zusammenhang von Denken und Erkennen einerseits, auf Üben und Eingewöhnen andererseits. Sie sind die Mittel zur Erziehung und Bildung unserer Persönlichkeit zur eigenverantwortlichen Gestaltung unseres Lebens und zur Heilung unserer seelischen Leiden und Beschwerden.
Auf Letzteres verweist eine Stelle bei Platon, wo er einen Ratschlag bei Unglücksfällen erteilt. Man solle sich nicht übermäßig grämen und jammern, lässt er Sokrates sagen, und nicht »wie Knaben nach dem Hinfallen die wunde Stelle mit der Hand halten und immerfort schreien; im Gegenteil soll man die Seele immer gewöhnen, sobald als möglich an das Heilen und Wiedergutmachen des Unfalls und der Wunde zu gehen und man soll durch die Heilkunde die Klagelieder beschwichtigen«.41 Statt im Jammern zu verharren, sollten wir den Schmerz der Seele heilen. Die »Heilung« bestehe in solchen Fällen darin, unsere Gedanken von dem Schmerz wegzuführen und zu überlegen (»mit sich vernünftig zu Rate gehen«), was wir »nach den gegebenen Verhältnissen am besten tun sollen«.42 Sich übermäßig auf den Schmerz zu konzentrieren ist ungesundes Denken, sich zu fokussieren auf das, was nun am besten zu tun ist, um den Schmerz zu überwinden, gesundes Denken. Das kontinuierliche Einüben einer solchen Art »gesunden« Denkens entspricht der körperlichen Ertüchtigung durch regelmäßigen Sport: »Wer tüchtig werden will (weise, gesund), muss den Körper auf dem Sportplatz und die Seele durch Erziehung trainieren.«43 (Antisthenes)
Ein weiteres Beispiel soll verdeutlichen, wie wir uns dieses Einüben »gesunder Gedanken« zur Überwindung oder Milderung leidvoller seelischer Zustände vorstellen können, insbesondere auch, welche Rolle dabei ein spezifisch philosophisches Denken spielt, das auf Erkenntnis, Einsicht und Weisheit gerichtet ist. Viele Philosophen der Antike sahen in dem Zorn ein seelisches Leiden, das wir auf dem Weg zu einem glücklichen und gesunden Seelenleben überwinden und uns ganz abgewöhnen sollten. Zu ihnen gehörte auch Seneca: »Was entwaffnet den Zorn des Weisen? Die Massenhaftigkeit der Fehlenden (Fehlgehenden) … Der Weise wird dem Fehlenden nicht zürnen. Warum? Weil er weiß, dass niemand von Geburt ein Weiser ist, sondern es erst wird. Weiß er doch, dass im ganzen Verlauf der Zeit nur verschwindend wenige (vollkommen) weise werden; denn er weiß genau Bescheid über die Beschränktheit des Menschenlebens; kein Vernünftiger aber zürnt der Natur.«44
Auch wenn es so klingt, so hält sich Seneca nicht selbst für einen vollendeten Weisen, allenfalls für einen Philo-sophen, also einen, der nach Weisheit strebt (griech. phílein, streben nach, lieben, und sophos, Weisheit). Es ist auch nicht Arroganz, denn ihm ist bewusst, wie schwierig die Überwindung von menschlichen Schwächen und Defiziten ist und – das wissen wir aus anderen Stellen – dass er selbst nicht frei von Fehlern ist. Er argumentiert mit dem Ideal eines Weisen, um das Ziel zu verdeutlichen, dem wir uns annähern sollten. »Also friedlich gestimmt und nachsichtig gegen Verirrungen«, so fährt er fort, »kein Feind der Fehlenden, sondern als Führer zum Besseren verlässt der Weise täglich sein Haus mit dem Gedanken: ›Es wird mir gar mancher Trunkenbold begegnen, gar mancher Wollüstling, gar mancher Undankbare, gar mancher Geizhals, gar mancher von den Furien des Ehrgeizes Verfolgte.‹ Alles dies wird er so gelassen und freundlich ansehen wie der Arzt seine Kranken.«45
Im ersten Teil führt Seneca einen einfachen, aber grundlegenden Gedanken an, der in der Antike erstmals gedacht und dann in das Zentrum humanistischer Vorstellungen gerückt wurde: Alle Menschen haben Fehler. Schon dieser Gedanke stimmt uns »friedlich und nachsichtig« gegen andere, wenn wir ihn richtig verstehen und tief genug verinnerlichen.46 Aber damit ist es nicht getan. Um diesen Gedanken auch im täglichen Leben so parat zu haben, dass wir die zornige Anwallung schon im Entstehen abblocken oder mindern können, empfiehlt Seneca eine kleine Übung zu dessen Verinnerlichung: Bevor wir das Haus verlassen, sollten wir unser Denken und unser mentales Immunsystem trainieren, indem wir in uns diese Weisheit wachrufen, vergegenwärtigen und erneut bedenken. Machen wir uns diese Übung eine Zeitlang zur Angewohnheit, wird der Gedanke verinnerlicht und die Seele nach einer gewissen Zeit im Hinblick auf den Zorn »gesunden«47: Anstatt in den von Seneca genannten Fällen zornig zu werden und negative Gefühle aufkommen zu lassen, werden wir gelassen bleiben. Wir sind immun geworden gegen den Virus zorniger Erregung.
Es ist dieses Zusammenspiel von philosophischer Einsicht (»alle Menschen haben Fehler«), Einübung (regelmäßiges Bewusstmachen und Anwenden) und einer sich zu einer inneren Haltung verfestigenden Gewohnheit (Gelassenheit), auf das wir in den folgenden Kapiteln bei den einzelnen seelischen Beschwerden und Leiden immer wieder zurückkommen werden. Es stellt nicht nur den Kern des konfuzianischen Prinzips der Selbsterziehung dar, wie es in dem »Lernen und sich immer wieder üben« zum Ausdruck kommt. Es findet sich ebenso wieder in allen Richtungen der antiken indischen Philosophie sowie in dem griechisch-römischen Ideal der Selbstbildung und Erziehung (griech. paideia). Es ist kein Zufall, dass einer der Sieben Weisen, mit dem das philosophisch-praktische Denken in Griechenland begann, die Spruchweisheit prägte: »Alles ist Übung/Gewohnheit.«48
Wenn im Folgenden Wege beschrieben werden, wie wir mit Hilfe des Denkens, des Umgewöhnens und der Persönlichkeitsentwicklung seelisches Leid überwinden oder doch merklich lindern können, so wird nicht verkannt, dass dies eine ausgeprägte Kraft zur Selbststeuerung und Selbstbeherrschung voraussetzt. Ohne dass wir selbst zu einer neuen Einsicht gelangen, uns selbst entschließen, etwas an unserem Denken oder Verhalten zu ändern, und es dann auch selbst in unserem alltäglichen Leben umsetzen, werden wir keine Fortschritte erzielen.
Andererseits ist niemand imstande, vollständig ohne fremde Hilfe sein seelisches Leiden und seine Belastungen zu überwinden. Es sei noch nie vorgekommen, meinte Konfuzius, dass jemand ohne die Hilfe anderer »frei von (leidvollen) Fehlern bliebe«.49 Ohne eine Beziehung zu anderen Menschen, ohne Resonanz und Anerkennung im weitesten Sinne, sind wir im Grunde weder überlebens- noch entwicklungsfähig. Insbesondere bei Heilungs- und Gesundungsprozessen, bei dem Erlernen wohltuender Denk- und Verhaltensweisen ist die fördernde Zugewandtheit, das Vorbild, der Beistand oder das Mitgefühl anderer Personen von einer Bedeutung, die kaum überschätzt werden kann. So sind nährende zwischenmenschliche Beziehungen im weitesten Sinne auch unabdingbare Voraussetzung für ein Gesunddenken und einer darauf aufbauenden Veränderung von Gewohnheiten.50
Aus dieser Erkenntnis heraus sind die verschiedenen Lehrer-Schüler-Verhältnisse entstanden, sei es im Rahmen einer Lehrgemeinschaft wie bei Konfuzius, in der Jüngerschaft Buddhas, im altindischen »Guru«- und Brahmanen-Wesen51, schließlich in den philosophischen Schulen Griechenlands, die teilweise als echte Lebensgemeinschaften organisiert waren wie Epikurs »Garten«. Für solche engen und unmittelbaren Lehrsituationen bietet ein Buch wie das vorliegende keinen adäquaten Ersatz. Wenn ich dennoch dieses Buch geschrieben habe, anstatt mich wie Sokrates auf den Marktplatz zu stellen und das unmittelbare Philosophieren zu praktizieren, so aus zwei Gründen.
Zum einen, weil bei aller Vermittlung von Weisheitswissen ohnehin nur Ideen, Anregungen und Anstöße zu einem philosophischen Gesunddenken gegeben werden können. Zum anderen, weil es durchaus möglich ist, durch ein Buch solche nährenden Beziehungen herzustellen oder doch Wege dafür zu ebnen. Denn solche Beziehungen können sich auch zu Menschen aufbauen, die wir gar nicht persönlich kennen oder die schon lange tot sind, etwa wenn wir ihre Lehre, ihr Leben oder ihr Werk bewundern oder verehren. Viele Menschen pflegen bewusst oder unbewusst solche Beziehungen und lassen sich durch sie beeinflussen. In Fragen der Lebensführung und Weltanschauung ist dies sogar regelmäßig der Fall, wie alle Religionsgemeinschaften belegen. Häufig ist es das lebendige Bild, das wir uns von einem Religionsstifter, einem Heiligen, einem Weisen, einem Künstler oder einer herausragenden Persönlichkeit machen, das unser Denken und Handeln beeinflusst, nicht selten nachhaltiger als alles andere.52
In der Philosophie stoßen wir auf ein ähnliches Phänomen. Generationen von Philosophen sind bis zum heutigen Tag nicht nur vom Denken, sondern auch von der Lebenshaltung eines Sokrates oder eines Konfuzius beeinflusst. Ich weiß nicht, ob dieses Buch ohne die Liebe zur Philosophie, die Sokrates und seine Idee vom guten und glücklichen Leben in mir als Heranwachsendem ausgelöst haben, je geschrieben worden wäre. Bis in mein alltägliches Verhalten hinein kann ich den Einfluss großer Denker, ihrer Anschauungen, ihres Menschenbildes, ihrer Lebensweise, ihrer Ideale spüren und nachvollziehen. Das hat sich bis heute nicht geändert.53
Bei der Erörterung der einzelnen seelischen Leiden, in denen die antiken Philosophen eine Krankheit sahen, wollen wir zuerst klären, was seinerzeit unter dem jeweiligen Leiden verstanden wurde und wo Gemeinsamkeiten oder auch Unterschiede zu unserem heutigen Verständnis bestehen. Daran schließt sich die Frage an, worin die antiken Denker die Ursache für das Leiden sahen. Schon damals hatte man von der Medizin gelernt, dass eine Krankheit am erfolgreichsten bekämpft werde, wenn nicht lediglich ihre Symptome, sondern vor allem ihre Ursachen behandelt werden. So setzt auch die therapeutische Philosophie an den Ursachen der seelischen Leiden an, um die angemessenen und wirksamen denkerischen Mittel für die Überwindung zu entwickeln. Was hier beschrieben wird, entspricht im Kern den sogenannten »vier edlen Wahrheiten« Buddhas. Diese besagen kurz zusammengefasst: 1. Leben ist Leiden, 2. Erkenne die Ursachen, 3. Erkenne die Heilmittel, 4. Wende sie an!
Das überlieferte Weisheitswissen ist nicht mehr und nicht weniger als eine Schatzkammer von Einsichten in das Wesen und die Ursachen unserer Leiden und von hilfreichen Angeboten zu ihrer Überwindung. Aber niemand anders als wir selbst sind der Arzt, Apotheker und Therapeut, der das Leiden und seine Ursachen erkennen und unter den Heilmitteln diejenigen auswählen soll, von denen er sich die meisten Fortschritte verspricht.
Beginnen wir unsere Betrachtung mit einem sehr verbreiteten seelischen Leiden: der chronischen Überlastung, dem dauerhaften Stress, den wir als Überforderung, Belastung, Nervosität und innere Unruhe erleben. Er ist ein zentraler Forschungsgegenstand moderner Medizin, die unter dem Namen »Psychoneuroimmunologie« den Einfluss seelischer Faktoren auf das menschliche Immunsystem und damit auf die körperliche Gesundheit untersucht.
Der chronische Stress, über dessen vielfältige gesundheitsschädliche Wirkungen kein Zweifel mehr besteht, ist weder eine Erfindung der Neuzeit noch eine Folge der Globalisierung oder des Internets. Dass wir uns mehr zumuten, aufladen oder akzeptieren, als unserem seelisch-körperlichen Wohlbefinden mittel- oder langfristig zuträglich ist, war schon in der Antike ein bekanntes seelisches Leiden.
In einem sehr alten chinesischen Klassiker zur Gesundheitspflege heißt es über die idealen Weisen einer mythischen Vorzeit: »… sie lebten ein ausgewogenes, zufriedenes Leben … Im Inneren vermieden sie es, sich übermäßig zu belasten. Sie … lebten über 100 Jahre, weil sie ihre Energien nicht zerstreuten und schwächten.«54 Bei Demokrit, einem Zeitgenossen des Sokrates, lesen wir: »Wer wohlgemut leben will, der darf nicht vielerlei treiben, weder in eigener noch in öffentlicher Sache. Und was er auch treibt, darf seine eigene Kraft und Begabung nicht übersteigen. Er muss vielmehr so sehr auf sich achtgeben, dass er … nichts anfasst, was über seine Kräfte geht.«55 Und in der indischen Bhagavadgita steht, nur wer maßvoll arbeitet, den kann der Yoga vom Leid befreien.56
Überlastung hat offenbar weniger mit dem Stand der Industrialisierung oder Technisierung unserer Kultur zu tun, als vielmehr mit dem Zustand unserer Seele und dem Umgang mit den Herausforderungen, die das Leben an uns stellt. Dauerhafte Überlastung ist daher keine Zivilisationskrankheit, sondern ein seelisches Leiden, für das der Mensch unabhängig von Zeit, Ort und Umständen in jeder geschichtlichen Epoche anfällig war und ist. Deshalb sind auch die philosophischen Mittel, die von der Antike zur Überwindung dieses Leidens empfohlen wurden, nach wie vor aktuell und hilfreich. Denn die Funktionsweise unserer Seele ist in den letzten 3000 Jahren im Wesentlichen unverändert geblieben.
In gewisser Hinsicht kann sogar gesagt werden, dass in der Antike die innere Unruhe, Nervosität, Getriebenheit und Zerstreutheit des Menschen als eine der am meisten verbreiteten »Krankheiten« der Seele angesehen wurde. Denn ihr Gegenteil, die »Seelenruhe« und »Geborgenheit im Innern«, galt in Ost und West als eines der wichtigsten Ziele praktischer Lebensführung und gleichsam als Synonym für seelische Gesundheit schlechthin. »Seelen-« oder »Gemütsruhe« als innere Ausgeglichenheit stand für ein gedeihliches, glückliches, erfülltes Seelenleben. »Die Gesundheit des Leibes und die Beruhigtheit der Seele ist die Erfüllung des seligen Lebens«, sagt Epikur.57 Dagegen »richtet die Aufgeregtheit auf die Dauer zugrunde«.58 (Zhuangzi)