Der Pudel und der Kern - Albert Kitzler - E-Book

Der Pudel und der Kern E-Book

Albert Kitzler

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Beschreibung

Wie können wir auch in schwierigsten persönlichen oder beruflichen Situationen gelassen bleiben, wie trotz äußerer Krisen, Kriege und Katastrophen unseren inneren Frieden bewahren? Wie finden wir unseren persönlichen Sinn des Lebens und wie können wir gegen die Zwänge des Alltags an ihm festhalten? Albert Kitzler, renommierter Experte für antike Philosophie, und Jan Liepold, Unternehmer und Stoiker-Fan, beantworten die zentralen Fragen des Lebens mit dem geballten Weisheitswissen der praktischen Philosophie und Lebenskunst der Antike. Die lebenspraktischen Antworten der antiken Vordenker aus Griechenland, Rom, China oder Indien wie Aristoteles, Sokrates, Seneca, Mark Aurel, Konfuzius, Laotse oder Buddha wurden zwar teilweise schon vor über 2000 Jahren niedergeschrieben, sind aber für die grundlegenden Fragen und Herausforderungen unseres modernen Alltags so überraschend aktuell wie plausibel. Das Buch enthält neben dem Hintergrundwissen zu den Philosophen zahlreiche Learnings, Übungen und Tipps als konkrete Ratschläge zur Umsetzung für das eigene Leben. Die attraktive Gestaltung mit modernen, augenzwinkernden Pudel-Illustrationen machen die Lektüre zu einem wahren Lesevergnügen.

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Seitenzahl: 304

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Albert Kitzler Jan Liepold

Der Pudel und Der Kern

Philosophie für den Alltag und ein gutes Leben

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Wichtiger Hinweis

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

Originalausgabe, 1. Auflage 2024

© 2024 by Finanzbuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285–0

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Redaktion: Silvia Kinkel

Korrektorat: Anne Horsten

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer, Sonja Stiefel, Dietke Liepold

Umschlagabbildung: Anja Prestel

Illustrationen im Innenteil: Dietke Liepold

Autorenfotos Seite 247: Anja Prestel

Satz: ZeroSoft, Timisoara

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978–3-95972–786–0

ISBN E-Book (PDF) 978–3-98609–535–2

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978–3-98609–536–9

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.finanzbuchverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1: Gelassenheit

Kapitel 2: Authentizität

Kapitel 3: Umgang mit Scheitern

Kapitel 4: Selbsterkenntnis

Kapitel 5: Autonomie und Freiheit

Kapitel 6: Resonanz und Liebe

Kapitel 7: Selbstgenügsamkeit und Verzicht

Kapitel 8: Ängste und Sorgen

Kapitel 9: Selbstwirksamkeitserfahrung, Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen

Kapitel 10: Persönlichkeitsentwicklung

Kapitel 11: Kränkung und Ressentiment

Kapitel 12: Neid und Eifersucht

Kapitel 13: Selbstsorge und Gesundheit

Die 12 wichtigsten Aspekte des gelingenden Lebens

Danksagung

Über die Autoren

Register der biografischen Hinweise zu zitierten Autoren

Fundstellen der Zitate

Zitierte Literatur

Den Hörerinnen und Hörern unseres Podcasts

»Hinter den Ofen gebannt

Schwillt es wie ein Elephant,

Den ganzen Raum füllt es an,

Es will zum Nebel zerfließen […]

(aus dem Nebel erscheint Mephistopheles)

Das also war des Pudels Kern!«

Goethe, Faust, Erster Teil

Vorwort

Dieses Buch entstand aus unserem Podcast »Der Pudel und der Kern«, in dem wir uns wöchentlich über Aspekte der Lebensführung unterhalten. Was macht ein erfülltes und gelingendes Leben aus? Wodurch finden wir zu innerer Ruhe, echtem Ausgleich und heiterer Gelassenheit? Wie schaffen wir es, im Beruf oder in Beziehungen auch unter Stress authentisch zu bleiben und, wenn nötig, loszulassen? Wie bringen wir unsere unterschiedlichen, manchmal gegenläufigen Bedürfnisse in Einklang, und was können wir gegen negative Affekte wie Wut oder Angst tun? Kurz, wie gelingt uns ein erfülltes, gutes Leben?

Diese Frage stand auch im Zentrum der antiken praktischen Philosophie und Weisheitslehre in Orient und Okzident. Die Antworten, die damals von Philosophen wie Sokrates, Platon und Aristoteles, Stoikern wie Seneca oder Mark Aurel oder fernöstlichen Weisheitslehrern wie Konfuzius, Laotse und Buddha gegeben wurden, haben eine Tiefe, Klarheit und Breite, die in keiner späteren Epoche erreicht wurde. Diese Antworten haben bis heute Gültigkeit. Sie sind die Grundlage für unseren Podcast und für dieses Buch.

Das Buch ist keine Niederschrift der Gespräche, die wir in unserem Podcast geführt haben, sondern versucht, die wichtigsten Themen zum gelingenden Leben in komprimierter Form darzustellen. Da diese eng miteinander verknüpft sind, kommt es zu Überschneidungen und Wiederholungen. Das gilt auch für einige markante Zitate. Wir haben dies bewusst in Kauf genommen. Gerade bei Fragen der Lebensführung führen Wiederholungen zu einer Vertiefung. »Nie ist zu oft gesagt, was nicht gründlich genug gelernt wurde«, sagt Seneca. Die Kapitel sollen für sich gelesen werden können. Verweise auf andere Kapitel wären eher hinderlich.

Das Buch ist angewandte Philosophie und für ein schnelles Durchblättern nicht geeignet. Es möchte zum tieferen Mit- und Selberdenken anregen. Nur wenn etwas wirklich verstanden wird, kann es Früchte tragen. Das gilt besonders für Fragen der Lebensführung, mit denen wir uns beschäftigen, um etwas zu lernen und uns weiterzuentwickeln. Weiterentwicklung bedeutet, dass man etwas verändern möchte. Bewusste Veränderungsprozesse sind ohne tiefere Einsicht in die zugrunde liegende Problematik nicht nachhaltig. Deswegen lohnt sich der vertiefte philosophische Blick auf das jeweilige Thema und der Versuch, die Perspektive der antiken Vordenker auf unser modernes Leben zu übertragen.

Die zumeist älteren Zitate werden zum besseren Verständnis nicht immer wortgetreu wiedergegeben, sondern sind bisweilen sprachlich und in der Schreibweise angepasst, nie aber in ihrem Sinn entstellt. Die Autoren der Zitate werden in abgesetzten Kästen kurz vorgestellt, es sei denn, sie sind geläufig oder es ist nichts Näheres von ihnen bekannt. Im Register des Buches findet sich eine Liste der vorgestellten Autoren mit Seitenangaben, sodass die biografischen Hinweise schnell gefunden werden können. Am Ende jedes Kapitels fassen wir die wichtigsten Lehren und Übungen zum jeweiligen Thema kurz zusammen. Die Einleitungen der Kapitel stammen von Jan, das Übrige von Albert.

Und nun wünschen wir viel Freude und Erkenntnisgewinn beim Lesen.

Kapitel 1 Gelassenheit

»Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Vorstellung von den Dingen.«

Epiktet

»Sich selbst recht machen ist alles. Was von außen her der Zufall bringt, ist nur vorübergehend. Das Vorübergehende soll man nicht abweisen, wenn es kommt, und nicht festhalten, wenn es geht. Dann ist unsere Freude dieselbe im Glück und Unglück, man bleibt gelassen und ist frei von allen Sorgen.«

Zhuangzi

»Zum Schicksal sagt der Weise: Gib, was du willst, nimm zurück, was du willst.«

Mark Aurel

Der Druck des Erfolgs und die Kraft der Gelassenheit

An der Säbener Straße in München herrschte in der Fußballsaison 2011/2012 ein noch größerer Erfolgsdruck als in den bisherigen Spielzeiten. Das Finale der UEFA-Champions League sollte in der Allianz-Arena stattfinden und damit den perfekten Rahmen für das alles überstrahlende Ziel bilden: Der FC Bayern München wollte unbedingt und erstmals in seiner Vereinsgeschichte alle drei Titel holen – die Deutsche Meisterschaft, den DFB-Pokal und die Champions-League beim »Finale Dahoam« in München. Diesem immensen selbstauferlegten Erfolgsdruck hielt die Mannschaft unter Trainer Jupp Heynckes letztlich nicht stand und erreichte in allen Wettbewerben nur zweite Plätze. Als besonders dramatisch und schmerzhaft ging das Champions-League-Finale vor heimischem Publikum in die Fußballgeschichte ein. Trotz drückender Überlegenheit der Bayern sprang nach 90 emotionalen Minuten gegen den FC Chelsea nur ein 1:1 heraus. Es ging in die Verlängerung und schließlich ins Elfmeterschießen, in dem die Engländer triumphierten.

Nach dieser schmerzhaften Erfahrung änderte sich die Herangehensweise des FC Bayern fundamental. Der neue Sportvorstand Matthias Sammer setzte in der folgenden Saison auf eine entspanntere Haltung. Es gab kein offizielles Saisonziel, sondern einen »Jetzt-erst-recht«-Spirit innerhalb der Mannschaft. Anstatt starr auf das Triple zu schauen, herrschte eine gelassenere Einstellung, ähnlich der Beckenbauer-Haltung: »Wir geben unser Bestes, dann seh mer schon.« Diese neue Gelassenheit führte zum erfolgreichsten Jahr der Vereinsgeschichte. In der Bundesliga wurde bereits am 28. Spieltag der 23. Titel gefeiert. In der Champions-League warfen die Bayern den FC Barcelona im Halbfinale mit 7:0 aus dem Wettbewerb. Nach dem verlorenen Finale »dahoam« folgte das deutsch-deutsche Finale in Wembley gegen den Erzrivalen Borussia Dortmund, in dem der Holländer Arjen Robben in der 89. Minute das 2:1 zum Sieg schoss. Zum Abschluss gelang im DFB-Pokalfinale ein knapper 3:2 Sieg gegen den VfB Stuttgart. Vom Druck befreit gewann der FC Bayern München als erster deutscher Fußballverein das ersehnte Triple.

Dieses Beispiel zeigt, dass souveräne Gelassenheit häufig die bessere Haltung ist als unbedingter Siegeswille. Das Beste geben, alles versuchen, nichts erzwingen wollen – diese Prämisse führte den deutschen Rekordmeister zum Erfolg.

Der Wunsch nach Gelassenheit ist eine starke, weitverbreitete Sehnsucht des modernen Menschen. Aber auch die Antike in Ost und West kannte diese Sehnsucht. Ihre Philosophie hat sich daher intensiv mit dieser Frage beschäftigt und nach Wegen gesucht, wie wir gelassener werden können. Die antiken Philosophen nannten den Zustand heiterer Gelassenheit auch Seelenruhe oder Seelenfrieden, seelische Unerschütterlichkeit und Geborgenheit im Innern. Gelassenheit war für sie ein wesentliches Merkmal eines glücklichen, gelingenden Lebens. Wie aber werden wir gelassener?

Einer der wichtigsten Ratschläge, den sie gaben, um gelassener zu werden, lautete, dass man sein Glück so weit wie möglich von allen äußeren Dingen, Bezügen, Bindungen und Verflechtungen innerlich unabhängig machen sollte. Die Betonung liegt auf »innerlich«. Man kann besitzen, so viel man will, man kann mit Menschen tief verbunden sein, aber man sollte bereit sein, im Verlustfall jedes Ding, jedes Verhältnis und jeden Menschen loslassen zu können. Man war der Überzeugung, dass Glück, das Gefühl der Zufriedenheit mit seinem Leben, nicht von äußeren Gütern oder Verhältnissen abhängt, sondern vom eigenen Seelenzustand. Sie nannten diese innere Unabhängigkeit oder Freiheit Selbstgenügsamkeit, griechisch Autarkie. Derjenige ist der Glücklichste, sagten sie, der am wenigsten bedarf. Wir werden umso autarker, je weniger wir unser Glück und Wohlgefühl von äußeren Dingen abhängig machen. Wir sollten uns vielmehr auf unseren inneren Reichtum, auf unsere inneren Werte und Haltungen konzentrieren. Sie sind das Fundament und der Anker unserer Lebenszufriedenheit. Niemand kann sie uns nehmen. Eine solche Einstellung bedeutet nicht Verzicht auf äußere Güter, sondern das, was der Philosophenkaiser Mark Aurel an seinem Stiefvater, dem Kaiser Antoninus Pius, so sehr schätzte: Er genoss das, was da war, was aber nicht da war, das fehlte ihm auch nicht.

Mark Aurel, 121–180 n. Chr., römischer Kaiser und Philosoph. Seine Selbstbetrachtungen, Ratschläge an sich selbst, stehen immer noch auf der Bestsellerliste der zeitlosen Bücher. Seine Selbstbetrachtungen sind auch deshalb so wertvoll, weil er in seiner Regierungszeit ständig mit den größten Problemen zu kämpfen hatte, wie eine Pandemie, eine Überschwemmungskatastrophe und permanenten Verteidigungskriegen, nicht unähnlich der heutigen Zeit.

Loslassen statt anhaften

Die Gelassenheit, die aus innerer Unabhängigkeit entspringt, darf nicht mit Gleichgültigkeit verwechselt werden. Niemand soll auf Gefühle, Begeisterung, Engagement oder Bindungen verzichten, nur sollte man sich stets bewusst sein, dass dasjenige jederzeit verloren gehen kann, worauf sie sich beziehen: Dinge werden uns genommen, Bindungen lösen sich, Verhältnisse enden. Dieses Bewusstsein des Wandels und der Vergänglichkeit der äußeren Dinge und Bezüge muss so stark verinnerlicht sein, dass kein Verlust zu einem massiven und länger andauernden Leiden führt. Ein gelassener Mensch kann genauso viele und tiefe Bindungen eingehen wie jeder andere. Nur wird er nicht klammern und anhaften, sondern ist imstande, jederzeit loszulassen und darauf zu verzichten, ohne seine Freude am Leben zu verlieren. Der chinesische Philosoph Menzius drückte dieses Bewusstsein der Vergänglichkeit einmal wie folgt aus: »Ein Weiser vergisst nie, dass er morgen in einem Straßengraben landen kann.« Und wenn es so kommt, können wir hinzufügen, wird er damit zurechtkommen. Goethe hat für diese innere Unabhängigkeit einmal eine treffende Formulierung gefunden: »Der Mensch lerne sich ohne dauernden äußeren Bezug zu denken« und sein Glück »in sich selbst« zu finden.

Menzius, circa 370–290 v. Chr., chinesischer Philosoph und der bedeutendste Nachfolger des Konfuzius. Er stellte die Liebe in den Mittelpunkt seines Denkens. Dabei handelt es sich darum, sagte er, dass man die Liebe, die man etwa für die eigenen Kinder empfindet, auf die ganze Welt überträgt. Man kann ihm kaum widersprechen. Leider hat er sich darüber ausgeschwiegen, wie man das genau macht.

Goethe, Johann Wolfgang von, 1749–1832. Wer kennt nicht unseren berühmtesten Dichter? Weniger bekannt dürfte sein, dass es in der Menschheitsgeschichte wohl niemanden gibt, der mehr Lebensweisheiten hinterlassen hat als Goethe, wobei er häufig an die Antike anknüpft, mit der er bestens vertraut war. Daher sollte es nicht verwundern, wenn er hier öfters herangezogen wird.

Auch bei der Verfolgung unserer Wünsche, Ambitionen und Ziele fördert es die innere Gelassenheit, wenn wir weniger verbissen an die Sache herangehen. Ob wir erlangen, was wir im Äußeren anstreben, hängt stets von Umständen ab, die wir nicht beherrschen. Häufig durchkreuzt ein unerwarteter Zufall oder ein Missgeschick unsere Pläne. Da ist es von großem Vorteil, dies von vornherein zu berücksichtigen. Auf die Frage, welchen Nutzen ihm die Philosophie bringe, antwortete ein griechischer Philosoph einmal: »Wenn auch sonst keinen, so doch, auf alles vorbereitet zu sein.« Eine solche Haltung verhindert Frustration und Enttäuschung, die einem wiederum die Kraft, Energie und Klarheit nehmen kann, flexibel auf ein Scheitern zu reagieren, um das Beste daraus zu machen. In jedem Scheitern steckt auch eine Chance.

So schließen sich starkes Engagement, Begeisterung, das Brennen für eine Sache und innere Unabhängigkeit keineswegs aus. Man dürfte sogar mehr Kraft und Energie haben, wenn man dies aus einer Haltung der Gelassenheit und Ergebnisoffenheit tut. Wenn man weiß, dass das persönliche Glück in der eigenen Seele liegt und nicht von dem Erfolg eines Vorhabens abhängt, handelt man ohne Angst, Sorge, Stress und Nervosität. Das sind nicht nur enorme Energiefresser, sondern auch das Gegenteil von Ruhe, Umsicht, Sorgfalt und Besonnenheit, die notwendig sind, um gute Entscheidungen zu treffen und das Richtige und Angemessene zu tun. In einem Weisheitsbuch des alten Chinas heißt es: »Erst wer Ruhe gefunden hat, vermag klar zu denken; erst wer klar zu denken vermag, kann sein Ziel erreichen.« Wir erreichen unsere äußeren Ziele eher, wenn wir mit Ruhe und Gelassenheit an sie herangehen.

Eine solche Haltung ist auch wichtig im Umgang mit schwierigen Menschen oder angespannten zwischenmenschlichen Situationen. Nichts gegen emotionale Reaktionen, aber nicht unkontrolliert und ungesteuert, sondern besonnen und aus einer Grundhaltung der Gelassenheit heraus. Andernfalls gerät die Reaktion leicht außer Kontrolle, schießt über das Ziel hinaus, verletzt andere und bewirkt das Gegenteil von dem, was man erreichen möchte. Sich hinreißen lassen heißt leider auch, seine Mitte und sein inneres Gleichgewicht zu verlieren, außer sich zu geraten und sich aufzuregen. Wie viel angenehmer ist es, auch in angespannten Situationen die Ruhe zu bewahren, besonnen und angemessen zu reagieren. Vielleicht kann man dem anderen auf diese Weise noch deutlicher seine innere Betroffenheit zeigen. Es ist viel wahrscheinlicher, dass man den anderen erreicht, wenn man besonnen reagiert, als wenn man seinen Emotionen freien Lauf lässt und dann häufig verletzt, provoziert oder eskaliert. Das führt nur dazu, dass der andere zumacht, dass er sich ebenfalls gehen lässt, die Emotionen sich hochschaukeln und die Situation in Streit und Feindseligkeit endet. Nie geht man aus einer solchen Situation mit einem guten, klärenden Gefühl heraus.

Glück findet man in der eigenen Seele

Der griechische Weise Demonax sagte einmal: »In der Welt da draußen ist nichts zu finden, das bei genauerer Betrachtung Hoffnung oder Furcht verdient.« Was ist wirklich wichtig in unserem Leben? Geld, Besitz, Ansehen, gesellschaftliche Stellung, berufliche Karriere? Sind das nicht alles nur Mittel zum Zweck? Dient das nicht alles nur dazu, dass wir uns gut fühlen, zufrieden sind und ein glückliches Leben führen? Alle Philosophen der Antike waren sich darin einig, dass dafür nur wenige äußere Güter nötig seien. Denn das Glück, nach dem wir uns sehnen, liege in der eigenen Seele, in der Seelenruhe, in innerer Ausgeglichenheit, in der Grundstimmung heiterer Gelassenheit. Ist dem so, relativieren sich alle äußeren Güter. Sie sind angenehm, bereiten Spaß, können das Leben erleichtern und bringen Vergnügen und kurzfristige Befriedigungen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber Vergnügen, Spaß und Befriedigungen unserer Lüste sind etwas anderes als ein glückliches Leben. Sie sind bloße Begleiterscheinungen. Das Glück, nach dem sich die Menschen sehnen, ist dauerhafte Zufriedenheit, man fühlt sich rundum wohl in seiner Haut, ohne sich etwas vorzumachen, ohne Probleme zu verdrängen oder Konflikte ungelöst zu lassen. Die Fähigkeit zu einer gelassenen Lebensweise erlangt man dadurch, dass man mit sich ins Reine kommt und negative Gefühle – die Alten nannten sie »Affekte« – wie Angst, Sorgen, Verzweiflung, Hilflosigkeit, Scham, Wut, Gier und Neid, die einen beunruhigen, abbaut. Je freier man von solchen Affekten wird, je mehr man in seine Mitte kommt, um so gelassener und glücklicher ist man. Das Ideal der Stoiker war die »Unerschütterlichkeit des Weisen«, die Fähigkeit, bei sich zu bleiben, was auch passiert.

Demonax war ein griechischer Weiser, der im 2. Jh. n. Chr. in Athen lebte und seine philosophischen Weisheiten auf humorvolle Weise weiterzugeben pflegte. Er genoss großes Ansehen. Jedes Haus fühlte sich geehrt, in das er eintrat, um mit den Menschen zu reden und sich beköstigen zu lassen. Als in der Bürgerversammlung einmal ein Streit ausbrach, der gefährlich zu eskalieren drohte, rief man nach ihm. Schweigend trat er in die Versammlung und verließ sie wieder, ohne ein Wort gesprochen zu haben. Der Streit aber endete unverzüglich.

Für die Griechen und Römer war das Leben und die Person des Sokrates das leuchtende Vorbild für eine Haltung authentischer Gelassenheit: Er blieb sich stets gleich in guten wie in schlechten Zeiten, sagten sie. Er hatte in sich eine »innere Burg«, die durch kein äußeres Ereignis erschüttert werden konnte und wohin er sich stets zurückzog, wenn es draußen stürmte. Es ist sehr wertvoll, eine solche »innere Burg« zu haben. Sie ist das Fundament für eine unerschütterliche Gelassenheit. Stets bei sich bleiben zu können oder nach einem Schicksalsschlag wieder in angemessener Zeit in seine Mitte zurückzufinden, bezeichnen wir heute als Resilienz. Sie ist nicht nur ein Abwehrmechanismus. Die Philosophen der Stoa wussten, dass sich mit der Gelassenheit zugleich eine Wohlgemutheit und Heiterkeit des Gemüts einstellt. Gelassenheit ist Glück. In alten deutschen Wörterbüchern können wir nachlesen, dass die deutschen Worte »gelassen« und »Gelassenheit« ursprünglich neben der Fähigkeit, Übel geduldig und ruhig zu ertragen, auch einen Zustand der »Wohlfahrt« und Zufriedenheit beschrieben haben. Kant spricht daher von der »glücklichen Gelassenheit«.

Was wir für mehr Gelassenheit tun können

Je mehr wir unser Glück in uns selbst suchen, je unabhängiger wir von äußeren Dingen, je selbstgenügsamer wir werden, umso stärker wird die »innere Burg«. Neben der Reduzierung oder Überwindung toxischer Gefühle wie etwa Angst, Wut und Neid ist die Entwicklung und das Ausleben unserer Anlagen und Potenziale wichtig. Sie führen zu Selbstwirksamkeitserfahrungen, die unser Selbstvertrauen stärken. Dabei kommt es nicht darauf an, welchen Erfolg wir in der Außenwelt haben, sondern darauf, dass wir unsere Anlagen und tiefsten Bedürfnisse zur Geltung bringen, so gut wir können. Schon das allein gibt uns ein gutes Gefühl und innere Zufriedenheit. Wir leben uns selbst und spüren unsere Lebendigkeit. Kommt äußerer Erfolg dazu – was umso wahrscheinlicher ist, je ruhiger, gelassener und beharrlicher wir an eine Sache herangehen –, umso besser. Aber für unser inneres Glück brauchen wir diesen Erfolg nicht. Konfuzius hat das einmal wunderbar ausgedrückt: »Gelingt mir etwas, so freue ich mich, gelingt mir etwas nicht, so freue ich mich auch!« Mit dieser Haltung sollten wir an alle unsere Vorhaben herangehen.

Konfuzius, 551–479 v.Chr., der bedeutendste Weisheitslehrer der chinesischen Antike, dessen Denken die Kultur Chinas bis zum heutigen Tag maßgeblich bestimmt hat. Unter Mao als reaktionär verworfen, veröffentlichte vor einigen Jahren eine junge Philosophieprofessorin ein kleines Buch, in dem sie erläuterte, wie die Lehren des Konfuzius dabei helfen können, das Leben im modernen China zu meistern. Nach kurzer Zeit waren über zehn Millionen Exemplare dieses Buches allein in China verkauft.

Warum konnte Konfuzius das sagen? Weil die tiefste und eigentliche Quelle seiner Freude in ihm selbst lag, in dem Bewusstsein, authentisch und stimmig zu leben. Dass diese Stimmigkeit der Lebensführung die eigentliche Quelle unseres Glücks ist, muss man sich immer wieder klarmachen. Dann wird man jede Arbeit, jede Unternehmung und jeden Plan ruhig und besonnen, ohne Sorgen, Ängste oder übermäßige Erwartungen angehen. Denn man tut das, was man tun möchte und für richtig hält. Im Tun aber liegt die wahre Freude, nicht im Ergebnis. Wenn man sein Bestes gibt, ist es zweitrangig, ob sich ein äußerer Erfolg, der von vielen Umständen abhängt, die man nicht beherrscht, einstellt oder nicht. Seneca empfahl die Übung, dass man sich bei jeder Unternehmung gleich zu Anfang sage: »[…] wenn nichts dazwischen kommt«. Das vermeidet Enttäuschungen. Ein Misserfolg, der unerwartet kommt, trifft doppelt hart.

Seneca, Lucius Annaeus, circa 4 v. Chr. – 65 n. Chr., wichtigster römischer Philosoph, der aus der stoischen Philosophie eine äußerst wirksame praktische Lebenslehre machte. Seine vielen treffenden Spruchweisheiten machten ihn zu dem wohl meistzitierten Philosophen der Antike. Er durchlebte alle Höhen und Tiefen des Lebens gleich mehrmals, blieb sich aber stets treu.

Gelassenheit kann man in jeder Situation trainieren, in der Geduld gefordert ist oder in der man spürt, dass man nervös und unruhig wird. Dann sollte im Kopf eine rote Lampe angehen, die sagt: So, jetzt beginnt die Übung! Atme tief ein und aus, fahre die Adrenalinzufuhr herunter, entspanne dich und bleib ganz ruhig! Hektik hilft jetzt nicht weiter. Damit eine »rote Lampe« angeht, ist Achtsamkeit erforderlich: Wir müssen wahrnehmen, dass wir nervös werden und dass wir unsere Gelassenheit verlieren, wenn wir nicht sofort mit den genannten mentalen und körperlichen Gegenmaßnahmen beginnen.

Wenn es uns nicht gelingt, nehmen wir uns vor, es beim nächsten Mal besser zu machen. Kurze Notizen am Abend in ein Tagebuch helfen dabei, etwaige Fortschritte oder Rückfälle wahrzunehmen, beharrlich dranzubleiben, unsere Konzentration auf das Problem zu richten und die Sensibilität für Situationen zu schärfen, in denen Gelassenheit und Geduld gefragt sind. Im Laufe der Zeit – das können Tage oder Wochen sein – verfestigt sich ein psychischer Mechanismus, bei dem man in kritischen Momenten sofort durch eine innere Stimme gewarnt wird, dass sich gerade eine Situation entwickelt, die unsere innere Ruhe bedroht. Das Ziel der Übung ist, dass unser Geist und Körper unverzüglich, spontan und automatisch in einen Beruhigungsmodus umschalten und weitere Adrenalinzufuhr unterbunden wird.

Geht das Unangenehme von einem Menschen aus, kann man sich sagen: »So sind die Menschen. Ärgere dich nicht über die Unwissenheit und Fehler der anderen. Sei froh, wenn Du sie nicht mit ihnen teilst!« Ein guter Ausspruch, der einem dabei einfallen könnte, stammt von dem japanischen Weisen Kaibara Ekiken und lautet: »Ärgere dich nicht über die Torheit der anderen!« Mit dem Wort »Torheit« sollte nicht der Mensch als solcher abgewertet, sondern lediglich festgestellt werden, was Sokrates stets behauptet hat: Dass alle Bosheit letztlich auf Unwissenheit zurückgeführt werden kann.

Sind wir gezwungen, in einer Warteschlange zu stehen, und beginnen wir, nervös zu werden, so kann man sich sagen: »Bleibe ruhig, jetzt beginnt eine Übung in Geduld. Nutze die Zeit, auf deinen Atem zu achten und still zu meditieren, auch wenn sich um dich herum angespannte Nervosität breitmacht.«

Solche Übungen sollten so lange fortgesetzt werden, bis sich ein innerer Automatismus verfestigt hat, der von selbst und ohne Nachdenken dafür sorgt, dass sich das eingeübte Beruhigungsprogramm einschaltet. Es funktioniert dann wie unser Immunsystem. Sobald ein Virus in den Körper eindringt, wird es aktiviert, ohne dass wir davon etwas mitbekommen.

Entwickeln wir regelmäßig Sorgen, Ängste oder innere Unruhe im Hinblick auf äußere Verhältnisse, Menschen, Güter oder Zustände – meistens in Form von Verlust- oder Trennungsängsten –, so kann es eine hilfreiche Übung darin bestehen, morgens und abends fünf Minuten konzentriert über die eigene Anhaftung nachzudenken, die diese Sorgen oder Ängste hervorruft. Wir denken dann bewusst dagegen an, sagen uns mehrmals, dass wir diese Anhaftung nicht möchten. Wir besinnen uns auf alle Argumente, die gegen ein Anhaften sprechen, und machen uns die negativen Folgen eines solchen Anhaftens bewusst. Übung und Einsicht müssen dabei Hand in Hand gehen. Denn wenn wir nicht verstanden haben, dass starkes Anhaften an Äußerem zu Leid führt und dass dieses Anhaften die Ursache unserer Sorgen und Ängste ist, dann hilft kein Üben. Philosophie ist nicht Autosuggestion. Ohne eine feste innere Überzeugung, zu der wir nur dadurch gelangen, dass wir ein Problem analysiert und verstanden haben, können wir keine Denk- oder Verhaltensgewohnheit nachhaltig verändern. Die Einsicht ist das Fundament jedes Veränderungsprozesses.

Drei Lehren zur Gelassenheit

1.

Lebensglück ist ein dauerhafter Zustand heiterer Gelassenheit, der nur in der eigenen Seele gefunden werden kann und sehr wenig mit äußeren Gütern und Verhältnissen zu tun hat.

2.

Wer sich innerlich unabhängig gemacht hat von äußeren Gütern und Verhältnissen, an Äußerem nicht anhaftet und gelernt hat, loszulassen, schafft sich in seiner Seele eine innere Burg, durch die man auch bei heftigen Schicksalsschlägen bei sich bleibt und Ruhe bewahrt.

3.

Gelassenheit bedeutet nicht Gleichgültigkeit. Im Gegenteil: Wer in schwierigen Zeiten seine Gelassenheit nicht verliert, wird aus der Ruhe heraus besser und erfolgreicher seine Ziele und Vorhaben verfolgen können, als jemand, der in Stress und Hektik verfällt und von Ängsten und Sorgen geplagt wird.

Drei Übungen zur Gelassenheit

1.

Übe dich darin, an nichts anzuhaften, was das Schicksal dir in jedem Moment wieder nehmen kann, und bereit zu sein, ohne Bedauern oder maßlose Trauer alles loszulassen, indem du dankbar das genießt, was da ist oder doch für eine Zeit dagewesen ist.

2.

Mache dir immer wieder bewusst, dass dein Lebensglück nicht in äußeren Gütern und Verhältnissen zu finden ist, sondern in deinen inneren Werten, Haltungen und Anschauungen und deinem Bemühen, diesen in all deinem Denken und Tun zu entsprechen.

3.

Sage dir bei allem, was du tust und beginnst, gleich zu Anfang: »[…] wenn nichts dazwischen kommt.« Bereite dich auf diese Weise innerlich darauf vor, dass sich die Dinge auch anders entwickeln können, als du gedacht und erhofft hast.

Kapitel 2 Authentizität

»Wo ich auch bin, da gehöre ich mir selbst.«

Seneca

»Der Weise wird sich nicht freiwillig anders geben, als er ist.«

Epikur

»Unaufrichtigkeit ist Betrug am eigenen Herzen.«

Kaibara Ekiken

Authentizität, Integrität und Konsequenz machen den Unterschied

Können wir authentische Menschen eigentlich erkennen? Eher schwierig, denn Echtheit ist bei Menschen – anders als bei Uhren oder Bargeld – rein subjektiv. Auch äußert sich ein authentisches Auftreten je nach Persönlichkeit unterschiedlich. Besonders schwierig wird es mit der Authentizität bei Politikern. Unzählige Medientrainings haben kleine Marotten und menschliche Schwächen glatt geschliffen. Die schwerwiegende Verantwortung und die Notwendigkeiten des Wahlkampfes haben ihr Übriges getan und produzieren eher Autorität statt Authentizität. Soweit das Klischee. Eine wohltuende Ausnahme von dieser Regel war Helmut Schmidt, der fünfte Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland.

Soweit sich das von außen beurteilen lässt, blieb Schmidt seinem Wesenskern ein Leben lang treu und ließ sich durch die verschiedenen höchsten Ämter nicht verbiegen. Von seiner Zeit als Hamburger Innensenator über die Phase als Bundesverteidigungsminister und schließlich als Bundeskanzler stimmten sein Denken, Fühlen, Wollen, Sprechen und Handeln meistens überein, ohne größere Widersprüche oder offensichtliche Ungereimtheiten. Er blieb der pflichtbewusste, konsequente Politiker und knorrige Kettenraucher, der mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg hielt und abends mit seiner Frau Loki Schach spielte.

Seine Fähigkeit, sich selbst treu zu bleiben, ist eng mit seinem intellektuellen Vorbild verbunden, dem römischen Philosophenkaiser Mark Aurel. So stand in Schmidts privatem Arbeitszimmer in Hamburg-Langenhorn eine kleine Reiterfigur des Philosophenkaisers, dessen Maximen zur Lebensführung Schmidt bereits als Jugendlicher verinnerlicht hatte. Diese Prinzipien – der Wille, seine Pflicht zu erfüllen und innere Gelassenheit zu bewahren – halfen Schmidt später als Politiker, massive Krisen zu bewältigen und schwierige Entscheidungen zu treffen.

Schmidts Karriere war geprägt von zahlreichen Herausforderungen, bei denen er sich stets an seinen Werten orientierte. Während der Hamburger Sturmflutkatastrophe 1962 zeigte er als Innensenator außergewöhnliche Führungsqualitäten und bewies seine Entschlossenheit und Tatkraft. So qualifizierte er sich für höhere Aufgaben auf Bundesebene. Angesichts des Terrorismus der Roten-Armee-Fraktion im »Deutschen Herbst« der 1970er-Jahre bewahrte er als Bundeskanzler Ruhe und Handlungsfähigkeit, stets geleitet von seinem unverrückbaren Wertesystem, dass sich der Staat nicht erpressen lassen darf. Diese und andere Ereignisse verdeutlichen, dass Schmidt für das Ausleben seiner authentischen Persönlichkeit oft Einschnitte und Probleme in Kauf nehmen musste, aber seinen Werten, Überzeugungen, Haltungen und Lebenszielen, so gut es in der Realpolitik ging, treu blieb. Die Selbstbetrachtungen von Mark Aurel, die Schmidt als Konfirmationsgeschenk von seinem Onkel erhalten hatte, standen stets in seinem Arbeitszimmer und erinnerten ihn an sein wichtigstes Lebensprinzip, sich selbst gegen alle äußeren Widerstände treu zu bleiben.

Authentisch sein, Selbstsein, in-seiner-Mitte-Sein, Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit, Echtheit – das alles sind Ausdrücke für eine der wichtigsten Voraussetzungen für ein gelingendes Leben. Wer entfremdet und nicht sein eigenes Leben lebt, wird auf Dauer nicht glücklich werden. Nur wenn wir in Übereinstimmung mit unseren tiefsten Bedürfnissen, Anlagen, Überzeugungen und Werten leben, haben wir das Gefühl, dass wir wirklich unser Leben führen. Wenn sich in unserem Denken, Fühlen, Sprechen, Wollen und Handeln der Kern und das Wesen unserer Persönlichkeit ausdrückt, unsere spezifischen Fähigkeiten und Begabungen, so spüren wir uns in allem, was wir tun, sagen und empfinden. Wir sind eins geworden und erleben in der Bestätigung unserer Mitmenschen Selbstwirksamkeit, das heißt nicht bloß, dass wir wirken, sondern es unsere individuelle Persönlichkeit, unser Selbst ist, das wirkt. Diese Wertschätzung und Anerkennung geben uns ein Gefühl der Bestätigung, Sicherheit und Selbstvertrauen. Glück oder Zufriedenheit mit dem eigenen Leben ist die Erfahrung einer inneren und äußeren Stimmigkeit unserer Persönlichkeit, einer tiefen Verbundenheit mit uns selbst und den anderen in dem, was wir sind, was wir tun und was wir erleben.

Umgekehrt empfinden wir jedes Auseinanderfallen von Denken, Fühlen, Sprechen, Wollen und Handeln als Entfremdung, als inneren Zwiespalt, als ein Verbiegen unserer Person, als einen »Knoten im Herzen«, wie es in den altindischen Upanishaden heißt. Es reißt eine Wunde in uns auf, die seelischen Schmerz verursacht und sich in Unbehagen und Unwohlsein ausdrückt. »Sich selbst betrügen ist von allem das Schlimmste«, meinte Sokrates. Wir sind nicht »heil«, nicht »ganz«. Das führt zu Unzufriedenheit, von der wir häufig gar nicht wissen, woher sie kommt. Uns ist nicht bewusst, dass wir in Widersprüchen leben. Stattdessen schieben wir die Schuld für unser Unbehagen auf äußere Umstände, die anderen oder auf materielle Dinge, die wir gern hätten, aber nicht haben.

Upanishaden: Sie sind der philosophische Teil der Veden, der heiligen Texte des Hinduismus, und die bedeutendste Quelle der altindischen Philosophie. Zwischen 700 und 200 v. Chr. niedergeschrieben, wurden sie wohl schon lange vorher mündlich überliefert. Für Schopenhauer waren sie die tiefste Quelle menschlicher Weisheit und der »Trost meines Lebens«.

Sokrates, 469–399 v. Chr., von dem Cicero sagte, er habe die Philosophie vom Himmel auf die Erde geholt und aus spekulativen Weltbetrachtungen eine handfeste Lehre vom guten Leben gemacht. Besonders rühmte man an ihm, dass er sich immer gleich blieb, in guten wie in schlechten Zeiten. So wurde er ein großes Vorbild für ein authentisches Leben. Für seine Überzeugungen ging er sogar in den Tod. Von der Athener Bürgerschaft wegen angeblicher Gottesverleugnung und geistiger Verführung der Jugend zum Tode verurteilt, nahm er den Schierlingsbecher, obgleich er mithilfe seiner Freunde leicht hätte fliehen können.

Der innere Zwiespalt ist uns bewusst, wenn wir etwa unsere eigenen Vorsätze nicht einhalten. Wir wissen, was gut für uns ist, tun es aber nicht. Schwerer zu erkennen ist eine innere Gespaltenheit, wenn sie aus ungelösten, häufig unterschwelligen Konflikten in der Partnerschaft, im Familienleben, mit Freunden oder am Arbeitsplatz herrührt. Eigentlich wollten wir uns schon länger mit unserem Lebenspartner aussprechen, verschieben es aber immer wieder. Eigentlich wollten wir mit einer sinnstiftenden und erfüllenden Arbeit unser Geld verdienen, stattdessen erschöpfen wir uns wegen der besseren Bezahlung im monotonen Abarbeiten von Aktenbergen. Eigentlich wollten wir uns kreativ in kollegiale Teamarbeit einbringen, stattdessen erledigen wir Dienstanweisungen nach starrem Muster, ohne Eigenverantwortung zu übernehmen. Eigentlich würden wir gern Kunden von der Qualität unseres Produktes überzeugen, stattdessen schwätzen wir ihnen eine zweifelhafte Ware auf. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren. In all diesen Fällen stimmen wir nicht mit uns überein, in uns tritt etwas auseinander, wir widersprechen uns selbst. Wir handeln nicht nach unseren Überzeugungen und Werten, wir sagen nicht, was wir wirklich denken, unsere Fähigkeiten kommen nicht zur Geltung, wir tun etwas, wozu wir keinerlei inneren Antrieb verspüren, wir schieben auf, was wir schon lange tun, verschweigen, was wir schon lange aussprechen wollten.

Auch auf Umwegen können wir zu uns selbst finden

Was wir dann fühlen, ist Entfremdung. Statt ganz bei uns und in unserer Mitte zu sein, uns zu spüren in dem, was wir tun, werden wir uns selbst fremd. Wir stehen neben uns. In uns ist eine Diskrepanz zwischen unserer Vorstellung vom Leben und der Realität. Dieser kleine oder große Zwiespalt in unserem Leben führt zu seelischem Leid, zu Unwohlsein und einer Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Situation. Wir leben nicht so, wie wir leben wollen.

Dieses Gefühl der Entfremdung rührt häufig daher, dass wir nicht klar erkennen, was unsere tiefsten Bedürfnisse sind, wer wir sind, was uns nachhaltig guttut und was nicht, für welche Werte es lohnt, sich einzusetzen, für welche nicht. Wir sind nicht nah genug an uns dran, leben nicht aus den tiefsten Schichten unserer Seele heraus, die wir nicht erkennen, sei es, dass wir uns keine Zeit zur Sammlung und zum Nachdenken nehmen, dass wir nicht in uns hineinhorchen oder nicht genügend auf die Signale unseres Körpers und unserer Befindlichkeit achten. Zur Authentizität gehört eine gute Selbsterkenntnis, die wir einerseits durch Nachdenken über uns selbst, andererseits aber auch dadurch gewinnen können, dass wir uns im Leben ausprobieren und beobachten, wie es uns dabei ergeht und wie es sich anfühlt. Der Weg zu sich selbst führt manchmal über Um- und Irrwege. Das ist ganz normal und nichts Schlimmes. Wenn wir erkennen, was wir nicht wollen, dann wird uns auch immer klarer, was wir eigentlich wollen. Wenn wir alles abstellen, was wir nicht wollen, was uns auf Dauer nicht guttut und nicht weiterbringt, dann kommen wir auch immer mehr in unsere Mitte und werden authentischer.

Was ebenfalls zu Entfremdungsgefühlen und damit zu Unzufriedenheit und Missmut führt, ist ein zu starkes Wollen. Zwar gibt es kein Leben ohne Wollen, Wünsche, Sehnsüchte und Ziele. Aber wie die Ziele verfolgt werden und mit welcher inneren Einstellung wir dies tun, das hat großen Einfluss darauf, ob wir uns in unserer Haut wohlfühlen, uns noch nahe sind oder uns von uns entfernen und nicht mehr authentisch sind. Denn wenn wir uns zu sehr mit unseren Wünschen und Zielen identifizieren, wenn wir etwas unbedingt durchsetzen wollen, dann nähren wir die Vorstellung, dass das, was wir anstreben und begehren, notwendige Voraussetzung für unser Glück und unsere Zufriedenheit ist. Zwar ist diese Einstellung in einer Leistungsgesellschaft eher die Normalität, aber sie ist auch gefährlich für die innere Ruhe und Authentizität. Häufig hat das zur Konsequenz, dass wir mit dem gegenwärtigen Zustand unzufrieden sind, ihn als Mangelzustand erleben: »Uns fehlt etwas.«

Auch hier kann ein leidvoller Zwiespalt zwischen unserem Istzustand und unserer Wunschvorstellung entstehen. Wir ruhen nicht in uns, sind nicht bei uns, sondern sind mit unserem Denken und Wollen ganz bei dem, was wir so verbissen anstreben. Es findet eine Überidentifikation statt, die unsere Authentizität und das Gefühl beeinträchtigt, ganz und vollständig zu sein. Je stärker und unbedingter wir etwas wollen, umso unzufriedener werden wir mit unserer gegenwärtigen Lebenssituation. Wir geraten in eine starke Abhängigkeit von dem, was wir wollen, wir haften an und verlieren unsere innere Freiheit. Authentizität bedeutet aber vor allem Freiheit und innere Unabhängigkeit. Bei all unserem Wollen, Streben und Wünschen bleiben wir uns treu und sind nicht bereit, uns für die Erfüllung unseres Wunsches zu verbiegen oder unsere Überzeugungen und Werte aufzugeben. Das ist dann der Fall, wenn uns im Konfliktfall die Treue zu uns selbst wichtiger ist als die Erreichung unserer Ziele im Außen. All unser Wollen und Streben sollten wir unter diesen Vorbehalt stellen und darauf verzichten, es unbedingt und um jeden Preis durchzusetzen. Das meinte der chinesische Philosoph Zhuangzi, wenn er sagt, dass der Weise auch das, was er erzwingen könnte, nicht erzwingt.

Zhuangzi, 365–290 v. Chr., chinesischer Philosoph, dessen Schrift Das wahre Buch vom südlichen Blütenland bis heute Denker in Ost und West stark beeindruckt hat. Angebote für höhere Ämter lehnte er ab und bevorzugte das bescheidene, aber unabhängige Leben eines zurückgezogenen Philosophen. Lieber würde er sich in einer modrigen Schlammpfütze wälzen, als seinen Willen dem verlogenen Prunk am Hofe zu opfern, sagte er.

Selbstgenügsamkeit als Basis für ein erfülltes Leben

Wenn wir dagegen alles mit einer Haltung anstreben, die sich sagt, es wäre schön, wenn wir es erreichen, aber es ist auch kein Unglück, wenn der Erfolg ausbleibt, dann verlieren wir uns nicht an die Sache und bleiben in unserer Mitte. Die Weisheitslehren der Antike in Orient und Okzident nannten eine solche Haltung »Genügsamkeit« oder »Selbstgenügsamkeit«. Sie hielten diese Fähigkeit für einen der wichtigsten Werte eines gelingenden Lebens. Sie steht für Zufriedenheit mit dem, was da ist, und schielt nicht mit heftiger Begehrlichkeit nach dem, was nicht da ist. Der Genügsame sagt sich: »Ich brauche nichts mehr zu meinem Glück. Es ist bereits alles da. Was noch hinzukommt, darüber freue ich mich, aber es wird mein Glück nur befestigen, nicht steigern.« Dass wir uns selbst genügen, ist Ausdruck und Voraussetzung dafür, authentisch zu sein, das heißt in und aus unserer gefestigten Mitte heraus zu leben. Es sei noch einmal hervorgehoben, dass diese Genügsamkeit nicht bedeutet, dass wir unser Wollen und Streben aufgeben, dass wir uns nicht weiterentwickeln sollten, sondern dass wir bei allem Streben bei uns bleiben und zufrieden sind, mit dem, was ist. Das meinten die alten Chinesen, wenn sie sagten, der Weg sei das Ziel. Auf die Erreichung des Ziels kommt es nicht an.

Vielen Menschen ist nicht bewusst, dass ein hartnäckiges Wollen zu einer Überidentifikation führen kann und ihre Authentizität und Zufriedenheit gefährdet. Die Weisen des Altertums sahen diese Gefahr sehr klar: »Heftiges Wollen macht die Seele blind für alles Übrige und verdirbt, was einem zur Verfügung steht«, meinte der griechische Philosoph Demokrit. Die Griechen hielten denjenigen für den Glücklichsten, der keine Wünsche hat, und wahrhaft reich nur den, der meint, dass ihm nichts fehlt. Buddha ging am weitesten und führte alles seelische Leid auf unser Wollen zurück, sodass es das Beste wäre, nichts zu wollen.

Demokrit