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Wandern ist die beliebteste Freizeitaktivität in Deutschland, Österreich und der Schweiz – Deutschlands erfolgreichster Philosophie-Coach verknüpft diese Liebe zur Natur erstmals mit dem Trend-Thema Sinnsuche und Philosophie. Wandern bedeutet: dem Alltag entfliehen, Abstand gewinnen, Natur erleben, Seele und Körper stärken und damit die Gesundheit fördern. Doch Wandern ist mehr als das, sagt der Philosophie-Coach Albert Kitzler. Wandern ist ein Spiegelbild des Lebens – es geht ums Aufbrechen und Loslassen, und Anstiege und Abstiege, um Durststrecken und das erhebende Gefühl, ein Ziel zu erreichen. Damit besitzt das Wandern eine natürliche Verbindung zur Philosophie. "Wenn wir wandern und uns den eigenen Gedanken hingeben, beginnen wir, über uns selbst nachzudenken, über unsere Lebenssituation, unser Verhältnis zu anderen Menschen, über Dinge, die uns belasten oder viel Freude bereiten. Das ist der Anfang aller Philosophie", sagt Albert Kitzler, der das Wandern jeder anderen Freizeit-Beschäftigung vorzieht. Albert Kitzler verbindet in diesem Sachbuch die Sehnsucht nach Natur mit der Suche nach dem Sinn des Lebens ebenso unterhaltsam wie anregend. Er lädt ein zum Nachdenken über das Wandern und das Leben und erschließt dabei die stille Kraft, die beidem innewohnt – und natürlich kommen dabei jede Menge Philosophen aus allen Epochen der Geistesgeschichte zu Wort. Dr. Albert Kitzler, Philosoph und erfolgreicher Medienanwalt, gründete 2010 "Maß und Mitte – Schule für antike Lebensweisheit", wo er Seminare, Matineen und philosophische Urlaube anbietet. Seine bisherigen Bücher "Wie lebe ich ein gutes Leben?", "Philosophie to go" und "Denken heilt!" wurden von den Lesern mit Begeisterung aufgenommen.
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Seitenzahl: 314
Albert Kitzler
Eine philosophische Wegbegleitung
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Wandern bedeutet: dem Alltag entfliehen, Abstand gewinnen, Natur erleben, Seele und Körper stärken und damit die Gesundheit fördern. Doch Wandern ist mehr als das, sagt der Philosophie-Coach Albert Kitzler. Wandern ist ein Spiegelbild des Lebens – es geht ums Aufbrechen und Loslassen, um Anstiege und Abstiege, um Durststrecken und das erhebende Gefühl, ein Ziel zu erreichen. Damit besitzt das Wandern eine natürliche Verbindung zur Philosophie. Vom Glück des Wanderns schlägt diesen Bogen ebenso unterhaltsam wie anregend. Albert Kitzler lädt ein zum Nachdenken über das Wandern und das Leben und erschließt dabei die stille Kraft, die beidem innewohnt.
Motto
Widmung
Widmung
Vorwort
Einführung
Wanderwege – Lebenswege – Denkwege
Zusammenfassung
Gesundheit und Glück
Zusammenfassung
Den Schritt anhalten
Zusammenfassung
Sich besser kennenlernen
Zusammenfassung
Dankbar und bescheiden werden
Zusammenfassung
Das richtige Maß finden
Zusammenfassung
Natur spüren und sich an ihr erfreuen
Zusammenfassung
Zur inneren Ruhe finden
Zusammenfassung
Die Freude am Leben stärken
Zusammenfassung
Vom Glück des Wanderns
Zusammenfassung
Das einfache Leben
Zusammenfassung
Gelassen und duldsam leben
Zusammenfassung
Die Vergänglichkeit annehmen
Zusammenfassung
Die Menschen lieben
Schluss
Literaturverzeichnis
Die zitierten Philosophen
Dank
Wandern in Muße ist Nicht-Handeln.
Wunschlosigkeit ist leicht zu ernähren,
Bedürfnislosigkeit braucht keinen Aufwand.
Die alten Weisen nannten das:
Wanderschaft, bei der man die Wahrheit pflückt.
Zhuangzi
Zu spät trat er in mein Leben, zu früh ging er wieder hinaus.
In memoriam
Mike Patterson
Meinen lieben Brüdern
Günter und Gerhard
Seit 40 Jahren bin ich begeisterter Wanderer und überzeugt davon, dass ich dem Wandern einen Großteil meiner Lebensphilosophie zu verdanken habe. »Meine« Lebensphilosophie, das ist im Wesentlichen die praktische Philosophie und Weisheitslehre der großen Denker der westlichen und fernöstlichen Antike, die ich mit meinen eigenen Lebenserfahrungen verschmolzen habe. Damals ist alles Wesentliche, das wir wissen sollten, um ein gutes Leben zu führen, in einer Breite, Tiefe und Klarheit gedacht und ausgesprochen worden, wie sie später nicht mehr erreicht wurde. Dieses Wissen und seine Bedeutung für unsere Zeit und unser Leben, verbunden mit meinen persönlichen Erfahrungen, war zentraler Bestandteil meiner bisherigen Bücher. Das soll auch in diesem Buch so sein, aber aus der Erfahrung des Wanderns heraus – einer Freizeitbeschäftigung, die viele Menschen beglückt und erfreut.
Es sollen die vielfältigen Bezüge aufgezeigt werden, die zwischen dem Wandern und der praktischen Philosophie bestehen. Im Wandern in der freien Natur finden wir alle Elemente wieder, die ein gelingendes Leben charakterisieren. Vielleicht ist gerade das der Grund, warum viele Menschen gerne wandern. Diesen gemeinsamen Elementen soll hier nachgegangen werden, soweit sie unsere alltägliche Lebensbewältigung, unsere Freude am Leben sowie den Umgang mit seinen Herausforderungen und Schwierigkeiten betreffen. So wird das Buch zu einer Meditation über das Wandern und das Leben. Es soll uns die Geheimnisse und stille Kraft des Wanderns in der Natur im Hinblick auf unsere Lebensführung und unser Lebensgefühl erschließen. Wir erfahren und verstehen, was wir schon immer gefühlt und mehr oder weniger gewusst haben: Beim Wandern geschieht mehr, als dass wir uns an der frischen Luft bewegen, unsere Muskeln kräftigen und die Natur genießen. Darüber hinaus erschließt sich uns auch Wesentliches über unser Leben im Ganzen. Vielleicht gibt es gerade deshalb keine andere Freizeitbeschäftigung, die derart heilsam und wohltuend für Körper und Seele ist wie das Wandern.
Das Buch ist eine Hommage und meine persönliche Liebeserklärung an das Wandern, die Natur und das Leben. Mit ihm möchte ich meine tiefe Dankbarkeit für die vielen beglückenden Stunden und Erlebnisse zum Ausdruck bringen, die ich beim Wandern erfahren durfte und hoffentlich noch viele Jahre erfahren darf.
Das Denken ist für die Menschen der Spaziergang der Seele.1
Wandern und Denken haben etwas Meditatives. Beides sind Formen des Unterwegs-Seins, Ausdruck und Abbild unseres Lebens, der Wegstrecke zwischen Geburt und Tod. Jeder Schritt auf diesem Weg eröffnet eine neue Perspektive; mit jedem Schritt verlassen wir einen Ort und betreten einen neuen, schreiten fort ins Unbekannte. Schritt für Schritt atmen wir die »göttliche Kraft« der Natur, des Werdens, des Seins ein, wie Ricarda Huch es formulierte.2 Auch wenn wir dieselben bleiben, verändert uns das ständige Fortschreiten, mag die Veränderung auch noch so unscheinbar sein. Das Leben ist ein tägliches Sterben, meinte Seneca.3 Irgendetwas fällt von uns ab, verlässt uns, vergeht; Neues entsteht, tritt an seine Stelle, nimmt unsere Aufmerksamkeit ein. Das Wandern wie das Leben stehen für Wandel und Vergänglichkeit, für Entstehen, Wachsen, Blühen und Vergehen. »Das Vergehen also und Werden wählt derjenige, der dieses Leben wählt«, sagt Platon.4 Schon hier haben Wandern und Denken einen ersten philosophischen Berührungspunkt.
Die wenigsten werden beim Wandern an Philosophie denken. Aber die Philosophie, die den Gegenstand des vorliegenden Buches bildet, ist nicht die akademische Philosophie, die man studiert haben muss, um sie zu verstehen. Das Wort Philosophie bedeutet wörtlich übersetzt »Liebe zur Weisheit«. Mit Weisheit aber verbinden wir – wie dies schon die Menschen im Altertum getan haben, als der Begriff entstand – vor allem praktisches Wissen, das das menschliche Leben zum Gegenstand hat. Und nicht nur das Wissen ist gemeint, vielleicht nicht einmal in erster Linie, sondern unsere tatsächliche Lebenspraxis. Weise nennen wir nicht jemanden, der viel weiß, sondern der zu leben versteht, der es versteht, mit sich selbst und den anderen umzugehen und die vielfältigen Herausforderungen des Lebens im beruflichen wie im privaten Bereich meistert, auch und gerade dann, wenn es schwierig und leidvoll wird. Weisheit ist Wissen und Können, das heißt die Umsetzung des Wissens im täglichen Leben. Als das Wort »weise« im Abendland zum ersten Mal gebraucht wurde, bei dem griechischen Dichter Homer, bedeutete es »sich auf etwas verstehen«. Homer verwendete es auch, um die Kunst des Schiffsbaumeisters, des Zimmerers, des Bildhauers zu bezeichnen. Daher ist es nicht nötig, viele Bücher zu lesen, um weise zu sein. Lebensweisheit können wir überall erwerben, wenn wir das menschliche Leben in all seinen Aspekten nur aufmerksam beobachten und es verstehen lernen. Myson, den Platon zu den sogenannten Sieben Weisen zählte, war einfacher Landwirt und konnte wahrscheinlich weder lesen noch schreiben.
Ich selbst bin auf den Weg zu einer weisen Lebensführung unter anderem durch einen Landwirt gelangt, meinen Onkel, der in einem kleinen Weiler im Hunsrück lebte. Er ruhte in sich, lachte herzlich und viel, war bescheiden und selbstgenügsam, zugewandt und verständnisvoll für jedermann. Das alles hatte er weder in der Schule noch aus Büchern gelernt. Er hatte es der Natur, in und mit der er tagtäglich arbeitete, abgeschaut und sich mit dem neugierigen Blick in die eigene und die Seele seiner Mitmenschen erschlossen. Später sind mir noch andere Menschen begegnet, die ihre tiefe Lebensweisheit nicht dem Lesen von Büchern verdankten, sondern der aufmerksamen Beobachtung natürlicher Gesetzmäßigkeiten und des menschlichen Miteinanders.
Weisheit hat damit zu tun, wie wir uns zu uns selbst, zur Welt, zu unseren Mitmenschen und zur Natur verhalten, die uns im Innern prägt und im Äußeren umgibt, die vielfältig und ständig auf uns einwirkt. Sie ist unsere Lebensquelle, zu der es uns immer wieder hinzieht, als spürten wir, dass wir dort unserem Ursprung nahekommen. Dieser Ursprung ist unser Leben selbst, seine Individualität ebenso wie seine allgemeinen Grundgegebenheiten, seine Wahrheit und Weisheit. Diesem Ursprung kommen wir nahe und erleben ihn, wenn wir wandern. Das verbindet das Wandern mit Weisheit, mit der Philosophie unseres Lebens.
Die Philosophie unseres Lebens – jeder hat eine solche – erschöpft sich nicht in unserer Weltanschauung, sondern betrifft im gleichen Maße die Entwicklung, Pflege und Formung unserer Persönlichkeit und unseres Charakters. Das stand im Zentrum der antiken praktischen Philosophie in West und Ost. Dort stoßen wir auf die einhellige Überzeugung, dass Glück und Unglück in der eigenen Seele liegen und dass die Kunst des guten Lebens in dem Verhältnis begründet liegt, das wir zu uns selbst haben. Dieses Verhältnis zu uns selbst bestimmt auch maßgeblich, wie wir uns zu unseren Mitmenschen und zur Welt verhalten. Wenn wir gut mit uns, den anderen und der Welt auskommen, fühlen wir uns wohl und führen ein gutes Leben.
Das Ziel der Pflege und Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, das gelingende Leben, bestimmten viele der alten Denker dahingehend, dass wir »naturgemäß« leben sollen. Darunter verstanden sie zunächst, dass wir die Natur, die uns umgibt, die auf uns wirkt und in uns atmet, respektieren sollen; dass wir sie in uns spüren, sie aufnehmen und uns nach ihr richten sollen; dass wir mit unserer Denk- und Lebensweise nicht in Widerspruch treten zu den Kräften und Rhythmen, die in der äußeren Natur herrschen. Wo wir die Natur schädigen, schädigen wir uns selbst. Wo wir uns ihrem Rhythmus nicht anpassen, geraten wir alsbald in Schwierigkeiten. Wenn wir erschöpft sind, brauchen wir eine Pause. Wenn wir müde sind, sollten wir schlafen; im Frühling sind wir aktiver, im Winter bedächtiger. Für alles gibt es Ausnahmen und Phasen, in denen es sich kurzfristig auch anders verhalten kann. Aber auch das entspricht der Natur, denken wir nur an Phasen, in denen das Wetter nicht der Jahreszeit entspricht.
Mit »Natur« meinten die Weisen der Antike neben der genannten äußeren Natur auch die persönliche innere Natur eines jeden Menschen mit seinen spezifischen Begabungen, Anlagen, Abneigungen und Eigenschaften. Werden wir diesen Eigenschaften nicht gerecht, entfremden wir uns von uns selbst, »unserer Natur«, und beginnen, unter dem Leben zu leiden. Haben wir den falschen Beruf, den falschen Partner oder leben wir starke Bedürfnisse nicht aus, dann fühlen wir uns nicht wohl in unserer Haut. In der Aufforderung, »naturgemäß zu leben«, zielte das antike Denken darauf ab, solche Entfremdungserscheinungen zu vermeiden. »Werde, der du bist«, sagte der griechische Dichter Pindar.5
Es sind diese beiden Aspekte der Natur, die äußere und innere, die vielfältig ineinanderwirken und sich gegenseitig durchdringen und bedingen. Sie verbinden das Nachdenken über unser Leben mit dem Wandern in der freien Natur. Auch wenn es uns nicht bewusst wird, ist diese wesensmäßige Verbundenheit des menschlichen Lebens mit der Natur eine Tatsache, die wir tief in uns spüren und die uns immer wieder antreibt, die Natur aufzusuchen.
Wenn in diesem Buch von Wanderungen die Rede ist, sind vor allem Wanderungen oder längere Spaziergänge durch Naturlandschaften, am Meer oder in den Bergen, Pilgerwanderungen oder mehrtägige Trekkingtouren gemeint. Das Verbindende dieser Formen des Wanderns ist der unmittelbare Naturbezug, eine Neugierde für die Umgebung, der Rhythmus des Gehens und ein Fließenlassen der Gedanken. In diesen Formen ist das Wandern und Gehen selbst der Hauptzweck. Wir verfolgen kein Ziel, wir gehen nicht zu einem Ort, an dem wir etwas zu erledigen haben. Wir verfolgen keine andere Absicht, als zu gehen, zu uns zu kommen, unseren Körper zu fordern, eine Etappe zu bewältigen, eine Gegend kennenzulernen, Eindrücke, Aussichten und das Wetter zu genießen oder ihm zu trotzen. »Des Wanderns Lust ist, dass man die Zwecklosigkeit genießt«, sagt der chinesische Philosoph Liezi.6 Ein wesentliches Merkmal dieser Formen des Wanderns ist, dass wir den Alltag unterbrechen, der uns von morgens bis abends mit der Abarbeitung zielgerichteter Tätigkeiten auf Trapp hält und häufig unser ganzes Denken und Sinnen in Beschlag nimmt. Wir treten heraus aus der Tagesmaschinerie, in der wir innerlich immer auf etwas ausgerichtet sind, das noch zu erledigen ist, in der wir ständig etwas planen, organisieren, etwas erledigen oder vorbereiten. Selbst in den Pausen und in Ruhezeiten arbeitet es oftmals in uns weiter, und unsere Gedanken sind schon bei dem, was nach der Pause kommt.
So bleiben wir durch unser Denken, unsere Gewohnheiten und die bekannte Umgebung fest im Alltag gefangen. Erst wenn wir aus dem Haus treten, um ohne Ziel und um des reinen Wanderns willen zu einer kleinen oder größeren Tour oder zu einem Spaziergang aufbrechen, verlassen wir das Hamsterrad, brechen wir auch aus dem Alltag aus und beginnen, uns vom Gewohnten zu distanzieren. Wir schalten ab, entschleunigen, lassen los, schauen nach innen, kommen zu uns selbst. Wir werden noch sehen, dass diese Distanz der Anfang eines inneren Prozesses ist, der Körper und Seele auf vielfältige Weise erholt, nährt und stärkt, indem er in uns Gedanken hervorruft, die abweichen von dem, was wir sonst denken und tun. Auch hier berührt sich das Wandern wesentlich mit der Philosophie, die wiederum vom Stand des Fragens und der Neugier bestimmt wird. Wir hinterfragen die gewohnten Gedanken und Überzeugungen, erhellen Dunkles und Unbekanntes und stoßen vor in neue Denk- und Vorstellungsräume.
Nicht bei jedem Wandern machen wir unser Leben zum Thema. Häufig laufen assoziative Gedankenketten in unserem Kopf ab. Es können ganz banale Dinge sein, an die wir denken. Wandern wir mit anderen, sind wir selten bei uns, sondern meistens bei einem Thema, über das zufällig gerade gesprochen wird. Das sind eher selten lebensprägende Fragen. Aber immer wieder kommt es vor, dass auch dabei Wesentliches berührt wird, das mit uns selbst zu tun hat, das in uns arbeitet, etwas anstößt und neue Ideen, Vorstellungen und Entscheidungen in uns reifen lässt.
Meistens aber kommt es dazu, wenn wir entweder allein wandern oder schweigend gehen und uns den eigenen Gedanken hingeben. Dann beginnen wir, über uns selbst nachzudenken, über unsere Lebenssituation, unser Verhältnis zu anderen Menschen, über Dinge, die uns belasten oder umgekehrt große Freude bereiten. Das ist der Anfang des praktischen Philosophierens. Dann wird das Wandern in der freien Natur ein Ausflug mit sich selbst und eine Einkehr in sich selbst. Mit sich allein sein kann gewiss auch ein Problem darstellen, insbesondere wenn wir uns einsam fühlen und darunter leiden. Es kann aber auch eine bereichernde Kraftquelle sein, wenn wir im Übrigen gute soziale Bindungen haben und das Alleinsein bewusst aufsuchen, um zu uns selbst zu kommen und uns zu besinnen. »Das ist die Geborgenheit im eigenen Innern. Darum achtet der Weise stets auf das, was er für sich allein hat«, heißt es in einem klassischen chinesischen Weisheitsbuch.7 Was wir für uns allein haben, darüber können wir uns beim Wandern klar werden, »wenn wir unsere Gedanken wahr machen«, wie es an gleicher Stelle heißt.
Ich bin in meinem Leben viel gewandert, häufig allein,8 auf ausgewiesenen Strecken oder in unerschlossenen Gegenden, gerne in den Bergen, bisweilen auf kleinen Steigen, aber auch in fremden Städten. Ich bin auch viel gereist, und wo ich hinkam, da bin ich gewandert. Ich bin weder Bergsteiger noch Profiwanderer, der sich Gegend um Gegend erschließt und die ganzen Alpen kennt. Daher sollen in diesem Buch auch keine Touren beschrieben oder Hinweise für das richtige Wandern gegeben werden. Das ist häufig und sehr gut in anderen Büchern geschehen. Es soll vielmehr der Frage nachgegangen werden, was das Wandern mit unserem Leben zu tun hat, wie es nicht nur unseren Körper stärkt, sondern unser ganzes Leben bereichert, wie es uns auf den Alltag vorbereitet und auf den »rechten Pfad« führen, uns seelisch-geistig stärken und entwickeln kann – kurz: Was hat Wandern mit praktischer Lebensphilosophie zu tun? Ich war immer davon überzeugt, dass es hier viele Gemeinsamkeiten gibt, über die es sich lohnt, ausführlicher nachzudenken.
Mit dieser Ausrichtung soll das Buch zugleich eine Einführung in die praktische Philosophie sein, in der Form, wie sie vor allem in der Antike in Orient und Okzident aufgefasst und betrieben wurde: als eine Suche nach dem gelingenden Leben, nach unserem Glück. Als philosophische Suche verlangt sie allerdings ein gewisses Maß an Denkarbeit. Das ist unumgänglich, wenn wir nicht an der Oberfläche bleiben, sondern etwas Neues lernen und erfahren wollen, wenn wir wachsen und reifen wollen, so wie es uns die Natur, die wir bei unserem Wandern durchstreifen, in all ihrer bunten Vielfalt und Üppigkeit vorlebt. Ohne eine solche Anstrengung gibt es keine Weiterentwicklung unserer Persönlichkeit. Der Leser möge daher auch dort, wo er beim ersten Lesen vielleicht stecken bleibt, versuchen, die Gedankengänge der großen Weisen der Vergangenheit nachzuvollziehen. Vielleicht erschließt sich das eine oder andere im Laufe der weiteren Lektüre. In allen Zitaten und Erläuterungen geht es immer um das Wesentliche unseres Lebens, und da sollten wir, wie uns Sokrates eindringlich gemahnt hat, keine Mühe scheuen. Denn was wäre wichtiger, als sich, wie er sagte, um sein eigenes Seelenheil zu kümmern.
Nehmen Sie sich beim Lesen Zeit. Ich empfehle, nicht zu viel auf einmal zu lesen und lieber das Buch immer wieder zur Seite zu legen, über bestimmte Stellen zu reflektieren und selbst nachzudenken. Das Selbstdenken ist ohnehin das Wichtigste. »Der vor allem ist gut, der selber alles erkannt hat«, sagt der griechische Dichter Hesiod.9 Ich habe in diesem Buch zahlreiche Weisheiten aus Orient und Okzident zitiert. Sie stammen von großen Denkern und haben sich gerade aufgrund ihres tiefen Gehalts über Jahrtausende erhalten. Nicht alles wird Sie gleichermaßen ansprechen. Streichen Sie sich an oder schreiben Sie sich heraus, was Ihnen gefällt. Machen Sie sich diese Aussprüche – in welcher Form auch immer – zu Begleitern auf den künftigen Wanderungen und greifen Sie hin und wieder auf die Erklärungen in diesem Buch zurück. Auf diese Weise werden Sie die Aussprüche verinnerlichen, sodass sie Ihnen einfallen, wenn Sie in eine Situation geraten, in der Ihnen das Zitat weiterhelfen oder Orientierung geben kann.
Mir fallen ständig Aussprüche oder Gedanken aus dem überlieferten Weisheitswissen ein. Wie gute Freunde begleiten mich Sokrates, Konfuzius, Buddha und andere durch mein Leben und geben mir wertvolle Ratschläge, als stünden sie neben mir. Ihre Einsichten erhellen mir konkrete Lebenssituationen und zeigen mir, was zu tun und was zu meiden ist. Nicht dass ich sie immer eins zu eins umsetze. Häufig muss ein weiser Gedanke an die besonderen Umstände angepasst werden. Aber solche Merksätze bereichern und erleichtern den Abwägungs- und Entscheidungsprozess und weisen mir häufig den richtigen oder doch zumindest einen guten Weg. Hier erst gelangt Weisheit an ihr Ziel, wird praktisch und hilft dabei, Herausforderungen des Lebens zu bewältigen, aber auch seine Geschenke zu erkennen und zu genießen. Ich bin sehr dankbar, für mich diesen Weg gefunden zu haben. Er hat aus mir einen anderen Menschen gemacht, der gelassener und duldsamer geworden ist, der besser schläft, weniger leidet, der mehr lacht und mehr Freude am Leben hat – und der noch mehr wandert als zuvor.
Für viele Leser wird der Inhalt dieses Buches nicht neu sein. Sein Gegenstand ist unser Leben. Es sind immer dieselben ewigen Menschheitsfragen, für die wir gute und brauchbare Antworten suchen. Philosophische Vorkenntnisse werden nicht vorausgesetzt. Es gibt Wiederholungen und Überschneidungen. Ich habe sie bewusst in Kauf genommen, da sie der Vertiefung dienen, zumal im Weisheitsdenken vieles mit vielem zusammenhängt. Es ist wichtig, diese Zusammenhänge zu erkennen. Ich habe mich darum bemüht, dass jeder Leser dieses Buch verstehen und aus ihm Anregungen zum Weiterdenken und natürlich zum weiteren Wandern schöpfen kann. An der einen oder anderen Stelle ist er aufgefordert, länger über eine Passage oder ein Zitat nachzudenken, um den Gedanken nachzuvollziehen. Doch erfahrene Wanderer kennen das: Manchmal muss man den Einstieg und richtigen Weg erst mit einiger Mühe suchen; häufig aber sind gerade solche Wege, die uns herausfordern, die schönsten.
Ich fühl’s, wenn ich gehe in der freien Luft,
im Wald oder an Bergen hinauf,
da liegt ein Rhythmus in meiner Seele,
nach dem muss ich denken,
und meine Stimmung ändert sich im Takt.10
Bettine von Arnim
Mein Leben soll eine Wanderschaft werden.11
Goethe
Wie eng die Verbindung von Wandern und praktischer Philosophie ist, zeigt bereits die Sprache. Wandern heißt Wege begehen. In allen Kulturen und Weisheitslehren, von denen wir eine schriftliche Überlieferung haben, ist das Wort »Weg« immer in der Doppelbedeutung von »Fußweg« und »Lebensweg«, von räumlichem und existenziellem, von körperlichem und seelisch-geistigem Fort-schreiten und damit verbundenen Fort-schritten verwendet worden. In der Philosophie kam noch die Bedeutung von »Denkweg« hinzu. Das liegt nahe, wird doch unser Lebensweg stark davon geprägt, was wir denken, wie wir die Welt und uns selbst verstehen, was unsere Wertvorstellungen und allgemeinen Anschauungen sind. »Du wirst zu dem, was im Denken und Sinnen herrscht«, heißt es in den altindischen Upanischaden, dem philosophischen Teil der Veden.12 Aus unserem Denken und unseren Vorstellungen fließen unsere Entscheidungen und Handlungen, die kleinen und großen, die bewussten und unbewussten. Bevor wir auf konkrete Fragen der praktischen Lebensphilosophie und Weisheitslehre eingehen, wollen wir ein paar allgemeine Gedanken zum Thema Wege und Wandern vorausschicken, wie sie sich in der Geschichte der Menschheit, der Philosophie und der Religion dargestellt haben.
Philosophen waren häufig eifrige Wanderer, denn sie spürten die wohltuende Verbindung von Denken und Wandern. Traue keinem Gedanken, der im Sitzen kommt, meinte Nietzsche.13 »Ich habe mir meine besten Gedanken angelaufen«, sagte der dänische Philosoph Kierkegaard, und in Bezug auf belastende Gedanken: »… ich kenne keinen Gedanken, der so schwer wäre, dass man ihn nicht beim Gehen loswürde.«14 Heidegger, der täglich wanderte, hob die Verbindung von Wandern, Wegen und Denken durch einige seiner Buchtitel hervor wie Holzwege, Wegmarken oder Unterwegs zur Sprache. Unzutreffend aber ist der häufig zu lesende Hinweis, Aristoteles und seine Schüler hätten im Gehen philosophiert, was sich in dem Namen seiner Schule, dem Peripatos, zu Deutsch »Wandelhalle«, niedergeschlagen habe. Das dürfte eine später entstandene Legende sein.15
In den alten Kulturen kommt die Doppeldeutigkeit von »Weg« bereits im Gilgamesch-Epos aus dem 2./3. Jahrtausend v. Chr., der ältesten schriftlichen Dichtung, die wir haben, zum Ausdruck: »Gilgamesch, wohin läufst du? Das Leben, das du suchst (das unsterbliche), wirst du nicht finden.«16 In einem ägyptischen Weisheitstext aus dem 2. Jahrtausend v. Chr. heißt es: »Ich breite vor dir eine Lehre aus und unterweise (dich über den) Weg des Lebens. Ich setze dich auf den leidensfreien Weg …«17 Das Grundwort der alten chinesischen Philosophie heißt Dao (Tao), was häufig mit »der rechte Weg« übersetzt wird. Das Schriftzeichen setzt sich zusammen aus »Kopf« und »Fuß«.18 Es bezeichnet den »Weg des offenen Lebens«, das »Sich-Entfalten des Weges« als Gang des Alls wie auch als Bestimmung des Menschen, der, will er zu einem »wahren Menschen« reifen, eine »geistige Wanderung« zu vollbringen hat.19
Im alten Indien kennt man den Yoga Marga, wobei »Marga« Weg heißt, im übertragenen Sinn der Heilsweg, der Weg leiblich-seelischer Übungen. Für Buddha erlangen wir Erlösung von dem Leiden an der Welt, indem wir den »achtgliedrigen Pfad« beschreiten, einen Übungsweg und eine Lebenspraxis zum guten Leben.20 Eine seiner bedeutendsten Spruchsammlungen heißt Dhammapada, wobei »Dhamma« die Lehre bezeichnet, »pada« den Fuß oder Weg. Der Hinduismus spricht von dem »Weg«, auf dem der Mensch sich schrittweise von Lastern befreit und zu einem guten Menschen verwandelt.21 Im Zen bedeutet »den Buddha-Weg gehen« das Selbst kennenlernen, praktizieren und verwirklichen.22
Schon in den ältesten griechischen Quellen ist vom »Weg der Tugend« die Rede, der steil und steinig anhebt, auf der Höhe aber »leicht dahinzieht«, eben und angenehm verläuft.23 Noch heute ist der Mythos von »Herakles am Scheideweg« bekannt, wo sich der Held zwischen einem mühelosen, lustvollen und einem anstrengenden, aber tugendhaften Weg zu entscheiden hat. Jesus spricht in der Bergpredigt von zwei Wegen und sagt schließlich: »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben …«24
Schon in vorchristlicher Zeit gab es in Griechenland und Kleinasien Wallfahrten zu Orakeln und Heilstätten des Asklepios und Apollon.25 Daraus hat sich später die Pilgerfahrt entwickelt, die als ein Reinigungsweg angesehen wurde, der die Pilger verwandeln und näher zu Gott bringen sollte.26 Im Alten Testament steht das Bild des Weges für die Richtung, die das Menschenleben nehmen kann.27 In der Heilsgeschichte Israels bezeichnet der Auszug aus Ägypten den von Gott vorherbestimmten Geschichtsverlauf. Im Judentum wird die Gesamtheit aller Gesetze und Bräuche, also die Art und Weise, wie die Menschen leben und leben sollen, als Gang und Wandel bezeichnet.28 Im Koran wird Gott gebeten, den Menschen den »geraden Weg« zu zeigen und sie auf diesem Weg zu führen.29
In den Riten der Völker stoßen wir häufig auf Mysterien- und Einweihungswege, an deren Ende der Mensch als ein innerlich gewandelter hervor-geht. Den Weg gehen bedeutet hier, an dem Mysterium der Wandlung teilzuhaben.30 Im Gehen wandeln wir uns. In Japan ist es die Bestimmung und der »Weg des Menschen« (jindo, »do« bedeutet Weg), das physische und psychische Leben in seiner Entwicklung und strukturierten Ganzheit nicht zu stören.31 »Der Weg ist der Weg des Himmels und der Erde. Die Aufgabe des Menschen ist die, ihm zu folgen«, sagt der japanische Dichter Saigo.32 Der Begründer der japanischen Schwertkampfschule schrieb Anfang des 17. Jahrhunderts über den »Weg der Schwertkunst«, bei der es sich sowohl um eine vom Zen-Buddhismus beeinflusste Kampfart als auch um eine Schule der Persönlichkeitsentwicklung handelt: »… die Leere, das ist der Weg, und der Weg, das ist die Leere. Die Leere hat Gutes, nicht Böses, es gibt Weisheit, Verstand und den Weg, und es gibt die Leere.«33 »Leere« ist hier die innere Unabhängigkeit von weltlichen Anhaftungen und Offenheit für den Augenblick, in dem sich etwas ereignen kann, in dem man sich selbst begegnet. Dafür ist kein Platz, wenn der Kopf voll mit anderen Gedanken ist, wenn man »zu« ist, wenn man stehen bleibt, statt sich weiterzuentwickeln. Heutzutage wird »Leere« oft als etwas Negatives, als das Fehlen von Etwas angesehen. Die »Leere« im hier angeführten Sinn ist positiv besetzt, sie öffnet den Raum für Begegnungen, Neues, Wesentliches.
Die Reihe von Gedanken und Zitaten, in denen der Weg und das Wandern mit dem Beschreiten des eigenen Lebenswegs verglichen wird, ließe sich beliebig verlängern. Das Deutsche Sprichwörter-Lexikon führt 394 Sprichwörter an, die meisten mit der metaphorischen Bedeutung von Lebensweg.34 Das Wort »wandern« hängt sprachlich mit »wandeln« und »wenden« zusammen und weist in vielen Wortkombinationen auf die Wandlung und Weiterentwicklung der Persönlichkeit hin: »Wer wandert, wandelt sich mit jedem Schritt. Er bleibt nicht der Gleiche. In ihm bewegt sich etwas. Wandern und wandeln haben die gleichen Wurzeln ›wenden‹. Es geht beim Wandern um eine innere Wende, um eine Umkehr. Umkehr bleibt nicht einmalig, sondern beständiger Auftrag. Wandern heißt ›wiederholt wenden‹, sich ständig wandeln. … Wer wandert, wer fährt, der ›erfährt‹ sein Wandern als Wandlung und seinen Weg als ständige Bewegung, in die er selbst hineingenommen wird.«35 »Weg als Metapher für unser Leben umgreift alles, was uns begegnet und geschieht, was wir erkunden und erleiden, was wir entwerfen und erreichen. Etwas bewegt uns. Wir setzen uns in Bewegung, wir haben Beweggründe und handeln verwegen. Wir wandeln Wege und deshalb wandeln wir uns. Weggefährten gehen mit uns, Wegzehrung brauchen wir und Wegweiser. Was wir ausgeschritten haben, wird uns zur Erfahrung. Wir setzen etwas in Gang, wollen Fortschritt und Wandel.«36
Wandern in diesem Sinne wird als ein Wandlungsgeschehen begriffen, bei dem wir uns von etwas abwenden, dem eigenen Haus, dem Gewohnten, der Heimat, dem bisherigen Leben und dem täglichen Um-gang mit unseren Mitmenschen. Gleichzeitig aber wenden wir uns etwas anderem zu, einer neuen Umgebung, neuen Gedanken, neuen Gewohnheiten, einem neuen Leben, genauer: einem Leben, das immer schon in uns angelegt war, aber bisher in der Tiefe unserer Seele verschattet und verborgen war, dem eigenen Selbst. Besinnliches Wandern erfasst unseren Körper und Geist in seiner gesamten Fülle, stößt Fremdes und Belastendes ab und fügt zur Einheit zusammen, was in uns wesentlich ist. Es stärkt und formt Körper, Geist und Seele zu einer vollständigen Persönlichkeit. Es kann uns ganz und heil machen.
Im christlichen Kontext von Pilgerfahrten oder mönchischem Wanderleben wird immer wieder die existenzielle Bedeutung des Wanderns und Wandelns, des Auf- und Ausbruchs, des Unterwegsseins, des Loslösens, der inneren Reinigung und Läuterung, der seelischen Weiterentwicklung bis hin zur Neuerung des ganzen Menschen betont. Der Mensch wurde aus dem Paradies verstoßen und lebt seither »unbehaust« als Wanderer und Fremder in dieser Welt. »Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus«, heißt es in der Winterreise von Franz Schubert, deren Textgrundlage von Wilhelm Müller stammt. In der Bibel lesen wir: »Der Herr sprach zu Abraham: Geh fort aus diesem Land, aus deiner Verwandtschaft aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde.«37 Der eigentliche Auszug, der hier gemeint ist, ist nicht der Ortswechsel, sondern der Wandel des bisherigen Lebens und Seins. Der Mensch soll ein anderer werden, soll sich verabschieden von dem, was sein bisheriges Leben geprägt hat und mit dem er keine Erfüllung gefunden hat. Er soll seinen Charakter, seine bisherigen Werte und Haltungen ändern, ein anderer Mensch werden, eben der, der er im Innern seines Herzens schon immer war oder nach dem er sich schon immer gesehnt hat. Für diese innere Wandlung ist der äußere Ortswechsel, das räumliche Unterwegssein, das Hinausgehen in die weite Welt, in die »Hauslosigkeit«, ist das Wandern im Unbekannten notwendig.
»Und auf diesen Weg mache ich mich nur, wenn ich mich freigehe von allem, was mich daran hindert, ich selbst zu sein. Wandernd muss ich die Rollen ablegen, die ich spiele, die Masken abfallen lassen, die mein Wesen verdecken und entstellen.«38 Für Mönche hieß das, alles aufgeben, woran sie sich bisher gebunden und über das sie sich definiert hatten wie menschliche Bindungen, gesellschaftliche Stellung, Familie, Besitz, Gewohnheiten.
In der christlich-mönchischen Tradition ist dieses Verlassen des Gewohnten, um zum eigentlichen Leben und Sein vorzustoßen, bis zum Ende gedacht und auch praktiziert worden. Der Mönch soll ausziehen aus seinen bisherigen Gewohnheiten und Gefühlen, aus seinem weltlichen Denken, ja selbst dem gesprochenen Wort. Denn die »Sprache ist das Haus des Seins«, wie Heidegger sagt.39 Wie wir sprechen, so denken wir – wie wir denken, so werden wir. Unser Sprechen ist nicht nur Ausdruck unseres Denkens und Seins; es formt und verändert auch seinerseits unser Denken und Sein. Daher ist auch die Art, wie wir sprechen und welche Wörter wir benutzen, ein Teil unseres Lebensweges und beeinflusst ihn. Wer beispielsweise schlecht über seine Mitmenschen redet und häufig abfällige Worte für sie benutzt, bei dem entsteht und verfestigt sich Menschenfeindlichkeit oder gar Hass. Für Ambrosius, einen der Kirchenväter, ist das Schweigen und die Einsamkeit der eigentliche Auszug aus dem bisherigen weltlichen Sein und ein Weg zu Gott.40
All das schwingt in den metaphorischen Bedeutungen von Weg, Wandern und Wandeln mit, die wir in der Geistesgeschichte aller Kulturen, Religionen und praktischen Philosophien antreffen. Es deutet auf die tiefe innere Verwandtschaft und wesensmäßige Verbundenheit von äußerer und innerer Fortbewegung, von Wandern und Philosophie, von Ortsveränderung und Persönlichkeitsentwicklung, von Weg- und Glückssuche hin. Nietzsche spitzte diesen Sachverhalt zu: Der Mensch selbst ist der Weg.41 Wir sind nichts anderes als ständig sich entwickelnde, verändernde, fortschreitende und im besten Fall wachsende und reifende Wesen.42 Bei jeder längeren Wanderung erleben wir etwas von diesem körperlichen und seelischen Bewegtwerden, eine Anregung unserer Denktätigkeit, ein Nachsinnen über uns selbst, ein kritisches Beleuchten unserer gegenwärtigen Situation, aber auch die Freude an ihr, das Aufscheinen neuer Ideen und Lebensentwürfe. All das bleibt nicht ohne Folge für unser Leben, mögen wir dies auch nicht immer klar erkennen und nachvollziehen können. Diesem Zusammenhang wollen wir in dem Buch nachgehen und ihn deutlicher ins Bewusstsein heben, damit wir künftige Wanderungen noch besser nutzen und genießen können – als Auszeit wie auch als eine seelisch-mentale Bereicherung.
Die Entscheidungen für zwei große Wendungen in meinem Leben habe ich auf langen Wanderungen getroffen. Ich war 31 Jahre alt, arbeitete seit vier Jahren mit menschlich wie fachlich hervorragenden Kollegen in einer kleinen Anwaltskanzlei in Freiburg i.Br., als ich mich allein auf eine einjährige »Selbstfindungsreise« nach Südamerika aufmachte. Dabei dachte ich an die Bildungsreisen, die junge Menschen aus begüterten Häusern im 18. und 19. Jahrhundert unternahmen. Ich habe die schönsten Orte dieses Subkontinents gesehen. Täglich bin ich dort gewandert und habe abends die Gedanken, die mir beim Wandern und Erleben des fremden Landes kamen, in mein Tagebuch geschrieben, darunter auch zahlreiche philosophische Reflexionen über die verschiedensten Gegenstände. Ich habe über mein Leben nachgedacht, eine Zwischenbilanz gezogen und mich gefragt, wie es weitergehen soll. Vieles ist mir dabei aufgegangen, Persönliches wie Philosophisches. Später habe ich diese Aufzeichnungen zu einem druckfertigen Manuskript überarbeitet. Irgendwann werde ich es einmal veröffentlichen.
Als ich von dieser Reise zurückkam, war ich ein anderer geworden: freier, gelassener, ohne Ängste, voller Tatendrang. Ich gab meine Anwaltskarriere auf, überwand die Ängste vor sozialem Abstieg und wirtschaftlicher Not, ging nach Berlin und begann, Filme zu produzieren. Ich war begeistert von der Filmkunst und wollte sogenannte Arthouse-Filme machen. Das war neben der Philosophie meine zweite Leidenschaft, die mich mit 16 oder 17 Jahren ergriffen hatte. Ich wollte das Leben nicht beschließen, ohne mir die Chance gegeben zu haben, diese Leidenschaft auch ausgelebt zu haben. Zwölf Jahre später hatte ich etwa 20 Filme produziert.
Obgleich es eine wunderbare, wenn auch anstrengende Zeit war, gab ich dann ein zweites Mal alles auf, was ich mir bis dahin erarbeitet hatte. Ich riss noch einmal das Ruder meines Lebens herum und wechselte zur Philosophie, die doch stärker war als alles andere in mir. Wieder stand ich vor dem Nichts. Aber nach Heidegger soll dies die beste Ausgangssituation sein, um sich selbst zu finden, denn das Nichts oder die Leere, wie Zen-Meister sagen würden, steht auch für Ungebundenheit, innere Freiheit, Offenheit und die Möglichkeit, sich ohne äußeren Druck zu sich selbst zu entschließen. Es waren erneut lange, einsame Wanderungen, auf denen der Entschluss reifte. Ich machte eine zweiwöchige Fernwanderung auf Korsika. Vor 2000 Jahren war Seneca für bittere acht Jahre dorthin verbannt worden. Zu dieser Zeit war Korsika noch ein raue, unzugängliche, von »Barbaren« bewohnte »Wildnis«, für einen kultivierten Römer ein Schreckensort. Mir zeigte sich Korsika von seiner schönsten Seite. Die Tour wurde ein unvergessliches Erlebnis, aber auch der Anstoß dafür, meinem Leben erneut eine weitreichende Wende zu geben.
Dieses Mal war der »Schritt« mit noch mehr ökonomischen und sozialen Ängsten verbunden. Aber ich hatte schon einmal die Erfahrung gemacht, dass – wie bei manchen Bergwanderungen – dort, wo die Gefahr ist, auch das Rettende wächst, wie es Hölderlin treffend ausdrückte. Ich habe diesen Schritt nie bereut, im Gegenteil. Das gilt auch für die scheinbaren Um- oder Irrwege, die ich gehen musste, um nach 25 Jahren an mein Ziel zu kommen, das auch wieder nur ein Weg ist, jetzt aber »der rechte«. Es waren notwendige Erfahrungen, ohne die ich vielleicht nie dahin gekommen wäre, wo ich jetzt bin. Über Nietzsche ist uns Pindars bereits erwähnte Forderung »Werde, der du bist« bekannt. Weniger bekannt ist das vollständige Dichterzitat: »Werde, der du bist, aufgrund der Erfahrung« oder »wie du es gelernt hast«.43 Ohne Um- und Irrwege, ohne Lernerfahrungen kommt niemand ans Ziel. Schließlich waren es wichtige Bedürfnisse, die mich zu diesen »Umwegen« geführt und etwas in mir befriedigt haben. Es gibt keinen geraden Weg zum Gipfel. Solche enden im undurchdringlichen Gestrüpp oder vor unüberwindlichen Hindernissen. In Kehren und Bogen verlaufen die Wander- wie Lebenswege, die zum Ziel führen.
Das waren meine großen, existenziellen Entscheidungen. Daneben gab es viele kleinere Entschlüsse, Pläne, Ideen und Gedanken, die mir bei jeder Wanderung kommen und die später in irgendeiner Form meine Lebenspraxis beeinflussen. Die Gründung von MASS UND MITTE, meiner Schule für antike Lebensweisheit, und die Namensfindung selbst gehen auf einen solchen »Wandereinfall« zurück. Tatsächlich war der Name der Schule keine Erfindung meinerseits. »Maß und Mitte« lautet die Überschrift eines bedeutenden Kapitels in dem chinesischen Klassiker Liji (Das Buch der Riten, Sitten und Gebräuche). Die Überschrift ging mir nicht mehr aus dem Kopf, weil sie die Essenz des antiken Weisheitsdenkens trifft. Als auf einer Wanderung der Entschluss zur Schulgründung reifte, fiel mir dieser Name wieder ein. Die lateinischen Schriftzeichen, die kein »ß« kannten, sind der Grund dafür, dass im Logo der Schule aus »Maß« ein »MASS« wurde.
Heute habe ich bei jeder Wanderung und bei jedem Spaziergang das Smartphone in der Hosentasche, um mir mithilfe der Diktierfunktion jeden Gedanken aufzuzeichnen, der es verdient, festgehalten zu werden. Ein, zwei gute Einfälle sind immer dabei. Selbst wenn sich bei einer Wanderung keine konkreten Ideen und Pläne einstellen, sondern oftmals nur ein assoziativer Gedankenstrom durch den Kopf fließt oder wir an nichts denken, sollte der positive Effekt, der vom Wandern auf das Denken ausgeht, nicht unterschätzt werden. Der Geist scheint dabei eine ähnliche Arbeit zu verrichten wie beim Träumen während des Schlafens: So unzusammenhängend, sprunghaft und wirr die Traumarbeit häufig erscheint – so verarbeitet sie, räumt auf und ordnet.44 Deshalb fühlen wir uns nach einer Wanderung – wie nach einem guten Schlaf – nicht nur körperlich, sondern auch geistig-seelisch erholt und erfrischt.
Weg und Wandern stehen nicht nur für die Weiterentwicklung der Persönlichkeit, sondern auch für die Erlangung neuer Erkenntnisse, für Wissens- und Perspektiverweiterung, für den persönlichen Bildungs-weg im Doppelsinn von Wissens- und Charakterbildung. Wer viel er-fährt und dabei viele Erfahrungen sammelt, der ist »bewandert«. Homers großes Epos über die »Irrfahrten« des Odysseus, der für die Griechen das Ideal eines weisen Menschen darstellte, beginnt bezeichnenderweise mit dem Vers: »Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes …«45 Reisen wie Wandern bildet. »Durch die fremde Umgebung wird uns das Wesensnahe und Verwandte klarer und deutlicher«, meinte Kafka. »Du musst den Weg gehen, um zu erfahren, ob es der richtige ist«, lautet ein häufig anzutreffendes Sprichwort. Eine Tuareg-Weisheit sagt: »Wenn man einen Weg verliert, lernt man ihn kennen.« Umwege »erweitern die Ortskenntnisse«, meinte Kurt Tucholsky. Mögen sie auch Irrwege sein, die – wie Heidegger die »Holzwege« charakterisierte – »jäh im Unbegangenen aufhören«, so eröffnen sie doch häufig ein größeres Panorama und verschaffen einem Überblick und Orientierung.46
Zu den Bildungsreisen zählen die Gesellenwanderungen der Handwerker, die sogenannte Walz, die in ganz Europa verbreitet war und so alt ist wie das Handwerk selbst. Diese Reisen dienten der weiteren fachlichen Schulung, aber auch der allgemeinen Horizonterweiterung wie etwa der Erlangung von Menschenkenntnis, Selbstvertrauen und hilfreichen Er-fahrungen. Lange wurde das Wort »wandern« ausschließlich für solche Gesellenwanderungen verwendet.47 Ab dem 17. Jahrhundert kamen die mehrjährigen Bildungsreisen der Adeligen, später auch der Bürgerlichen, hinzu, die – nicht unähnlich der »Walz« – dem Abschluss der Wissens- und Persönlichkeitsbildung dienten. Die jungen Menschen sollten Fremdsprachen lernen, Erfahrungen sammeln, ihren Geschmack an berühmten Stätten und Kunstwerken schulen, die Sitten und Gebräuche anderer Nationen kennenlernen und »weltmännisch« werden.