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Eine Jury hat sich in Manhattan versammelt, um den besten Entwurf einer Gedenkstätte für die Opfer des Terroranschlags vom 11. September auszuwählen. Nach langwierigen Beratungen und einem zähen Ringen um das richtige Konzept öffnen die Juroren den Briefumschlag, der den Namen des bislang anonymen Gewinners enthält - und sind schockiert. Der Architekt ist ein Muslim. Innerhalb der Jury setzt sich Claire Burwell am leidenschaftlichsten für den umstrittenen Gewinner ein. Als Betroffene, die ihren Mann bei dem Attentat verlor, hat ihre Stimme besonderes Gewicht. Doch als die Entscheidung an die Öffentlichkeit gelangt, gerät Claire ins Visier entrüsteter Familienangehöriger und wird zur Zielscheibe sensationshungriger Journalisten, radikaler Aktivisten und ehrgeiziger Politiker. Nicht zuletzt bringt der so komplizierte wie begabte Architekt sie an ihre Grenzen. Amy Waldman zeichnet in ihrem furiosen Debüt das Porträt einer zerrissenen Stadt, die bei dem Versuch, mit ihrer Verletzung umzugehen, die Chance auf ein erneuertes demokratisches Selbstverständnis verspielt.
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Seitenzahl: 631
Inhalt
[Cover]
Titel
Widmung
Der amerikanische Architekt
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
Danksagung
Zitatnachweis
Impressum
Kurzbeschreibung
Autorenporträt
Für meine Eltern, Don und Marilyn Waldman
»Wie die Zypresse, die ihr Haupt in die Höhe reckt und innerhalb der Umgrenzung des Gartens frei ist, fühle auch ich mich frei in dieser Welt, und nicht gebunden an ihre Zwänge.«Unbekannter Paschtu-Dichter
Der amerikanische Architekt
1
Die Namen«, sagte Claire. »Was ist mit den Namen?«
»Sie dienen doch nur als Dokumentation«, antwortete die Bildhauerin. Die anderen Künstler, der Kritiker und die beiden Kuratoren für Kunst im öffentlichen Raum, die um den Esstisch versammelt waren, nickten so einhellig zu Arianas Worten, als stünden sie unter ihrem Bann. Sie war das berühmteste und einflussreichste Mitglied der Jury, Claires größtes Problem.
Ariana hatte am Kopf des Tischs Platz genommen, als führte sie den Vorsitz. In den letzten vier Monaten hatte die Jury an einem runden Tisch getagt, an dem sich dieses Problem nicht stellte, in einem Büro hoch über dem verwüsteten Gelände. Die anderen Juroren hatten Rücksicht auf den Wunsch der Witwe genommen, mit dem Rücken zum Fenster zu sitzen, so dass sie den Ort des schrecklichen Geschehens nur auf dem Weg zu ihrem Platz als undeutlichen grauen Fleck wahrnahm. Heute jedoch hatte sich die Jury für die endgültige, entscheidende Debatte am langen Esstisch von Gracie Mansion, dem Sitz des New Yorker Bürgermeisters, zusammengefunden. Und Ariana hatte ohne vorherige Absprache und ohne jeden Anlass, wie es schien, den Ehrenplatz am Kopf des Tischs eingenommen, ein eindeutiger Hinweis darauf, dass sie fest entschlossen war, ihren Willen durchzusetzen.
»Die Namen der Toten sind eine selbstverständliche Voraussetzung und werden in den Ausschreibungsbedingungen explizit verlangt«, fuhr sie fort. Für eine so herbe Person hatte sie eine geradezu honigsüße Stimme. »Aber in der idealen Gedenkstätte werden nicht die Namen die Emotionsträger sein.«
»Für mich schon«, sagte Claire mit gepresster Stimme und empfand eine gewisse Befriedigung angesichts der gesenkten Blicke und der betretenen Mienen der anderen Anwesenden. Natürlich hatte der Anschlag auch ihnen viel genommen – das Gefühl, dass ihr Land unangreifbar war, das sichtbarste Wahrzeichen ihrer Stadt, vielleicht Freunde oder Bekannte. Aber sie war die Einzige, die ihren Mann verloren hatte.
Claire hatte keine Skrupel, sie am heutigen Abend, an dem die endgültige Entscheidung über die Gedenkstätte fallen würde, daran zu erinnern. Gemeinsam hatten sie fünftausend anonyme Bewerbungen gesichtet. Eigentlich hätte die jetzt anstehende endgültige Entscheidung zwischen den beiden übrig gebliebenen Entwürfen ein Kinderspiel sein müssen. Aber nach einer dreistündigen Diskussion, zwei Abstimmungsrunden und zu viel Wein aus den Privatbeständen des Bürgermeisters wurde die Stimmung immer gereizter und aggressiver, drehte sich die Debatte immer mehr im Kreis. Der Garten, Claires Favorit, war zu schön, betonten Ariana und die anderen Künstler immer wieder. Zu sehen war ihr Beruf, aber was den Garten anbelangte, wollten sie anscheinend partout nicht sehen, was Claire sah.
Das Konzept des Gartens war denkbar einfach: ein von Mauern eingefasster quadratischer, streng geometrisch untergliederter Raum. In der Mitte lud ein etwas erhöhter Pavillon zur Besinnung ein. Zwei breite, rechtwinklig aufeinandertreffende Kanäle viertelten das sechs Hektar große Gelände. Gehwege innerhalb der vier Quadranten bildeten zusammen mit den Bäumen, den echten und denen aus Stahl, die wie in einer Baumschule in Reih und Glied ausgerichtet waren, ein Raster. Die Namen der Opfer sollten auf den Innenflächen der weißen, neun Meter hohen Umfassungsmauer aufgelistet werden, so angeordnet, dass das Textfeld den Umriss der zerstörten Gebäude ergab. Die stählernen Bäume riefen die Türme noch buchstäblicher in Erinnerung: Sie würden aus den gefundenen Metallüberresten hergestellt werden.
Vier Zeichnungen zeigten den Garten im Lauf der Jahreszeiten. Am meisten liebte Claire die holzschnittartige Darstellung des winterlichen Gartens: Schnee bedeckte den Boden wie ein Bahrtuch, die kahlen echten Bäume wirkten wie aus Zinn gemacht, die aus Stahl hatten im Licht eines Spätnachmittags einen rosigen Schimmer angenommen, die onyxartigen Flächen der Kanäle glitzerten wie gekreuzte Schwerter. Schwarze Lettern hoben sich klar und deutlich von den weißen Mauern ab. Schönheit war schließlich kein Verbrechen, aber der Garten war mehr als nur schön. Sogar Ariana musste zugeben, dass die spartanischen Bäume aus Stahl ein unerwartetes Element darstellten – Erinnerung daran, dass ein Garten trotz aller Natürlichkeit etwas von Menschen Gemachtes war, perfekt für eine Stadt, in der Plastiktüten zusammen mit den Vögeln durch die Luft schwebten und das Abtropfwasser der Klimaanlagen sich mit dem Regen mischte. Von der Form her wirkten die stählernen Bäume organisch, würden aber nicht dem von den Jahreszeiten bestimmten Werden und Vergehen eines Gartens unterliegen.
»Wir empfinden DasNichts als zu düster«, sagte Claire, nicht zum ersten Mal. Wir – das waren die Familien, die Angehörigen der Toten. In dieser Jury stand nur sie allein für dieses Wir. Sie hasste Das Nichts, Arianas Favoriten, den zweiten Finalisten, und war sicher, dass es den anderen Angehörigen genauso gehen würde. Das Nichts hatte überhaupt nichts Nichtsartiges. Vielmehr wirkte der gigantische, etwa zwölf Stockwerke hohe Quader aus schwarzem Granit, der schräg aus einem riesigen ovalen Teich aufragte, auf den Zeichnungen wie ein klaffender Riss im Himmel. Die Namen der Toten sollten in die Oberfläche des Quaders eingemeißelt werden und sich im Wasser des Teichs spiegeln – eine Anlehnung an die sich ebenfalls spiegelnden Namen des Vietnam Veterans Memorial in Washington. Allerdings, fand Claire, eine völlig verfehlte. Derartige Abstraktionen funktionierten nur, wenn man sie berühren konnte, so dicht daran herangehen konnte, dass der Maßstab sich veränderte. Aber die Namen auf dem Quader ließen sich nicht berühren, waren nur mit Mühe zu entziffern. Der einzige Vorteil des Nichts war seine Höhe. Claire fürchtete, manche der Familien – mit ihrem übertriebenen Patriotismus, ihrer Engstirnigkeit – könnten den Garten so verstehen, als überlasse man den Feinden Amerikas ein Stück Territorium, auch wenn dieses Territorium nur aus Luft bestand.
»Gärten sind Fetische der europäischen Bourgeoisie«, sagte Ariana und deutete auf die Wände des Esszimmers, die mit einem Panorama üppiger Bäume tapeziert waren, zwischen denen winzige, förmlich gekleidete Männer und Frauen lustwandelten. Ariana selbst war wie üblich von Kopf bis Fuß in eine Art Haferschleimgrau gewandet, für das sie das Patent besaß, Hommage an und Persiflage auf Yves Kleins leuchtendes Blau.
»Fetische der Aristokratie«, korrigierte der einzige Historiker in der Jury. »Die Bourgeoisie hat den Adel nur nachgeäfft.«
»Sie ist übrigens französisch, die Tapete«, warf die Assistentin des Bürgermeisters, seine Vertreterin in der Jury, ein.
»Der springende Punkt ist jedenfalls«, fuhr Ariana fort, »dass Gärten nichts für unser Land Typisches sind. Typisch für uns sind Parks. Formale Gärten sind kein Teil unserer Tradition.«
»Erfahrungen zählen mehr als Traditionen«, sagte Claire.
»Nein. Traditionen sind Erfahrungen. Wir sind darauf gepolt, an bestimmten Orten bestimmte Gefühle zu empfinden.«
»Friedhöfe«, ließ Claire, in der sich eine alte Hartnäckigkeit zu Wort meldete, nicht locker. »Wieso sind sie so oft die schönsten Orte in einer Stadt? Es gibt ein Gedicht – von George Herbert – mit den Zeilen: »Wer hätt’ gedacht, mein trauernd’ Herz, könnt’ Grünes wieder finden?« Eine Freundin aus Collegezeiten hatte ihr eine Beileidskarte mit diesem Zitat geschickt. »Der Garten«, fuhr sie fort, »wird ein Ort sein, an dem wir – die Angehörigen, einfach jeder – auch Freude finden können. Mein Mann …«, sprach sie weiter, überlegte es sich anders und verstummte, während die Juroren sich aufmerksam vorbeugten, um zu hören, was sie sagen wollte. Ihre Worte blieben in der Luft hängen wie ein Rauchschleier.
Ariana blies ihn fort. »Tut mir leid, aber die Gedenkstätte ist kein Friedhof, sondern ein nationales Symbol, eine historische Mahnung, ein Versuch, jeden Besucher – egal welche zeitliche oder örtliche Distanz zwischen ihm und dem Geschehen liegt – nachempfinden zu lassen, wie es sich anfühlte, was es konkret bedeutete. Das Nichts ist emotional, zornig, düster, brutal, weil es an jenem Tag keine Freude gab. Man kann nicht sagen, ob sich der Quader emporreckt oder ob er kippt, und das ist ehrlich und entspricht genau dem historischen Augenblick, um den es geht. Das Nichts ist geschaffene Zerstörung, was der tatsächlichen Zerstörung, im dialektischen Umkehrschluss gesprochen, ihre Macht nimmt. Der Garten dagegen appelliert an unsere Sehnsucht nach Heilung, die zwar ein natürliches, aber nicht gerade ein besonders hoch entwickeltes Gefühl ist.«
»Haben Sie etwas gegen Heilung?«, fragte Claire.
»Natürlich nicht. Wir sind nur unterschiedlicher Meinung, welches die beste Methode ist, sie herbeizuführen«, antwortete Ariana. »Ich finde, man muss sich dem Schmerz stellen, ihm ins Gesicht sehen, völlig darin aufgehen, bevor man den nächsten Schritt machen kann.«
»Ich werde es mir merken«, gab Claire zurück und legte die Hand über ihr Weinglas, bevor der Kellner es nachfüllen konnte.
Paul bekam nur noch am Rande mit, wer was sagte. Seine Juroren hatten das von ihm georderte Wohlfühlessen – Brathähnchen, Kartoffelpüree, Rosenkohl mit Speck – zwar gegessen, aber anscheinend hatte es nicht viel zu ihrem Wohlbefinden beigetragen. Er war stolz darauf, gut mit dominanten Frauen umgehen zu können – schließlich war er mit einer verheiratet –, aber Claire Burwell und Ariana Montagu zusammengenommen machten ihm ziemlich zu schaffen. Ihre gegensätzlichen Gewissheiten prallten aufeinander wie elektrisch aufgeladene Felder, das Zimmer knisterte geradezu, so viel Feindseligkeit strahlten die beiden aus. Außerdem hatte Paul das Gefühl, dass Ariana mit ihrer Kritik an der Schönheit des Gartens, an Schönheit an sich, irgendetwas über Claire aussagen wollte.
In Gedanken war er schon bei den kommenden Tagen, Wochen, Monaten. Sie würden den Gewinner bekannt geben. Dann würden er und Edith die Zabars in ihrem Haus in Ménerbes besuchen, eine Erholungspause für Paul zwischen den monatelangen Debatten und der Aufgabe, das Geld für den Bau der Gedenkstätte aufzutreiben, die er gleich nach seiner Rückkehr in Angriff nehmen würde und die eine nicht unerhebliche Herausforderung darstellte. Die Umsetzung jedes der beiden Pläne, die es in die Endausscheidung geschafft hatten, wurde auf mindestens 100 Millionen Dollar geschätzt. Aber Paul liebte es, seine wohlhabenden Freunde um beachtliche Geldsummen zu erleichtern, und natürlich würden auch zahllose ganz gewöhnliche Amerikaner ihre Brieftaschen zücken.
Anschließend würde der Vorsitz über diese Jury zu anderen Posten dieser Art führen, das zumindest hatte Edith ihm immer wieder versichert. Anders als viele ihrer Freundinnen sammelte sie weder Chanel-Kostüme noch Harry-Winston-Schmuck, obwohl sie beides reichlich besaß. Nein, ihre Begehrlichkeit galt prestigeträchtigen Positionen, und so sah sie Paul bereits als Vorsitzenden des Vorstands der Public Library, dem er jetzt schon angehörte. Die Public Library verfügte über mehr Geld als die Metropolitan Opera, und Edith hatte längst angefangen, Paul zum »Literaturliebhaber« zu deklarieren, obwohl er sich nicht einmal mehr erinnern konnte, ob er seit Tom Wolfes Fegefeuer der Eitelkeiten irgendeinen anderen Roman gelesen hatte.
»Vielleicht sollten wir uns mehr auf das örtliche Umfeld konzentrieren«, sagte Madeline, die Vertreterin der Bewohner des Viertels rund um das Gelände. Wie aufs Stichwort zog Ariana eine von ihr selbst angefertigte Zeichnung des Nichts aus der Tasche, um zu demonstrieren, wie perfekt es sich vor dem Hintergrund der Stadtlandschaft ausnehmen würde. Die »Vertikalität« des Nichts, sagte sie, spiegele die von Manhattan wider. Claire warf Paul unter hochgezogenen Augenbrauen einen Blick zu. Arianas »kleine Skizze«, wie sie es nannte, war mindestens ebenso ausgearbeitet wie die Zeichnungen, die für die Ausschreibung eingereicht worden waren. Claire hatte Paul gegenüber mehr als einmal den Verdacht geäußert, dass Ariana den betreffenden Künstler kannte – ein Student vielleicht, ein Protegé? –, weil sie so verbissen versuchte, ihn durchzuboxen. Möglich. Andererseits fand Paul, dass Ariana sich nicht mehr für ihren Favoriten eingesetzt hatte als Claire für ihren. Trotz all ihrer Reserviertheit schien Claire nicht besonders gut damit umgehen zu können, wenn sie ihren Willen nicht bekam. Das Gleiche galt für Ariana, die daran gewöhnt war, Jurys um den Finger zu wickeln. Allerdings spielte dabei normalerweise kein so schwer fassbares Quantum an Emotionen mit wie bei dieser.
Zum Nachtisch begab sich die Gruppe in den Salon mit seinen in einem warmen Gelb gehaltenen Wänden. Jorge, der Chefkoch des Hauses, schob einen mit Kuchen und Gebäck beladenen Servierwagen herein. Dann enthüllte er mit großer Geste eine meterhohe Lebkuchennachbildung der nicht mehr existierenden Türme. Ihre Form war unverkennbar, die eintretende Stille mit Händen greifbar.
»Sie sind natürlich nicht zum Essen gedacht«, sagte Jorge, plötzlich verlegen. »Sondern als Tribut.«
»Natürlich«, sagte Claire und fügte mit mehr Wärme hinzu: »Sie sehen märchenhaft aus.« Das stimmte. Das Licht des Kronleuchters ließ die Fenster aus Zuckerguss aufblitzen.
Paul war gerade damit fertig, seinen Teller mit allem Möglichen, mit Ausnahme des Lebkuchens, zu beladen, als Ariana sich wie ein winziger Speer vor ihm aufbaute. Gemeinsam zogen sie sich in eine Ecke hinter dem Flügel zurück, wo sie ungestört waren.
»Ich mache mir Sorgen, Paul«, sagte Ariana. »Ich möchte nicht, dass sich unsere Entscheidung auf zu viel Gefühl« – das Wort war fast nur ein Flüstern – »gründet.«
»Es geht hier um eine Gedenkstätte, Ariana. Ich glaube nicht, dass wir Gefühle völlig aus dem Spiel lassen können.«
»Sie wissen, was ich meine. Ich mache mir Sorgen, dass Claires Gefühle einen unverhältnismäßig großen Einfluss haben.«
»Ariana, genauso gut könnte man sagen, dass Sie einen unverhältnismäßig großen Einfluss haben. Ihre Meinung zählt unglaublich viel.«
»Nicht im Vergleich zu der einer Angehörigen. Trauer kann zum Totschlagargument werden.«
»Ästhetik auch.«
»Zu Recht. Aber wir reden hier über etwas viel Bedeutsameres als Ästhetik. Wir reden über Urteilsvermögen. Ein Familienmitglied unter uns zu haben ist, als würden wir den Patienten, nicht den Arzt, über die bestmögliche Behandlungsmethode entscheiden lassen. Ein wenig mehr klinische Distanz wäre heilsamer.«
Aus dem Augenwinkel sah Paul, dass Claire sich mit dem bedeutendsten New Yorker Kritiker für Kunst im öffentlichen Raum unterhielt. Mit ihren hohen Absätzen war sie fünfzehn Zentimeter größer als er, versuchte aber nicht, sich kleiner zu machen. Sie trug an diesem Abend ein eng anliegendes schwarzes Etuikleid – Paul vermutete, dass die Farbwahl kein Zufall war. Claire war eine Frau, die genau wusste, wie man sich für jeden Anlass am vorteilhaftesten kleidete. Paul respektierte das, aber Respekt war vielleicht der falsche Ausdruck dafür, welche Rolle Claire in seiner Vorstellung spielte. Nicht zum ersten Mal bedauerte er sein Alter (fünfundzwanzig Jahre älter als sie), seine schütter werdenden Haare und seine eheliche Treue – an die er sich eher aus Prinzip denn aus Überzeugung hielt. Gebannt beobachtete er, wie Claire sich nun von dem Kritiker abwandte, um einem anderen Jurymitglied nach draußen zu folgen.
»Sie ist wirklich beeindruckend«, hörte er. Anscheinend hatte er Claire allzu auffällig beäugt. Abrupt wandte er sich wieder Ariana zu, die fortfuhr: »Aber der Garten ist zu gefällig. Er soll dieselben Leute ansprechen, für die der Impressionismus das Höchste ist.«
»Zufällig habe ich auch viel für den Impressionismus übrig«, sagte Paul, der sich nicht sicher war, ob er so tun sollte, als sei das als Witz gemeint. »Ich kann Claire keinen Maulkorb anlegen, und Sie wissen selbst, dass die Familien unsere Wahl eher akzeptieren werden, wenn sie das Gefühl haben, in das Verfahren eingebunden zu sein. Wir brauchen den emotionalen Input, den Claire mitbringt.«
»Paul, Sie wissen, da draußen lauert eine geballte Kritikerschaft. Wenn wir uns für die falsche Gedenkstätte entscheiden, wenn wir uns Sentimentalitäten beugen, bestätigt das nur –«
»Ich kenne die Bedenken«, sagte er schroff. Dass es für eine Gedenkstätte noch zu früh sei, dass das Gelände noch kaum freigeräumt sei, dass das Land den Krieg noch nicht gewonnen oder verloren habe, sich nicht einmal so richtig einig sei, gegen wen oder was es eigentlich kämpfte. Aber dieser Tage spielte sich alles schneller ab – das Auftauchen und Verschwinden von Idolen, die Ausbreitung von Krankheiten, Gerüchten, Trends, die Verbreitung von Nachrichten, die Entwicklung neuer Finanzinstrumente, was, nebenbei bemerkt, dazu beigetragen hatte, Pauls eigenes Ausscheiden aus dem Vorstand seiner Investmentbank zu beschleunigen. Wieso also sollte nicht auch die Gedenkstätte schneller gebaut werden? Sicher, dabei spielten auch kommerzielle Erwägungen eine Rolle; der Eigner des Geländes wollte, dass es wieder Geld einbrachte, und brauchte dafür die Gedenkstätte, da die Amerikaner anscheinend nicht bereit waren, in der Maximierung von Büroflächen die schlagkräftigste Antwort an die Adresse der Terroristen zu sehen. Aber es gab auch patriotische Erwägungen. Je länger das Gelände ungenutzt blieb, desto mehr wurde es zum Symbol der Niederlage, der Kapitulation, etwas, worüber »sie«, wer immer »sie« sein mochten, sich lustig machen konnten. Eine Erinnerung daran, dass Amerika einen Teil seiner Größe eingebüßt hatte, und an seine neue Anfälligkeit für Angriffe fanatischer Banden, die in jeder Hinsicht, außer wenn es um Mord ging, nur Mittelmaß waren. Paul hätte es natürlich nie so simpel ausgedrückt, aber das brachliegende Gelände war eine Peinlichkeit. Diese Leere zu füllen – und auf Ediths ehrgeizige Pläne hinzuarbeiten –, war der Grund dafür, dass er den Vorsitz der Jury angestrebt hatte. Die Arbeit dieser Jury würde nicht nur in der von ihm so geliebten Stadt ein Zeichen setzen, sondern auch in die Geschichte eingehen.
Ariana wartete darauf, dass Paul weitersprach. »Sie vergeuden mit mir nur Ihre Zeit«, sagte er brüsk. Der Sieger brauchte zehn von dreizehn Stimmen; Paul hatte von Anfang an klipp und klar gesagt, dass er seine Neutralität nur dann aufgeben würde, wenn es um eine einzige fehlende Stimme für den Finalisten ging. »An Ihrer Stelle würde ich lieber versuchen, Maria aus Claires Fängen zu retten.«
Claire hatte gesehen, wie Maria, eine Zigarette in der Hand, nach draußen ging, und sich beeilt, ihr zu folgen. Vorher hatte sie flehentlich – es gab kein anderes Wort dafür – auf den Kritiker eingeredet. »Nur weil wir der Toten gedenken, müssen wir doch keinen Ort schaffen, der tot ist«, hatte sie gesagt und dabei beobachtet, wie er die Schultern bewegte, als habe er Nackenschmerzen davon, dass er zu ihr hochschauen musste. Gleichzeitig hatte sie ihr Gedächtnis nach Informationsfetzen zur Funktionsweise von Jurys durchforstet. Was hatte Asch mit seinen Konformitätsexperimenten noch mal aufgezeigt? Wie leicht sich Menschen durch die Wahrnehmungen anderer Menschen beeinflussen lassen. Anpassung. Gruppenzwang. Normative Einflüsse. Wie der Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung Denken und Handeln von Menschen beeinflusst. Was bedeutete, dass Claires Chancen sich verbesserten, wenn sie sich die Juroren einzeln vornahm. Maria, Kuratorin für Kunst im öffentlichen Raum, hatte sich damit einen Namen gemacht, dass sie großformatige Werke, darunter auch eins von Ariana, überall in Manhattan aufstellen ließ. Das machte es zwar eher unwahrscheinlich, dass sie die Seiten wechseln würde, aber Claire musste es zumindest versuchen.
»Kann ich auch eine haben?«, fragte sie.
Maria gab ihr eine Zigarette. »Ich wusste gar nicht, dass Sie rauchen.«
»Nur gelegentlich«, log Claire. Gelegentlich gleich nie.
Sie standen auf der Veranda. Vor ihnen lag der Rasen, die majestätischen Bäume nur vage Schatten in der Dunkelheit, die Lichter der Brücken und Häuser zum Greifen nahe Sternenformationen. Maria schnippte ihre Asche wie selbstverständlich über die Brüstung auf den Rasen, und obwohl Claire das als respektlos empfand, tat sie es ihr nach.
»Ein zerstörter Garten innerhalb der Mauern – damit könnte ich mich anfreunden«, sagte Maria.
»Wie bitte?«
»Ein zerstörter Garten wäre so aussagekräftig und würde alle Bedenken widerlegen, bittere Erinnerungen sollten einfach ausradiert werden. Wir müssen geschichtlich denken, die lange Sicht im Auge behalten. Es geht um ein Symbol, das die Menschen noch in hundert Jahren ansprechen soll. Große Kunst überdauert ihre Zeit.«
»Ein zerstörter Garten enthält keine Hoffnung, und das ist absolut inakzeptabel«, sagte Claire ungewollt scharf. »Sie alle reden ständig von der langen Sicht, aber die lange Sicht schließt auch uns mit ein. Meine Kinder, meine Enkel, Menschen mit einer direkten Verbindung zu den Anschlägen, werden auch noch in hundert Jahren da sein. Vielleicht ist das im Vergleich zur Venus von Willendorf nur eine kurze Zeitspanne, aber im Augenblick kommt sie uns sehr lang vor. Ich verstehe also nicht, wieso unsere Interessen weniger zählen sollten. Wissen Sie, neulich nachts habe ich von dem schwarzen Teich rund um das Nichts geträumt. Die Hand meines Mannes reckte sich aus dem Wasser und versuchte, mich hineinzuziehen. Das ist die Wirkung, die das Nichts hat. Sie können also gern hingehen und sich dazu beglückwünschen, was für eine großartige künstlerische Aussage mit dem Nichts verbunden ist, aber ich glaube nicht, dass die Angehörigen für einen Besuch Schlange stehen werden.«
Ihre Empörung war echt, auch wenn ihr schon vor Monaten klar geworden war, welche Wirkung sie damit erzielen konnte. An einem Winternachmittag, als sie und andere Hinterbliebene nach einem Treffen mit dem Direktor der Entschädigungsstelle das Gebäude verließen, hatte ein Reporter in der wartenden Pressemeute gerufen: »Was sagen Sie dazu, dass viele Amerikaner Ihre Anspruchshaltung allmählich satthaben und finden, dass sie einfach nur geldgierig sind?« Claire hatte ihre Handtasche umklammert, um das Zittern ihrer Hände zu verbergen, sich aber nicht bemüht, das Zittern ihrer Stimme unter Kontrolle zu bringen. »Anspruchshaltung? Haben Sie Anspruchshaltung gesagt?« Der Reporter zuckte zurück. »Hatte ich einen Anspruch darauf, meinen Mann zu verlieren? Hatte ich einen Anspruch darauf, meinen Kindern erklären zu müssen, dass sie ihren Vater nie kennenlernen werden und ich sie allein aufziehen muss? Habe ich einen Anspruch darauf zu wissen, wie sehr mein Mann gelitten hat? Erledigen Sie gefälligst Ihre Hausaufgaben: Ich brauche keinen einzigen Penny dieser Entschädigung und habe nicht vor, sie zu behalten. Hier geht es nicht um Geld und nicht um Gier, sondern um Gerechtigkeit, um Anerkennung. Und ja, darauf habe ich einen Anspruch.«
Später behauptete sie, nicht gewusst zu haben, dass die Fernsehkameras liefen, aber sie hatten jedes ihrer Worte festgehalten. Die Aufnahme von der kreidebleichen blonden Frau im schwarzen Mantel lief so oft, dass sie den Fernseher tagelang nicht einschalten konnte, ohne sich selbst zu sehen. Berge von Unterstützerbriefen trudelten ein, und Claire merkte, dass sie plötzlich eine Berühmtheit war. Dabei hatte sie gar keine politische Aussage machen wollen. Sie hatte sich ausschließlich gegen die Unterstellung verwahren wollen, sie sei nur auf das Geld aus, hatte sich von denen distanzieren wollen, die es tatsächlich waren. Stattdessen war sie auf einmal ihre Fürsprecherin, die Vorsitzende der Gemeinde der Trauernden. Und das war, wie sie wusste, der Grund dafür, dass Gouverneurin Bitman sie in die Jury geholt hatte.
Auf der Veranda sah Maria sie prüfend an. Claire hielt ihren Blick fest, führte die Zigarette an die Lippen und nahm einen Zug, von dem ihr so schwindlig wurde, dass sie sich am Geländer festhalten musste. Sie hatte eigentlich kein schlechtes Gewissen wegen dem, was sie Maria eben gesagt hatte. Es entsprach alles der Wahrheit, abgesehen davon, dass sie nicht genau wusste, ob die Hand, die sich nach ihr ausgestreckt hatte, wirklich die von Cal war.
Maria war die erste, die die Seite wechselte. »Der Garten«, sagte sie beherzt. Claire wollte schon mit den Lippen ein »Danke« formen, hielt es dann aber für besser, es nicht zu tun. Als nächstes war der Kritiker an der Reihe. »Der Garten.« Seine Zustimmung freute Claire nicht ganz so sehr. Sein kummervolles Gesicht mit den Pudellöckchen vermittelte ihr den Eindruck, dass er seine Meinung nur aus Erschöpfung geändert hatte. Aber der Garten hatte nun acht Stimmen, was bedeutete, dass der Sieg in greifbare Nähe gerückt war. Doch statt innerlich zu jubeln, wurde es Claire immer schwerer ums Herz. Morgen, ohne den Wettbewerb, ohne die Jurysitzungen, würde ihr Leben sein letztes bisschen äußere Form verlieren. Als Cals Erbin war sie nicht darauf angewiesen, Geld zu verdienen, und es gab kein neues Anliegen, das ihre Zeit zwingend in Anspruch nehmen würde. Ihre Zukunft erstreckte sich vor ihr wie eine vergoldete Leere.
Das reine Danach hatte die zwei Jahre seit Cals Tod ausgefüllt – der überwältigende Kummer, der in eine langsame, zehrende Trauer überging, die langwierige allmähliche Genesung, armselige neue Routinen, die sich von Anfang an alt anfühlten. Formulare über Formulare. Mitteilungen des Gerichtsmediziners: Ein weiterer Partikel ihres Mannes war gefunden worden. Die Kündigung von Kreditkarten, Clubmitgliedschaften, Zeitschriftenabonnements, Vorkaufsrechten für Kunstwerke, der Verkauf von Autos und eines Segelboots, die Streichung seines Namens aus Treuhandfonds und Bankkonten und den Vorständen von Firmen und gemeinnützigen Vereinen – alles mit einer unerbittlichen Effizienz erledigt, die sie zur Mitwirkenden an seiner Auslöschung machte. Sie sprach mit den Kindern über ihren Vater, half ihnen dabei, sich an ihn zu erinnern, und überfrachtete die Vergangenheit mit einem solchen Wust an Werten, dass sie unter dem Gewicht ächzte.
Aber dieses Danach musste irgendwann enden. Sie spürte, dass sie das Ende eines Abschnitts erreichte, der vor vierzehn Jahren begonnen hatte, als ein blauäugiger Mann, den nicht so sehr sein gutes Aussehen auszeichnete als vielmehr seine Vitalität und sein Humor und seine Selbstsicherheit, sie beim Verlassen des Tennisplatzes ansprach, den er gerade betreten wollte. »Ich werde Sie heiraten«, hatte er gesagt.
Die Äußerung war, wie sie mit der Zeit merken sollte, typisch für Calder Burwell, einen Mann mit einer so sonnigen Veranlagung, dass Claire ihm den Spitznamen California verpasste, obwohl sie, die dort aufgewachsen war, nur allzu gut wusste, wie launisch das Wetter in Wirklichkeit war: Kälteperioden und Dürren hatten dafür gesorgt, dass ihr Großvater, ein Zitruspflanzer, jahrelang knapp am Rand des Bankrotts entlangschlitterte, bevor ihr Vater ihn dann endgültig nicht mehr aufhalten konnte. Sie hatte unzählige quälende Fragen zu Cals Tod – wo, wie, wie viel Schmerzen hatte er leiden müssen –, auf die es keine Antwort gab. Das Schlimmste aber war die Angst, dass er in seinen letzten Augenblicken seinen unerschütterlichen Optimismus verloren haben könnte. Sie wollte, dass er in der Überzeugung gestorben war, dass er am Leben bleiben würde. Der Garten war eine Allegorie. Wie Cal beharrte er darauf, dass Veränderungen nicht nur möglich, sondern eine Gewissheit waren.
»Es ist schon elf«, sagte Paul. »Irgendjemand sollte ihre oder seine Entscheidung noch einmal überdenken. Wie können wir erwarten, dass dieses Land in einem heilenden Prozess zusammenfindet, wenn diese Jury es nicht kann?«
Schuldbewusste Gesichter. Anhaltendes Schweigen. Und schließlich, aus dem Mund des Historikers, ein fast spekulatives »Also …« Alle übermüdeten Augen richteten sich auf ihn, aber er sprach nicht weiter, als sei ihm gerade bewusst geworden, dass das Schicksal eines sechs Hektar großen Teils von Manhattan in seiner Hand lag.
»Ian?«, drängte Paul.
Selbst im leicht angesäuselten Zustand ließ sich Ian die Chance, einen Vortrag zu halten, nicht entgehen. Er dozierte, dass öffentliche Gärten im achtzehnten Jahrhundert aus den vorstädtischen Friedhöfen Europas hervorgegangen waren, leitete über zu den auf Gärten beruhenden Reformen Daniel Moritz Schrebers in Deutschland (»Wir interessieren uns hier nur für seine sozialen Reformmaßnahmen, nicht für die ›Maßnahmen‹, die er an seinen armen Söhnen durchführte«), machte einen Sprung zu dem Gefühl des Grauens, das in Edwin Lutyens’ Mahnmal für die Vermissten der Schlacht an der Somme in Thiepval zum Ausdruck kam, in dessen Innenwände zweiundsiebzigtausend Namen – »Zweiundsiebzigtausend!«, rief Ian – eingemeißelt waren, sinnierte über den Unterschied zwischen »nationaler Gedenkstätte« und »Veteranengedenkstätte« in Verdun und kam etwa fünfzehn Minuten später zu dem Schluss: »Aus diesem Grund – der Garten.«
Damit hatten sich neun der dreizehn Juroren für den Garten ausgesprochen. Pauls Stimme würde also tatsächlich die zehnte und entscheidende sein, was ihm keineswegs missfiel. Er hatte sich selbst nicht nur öffentliche, sondern auch interne Neutralität auferlegt und nicht zugelassen, dass einer der Entwürfe ihn besonders ansprach. Aber im Lauf des Abends hatte er angefangen, eher dem Garten den Vorzug zu geben. »Freude finden« – diese Bemerkung Claires hatte etwas in ihm ausgelöst. Freude: Wie fühlte sie sich an? Beim Versuch, sich daran zu erinnern, wurde er von Wehmut überwältigt. Er kannte Befriedigung, die Hochgefühle des Erfolgs, Zufriedenheit, Glück, soweit er es identifizieren konnte. Aber Freude? Er musste Freude empfunden haben, als seine Söhne geboren wurden – ein solches Ereignis war doch gewiss Anlass für Freude –, aber er konnte sich nicht daran erinnern. Freude: sie war wie ein Griff ohne den dazugehörigen Schrank, ein Geheimnis, in das er nicht eingeweiht war. Ob Claire es kannte?
»Der Garten«, sagte er, und Jubel brach aus, weniger aus Überzeugung, denn aus Erleichterung.
»Danke, Paul. Danke Ihnen allen«, flüsterte Claire.
Paul ließ sich auf seinem Stuhl nach hinten sinken und gestattete sich einen Anflug von sentimentalem Patriotismus. Der aussichtslosere der beiden Finalisten hatte tatsächlich gewonnen – Paul jedenfalls hätte nicht gedacht, dass es Claire gelingen würde, sich gegen Ariana durchzusetzen. Dass sie es geschafft hatte, empfand er als sehr amerikanisch. Champagner wurde gebracht, Korken knallten, euphorisches Stimmengewirr füllte den Raum. Paul klopfte an sein Glas, um alle zu einem Augenblick des Schweigens für die Opfer aufzufordern. Als die Köpfe sich senkten, fiel sein Blick auf Claires Scheitel, so schnurgerade und weiß wie der Kondensstreifen eines Flugzeugs, ein Anblick, der so unerwartet intim war wie das Aufblitzen eines Oberschenkels. Dann fiel ihm wieder ein, dass er eigentlich der Toten gedenken wollte.
Er hatte schon lange nicht mehr an jenen schicksalhaften Tag zurückgedacht. Auf dem Weg in die Stadt hatte er in einem Stau festgesteckt, als seine Sekretärin anrief und etwas von einem Unglück oder einem Anschlag sagte, der Auswirkungen auf die Märkte haben könnte. Damals fuhr er noch jeden Tag ins Büro, da ihm noch nicht klar geworden war, dass »emeritiert« in einer Investmentbank nichts anderes bedeutete als »überflüssig«. Als der Verkehr vollständig zum Erliegen kam, stieg Paul aus dem Auto. Auch andere standen auf der Straße und blickten nach Süden, einige schirmten ihre Augen mit den Händen ab, alle tauschten Informationen aus, ohne etwas Konkretes zu wissen. Dann rief Edith an und schluchzte: »Sie stürzen ein, sie stürzen ein!« Im nächsten Augenblick brach das Mobilnetz zusammen. »Hallo? Hallo, Liebling?«, tönte es überall um ihn herum. Es folgte eine Stille von pompejischer Dichte, so bedrückend, dass Paul dankbar war, als Sami, sein Fahrer, sie mit den Worten brach: »Oh Sir, ich hoffe nur, es hat nichts mit den Arabern zu tun.« Natürlich hatte es das, wie sich herausstellen sollte.
»Oh Sir, ich hoffe nur, es hat nichts mit den Arabern zu tun.« Sami war kein Araber, aber er war Muslim. (Achtzig Prozent aller Muslime waren keine Araber. Das gehörte zu den zahlreichen Fakten, die viele Amerikaner erst nach den Anschlägen erfuhren und geflissentlich nachplapperten, ohne genau zu wissen, was sie damit sagen wollten. Oder vielmehr, sie wussten, dass sie sagen wollten, dass nicht alle Muslime so problematisch waren wie die arabischen, allerdings ohne es so direkt sagen zu müssen.) Paul hatte gewusst, dass sein Fahrer Muslim war, sich aber nie Gedanken darüber gemacht. Jetzt fühlte er sich trotz aller Bemühungen unbehaglich, und als der bekümmerte Sami – war er je anders als bekümmert? – drei Monate später nach Pakistan zurückkehren musste, weil sein Vater im Sterben lag, war Paul erleichtert, obwohl er das nur höchst ungern zugab. Er versprach Sami eine ausgezeichnete Empfehlung, falls er zurückkäme, fand eine höfliche Ausrede dafür, den Job nicht seinem Cousin zu geben, und heuerte stattdessen einen Russen an.
Das Trauma hatte Paul erst später eingeholt, als er die Ereignisse im Fernsehen sah und sich schwor, sie nie zu vergessen. Man war kein Amerikaner, wenn man nicht solidarisch mitangesehen hatte, wie die eigenen Landsleute pulverisiert wurden, doch was für eine Art Amerikaner wurde durch dieses Mitansehen geschaffen? Ein traumatisiertes Opfer? Ein aufgebrachter Rächer? Ein Voyeur wider Willen? Paul und vermutlich auch viele andere Amerikaner waren all das in einem. Die Gedenkstätte sollte ihnen helfen, das alles zu verarbeiten.
Und jetzt war es keine x-beliebige Gedenkstätte mehr, sondern der Garten. Paul leitete seine kleine Ansprache mit der Aufforderung an die Juroren ein, »loszuziehen und ihn auf Teufel komm raus zu verkaufen«, überdachte seine Wortwahl und legte ihnen stattdessen ans Herz, sich für den Garten »starkzumachen«. Das leise Geklapper der tippenden Protokollantin füllte die Pausen in seiner Ansprache, und das Bewusstsein des historischen Augenblicks spornte ihn zu ungeahnten rhetorischen Höhenflügen an. Er lenkte alle Blicke auf einen vergoldeten runden Spiegel, über dem ein Adler seine Fußfesseln abwarf.
»Wie zur Zeit der Gründung Amerikas gibt es auch jetzt Gegner der Werte, für die wir stehen, Gegner, die sich durch unsere Freiheitsliebe bedroht fühlen.« Nur der Vertreter der Gouverneurin nickte bei diesen Worten zustimmend. »Aber wir haben uns nicht beugen lassen und werden es auch in Zukunft nicht tun. ›Tyrannei kann nur im Dunkeln existieren‹, sagte James Madison, und Sie alle, die Sie so schwer gearbeitet haben, um das Andenken der Toten zu bewahren, haben dazu beigetragen, dass die Lichter am Firmament auch weiterhin leuchten. Sie sind einer heiligen Verpflichtung mit Anstand und Würde nachgekommen, und Ihr Land wird davon profitieren.«
Zeit, dem Gewinner ein Gesicht zu geben, einen Namen. Ein weiteres ungewohntes Gefühl für Paul: eifrige, fast kindliche Neugier – Begeisterung sogar – über jene Seltenheit, eine echte Überraschung. Am besten wäre es, wenn der Gewinner ein absolut Unbekannter oder aber ein berühmter Künstler wäre; beides ergäbe eine faszinierende Story, die sich gut verkaufen ließ. Ungeschickt tippte er auf dem Mobiltelefon herum, das vor ihm auf dem Tisch lag. »Bringen Sie uns bitte die Unterlagen zu Bewerbung 4879«, sagte er ins Telefon, die Zahlen langsam und deutlich aussprechend, um jedes Missverständnis auszuschließen. »Vier acht sieben neun«, wiederholte er und wartete, bis die Zahlen am anderen Ende der Leitung ebenfalls wiederholt wurden.
Ein paar Minuten später erschien der Assistent der Jury, das Gesicht im Bewusstsein seiner eigenen Wichtigkeit gerötet. Seine langen Finger hielten einen schmalen Umschlag im DIN-A4-Format, versiegelt, wie das Protokoll es verlangte. »Ich sterbe vor Spannung«, hauchte Lanny, als er Paul, der nicht darauf reagierte, den Umschlag überreichte. Nummer und Strichcode auf dem Umschlag entsprachen denen des Gartens, das Siegel war unversehrt. Paul sorgte dafür, dass sowohl die Juroren als auch die Protokollantin beides registrierten, und wartete, bis der Assistent den Raum widerstrebend verlassen hatte.
Sobald die Tür geschlossen war, ergriff Paul den silbernen Brieföffner, den der junge Mann ihm ebenfalls ausgehändigt hatte – er hatte unleugbar ein Gespür für Details –, und schlitzte den Umschlag auf, wobei er darauf achtete (wieder der Geist der Geschichte), ihn nicht zu zerfetzen. Seine Vorsicht erinnerte ihn irgendwie an Jacob, seinen ältesten Sohn, der sich auf einem Kindergeburtstag fast obsessiv bemüht hatte, beim Öffnen der Geschenke das Papier nicht zu beschädigen. Schon damals hatte Jacob nicht verstanden, wo die wahren Werte lagen. Ein ungeduldiger Paul hatte ihn aufgefordert, sich gefälligst zu beeilen.
Beeil dich gefälligst. Genau das besagte die Stille im Raum, in dem die Juroren anscheinend im Gleichklang atmeten. Wohl wissend, dass zwölf Augenpaare auf ihn gerichtet waren, zog Paul das Blatt Papier aus dem Umschlag. Die Identität des Gewinners vor der Jury zu kennen, vor dem Bürgermeister oder der Gouverneurin, sogar vor dem Präsidenten, hätte ihm ein kleiner, aber befriedigender Beweis seiner eigenen Bedeutung sein sollen. Welch besseres Maß konnte es dafür geben, wie weit Paul Joseph Rubin, Enkel eines russisch-jüdischen Bauern, es gebracht hatte? Aber als er den Namen las, empfand er keinerlei Befriedigung. Vielmehr verkrampften sich seine Wangenmuskeln so, dass sie schmerzten.
Damit hatte nun wirklich keiner von ihnen gerechnet.
2
Das Formblatt mit dem Namen des Gewinners wurde wie ein kostbares altes Schriftstück von Hand zu Hand gereicht. Ein paar der Juroren hielten hörbar die Luft an, es gab das ein oder andere »Hmmm«, ein »Interessant« und ein »Ach du meine Güte!« Dann: »Was für eine gottverdammte Scheiße ist das denn? Es ist ein Muslim!« Das Papier war beim Vertreter der Gouverneurin angekommen.
Paul seufzte. Es war nicht Bob Wilners Schuld, dass sie sich in dieser Situation befanden, falls es sich denn tatsächlich um eine Situation handelte, aber Paul verübelte ihm, dass er sie zwang, der Tatsache ins Gesicht zu sehen, dass es möglicherweise so war. Bis zu Wilners Ausbruch hatte niemand ausgesprochen, was dort schwarz auf weiß geschrieben stand, als würde erst das Aussprechen das Problem, vielleicht sogar die Person selbst, real werden lassen.
»MsCostello«, wandte sich Paul mit fast träumerischer Stimme und ohne ihr in die Augen zu sehen an die Protokollantin. »Die letzte Bemerkung streichen Sie bitte. Wir möchten keine Kraftausdrücke in unserem Protokoll haben.« Er wusste selbst, dass das lächerlich war: Welches New Yorker Gremium störte sich schon an Kraftausdrücken? Welche Protokollantin hätte sich auch nur die Mühe gemacht, sie mitzuschreiben? »Und könnten sie uns vielleicht kurz allein lassen? Nehmen Sie sich doch noch etwas Nachtisch.«
»Ach, übrigens, MsCostello«, rief er ihr nach, als sie zur Tür ging. »Würden Sie bitte dafür sorgen, dass niemand draußen vor der Tür herumlungert? Und Sie denken ja daran, dass wir uns alle zu Stillschweigen verpflichtet haben.« Sein Ton war freundlich, aber ihr Rücken verriet, wie gekränkt sie über diese letzte Bemerkung war.
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