Der Aufstand - Volker Perthes - E-Book

Der Aufstand E-Book

Volker Perthes

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Beschreibung

Erst in Tunesien, dann in Ägypten, dann in immer mehr Staaten der Region haben die Menschen im Nahen Osten und Nordafrika begonnen, ihr politisches Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Auch wenn 2011 zunächst nur einige Autokraten stürzten und die Mühen des Aufbaus demokratischer Staaten und Gesellschaften noch ausstehen, erleben wir eine Zeitenwende in der arabischen Welt: einen politischen Bruch, eine neue Generation meldet sich zu Wort, die Verhältnisse zwischen den Staaten ordnen sich neu.

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Inhaltsverzeichnis

EinleitungWarum eigentlich erst jetzt?
Falsche StabilitätAuslöser und Akteure der Veränderung
Nur eine Brotrevolte?Eine Facebook-Revolution?Die 2011er als neue politische Generation
»Das Volk will den Sturz des Regimes« - Dynamiken der arabischen Revolte
Tunesien - Wo alles begannÄgypten - Pharaos Sturz und der steinige Weg zur Demokratie
18 Tage, die die arabische Welt erschüttertenMilitärherrschaft und postrevolutionärer DruckErwartungsmanagementEine Chance, keine GarantieDie Rückkehr der Politik Neue Gemeinsamkeit, neue DifferenzenDie Muslimbrüder vor dem Realitätstest
Libyen - Das blutige Ende der Jamahiriya
Der Qadhafi-ClanGasse für Gasse
Unglückliches Arabien - Revolte, Stammeskonflikt und Staatszerfall im Jemen
Eine gestohlene zivilgesellschaftliche Revolte?
Bahrain - Friedhofsruhe auf dem Finanzplatz?Marokko - Der König will ein wenig die Macht teilenSyrien - Das Scheitern der Erbrepublik
Altes Regime mit jungem GesichtFragile Säulen der StabilitätRisse im Mauerwerk der Angst
Kein Staat ist immun – jedenfalls nicht ganz
Andere PrioritätenRevolutionen ausgesetztStabile Monarchien?Veränderungsdruck am HorizontWer wäre das Volk?
Perspektiven des Umbruchs - Innere Verhältnisse, regionale Geopolitik
Liberale, Islamisten und MilitärsZwischen demokratischer Konsolidierung und Bürgerkrieg
Demokratische KonsolidiererHalb demokratische TransformationenGefährdete Regime als Gefahr für den StaatAusharren oder Anpassen
Macht- und Einflussverschiebungen im arabisch-nahöstlichen Raum
Ägypten als TrendsetterIsrael und der Konflikt im Nahen OstenMächte am Golf: Saudi-Arabien und IranDer sanfte Einfluss der Türkei
Über die arabische Welt hinaus - Implikationen für europäische Politik
Europas InstrumentenkastenEin offenes Europa, Kooperation zum gegenseitigen NutzenEinige Grundregeln für die europäische Politik
AnmerkungenCopyright

Einleitung

Wie fast überall ist Politik auch in der arabischen Welt und im Nahen Osten zunächst einmal lokaler Natur. Ursprünglich lokale Ereignisse und Entwicklungen gewinnen hier allerdings immer rasch eine regionale, oft sogar eine internationale Dimension. So wirkte die Revolution in Tunesien, eines eher kleinen und wenig einflussreichen arabischen Landes, als Zündfunke einer regionalen politischen Veränderungsbewegung. Nur wenige Tage nachdem der tunesische Präsident sich am 14. Januar 2011 ins saudische Exil abgesetzt hatte, versammelten sich Zehntausende auf dem Tahrir-Platz in Kairo, um gegen das Regime des ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak zu demonstrieren. Mit dessen Sturz, keine drei Wochen später, wurde klar, dass der Aufstand, der in Tunesien begonnen hatte, keines der arabischen Länder zwischen Maghreb und Persischem Golf unberührt lassen würde.

Die Menschen in den einzelnen arabischen Staaten lassen sich ganz offensichtlich von den Ereignissen bei den Nachbarn inspirieren. Die Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Missstände, gegen die die Proteste sich richten, bei den Forderungen nach Veränderung und auch bei der sozialen Basis, die sie trägt, sind unübersehbar. Und doch verlaufen die Ereignisse in den einzelnen arabischen Ländern unterschiedlich – Politik wird eben von den lokalen Gegebenheiten geprägt. Ausländischen Beobachtern sind die Unterschiede zwischen den Ländern in der arabischen Welt gelegentlich entgangen: Nicht nur verfügen die verschiedenen Regime über ein im einzelnen sehr unterschiedliches Maß an materiellen und politischen Ressourcen, sie sind also reicher oder ärmer, genießen mehr oder weniger Glaubwürdigkeit und Legitimität. Auch die politischen Systeme, die historischen Erfahrungen und die institutionelle Entwicklung der einzelnen Staaten sind nicht gleich. Dies alles trägt dazu bei, dass auch Oppositionsbewegungen sich unterschiedlich zusammensetzen, Protest sich unterschiedlich äußert und Regierungen damit unterschiedlich umgehen.

Der Aufstand der Menschen in der arabischen Welt muss als ein historisches Großereignis begriffen werden, das von seiner Bedeutung her mit der Zeitenwende von 1989 in Mittel- und Osteuropa vergleichbar ist. Der Umbruch ist revolutionär, er hat die gesamte Region erfasst. Aber er ist noch unabgeschlossen, er wird schwieriger werden als die Systemwende in den Staaten des Ostblocks, blutiger verlaufen und länger dauern. Und die Ergebnisse dieses Prozesses werden uneinheitlich sein, sodass die Unterschiede zwischen den einzelnen arabischen Ländern zunächst jedenfalls noch deutlicher zutage treten dürften als heute schon. Auch wenn die Bürger der verschiedenen Staaten sich unübersehbar nähergekommen sind.

Der Aufstand des Jahres 2011 ist nur der Beginn einer grundlegenden Umgestaltung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der arabischen Welt. Viele der beteiligten Akteure und nahen Beobachter haben seit dem Auftakt der revolutionären Ereignisse immer wieder darauf hingewiesen, dass es sehr viel leichter sei, einen Diktator zu stürzen als eine Demokratie aufzubauen. Bislang, bis zu dem Zeitpunkt, da dieses Buch abgeschlossen wird, hat der Aufstand ohnehin erst in drei arabischen Staaten einen Machtwechsel bewirkt. Die große Aufgabe, neue, demokratische oder zumindest repräsentativere, verantwortliche und besser regierte politische Systeme im Nahen und Mittleren Osten aufzubauen und zu konsolidieren, wird sicherlich ein Jahrzehnt, vielleicht länger brauchen. Sie wird auch eine Herausforderung für Europa sein, das die Ereignisse in dieser Nachbarregion zwar nicht bestimmen kann, wohl aber beeinflussen wird.

Derzeit, ganz am Anfang dieser Umwälzung, ist es zunächst einmal wichtig zu verstehen, was in der Region des Nahen und Mittleren Ostens sowie Nordafrikas geschieht und geschehen ist, wer hier handelt, in welche Richtung die Politik der einzelnen Länder sich entwickelt und welche regionalen Dynamiken entstehen können.

Zu der »Region«, von der hier gesprochen wird, gehören nicht nur die arabischen Staaten, sondern natürlich auch Israel und Iran, die untrennbarer Teil des Nahen beziehungsweise des Mittleren Ostens sind, aber eben, weil sie keine arabischen Staaten sind, auch nicht zur arabischen Welt gerechnet werden. Der Fokus in diesem Buch richtet sich eindeutig auf die Staaten der arabischen Welt mit gelegentlichen Seitenblicken auf Iran und Israel. Auch die arabischen Staaten von Marokko im Westen bis zum Irak und zur Arabischen Halbinsel im Osten spielen nicht alle die gleiche Rolle, weder allgemein in der regionalen Politik noch für den Verlauf und die Folgen des Aufstands oder der Revolution von 2011. Wir werden uns deshalb die Länder, die von der Welle der Veränderung bereits erfasst worden sind, besonders intensiv anschauen, Entwicklungen in den übrigen Staaten eher skizzieren.1 Und ich werde, nicht anders als die Akteure und Beobachter in der Region, gelegentlich vom Aufstand, dann von den Revolutionen in Tunesien und Ägypten, von einzelnen Aufständen oder Revolten oder auch vom arabischen Frühling sprechen. Der Begriff des Frühlings ist optimistisch und schön, er verklärt aber auch. »Aufstand« – arabisch intifada – trifft die gemeinsame Realität vielleicht am besten.

Um den politischen Hintergrund der Ereignisse verständlich zu machen, eröffne ich das erste Kapitel mit einer Art Querschnittbild, einer kurzen Skizze der politischen Verhältnisse in der arabischen Welt sowie der sozio-ökonomischen Faktoren, die den Aufstand verursacht und ermöglicht haben. Ich richte dann den Blick auf einzelne Länder, vor allem auf jene, in denen ein erfolgreicher Umbruch stattfand, eine Revolte – zunächst ? – scheiterte oder die Ereignisse in anhaltende Gewalt mündeten. Dabei stelle ich die zum Teil so unterschiedlichen Ereignisverläufe nebeneinander, um bei aller Unterschiedlichkeit auch die Gemeinsamkeiten sichtbar werden zu lassen. Die Geschehnisse in Ägypten, das, wie wir sehen werden, eine so zentrale Rolle für die Entwicklung in der arabischen Welt spielt, erfahren dabei besondere Aufmerksamkeit.

Im dritten Kapitel wollen wir uns Gedanken über die weiteren Entwicklungen des bislang – und wohl noch auf Jahre – offenen arabischen Umwälzungsprozesses machen. Dabei geht es nicht um Vorhersagen oder präzise Prognosen. Das wäre wenig seriös. Vielmehr werde ich ein kurzes, hoffentlich plausibles Szenario entwerfen, also eine »mögliche Zukunft« für die politische Entwicklung der arabischen Staaten skizzieren. Dieses enthält auch einige Überlegungen zu den Dynamiken zwischen den Staaten, der regionalen Geopolitik, die bereits durch die Machtwechsel in Tunesien und vor allem in Ägypten verändert wurde. Abschließend wird die Rolle Europas und der internationalen Gemeinschaft beleuchtet.

Dies ist mit Absicht ein kurzes Buch, das sich mit aktuellen, laufenden Prozessen beschäftigt und deren Hintergründe darstellt. Diejenigen, die ausführlichere Analysen zur jüngeren politischen Geschichte der Region, zu den Entwicklungen einzelner Länder, zum Nahostkonflikt und zum regionalen Beziehungsgeflecht erwarten, muss ich auf frühere Bücher verweisen. Hier präsentiere ich in vieler Hinsicht eine Momentaufnahme. Für ein abschließendes Gesamtbild ist es noch zu früh.

Dieses Buch ist im Sommer 2011 entstanden. Letzte Ergänzungen habe ich noch während des Lektoratsprozesses vorgenommen, um aktuelle Entwicklungen einzufangen. Aber irgendwann musste die Darstellung abgeschlossen werden. Ein Buch ist kein Blog, den man beliebig ergänzen kann. Der Text sollte aber dazu beitragen, den weiteren Gang der Ereignisse besser zu verstehen.

Kenner des Arabischen werden mir hoffentlich nachsehen, dass ich arabische Eigennamen nach Möglichkeit in der Form wiedergebe, die die entsprechenden Personen selbst nutzen, wenn sie ihre Namen in lateinischen Buchstaben schreiben. Auch bei Quellenangaben für Zitate aus arabischen Zeitschriften- oder Zeitungsartikeln verzichte ich aus Gründen der Lesbarkeit auf eine Wiedergabe der arabischen Titel in Umschrift, übersetze diese vielmehr gleich ins Deutsche. Alle Übersetzungen, so nicht anders angegeben, sind meine eigenen.

Dank gebührt allen genannten und nicht genannten Gesprächspartnern aus der Region, die mir oft genug geholfen haben, eigene Einschätzungen kritisch zu überprüfen und anzupassen. Ich danke auch meinen Mitarbeiterinnen Marion Calistri und Nicole Renvert, die die Entstehung und Fertigstellung des Manuskripts wie immer professionell unterstützt haben. Besonders dankbar bin ich Wibke Hansen – nicht nur, aber auch weil ohne ihren Zuspruch dieses Buch nicht geschrieben worden wäre.

Warum eigentlich erst jetzt?

Im Grunde standen sich in den Diskussionen und Debatten, die bei uns und in anderen, keineswegs nur westlichen Ländern über Politik, Staat und Gesellschaft im Nahen und Mittleren Osten geführt wurden, immer zwei Betrachtungsweisen gegenüber. Auf der einen Seite fanden sich diejenigen, die sicher waren, dass sich in dieser Region substantiell auch auf längere Frist wenig oder gar nichts ändern werde – und die uns erklärt haben, warum das so ist. Auf der anderen Seite fanden sich jene Beobachter regionaler Verhältnisse und Entwicklungen, die zu ergründen versuchten, warum die Dinge auch in dieser Region nicht ewig bleiben könnten und würden wie sie sind – und sich dann zu erklären bemühten, wodurch, zeitweise oder bislang zumindest, die eigentlich unhaltbaren Verhältnisse (noch) stabilisiert würden.

Wer hingeschaut, die politischen Verhältnisse und die wirtschaftlichen und sozialen Daten auf ihre Bruchpunkte und nicht nur auf Handelspotentiale hin untersucht hat, wer die Diskussionen in der arabischen Welt wie auch in Iran verfolgt, Entwicklungsberichte wie den gern zitierten und immer wieder ignorierten Arab Human Development Report2 gelesen hat, vor allem aber nicht nur mit Regierungspolitikern und anderen offiziellen Repräsentanten der Staaten, sondern mit Wissenschaftlern und Journalisten – bitte immer auch lesen: Wissenschaftlerinnen und Journalistinnen –, Künstlern, Geschäftsleuten, Beschäftigten im Staats- und im Privatsektor, politischen Aktivisten und Aktivistinnen und vor allem jungen Leuten unterschiedlichster Überzeugung gesprochen hat, konnte zwar von Zeitpunkt und Verlauf der Ereignisse überrascht sein, die in Tunesien begannen, nicht aber von dem Veränderungsdruck, der dahinterstand. 2002 hatte ich mit Blick auf eine Serie frischer Anti-Regime-Proteste, die Algerien kurz zuvor – also nach dem Ende des Bürgerkriegs der neunziger Jahre – erlebt hatte, geschrieben, dass diese »Welle sozialen Protests … andeuten (mag), was auch anderen Staaten des Maghreb oder des Nahen Ostens drohen könnte, wenn autoritäre Regime die eigene, immer jünger und zunehmend besser informierte Bevölkerung als vernachlässigbare Größe behandeln«.3 Meine eigenen Orientalischen Promenaden – 2006 zum ersten Mal veröffentlicht – waren in diesem Sinne ein langer Spaziergang durch eine Region »im Umbruch«, deren politische Verhältnisse spätestens seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts in vieler Hinsicht unhaltbar geworden, zumindest aber nicht mehr zukunftsfähig waren.4

Für ihn, erklärte uns Abdulkhaliq Abdallah, ein Politikprofessor aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, in einer kleinen Gesprächsrunde kurz nach dem Umsturz in Ägypten, liege nach Jahrzehnten der Frustration, der Demütigung und der Einparteien- oder Einpersonenherrschaft die eigentliche Überraschung nicht in der Revolution von 2011, sondern darin, dass diese nicht schon viel früher zum Ausbruch gekommen sei. Die politisch-sozialen Verhältnisse in den Staaten der Region waren in der Tat seit Längerem veränderungsreif. Fast überall, so weit lässt sich generalisieren, waren sie durch eine extrem schlechte Regierungsführung gekennzeichnet, also durch eklatante Verletzungen von Menschenrechten und Menschenwürde, durch Korruption und wachsende Ungleichheit und durch die besondere Benachteiligung von Frauen und jungen Leuten. Und wir haben beziehungsweise hatten es quer durch die Region mit überwiegend autoritären, jedenfalls nicht-demokratischen politischen Systemen zu tun.

Falsche Stabilität

Trotz aller Ähnlichkeiten, auf die wir gleich kommen werden, unterschieden und unterscheiden sich die politischen Systeme und auch die sozio-ökonomischen Verhältnisse in den arabischen Staaten zum Teil deutlich voneinander. Neben den überwiegend konservativen Monarchien am Persischen Golf, in denen die jeweils herrschende Familie mit wenig oder nahezu ohne Kontrolle und politische Beteiligung regiert, finden sich die liberaleren und auch politisch liberalisierten Monarchien Jordanien und Marokko. Neben diktatorisch regierten Republiken wie Syrien, Libyen und – bis zum Umsturz von 2011 – Tunesien entstanden gesellschaftlich zunehmend pluralistische, aber weiterhin autokratische Systeme wie das Ägypten Mubaraks, Algerien oder der Jemen, eine formale Demokratie wie der Irak und schwache, der Form nach demokratische Staaten oder Staaten in spe wie der Libanon oder die Palästinensische Autorität.

Auch wirtschaftlich bietet die arabische Welt ein gemischtes Bild – allein der Blick auf die Pro-Kopf-Einkommen zeigt die Spannbreite, die von armen Ländern wie Jemen und Sudan mit unter 2500 Dollar pro Kopf und Jahr über Marokko, Syrien, Jordanien Ägypten, Algerien und Tunesien mit 4500 bis 8500 Dollar, Libanon und Libyen, Saudi-Arabien, Oman und Bahrein mit zentraleuropäischen Niveaus zwischen 13 000 und 25 000 Dollar bis zu Kuwait, den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und Katar reicht, die zu den Staaten mit den weltweit höchsten Pro-Kopf-Einkommen gehören.5 Eine direkte Überlappung von Herrschaftsform und Wohlstand gab und gibt es nicht.

Gemeinsam ist bei allen Unterschieden in der Ressourcenausstattung fast allen diesen Staaten eine extrem ungleiche innere Einkommensverteilung. Verlässliche vergleichende Daten liegen hier nicht vor. Viele Einzelberichte aus den arabischen Staaten zeigen aber, dass der Abstand zwischen den Armen und den sehr Armen auf der einen und einer kleinen Gruppe von Reichen und Superreichen auf der anderen Seite seit Beginn dieses Jahrhunderts überall deutlich zugenommen hat. Trotz des Ölreichtums, der auch zwischen den Staaten ungleich verteilt ist, leben schätzungsweise 40 Prozent der Menschen in der arabischen Welt unterhalb der Armutsgrenze.6 Und fast überall hat die Klage über grassierende Korruption nicht zuletzt auf der Ebene hoher und höchster Entscheidungsträger zugenommen. Im Korruptionsperzeptionsindex von Transparency International rangieren die arabischen Staaten, mit gewisser Variationsbreite, überwiegend auf den vorletzten Plätzen.7

Zu den Gemeinsamkeiten, die sich mit Blick auf den Zustand der politischen Systeme vor dem Beginn der arabischen Revolutionen zeigen, gehört vor allem ein äußerst beschränktes Maß politischer Teilhabe. Die amerikanische Organisation Freedom House, die regelmäßig die Elemente politischer und bürgerlicher Freiheiten zu messen versucht, hat den Nahen und Mittleren Osten immer wieder als die »am wenigsten freie geografische Region in der Welt« bezeichnet. Mit Ausnahme von Kuwait, Libanon und Marokko, die als »teilweise frei« eingestuft wurden, galten alle arabischen Staaten 2010 noch als »unfrei«.8 Politische Opposition wurde überall nur in Grenzen geduldet; nur in ganz wenigen Staaten verzeichnete Amnesty International keine politischen Häftlinge. Tatsächlich finden wir in keinem Land der arabischen Welt – von Marokko im Westen bis zum Irak und zur Arabischen Halbinsel im Osten – eine konsolidierte liberale Demokratie. Allein im Libanon, in Algerien, im Irak und in den palästinensischen Gebieten sowie zwischenzeitlich in Mauretanien mussten die wichtigsten obersten Entscheidungsträger sich seit Anfang dieses Jahrhunderts mindestens einmal einem ernsthaften demokratischen Wettbewerb stellen, bei dem theoretisch die Chance bestand, dass die Wahl eine Überraschung bringen würde. In anderen Fällen wurden die Chefs entweder überhaupt nicht gewählt oder in Referenden oder Scheinwahlen bestätigt.

Dabei ließen immer mehr arabische Staaten irgendwelche Formen von Wahlen oder Abstimmungen durchführen. Das galt auch für Staaten, in denen es zuvor keine politischen Wahlen gegeben hatte. Selbst in Saudi-Arabien und Katar wurden Kommunalwahlen abgehalten. In Ägypten, in Syrien, im Jemen und in Tunesien fanden regelmäßig Parlamentswahlen statt, die zumeist allerdings weit davon entfernt waren, frei oder fair zu sein. Die Parlamente hatten in den wenigsten Fällen viel zu sagen. Freie, wenig oder kaum manipulierte und gleichzeitig bedeutungsvolle Wahlen gab es im Irak, in den palästinensischen Gebieten und im Libanon. Dabei fiel allerdings auf, dass zwei dieser drei Gemeinwesen de facto besetzt waren und es sich bei dem dritten – Libanon – um einen schwachen Staat handelt, der ständig um seine Souveränität bangen muss. Wahlen, so schien es, galten auch in der arabischen Welt als ein Teil der politischen Innenausstattung, mit dem Regime sich gerne schmückten, waren aber nicht als Instrumente gedacht, mit denen sich ein friedlicher Machtwechsel herbeiführen ließ. Der Libanon, der Irak und die palästinensischen Gebiete bildeten auch hier die Ausnahme. Interessant ist, dass die Bürger der arabischen Staaten sich wenig vormachen ließen: Die Wahlbeteiligung in Ägypten, Syrien und Tunesien blieb meist gering, lag oft im einstelligen Prozentbereich. Eine höhere Wahlbeteiligung gab es immer dort, wo es tatsächlich um etwas ging und zumindest ein gewisses Maß an Fairness vorausgesetzt wurde.

Anders als etwa in China, wo bei allem Mangel an Demokratie mittlerweile immerhin die politische Führung alle zehn Jahre durch eine jüngere Mannschaft ersetzt wird, schienen die Hauptentscheidungsträger und die Herrschaftseliten in den arabischen Staaten faktisch kaum austauschbar zu sein. Der tunesische Präsident Ben Ali befand sich seit 1987, Ägyptens Husni Mubarak seit 1981, Jemens Salih seit 1978 und Libyens Qadhafi seit 1969 an der Macht. Auch die meisten der dienstjüngsten Staatschefs – Präsident Asad in Syrien und die Könige Hamad in Bahrain, Abdullah in Jordanien und Muhammad in Marokko – herrschten Anfang 2011 bereits seit mehr als zehn Jahren, länger also als ein erfolgreicher US-Präsident. Und sie hatten die Macht von ihren Vätern geerbt. Sie bedienten sich sämtlich eines Systems der Patronage, bei dem politische Macht, zunehmend aber auch Wohlstand und wirtschaftliche Chancen vornehmlich einem engen Kreis von Personen zugeteilt werden, der sich aus der eigenen Familie, dem Clan, dem Militär und den Sicherheitsdiensten oder einer Gruppe loyaler Oligarchen zusammensetzt. Für Personen, die nicht aus diesem Umfeld stammten oder zumindest bereit waren, sich einzuordnen, blieben die Zugänge zu politischer Mitwirkung und oft genug auch zu wirtschaftlichem und beruflichem Aufstieg verschlossen.

Das Fehlen genuiner demokratischer Partizipation in den meisten arabischen Staaten hat manche Beobachter fragen lassen, ob die arabische Welt vielleicht demokratieimmun sei. Das ist natürlich Unsinn. Schon eher wäre es richtig zu sagen, dass in den arabischen Staaten immer politische Bewegung, oft genug auch der Wunsch nach politischer Öffnung und Demokratie zu spüren war, dass sowohl innere als auch äußere Faktoren Reform und Demokratieentwicklung aber behindert haben.

Zu den inneren Faktoren gehört, dass Öl- und Gasexporte weiterhin die Wirtschaft der Region bestimmen. In zahlreichen Staaten trägt der Öl- und Gassektor bis zu 50 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei. Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport machen, da sie meist direkt dem Staat zufließen, bis zu 60 Prozent oder mehr der Staatseinnahmen aus. Solche »Renten« geben den Regimen eine Art Unabhängigkeit von ihren Bürgern: Sie brauchen sie nicht zu besteuern, können sie vielmehr subventionieren und ihnen damit den politischen Schneid abkaufen. Lange Zeit konnten sogar Staaten, die selbst nicht zu den großen Ölexporteuren gehören, über Hilfen und Zuschüsse vom Golf von dieser Form der politischen Ökonomie profitieren. Diese Gleichung geht allerdings zunehmend nicht mehr auf oder allenfalls nur noch für wenige, sehr reiche und gleichzeitig bevölkerungsarme Staaten. Anhaltendes Bevölkerungswachstum reduzierte auch in ölexportierenden Staaten die Verteilungsmasse. Fortschreitende Urbanisierung, das Wachstum der Mittelschichten sowie eine insgesamt bessere Bildung haben überall die Forderungen nach Teilhabe, Mitsprache und persönlichen Freiheiten zunehmen lassen.

Während die meisten Staaten der Region aber effektiv kaum mehr politische Teilhabe erlaubten als ein, zwei Jahrzehnte zuvor, hat das Maß individueller Freiheiten in dieser Zeit zugenommen, jedenfalls was wirtschaftliche Freiheiten, aber auch die Freiheit von Information und Kommunikation betrifft. Anders gesagt: Während die politischen Systeme überwiegend rigide blieben und Forderungen nach substantieller politischer Veränderung oder gar nach der Ablösung der herrschenden Eliten notfalls mit repressiven Mitteln abwehrten, wurden die Gesellschaften offener und zunehmend pluralistisch. Vor allem die nachwachsenden Generationen verfügten über ein höheres Bildungsniveau, und sie waren besser informiert als die Generationen, aus denen die herrschenden Eliten sich rekrutierten. Die Verbreitung erst des Satellitenfernsehens, dann des Internets spielten dabei, wie sich spätestens 2011 zeigen sollte, eine wichtige Rolle. Die Inhalte, die in diesen Medien diskutiert werden, sind nicht allesamt neu. Vielmehr gab es in der gesamten Region schon seit Jahren eine lebhafte Debatte über bessere Regierungsführung, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und die faire oder »gerechte« Verteilung von Macht und Chancen. All dies waren – und sind – Themen, die nicht nur liberale oder linke, sondern auch konservativ-islamische Gruppen ansprachen.

Eine bittere Wahrheit ist, dass westliche Politik eine demokratische Entwicklung in der arabischen Welt nicht wirklich vorwärtsgebracht hat. Man kann einwenden, dass dies auch nicht die Aufgabe des Westens oder anderer ausländischer Akteure sei. Nur hat man eben in Europa und in den USA immer wieder von Demokratieförderung gesprochen. Zum Teil war das auch ernst gemeint. Einige Programme, die etwa im Rahmen der Mittelmeerpartnerschaft der Europäischen Union, des sogenannten Barcelona-Prozesses, auf den Weg gebracht wurden, haben zweifellos dazu beigetragen, eine Reihe von gesellschaftlichen Akteuren zu stärken, die in ihren Ländern für den Schutz der Menschenrechte, für Pressefreiheit oder für mehr Rechtsstaatlichkeit eintraten oder in der ein oder anderen Weise an der Erweiterung politischer Spielräume arbeiteten. Aber es ist auch Schindluder mit dem Begriff der Demokratiehilfe getrieben worden. Selbst die Irak-Invasion von 2003 wurde von Vertretern oder Vordenkern der damaligen amerikanischen Regierung gelegentlich als Beitrag zur Demokratisierung des Nahen und Mittleren Ostens dargestellt. Manche tun das übrigens noch heute mit einer gewissen Schamlosigkeit, indem sie behaupten, dass der von außen, durch amerikanische Truppen herbeigeführte Sturz des irakischen Diktators Saddam Hussein gewissermaßen den Anstoß für die Revolutionen von 2011 gegeben habe.9

Das Gegenargument lässt sich leichter vertreten. Der Irak-Krieg von 2003 hat tatsächlich einen Diktator aus seinem Palast vertrieben. Er hat aber den anderen Autokraten eine politische Lebensverlängerung beschert. Der Irak versank über Jahre im Bürgerkrieg; und die demokratischen Institutionen, die die Besatzungsmacht dort aufbaute, funktionieren bis heute nicht sonderlich gut. Nicht nur der syrische Präsident Bashar al-Asad hat in den Jahren nach 2003 immer wieder auf das blutige Chaos bei den irakischen Nachbarn verwiesen, um seinen Bürgern zu verstehen zu geben, dass sie mit seiner autoritären Herrschaft allemal besser bedient seien als mit westlichen Demokratieexporten.

Wichtiger noch ist, dass Washington und die europäischen Hauptstädte – Moskau und Peking, die ohnehin nicht auf Demokratieförderung setzen, spielen hier keine Rolle – seit 2001 und mehr noch seit 2003 im Nahen und Mittleren Osten vor allem nach Partnern suchten, die sie im »Krieg gegen den Terror« unterstützen und gleichzeitig Stabilität garantieren könnten. Dazu kam die Sorge vor einem wachsenden Einfluss Irans, vor der Ausbreitung islamistischer Tendenzen und, was Europa betrifft, vor ungeregelten Migrationswellen. Man ermahnte zwar die Partnerregime weiterhin, politische Reformen einzuleiten und die Menschenrechte zu respektieren. Die Botschaft, die in Kairo und Tunis wie auch in Riad, Rabat, Ramallah oder Damaskus verstanden wurde, war aber eine andere: Wer im Kampf gegen terroristische Bedrohungen kooperiert und dazu beiträgt, die regionalen Verhältnisse stabil zu halten, wird als Partner oder, in der Diktion amerikanischer Politik, als »moderater Spieler« betrachtet, egal, wie er mit seinen eigenen Bürgern umgeht. Wer nicht kooperiert, läuft Gefahr, »demokratisiert« zu werden.10

Die Staatschefs der arabischen Welt ließen sich auf dieses Spiel gern ein. Die meisten waren schon im eigenen Interesse nur zu gern bereit, sich den USA als Partner im Kampf gegen al-Qaida oder auch in der Auseinandersetzung mit Iran anzubieten und sich dafür auch unterstützen zu lassen. Den Europäern gegenüber präsentierten sie sich vor allem als Stabilitätsgaranten: Die einzigen Alternativen zur eigenen Herrschaft seien die Machtübernahme durch islamistische Extremisten oder das Chaos. Ägyptens Präsident Mubarak und Tunesiens Ben Ali waren in dieser Hinsicht besonders erfolgreich.

Die EU-Staaten wie auch die USA waren selbst nicht sonderlich konsequent, wenn sie etwa in den palästinensischen Gebieten demokratische Wahlen anmahnten, dann aber Anfang 2006 nach dem Wahlsieg der islamistischen Hamas die Bereitschaft zur Kooperation, ja selbst zum Gespräch mit der aus den Wahlen hervorgegangenen Regierung von Bedingungen abhängig machten, die sie keinem anderen Akteur im Nahen Osten abforderten. Westliche Demokratisierungsrhetorik galt deshalb gerade bei vielen der zivilgesellschaftlichen Akteure als wenig glaubwürdig.

Es wäre falsch zu sagen, dass gerade die europäischen Staaten eine demokratische Entwicklung der Region nicht gewünscht hätten. Man wusste in Brüssel und in den europäischen Hauptstädten durchaus, dass politische Stagnation, Reformresistenz und schlechte Regierungsführung die Stabilität dieser Länder und damit auch die eigenen Interessen gefährdeten. Aber man hoffte, dass diese Regime sich auch mit europäischer Hilfe aus sich selbst heraus wandeln würden.

Tatsächlich kam die Veränderung aus der Region, nicht von außen. Sie kam nur anders zustande, als dies von den herrschenden Eliten und ihren ausländischen Partnern erwartet worden war.

Auslöser und Akteure der Veränderung

Gründe zu revoltieren gab es also in der arabischen Welt seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten. Auch einzelne Ereignisse und Vorfälle wie die, die jetzt die Proteste in Tunesien und Ägypten, Libyen, Jemen, Bahrein oder Syrien auslösten, hatte es früher schon gegeben – ohne dass daraus ein Aufstand oder gar eine Serie von Aufständen erwuchs. Große historische Veränderungen gründen sich immer auf ein komplexes Bündel von Ursachen und auf einzelne Ereignisse, die dann zu Auslösern werden. Letztlich ist entscheidend, wie konkrete Personen auf beiden Seiten handeln: Zu einer Revolution gehören neben den Revolutionären immer auch die Vertreter der herrschenden Ordnung, die notwendige Veränderungen gar nicht oder nicht rechtzeitig auf den Weg bringen. Einfache Kausalitäten sollte man nicht erwarten und auch im Nachgang nicht zu konstruieren versuchen. Die Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Muhammad Bu Azizi in einer tunesischen Kleinstadt löste eine Protestwelle aus, die nicht mehr zu stoppen war. Ein anderes dramatisches Ereignis hätte das genauso bewirken können – oder, wie in anderen Fällen, eben auch nicht.

Tatsächlich hat vieles dazu beigetragen, dass die versteinerten politischen Verhältnisse in der Region seit Anfang 2011 so rasch in Bewegung gerieten. Dazu gehören technologische, weltwirtschaftliche, politische und soziostrukturelle Faktoren: Das Satellitenfernsehen und die neuen »sozialen« Medien haben eine Rolle bei der schnellen Verbreitung der Proteste gespielt; steigende Lebensmittelpreise haben den Protest der Armen genährt; einige Wikileaks-Berichte mögen bestätigt haben, was an Gerüchten und Vermutungen über die Korruption der Herrscher in Tunesien und anderen arabischen Ländern ohnehin kursierte.

Die wichtigste erklärende Variable für den Umbruch dürfte aber in der demografischen Entwicklung liegen: Die arabische Revolte von 2011 ist vor allem ein Aufstand der Jugend.

Nur eine Brotrevolte?

Einige wenige Autoren haben schon 2010 vor Nahrungsmittelkrisen in der Region und, in der Folge, vor politischer Instabilität gewarnt.11 Immerhin hatte sich der Weizenpreis auf dem Weltmarkt innerhalb eines Jahres ungefähr verdoppelt, und auch andere Lebensmittel wurden erheblich teurer. Dies schlug auf die lokalen Märkte im Nahen Osten und in Nordafrika durch, wo ein besonders hoher Anteil der Nahrungsmittel importiert wird. In Ägypten etwa wurde die Inflation bei Lebensmitteln auf 20 Prozent geschätzt.12 Lebensmittelpreise sind ein sensibles Thema in den meisten arabischen Staaten wie auch in Iran. In Ägypten geben Familien durchschnittlich 40 Prozent ihres Haushaltseinkommens für Lebensmittel aus; Brot wird in vielen Ländern der Region subventioniert. In Ägypten, aber auch in Jordanien und einigen anderen Ländern war es in der Vergangenheit wiederholt zu sogenannten Brotpreisunruhen gekommen, wenn Regierungen versuchten, Subventionen zu reduzieren.

Einige Länder der Region litten nicht nur unter steigenden Weltmarktpreisen, sondern auch, wie wir im Falle Tunesiens und Jemens sehen werden, in besonderer Weise unter spezifischen Folgen der Weltwirtschaftskrise: Arbeitskräfte aus diesen Staaten fanden keine Beschäftigung mehr im reicheren Ausland, überwiesen also kein Geld mehr an ihre Verwandten zu Hause und kehrten oft selbst zurück, sodass sich der Druck auf das individuelle Familienbudget wie den allgemeinen Arbeitsmarkt weiter erhöhte. Sicher hätten steigende Lebensmittelpreise und knappere Haushaltseinkommen allein keine Revolte ausgelöst, die in kürzester Zeit gleich zum Sturz von zwei Regimen und zur Unterminierung der Herrschaftsverhältnisse in fast allen Staaten der Region führte. Einen Faktor für die Mobilisierung so großer Teile der Bevölkerung stellten sie aber zweifellos dar: Bei den Protesten in Nordafrika wurden auch die hohen Preise für Brot, Zucker oder andere Grundnahrungsmittel zum Thema gemacht – allerdings meist erst, wenn Menschen aus ärmeren Verhältnissen begannen, sich an Demonstrationen zu beteiligen. Einer der Slogans, der bei den Demonstrationen in Ägypten skandiert wurde, lautete »’aish, hurriya, karama insaniyya! « – auf Deutsch: Brot, Freiheit, menschliche Würde! Im ägyptisch-arabischen Dialekt ist ’aish das Brot, in der arabischen Schrift- und Hochsprache ist es das Leben; tatsächlich ist Brot in Ägypten das Grundlebensmittel gerade für die Armen.

Auffällig ist vor allem, dass viele der Regierungen Anfang 2011 die Proteste ganz offenbar als eine Form von »Brotunruhen« verstanden und sie zunächst einmal einzudämmen versuchten, indem sie Lebensmittel- und auch Benzinsubventionen, die nach und nach abgebaut worden waren, wieder einführten oder armen Familien finanzielle Zuwendungen zur Abdeckung gestiegener Lebenshaltungskosten versprachen. Dass dies nicht reichte, um die Proteste zu beenden, zeigte allerdings auch, dass hier eben nicht nur gegen hohe Preise demonstriert wurde. Wo Demonstranten die Lebensmittelpreise zum Thema machten, verbanden sie dies mit ausdrücklich politischen Forderungen, die einen sehr viel tieferen Unmut über die politischen und sozialen Verhältnisse zum Ausdruck brachten. Schließlich kam es auch in Ländern, in denen die Preise für Lebensmittel kein oder jedenfalls kein zentrales Thema waren, zu Protesten und Aufständen.

Eine Facebook-Revolution?

Seit der Gründung des Satellitenkanals al-Jazeera, der 1996 sein Programm startete, wird über dessen subversive Wirkung diskutiert. Richtig ist, dass mit der Verbreitung des Satellitenfernsehens die überwiegend staatlichen elektronischen Medien in den einzelnen Ländern Konkurrenz erhielten und die traditionelle Zensur vielfach obsolet wurde, weil Nachrichten sich nicht mehr einfach verheimlichen ließen. Ansatzweise entwickelte sich auch eine neue Debattenkultur für den gesamten arabischen Raum: Intellektuelle und Entscheidungsträger aus verschiedenen arabischen Ländern kamen im selben Programm zu Wort, stritten sich oft genug oder wurden von Journalisten herausgefordert. Und es zeigte sich, dass Widerspruch selbst gegen Autoritäten und unterschiedliche Meinungen zu politischen Themen möglich waren. Für die Regime war dies eine Herausforderung, der sie einerseits mit der Gründung eigener Satellitenkanäle, andererseits mit einer gewissen Öffnung ihrer lokalen Medien, zum Teil aber auch repressiv zu begegnen versuchten: Immer wieder wurden Büros von al-Jazeera geschlossen oder Dissidenten drangsaliert, die dort oder in anderen arabischen Satellitensendern Kritik an den eigenen Regierungen geäußert hatten. Mit dem Internet und den neuen sozialen Medien entstand eine weitere Dimension der Kommunikation, ein – trotz aller Einschränkungs- und Kontrollversuche – eben weitgehend freier virtueller Raum, in dem man sich zu Informationsaustausch und Debatte, zur Aufnahme und Aufrechterhaltung sozialer Kontakte und, wie sich zeigen sollte, zur Organisation und Mobilisierung von Protest nicht nur im Cyberspace, sondern auch auf der Straße »treffen« konnte. Al-Jazeera und andere arabische Satellitensender waren und blieben im wahrsten Sinne des Wortes Massenmedien, die aufgrund der Verbreitung von Fernsehen und Satellitenschüsseln in fast jedem Dorf von Marokko bis zum Persischen Golf zu sehen waren. Unabhängige Blogs und Internetforen wurden mangels einer freien Presse zu Medien des Austauschs und der Informationsverbreitung vor allem für die Jungen und die Gebildeten, die einen Zugang zum Internet hatten. Wichtig wurde bei den Aufständen zudem die Verbindung zwischen unterschiedlichen elektronischen Medien: So fanden mit Mobiltelefonen aufgenommene Bilder und Videos ihren Weg ins Internet, wurden über Facebook und andere soziale Medien verbreitet und dann auch von den Satellitensendern übernommen. Die Satellitensender nutzten zudem SMS- und Twitter-Meldungen, mit denen Zuschauer Nachrichten ergänzten oder kommentierten, und erhielten dabei selbst ein Stück weit, wie das Internet, einen interaktiven Charakter.

Die Bedeutung des Internets und von sozialen Medien wie Facebook für die Aufstände in der arabischen Welt sollte weder kleingeredet noch überschätzt werden. Gerade für die Jungen und Gebildeten stellte das Internet einen Freiraum dar, der es erlaubte, politische, soziale und physische Restriktionen zu umgehen. Anfang 2011 wurde geschätzt, dass weniger als 20 Prozent der mehr als 320 Millionen Menschen in den arabischen Staaten Zugang zum Internet haben, mit erheblicher Variationsbreite zwischen den einzelnen Staaten. Die Zahl der Facebook-Nutzer hatte 2010 mit 15 Millionen bereits die Auflagenzahl der in allen arabischen Staaten verbreiteten Zeitungen überschritten und wuchs bis zum Frühjahr 2011 – zweifellos auch als Ergebnis der arabischen Revolten – auf nahezu 28 Millionen.13 Ebenfalls 2010 wurden mehr als 40 000 Blogs in arabischer Sprache gezählt, wobei damals noch weniger als die Hälfte, seit 2011 aber mehr als drei Viertel dieser Blogs politische Themen diskutieren.14

Internet und Facebook wurden nicht nur in Ländern mit hoher Internetdichte zum bevorzugten Medium bei der Organisation und Vorbereitung von Protesten. »Das Internet hat uns Flügel gegeben«, sagt eine Menschenrechtsaktivistin aus Kairo; es habe insbesondere jungen Frauen, die bei ihren Familien wohnen und sich mit Rücksicht auf die herrschenden sozialen Normen nicht einfach abends mit jungen Männern in einem Café treffen können, ermöglicht, sich zu beteiligen. Facebook-Gruppen haben es den Organisatoren aus unterschiedlichen Ländern erleichtert, sich untereinander auszutauschen und voneinander zu lernen. Die Satellitensender aber blieben das wichtigste Medium, über das auch weitere Kreise der Bevölkerung informiert und mobilisiert werden konnten, wenn die Sender sich dazu entschlossen, den Aufständen breiten Raum einzuräumen. Dies tat der katarische Sender al-Jazeera