Der Bach, der aus dem Wasser wollte - Johannes Schmid - E-Book

Der Bach, der aus dem Wasser wollte E-Book

Johannes Schmid

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Beschreibung

Ein Bach hat es satt, immer bergab zu fließen und will endlich an Land gehen. Bei einer Geburtstagsfeier buhlt das Zitroneneis mit der Vanille- und Schokoladensorte um die Gunst der Gäste. Max, die alte Schreibtischlampe, ist klammheimlich entsorgt worden und kämpft um ihr Gnadenbrot. Und die Kreuzspinne Olivia sucht eine neue Herausforderung als Netzwerkadministratorin. In zehn Geschichten entführt der Autor seine Leser in eine gänzlich unbekannte Welt. Wo niemand Spektakuläres erwartet, kämpfen seine Helden um Anerkennung, beschreiten abenteuerliche Wege zum Glück, scheitern beständig und kommen doch immer ans Ziel. Mit spielerischem Blick bringt Johannes Schmid das geheime Leben der Dinge zum Vorschein und interpretiert neu, was bislang als selbstverständlich galt. Eine liebevolle Betrachtung des ganz Alltäglichen um uns herum.

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Inhalt

Friedrich, das Zitroneneis, das keiner wollte

Familie Kugelig

Der Bach, der aus dem Wasser wollte

Mit der Zeit gehen

Lampenfieber

Pompeos neblige Bekanntschaften

Olivia spinnt

Rimbambimento totale

Udo mit den kalten Füßen

Schweden im Sommer

1.

Friedrich, das Zitroneneis, das keiner wollte

Früher als sonst war Sabrina an diesem Abend von ihrer Mutter ins Bett geschickt worden. Die Vorbereitungen für den großen Tag nahmen kein Ende. Der Tisch für den Kindergeburtstag war bereits fertig geschmückt, an der Decke hingen Luftschlangen und Lampions, und die Geschenke zu Sabrinas sechstem Geburtstag standen aufgereiht nebeneinander, fertig zum Auspacken. Aber es dauerte bis tief in Nacht, bis es nach leckeren Plätzchen und süßen Kuchen aus der Küche duftete und Sabrinas Mutter die frischgemachten Eissorten endlich in den Kühlschrank legen konnte, die sie extra für das Fest gezaubert hatte.

Auch Friedrich, das Zitroneneis, nahm sich viel vor für diesen großen Tag. Neben dem süßen Vanilleeis und dem Schokoladeneis, das die Kinder bei den letzten Geburtstagen schon gemocht hatten, hatte die Mutter dieses Mal noch ein neues Rezept für eine Sorte mit Sauermilch, abgeriebener Zitronenschale und Zucker gemacht. Seine Zutaten waren nacheinander in den Mixer geschüttet worden und kaum, dass der Motor aufheulte, wild durcheinandergewirbelt. Friedrich hatte einen ordentlichen Schwindel von den vielen Umdrehungen bekommen und sich erst wieder davon erholt, als die Flüssigkeit auf mehrere Eisformen verteilt wurde, die zum Einfrieren bereitstanden.

Bevor sie die Tür zum Eisfach schloss, hatte Sabrinas Mutter den drei Sorten noch einmal erklärt, wie sie sich morgen beim Geburtstag verhalten sollten. Am besten sei es, sich den Kindern einfach hinzugeben, wenn sie zum Schlecken aus dem Gefrierfach geholt würden. Sie dürften sich gern gehen lassen und dahinschmelzen, wenn ihnen danach sei. Auf jeden Fall bräuchten sie keine Angst haben vor diesem großen Moment, von dem keiner von ihnen wieder zurückkehren würde. Dann sagte sie noch, dass sie sehr gespannt sei, welchen Geschmack die Kinder wohl am meisten mochten, drückte noch ein paar Holzstiele zum Festhalten in die Formen und sperrte das Eisfach zu.

Friedrich lag im Dunkeln und war aufgeregt. Schließlich war es das erste und letzte Mal, dass er die Chance hatte, die Kinder von seinem Geschmack zu überzeugen. Er wollte unbedingt neben den wohlbekannten Sorten bestehen und nahm sich vor, über Nacht besonders kalt und wohlschmeckend zu werden, damit die Kinder lange Freude an ihm hatten.

In der einzigen Nacht seines Lebens schlief er tief und wurde fest und fester. Von den Seiten aus wuchsen die Eiskristalle in seine Mitte, bis er sich nicht mehr bewegen konnte. Nur einmal schreckte er auf, weil er von dem Moment träumte, in dem er für immer in einem Kindermund verschwand. Doch kaum, dass er wieder eingenickt war, fror seine Oberfläche weiter zu herrlichen Eisblumen, die auf seinem kalten Gesicht funkelten wie tausend kleine Diamanten.

Dann war es endlich soweit.

Die Tür zum Kühlschrank flog auf und jemand holte etwas heraus. Als sie wieder zufiel, war Friedrich wach. Es waren noch ein paar Stunden bis zum Festbeginn am Nachmittag, aber mit der Ruhe war es jetzt vorbei. Nur die Tür zum Gefrierfach trennte die drei Eissorten von der Geschäftigkeit an diesem besonderen Tag.

„Morgen“, sagte Friedrich verschlafen zu den anderen Sorten und versuchte sich zu strecken, doch es war ihm nicht möglich, so fest war er über Nacht in die Form hineingefroren. Gestern, als er noch flüssig gewesen war, hatte sein Körper bequem hineingepasst, aber jetzt als Eis hatte er sich ausgedehnt und war in der Nacht fast über den Rand geschwappt.

„Hallo“, kam es eiskalt von links und rechts zurück. Auch Vanilleeis und Schokoladeneis waren komplett eingefroren in ihren Schalen. Sie hatten sich über Nacht so richtig breit gemacht und nahmen Friedrich und die anderen Zitroneneisportionen in die Zange. Dass sie der neuen Sorte in der Gunst der Kinder keine Chancen einräumten, war ausgemacht, und wenn es nicht sowieso schon kalt gewesen wäre, hätte man jetzt Gänsehaut bekommen, so eisig begutachteten sie die Fremdlinge mit dem Zitronengeschmack.

„Wer will schon ein saures Eis schlecken!“, giftete ein Vanilleeis über Friedrich und seine Zitroneneisgefährten hinweg zum Schokoladeneis hinüber.

„In der Tat“, lästerte es aus einer Schokoladeneisschale zurück. „Sauermilch als Zutat geht gar nicht! Nur frische Sahne bringt vollen Geschmack.“

„Und dann auch noch mit Zitronenschale.“ Das Vanilleeis rümpfte die kalte Nase.

Das fängt ja prima an, dachte Friedrich, während er eingequetscht zwischen den beiden eifersüchtigen Streithähnen darauf wartete, wer als Erstes aus dem Eisfach gezogen wurde.

Plötzlich drang von hinten aus der dunkelsten Ecke des Eisfaches, in der niemand mehr etwas vermutet hätte, eine krächzende Stimme und wünschte ebenfalls „Guten Morgen!“. Verdutzt drehte Friedrich den Kopf nach hinten, und auch die anderen Eissorten versuchten in der pechschwarzen Tiefe etwas zu erkennen. Aber das Einzige, was sie dort sahen, war ein dicker Eispanzer, der sich über die Jahre angesammelt hatte, weil das Gefrierfach wahrscheinlich nie abgetaut worden war.

„Ist da jemand?“, rief Friedrich ins Dunkle hinein.

„Ja!“, rief die Dunkelheit zurück und schickte kalten Hauch nach vorn, der den drei Eissorten frostig ums Gesicht wehte.

„Wer bist du denn?“, fragte ein Vanilleeis verblüfft.

„Ich bin ein Eiswürfel“, kam es saukalt aus der Ecke.

„Was machst du so tief hinten im Eisfach?“

„Ich bin festgefroren und kann mich nicht mehr bewegen.“

„Wohin hättest du dich denn bewegen wollen, als du noch konntest?“

„Ich sollte im letzten Sommer den Whiskey von Sabrinas Vater auf der Veranda kühlen. Der hat aber nur zwei von uns Eiswürfeln rausgenommen, danach ist das Wetter umgeschlagen, und ab da trank er lieber heißen Tee im Haus. Jetzt sitze ich hier mit den restlichen Eiswürfeln und warte darauf, dass der Sommer wiederkommt und wir endlich ins Glas dürfen.“

„Uns kann das nicht passieren“, trompetete das Vanilleeis dem Schokoladeneis zu.

„Genau“, posaunte das zurück. „Süße Sachen an einem Kindergeburtstag gehen immer. Egal wie das Wetter ist. Deshalb sehe ich den Neuzugang hier auch klar versauern.“

„Sind denn noch andere Zutaten eingefroren und vergessen worden?“, wollte ein Schokoladeneis von dem Eiswürfel wissen.

„In der Ecke gegenüber liegen noch ein aufgerissenes Päckchen Minzeblätter und ein paar verstreute Heidelbeeren, die hart sind wie Stahl,“ erwiderte dieser kühl.

Die Stunden bis zum Fest vergingen, und die Stimmung unter den drei Eissorten wurde noch frostiger, als sie es sowieso schon war. Die süßen Sorten versuchten die sauren Fremdlinge nach hinten ins Eisfach zu bugsieren, doch Friedrich wehrte sich nach Kräften. Allen war klar, dass der, der den Platz vorn an der Tür hatte, am ehesten von den Kindern ausgesucht und weggeschleckt werden würde. Deshalb gab keiner nach.

Das Gerangel um den richtigen Platz drang bis vor die Kühlschranktür. Immer wieder ging das Eisfach auf und Friedrich blickte in das verdutzte Gesicht von Sabrinas Mutter, die nachsehen wollte, ob drinnen alles mit rechten Dingen zuging. Sie bemerkte nicht, dass alle nur kurz innehielten, und kaum, dass sie das Eisfach wieder geschlossen hatte, der Streit weiter ging.

Friedrich und die anderen Zitroneneisportionen wehrten sich nach Kräften und kickten ihre Gegner bis in die hintersten Ecken des Eisfaches, doch die süßen Formen waren in der Überzahl. Kaum, dass eine abgeschlagen war, kam eine andere mit Wucht zurück. Friedrich gab ihnen Saures, doch sie waren einfach nicht abzuschütteln. Immer wieder setzten sie sich mit ihrer klebrig süßen Zunge an seiner Eisschale fest und schleuderten ihn mit Schwung nach hinten, wo die alten Eiswürfel, die Heidelbeeren und die Minzeblätter lagen.

Plötzlich flog die Tür auf und eine kleine Hand griff ins Eisfach. Sofort ließen die Streithähne voneinander ab, warfen sich in Pose und präsentierten sich von ihrer besten Seite.

Suchend glitten die kleinen Finger hin und her und tasteten die Sorten nacheinander ab. Friedrich hatte sich ganz nach vorn gedrängelt und hielt links ein Vanilleeis und rechts ein Schokoladeneis in Schach. Schon sah er die Hand vor seinem Gesicht größer und größer werden, als sie im letzten Moment umschwenkte, nach dem Holzstiel eines Vanilleeises griff, es an sich zog und damit nach draußen verschwand.

Kaum, dass das Eisfach wieder geschlossen war, konnte man das „Hm!“ und „Ah!“ vernehmen, von dem Sabrinas Mutter am Abend zuvor erzählt hatte. Es klang herrlich, auch wenn es nicht die Lust auf Zitroneneis war, die Friedrich da hören musste.

Enttäuscht ließ er vom Schokoladeneis ab, das er bis zu diesem Moment im Würgegriff gehalten hatte. Das stimmte ein hämisches Gelächter an, sobald es wieder zu Atem gekommen war. „Hehehe! Ist doch klar, dass du hier versauerst. Haben wir’s nicht gleich gesagt?“

Friedrich rang ebenfalls nach Luft. Wenn er nicht schon sauer gewesen wäre, dann wäre er es jetzt geworden. Warum hatte die Hand im letzten Moment nach dem Vanilleeis gegriffen und nicht nach ihm? Er war ganz vorn gewesen an der Türöffnung, hatte freudig und süß gestrahlt, soweit ihm das als Zitroneneis überhaupt möglich war, und dennoch hatte die Hand nach dem anderen Eis gegriffen. Während er entmutigt in seiner Form lag und überlegte, woran es wohl gelegen haben mochte, flog die Tür schon wieder auf. Zwei kleine Hände griffen zielstrebig nach der Schale neben ihm, und noch bevor die Tür des Eisfaches wieder ins Schloss fiel, hörte er von draußen das Gelächter des Schokoladeneises und die genussvollen Laute der Kinder mit ihrem Eis.

Friedrich hielt sich die Ohren zu. Er wollte nicht hören, wie gut das Schokoladeneis schmeckte. Warum galt die Begeisterung nur den anderen Eissorten und nicht ihm? Sabrinas Mutter musste doch wohl überzeugt davon gewesen sein, dass ein Zitroneneis den Kindern genauso schmeckte wie die anderen Sorten, sonst hätte sie ihn niemals gemacht.

Immerhin hatten die Kinder jetzt beide süßen Sorten versucht. Sie würden ihn also früher oder später auch probieren wollen. Der Geburtstag hatte gerade erst angefangen, und Friedrichs Hoffnung, doch noch weggeschleckt zu werden, war groß – schließlich wollte er auf keinen Fall so enden wie die Heidelbeeren und Minzeblätter aus dem vorigen Jahr.

Da flog zum dritten Mal die Tür zum Eisfach auf. Sofort stand Friedrich stramm. Endlich war er an der Reihe und durfte zeigen, was er konnte.

Doch statt ihn herauszuholen, wurden neue Schalen mit frischem Eis hereingereicht und links und rechts neben ihm abgestellt. Friedrich war so enttäuscht, dass er sich an den neuen Eisformen abstützen musste. Als er sich nach ein paar Minuten wieder gefangen hatte, war er voll mit Vanille- und Schokoklecksen. Sabrinas Mutter hatte noch einmal die beiden beliebten Sorten gemacht und das Gefrierfach auf Schnellkühlung gestellt in der Hoffnung, dass sie noch bis zum Ende des Geburtstages einfroren.

Friedrich wurde noch blasser, als er ohnehin schon war. Warum hatte Sabrinas Mutter den Kindern nicht einfach das Zitroneneis angeboten, statt weitere Schalen mit diesem süßen Zeug zu befüllen?

Aber wenn er schon im Eisfach versauern sollte, wollte er wenigstens dafür sorgen, dass die Kinder nichts von dem frischen Vanille- und Schokoladeneis hatten. Rache war süß, dachte er sich, und machte sich daran, die neuen Formen mit der frischen Vanille- und Schokoladenflüssigkeit umzukippen. Die beiden Sorten aber ließen sich das nicht gefallen, und nach kurzem Kampf flog Friedrich wieder in die hinterste Ecke des Eisfaches. Direkt auf die aufgerissene Packung mit den Minzeblättern und Heidelbeeren, die sofort in den flüssigen Vanille- und Schokoladeneisspritzern hängen blieben, mit denen sich Friedrich zuvor bekleckert hatte.

Es war ihm zwar gelungen, den Konkurrenten ein paar Haken zu verpassen, die als tiefe Dellen in der halbgefrorenen Flüssigkeit zurückgeblieben waren und sie ziemlich unappetitlich aussehen ließen, aber er selbst sah noch schlimmer aus. Ein Eis zum Fürchten. Wer würde ihn so jemals abschlecken wollen?

Von dem Drama im Eisfach bekam die Geburtstagsgesellschaft nichts mit. Im Esszimmer tobte das Fest, die Luftschlangen flogen nur so durchs Zimmer und die Kinder waren von oben bis unten mit Kuchen, Kakao und Eisresten beschmiert. Sabrina war glücklich über den schönen Geburtstag und freute sich schon auf den siebten, obwohl der sechste noch gar nicht vorbei war. Nur, dass Lilo, ihre beste Freundin, die nebenan wohnte, bisher nicht gekommen war, machte sie ein wenig traurig.

Erst als das Fest schon fast vorbei war, klingelte es an der Tür. Sabrina rannte los und öffnete. Da stand Lilo – mit dicker Backe.

„Was ist denn mit dir geschehen?“, fragte sie entsetzt.

„Tfahnarft. Ef tut immer nof weh“, stammelte Lilo und zeigte auf die Schwellung. „Dä Arft hat gefagt, daff ich erft in tfwei Ftunden wieder etwaf effen daf und da wollte if lieber fpäter kommen alf mitanfehen fu müffen, wie ihr efft.“

Sabrina bat sie herein und bot ihr den freien Platz neben sich an. Langsam setzte sie sich auf den Stuhl, damit die Zahnschmerzen nicht noch schlimmer wurden.

Sabrinas Mutter schaute Lilo besorgt an und fragte vorsichtig: „Möchtest du denn trotzdem etwas essen und trinken?“

„Ja, gerne“, brummelte sie, „aber bitte keine füfen Fachen. Fonft tut ef noch mehr weh.“

„Ich habe Eis gemacht. Komm mit in die Küche und such dir eins aus! Das kühlt deine Schmerzen ganz bestimmt.“

„Au ja“, murmelte Lilo mit gequältem Gesicht und trottete hinterher.

Doch als Sabrinas Mutter die Tür zum Eisfach öffnete, bot sich ihr ein Anblick wie auf dem Schlachtfeld: Die frisch gemachten Eisformen waren verbeult, Vanille- und Schokoladenspritzer über das gesamte Eisfach verteilt, und in der hintersten Ecke lag ein Zitroneneis über und über von Klecksen bedeckt, in denen Minzeblätter und Heidelbeeren steckten.

„Was ist denn hier los?“, rief sie entsetzt, und schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

Sie fing schon an aufzuräumen, als Lilo wissen wollte, woraus das vollgekleckste Eis in der Ecke gemacht war.

„Ich wollte gestern noch ein neues Rezept ausprobieren und habe ein Zitroneneis gemacht. So wie das jetzt aussieht, wird das niemand mehr essen wollen.“

Lilo aber machte sich nichts draus, steckte den Kopf ins Eisfach und fragte: “Hallo Fitroneneif, wie heift du denn?“

Friedrich wollte Friedrich sagen, er bekam aber den Mund nicht auf vor lauter angefrorener Vanille und Schokolade.

Lilo sah, in welch misslicher Lage sich das Zitroneneis befand. Sie griff mit der Hand ins Gefrierfach und legte ihren warmen Zeigefinger auf seinen Mund, bis die süßen Kleckse auftauten und er die Lippen wieder bewegen konnte.

„Friedrich!“, platzte Friedrich endlich hervor und wollte die ekligen Kleckse sofort wegwischen.

„Halt! Daf ift meine Aufgabe, dif abfuflecken“, sagte Lilo und drückte Friedrichs Hand zur Seite. „Kommft du fu mir?“

Doch Friedrich war von den vielen angefrorenen Vanille- und Schokoladenspritzern fest ans Eisfach geklebt und konnte sich nicht bewegen.

Da legte Lilo ihre ganze Hand über das Eis und wärmte die angefrorenen Stellen, bis sie sich zu lösen begannen. Nach und nach kam er frei. Dann hob sie ihn aus dem Eisfach und legte ihn direkt auf ihre dicke Wange.

Friedrich gab keinen Mucks von sich. Er war froh, dass ihn endlich jemand haben wollte und er das Eisfach verlassen durfte. Dabei hatte Sabrinas Mutter ihm den Ablauf ganz anders erklärt.

Und dann geschah es!

„Ah!“, kam es plötzlich aus Lilos geschwollenem Mund und gleich darauf folgte ein langes „Hm, wie guut deine Kälte tuut, Fideich.“

Da war er endlich, dieser magische Moment, von dem Sabrinas Mutter erzählt hatte. Friedrich war so glücklich, dass er vor lauter Zuneigung auf Lilos Backe dahinschmolz und die aufgetauten Eistropfen an ihrem Hals hinab liefen.

„Ah, wie guut daf meiner dicken Backe tuut“, nuschelte Lilo noch einmal und lief mit dem schmelzenden Friedrich im Gesicht ins Esszimmer zu den anderen. Die lachten laut auf, als sie sahen, dass sie das Eis an der Wange hielt, statt es in den Mund zu stecken. Lilo aber wollte es so lange an der Backe halten, bis sie nicht mehr geschwollen war und sie endlich wieder normal reden konnte.

Friedrich spürte, dass es nicht normal war, was Lilo da mit ihm machte und schaute fragend zu Sabrinas Mutter hinüber, die ihnen aus der Küche ins Esszimmer gefolgt war.

„Mache ich etwas falsch?“, flüsterte er ihr unsicher zu.

„Ganz sicher nicht“, antwortete Sabrinas Mutter, die belustigt den Kopf schüttelte. „Ich glaube, du machst gerade mehr richtig als alle anderen Eissorten der Welt.“

Wieder kam ein „Ah“ aus Lilos Mund. Erleichtert nahm sie Friedrich von der Wange, die schon deutlich weniger geschwollen war, musterte ihn und sagte mit klaren Worten jetzt: „Ich liebe saures Zitroneneis mit süßen Klecksen, angeklebten Minzeblättern und Heidelbeeren.“

Dann gab sie ihm einen Kuss.

Friedrich wurde ganz rot im Gesicht. Dass so etwas passieren konnte, hatte Sabrinas Mutter nicht erwähnt. Und auf die Erfahrungen anderer konnte er sich nicht stützen. Schließlich war nie jemand zurückgekommen, der das Eisfach verlassen hatte.

Lilo fing an, die ganzen Kleckse mitsamt den Minzeblättern und den Heidelbeeren von Friedrichs Mund zu schlecken. Dem war es ein bisschen peinlich. Weil er sich aber keinen Schnitzer erlauben wollte und Sabrinas Mutter aufmunternd zusah, erwiderte er den Kuss.

Lilo sagte jetzt immer öfter „Ah“ und „Hm“ und hatte sich von Friedrichs Mund zu seinen Händen geschleckt. Die waren von der Rauferei mit den anderen Eissorten komplett mit Vanille- und Schokoladenspritzern bedeckt. Mit ihrer Zunge holte sie den letzten Rest Süßes zwischen den Fingern hervor, dann betrachtete sie zufrieden seine Hände und sagte: „Sauber!“

Friedrich hatte erwartet, dass er einfach abgebissen und hinuntergeschluckt werden würde, aber das hier war viel schöner. Lilo nahm sich alle Zeit der Welt und säuberte ihn mit Hingabe von den Klecksen, die ihr offensichtlich schmeckten. Die Angst, durch die Rauferei mit den anderen Sorten ungenießbar geworden zu sein, war jedenfalls völlig unnötig gewesen.

Lilo hatte riesigen Spaß daran, eine leckere Schicht nach der anderen abzulösen, und immer wenn sich eine Heidelbeere oder ein Minzeblatt löste, jauchzte sie.

Die anderen Kinder am Tisch schauten den beiden neugierig zu und hatten vor lauter Erstaunen ihr Vanille- und Schokoladeneis liegen lassen, das ungeschleckt vor sich hin schmolz.

„So ein Mist!“, rief da das Vanilleeis dem Schokoladeneis zu. „Das haben wir jetzt davon, dass wir uns mit dem sauren Kerl gestritten haben. Jetzt macht er mit unseren süßen Klecksen auch noch die Kindermäuler verrückt.“

„Es ist zum Davonlaufen“, erwiderte das Schokoladeneis fast schon wieder flüssig.

Währenddessen hatte sich Lilo schon an Friedrichs Ohr zu schaffen gemacht.

„Das kitzelt!“, rief der und bekam eine Gänsehaut, doch Lilo hielt ihn fest und ließ ihn nicht mehr los.

Gespannt sahen die anderen Kinder zu, wie Lilo sich gerade über Friedrichs zweites Ohr hermachen wollte, als Sabrina sagte: “Kann ich das bitte haben?“

Lilo leckte sich die Lippen. „Na klar! Ich kann gern mal aussetzen und später an ihm weiterknabbern. Außerdem hast du ja heute Geburtstag.“

Jetzt nahm Sabrina das Zitroneneis am Holzstiel und schleckte vorsichtig an Friedrichs anderem Ohr.

„Ah …“, entfuhr es ihr, als sie die ersten süßen Kleckse auf ihren Lippen spürte und „Hm …“, kam es hinterher, als die saure Zitronenschicht endlich durchkam.

„Ah …“, machte jetzt auch Friedrich, der das Kitzeln nicht mehr aushielt, und schon wieder eine Gänsehaut bekam.

Zum Abschluss biss sie ein Stück von seinem Ohr ab und schob es mit der Zunge in ihrem Mund hin und her, bis es weggeschmolzen war. Schlecken reichte nicht. Sabrina hatte ihn zum Fressen gern.

So etwas hatte es noch nie gegeben. Dass die Kinder „Ah …“ und „Hm …“ machten, das kannte Sabrinas Mutter schon, aber jetzt jauchzte sogar das Eis. Sie war entzückt. Ab jetzt würde sie bei jedem Geburtstag immer alle drei Eissorten machen und dafür sorgen, dass sie zusammen im Kühlschrank lagerten, wo sie miteinander raufen und sich gegenseitig bekleckern konnten. Außerdem nahm sie sich vor, immer ein paar Heidelbeeren und Minzeblätter im Eisfach liegen zu lassen.

Doch kaum, dass Sabrinas Mutter sich in Gedanken mit dem nächsten Geburtstag beschäftigt hatte, wurde sie wieder in die Realität zurückgeholt: Jetzt waren nämlich die anderen Kinder sauer. Warum eigentlich hatten sie nichts von dem tollen Zitroneneis abbekommen und nur Sabrina und Lilo, die auch noch zu spät gekommen war? So was Gemeines! Deshalb stellten sie sich jetzt in einer Reihe hinter Lilo auf und wollten auch mal an Friedrich schlecken. Zuerst war Claudia dran, die seinen Kopf glatt lutschte, der bei der Rauferei mit dem Vanilleeis und dem Schokoladeneis eingedellt worden war. Dann kam Frantschi, der es auf die Minzeblättchen am Hals abgesehen hatte. Istia saugte mit Hingabe die Heidelbeeren aus ihm hervor, und Angelika, Felicia und Jan fingen mit ihren Zungen die nassen Tropfen auf, die Friedrich von seiner tauenden Stirn hinab kullerten.

Alle waren angetan von den unterschiedlichen Aromen, die Friedrich enthielt. Die „Ahs…“ vermischten sich mit „Hms…“ und bald war nicht mehr zu unterscheiden, was von wem kam und wer wen abschleckte. Ohne sich weiter zu schämen, hatte auch Friedrich jetzt alle anderen Kinder geküsst und dabei so viele saure Kleckse wie möglich verteilt.

Am Ende waren die Kinder über beide Ohren glücklich und vom Eis verklebt, dafür war Friedrich nun komplett sauber. Ganz weiß war er in der Hand von Lilo geworden, die ihn allen anderen zum Schlecken hingehalten hatte. Unter den vielen Klecksen war ein helles Gesicht aus Sauermilch hervorgekommen. Nur hier und da schaute noch ein Stückchen gelbe Zitronenschale heraus.

Niemals hätte Friedrich sich seinen schönsten und einzigen Tag im Leben so vorgestellt. Alles, was Sabrinas Mutter am Abend zuvor vorausgesagt hatte, war eingetreten. Und noch viel mehr. Nicht nur, dass er es geschafft hatte, seinen Platz neben den süßen Eissorten zu behaupten. Er hatte auch alle davon überzeugt, dass eine Mischung aus allen drei Rezepten das Beste überhaupt war.

Inzwischen kam Lilo schon nicht mehr mit dem Schlecken hinterher, so dass er immer wärmer und weicher wurde und über den Holzstiel und ihre ganze Hand hinweg bis zu ihrem Ellenbogen hinab lief. Die Kinder hatten beschlossen, dass sie Friedrich alleine wegschlecken durfte. Ohne sie und ihr Zuspätkommen hätten sie niemals entdeckt, wie wundervoll solch eine Zitroneneismischung mit süßen Klecksen, Minzeblättern und Heidelbeeren schmeckte.

Und Lilo mochte Friedrich wirklich sehr. So sehr, dass sie ihn gleichmäßig an allen Stellen immer wieder von unten nach oben lutschte, damit er nicht vollends zwischen ihren Fingern davonlief. Doch alles Schlecken half nichts. Erst floss Friedrichs linkes Ohr an seiner Backe hinab, dann schmolzen seine Lippen ineinander und fanden keine Worte mehr. Die Nase lief und lief, aber kein Taschentuch der Welt hätte das Schlimmste verhindern können. Immer stärker kullerten saure Tränen aus seinen glücklichen Augen.

„Tu was, Lilo“, drängelten die anderen Kinder, als sie mitansehen mussten, wie Friedrich immer schneller dahinschmolz.

Bis zu diesem Moment hatte Lilo ihn fürsorglich abgeschleckt und darauf geachtet, dass er nicht die Form verlor. Jetzt aber waren die letzten Sekunden seines kurzen Daseins gekommen, und Friedrich hätte nie gedacht, dass dieser einzige Tag im Leben auch sein schönster werden würde. Sabrinas Mutter hatte Recht. Es gab keinen Grund, Angst vor dem Moment zu haben, von dem niemand wiederkehrte. Deshalb freute er sich auf diesen letzten Augenblick.

Lilo steckte Friedrich tief in den Mund, zog ihn mit den Lippen vom Holzstiel und schob ihn genüsslich mit der Zunge hin und her, bis er vollends für sie dahingeschmolzen war. Dann folgte ein langes „Ah…!“

2.

Familie Kugelig

Roswita glaubte nicht mehr daran, dass sie jemals den Mann fürs Leben finden würde. Kugelrund wie sie war, fand sie sich nicht besonders attraktiv. Ihre Freundinnen versuchten seit geraumer Zeit, sie unter die Haube zu bringen, doch den Richtigen auf Kommando zu bestellen funktionierte einfach nicht. Dann lernte Roswita Manfred kennen. Auf einem Ball.

Manfred Kugelig war genauso korpulent wie sie und auf der Suche nach der Frau fürs Leben. Er hatte sich eine Menge von dem Ball versprochen. Mit seinen Proportionen schien ihm eine runde Veranstaltung genau der richtige Ort zu sein, um eine entsprechende Person zu finden. Doch als er auf dem Parkett nur schlanke Paare sah, die Seite an Seite über die Tanzfläche wirbelten, zog er sich sofort zurück in die nächste Ecke und beobachtete verstohlen die vergnügte Menge.

Roswita verknallte sich in ihn, da hatte er sie noch gar nicht entdeckt. Der sollte es sein und kein anderer. Wenn der kugelrunde Herr mit dem prächtigen Körper heute Abend ohne sie nach Hause ging, war sie selbst schuld.

Also machte sie einen mutigen Schritt auf ihn zu. „Möchten Sie tanzen?“, fragte sie den Mann mit dem gesenkten Kopf.

Der hatte überhaupt nicht damit gerechnet, dass ihn jemand ansprechen, geschweige denn zum Tanz auffordern würde, und erschrak gewaltig. Er bejahte die Frage, obwohl er eigentlich nein sagen wollte, und hob den Kopf.

Vor ihm stand eine junge Frau mit einem wundervoll runden Gesicht.

„Schön!“, sagte Roswita, nahm ihn bei der Hand und zog ihn auf die Tanzfläche. Manfred war ein schlechter Tänzer, doch bevor er einen Rückzieher machen konnte, hatte Roswita ihre Hände bereits auf seinem Körper platziert und zählte den Takt bis zum Einsatz. Dann drückte sie ihren Bauch an seinen und schob ihn rhythmisch vor sich her.

Manfred war überfordert und hingerissen zugleich. Noch nie hatte eine Frau sich so offen für ihn interessiert. Schüchtern wie er war, versuchte er seinen mächtigen Bauch einzuziehen, um der Berührung mit ihr auszuweichen. Doch Roswita holte ihn bei jeder Drehung zu sich zurück. Er konnte ihr gar nicht nahe genug sein und war doch viel zu weit von ihr entfernt. Außer an Händen und Armen gab es nur diesen einen Berührungspunkt. Und um diesen Punkt am Bauchnabel drehte sich alles.

Wie zwei Kreisel drehten die beiden über die Tanzfläche. Mal ließ Manfred Roswita unter seinem Arm durchgleiten, mal wirbelte sie um seinen stattlichen Körper herum. Nie aber verloren sie den Kontakt zueinander. Obwohl sie weiter auseinander standen als all die anderen Paare, fühlten sie sich wie eng umschlungen. Ihre Rundungen arbeiteten sich kontinuierlich aneinander ab, und wenn sich ihre Bauchnabel zufällig trafen, war es wie ein elektrischer Funke, der von einem zum anderen übersprang.

Nach dem dritten Lied setzten sie sich schwindlig von den vielen Drehungen an einen Tisch. Wenn Roswita gewusst hätte, dass man auf einem Ball Menschen wie ihn kennen lernen konnte, wäre sie schon viel früher hingegangen. Sie zog ihren Bauch ein, umarmte Manfred und gab ihm einen Kuss.

Keine Woche später bestellten sie das Aufgebot.

Die Hochzeitsnacht war stürmisch. Viel näher als beim Tanzen kamen die beiden sich dabei aber nicht. Wenn es am einen Ende Küsse hagelte, mussten sie an anderer Stelle voneinander lassen. Erst mit der Zeit entdeckten sie, dass der Funke, der sie schon bei der Berührung der beiden Bauchnabel auf der Tanzfläche durchzuckt hatte, auch an anderer Stelle möglich war. Deshalb war es kein Wunder, dass Roswita nach ein paar Wochen mit einer ganz bestimmten Vermutung zum Frauenarzt ging und mit der Gewissheit zurückkam, schwanger zu sein.

Die nächsten Monate waren voll mit Planungen und Einkäufen rund um das sehnlichst erwartete Kind. Dass es genauso rund wie seine Eltern sein würde, war für die zukünftigen Eltern selbstverständlich.

Von weitem sah man Roswita nichts an, obwohl sie das Baby täglich in sich wachsen spürte. Immer öfter und immer stärker kamen lebendige Signale aus ihrer Körpermitte. Am Anfang war es nur ein leichtes Ruckeln, das bald von richtigen Tritten abgelöst wurde. Ihr Bauch wurde noch größer und noch runder.

Manfred war überglücklich. In seinen Gedanken war die ganze Welt so rund wie Roswitas Bauch. Menschen waren rund, Räder waren rund, selbst Straßen endeten nach einer langen Geraden immer in einer runden Kurve. Auch wenn es immer wieder gute Gründe für Ecken und Kanten gab, tendierte die Welt im Gesamten doch zu gewölbten Formen. Kein Wunder, sah doch selbst die Erde aus dem Weltraum aus wie ein großer, mächtiger Ball. Genau so stellte Manfred sich sein Kind vor.

Alles verlief nach Plan, bis Roswita eines Abends mit ihrem Mann auf dem Sofa vor dem Fernseher saß und plötzlich einen starken Stich in ihrem Bauch spürte. Sie sah an ihrem Körper hinab, wo ihr Blick an einer Beule hängen blieb, die sich deutlich unter ihrem Hemd abzeichnete. Sie zog es hoch, um die Ausbuchtung besser sehen zu können und schaute verdutzt auf etwas Kantiges, das sich unter ihrer Haut hervorwölbte. Manfred versuchte es mit der Hand wieder in den Bauch zu drücken – vergeblich. Fassungslos sah er seine Frau an und stammelte: „Es, äh, ist eine Ecke.“

„Was meinst du damit: Es ist eine Ecke?“

Manfred schüttelte verlegen den Kopf und wiederholte: „Ich meine, es fühlt sich wie eine Ecke an, die aus deinem Bauch steht.“

„Und was bitte macht diese Ecke an einer Stelle, wo sie nicht hingehört?“

„Ich weiß es nicht, Schatz. Keine Ahnung, was in deinem Bauch vor sich geht. Vielleicht gehört die Ecke zu unserem Kind?“

Verängstigt zog Roswita ihr Hemd wieder über den Bauch. Dann stand sie auf und ging mit starrem Blick im Zimmer auf und ab. „Ich muss sofort zum Arzt. Irgendetwas stimmt da nicht“, sagte sie.

Also holte Manfred den Wagen aus der Garage und half seiner schwangeren Frau beim Einsteigen. Auf dem Weg ins Krankenhaus sagte keiner ein Wort. Manfred saß stumm hinter dem Lenkrad des Wagens, Roswita mit zusammengepressten Lippen und Tränen in den Augen daneben.

Als seine Frau in der Notaufnahme verschwand, wartete Manfred vor der Tür. Der diensthabende Arzt erkundigte sich bei Roswita, seit wann die Ecke hervorstand. Er schmierte die Stelle mit Gel ein, verschwand mit dem Kopf hinter einem Monitor und fuhr mit dem Ultraschallgerät hin und her.

„Ist es schlimm?“, fragte Roswita ungeduldig, die das Bild auf dem Monitor nicht sehen konnte und das Schweigen des Arztes irgendwann nicht mehr aushielt.

„Wie soll ich es sagen …“ Er kam mit dem Gesicht wieder hinter dem Bildschirm hervor. „Ich habe so etwas noch nie gesehen.“

„Was haben Sie noch nie gesehen? Reden Sie doch!“

„Sie, äh …, bekommen ein Quadrat.“

„Ich bekomme was?“

„Ein Quadrat“, wiederholte der Arzt. „Oder um es genauer zu sagen: einen Würfel.“

„Aber …“, stammelte Roswita mit zitternden Lippen, „wie kann so etwas passieren? Ich bin doch kugelrund. Und mein Mann auch.“

Der Arzt nahm seine Brille ab und drehte den Monitor zu ihr. „Ich weiß es beim besten Willen nicht.“

Sprachlos starrte Roswita auf das seltsame Gebilde, das auf dem Bildschirm zu sehen war. Schemenhafte Darstellungen von halbfertigen Organen und Knochen geisterten umher und ließen nur wenige Rückschlüsse auf das zu, was sich in ihrem Bauch zusammenbraute. Immer wieder aber blitzten klar definierte Linien auf, die an einem bestimmten Punkt im rechten Winkel abknickten. Es bestand kein Zweifel: Was da in ihr heranwuchs, war ein Kubus.

Mit Tränen in den Augen fragte sie den Arzt. „Ist es gesund?“

„Ich denke schon“, antwortete er zögerlich. „Alle wichtigen Organe sind entwickelt, der Herzschlag ist normal. Ich kann nichts Ungewöhnliches entdecken außer der anomalen Form. Freuen Sie sich, dass es keine weiteren Komplikationen gibt.“

Der Arzt nahm die Ultraschallsonde von ihrem Bauch und Roswita wischte sich das klebrige Gel mit einem Papiertuch von der Haut. Während sie sich wieder anzog, blitzte für einen Moment die bohrende Frage in ihr auf, was sie antworten sollte, wenn Manfred fragte, wie es sein könne, dass sie mit einem Quadrat schwanger war, wo sie doch beide kugelrund waren. Schnell schob sie den bösen Gedanken wieder beiseite.

Bevor sie das Behandlungszimmer verließ, gab ihr der Arzt noch das Ultraschallbild mit einem kurzen Bericht für Roswitas Gynäkologen mit und bat sie um Kontakt zu dem Kollegen für eine fachliche Unterredung. Dann begleitete er sie zum Ausgang, nahm ihre Hand in seine Hände und wünschte alles Gute.

Manfred, der voll Sorge gewartet hatte, nahm seine Frau in die Arme und fragte: „Was ist?“

„Es ist … alles in Ordnung.“

„Aber?“, warf er ein.

„Manfred, wir bekommen ein Quadrat.“

„Was bekommen wir?“

„Einen Würfel. Unser Kind ist nicht rund. Es wird Ecken und Kanten haben.“

„Ecken und Kanten?“, wiederholte Manfred ungläubig.

„Ja! Bitte lass uns jetzt gehen.“

Die nächsten Tage waren schwer. Immer wieder saß Roswita verzweifelt auf dem großen Sofa. Wie schön hatte sie sich die Zeit nach der Entbindung vorgestellt. Den Großteil der Anschaffungen, die sie im Hinblick auf das freudige Ereignis getätigt hatte, musste sie jedenfalls wieder zurückbringen. Was sollte sie mit runden Strampelhosen? Wozu ein rundes Mützchen, wenn es sich nicht über den Kopf ziehen ließ? Und was würden die Leute sagen, wenn sie mit einem elegant geschwungenen Kinderwagen unterwegs war und das Kind an allen Ecken und Enden überstand? Ein fahrbarer Karton schien ihr jetzt angebrachter.

Auch Manfred grübelte. Er wusste sehr gut, dass eckige Dinge ihre Berechtigung in dieser Welt hatten. Aber musste der Beweis ausgerechnet am eigenen Nachwuchs erbracht werden? Keiner der beiden wollte es aussprechen, aber es war klar: Ihr Kind würde behindert sein.

Nach ein paar Tagen hatte Roswita sich halbwegs gefangen von dem Schock. Schließlich, so die Worte des Arztes, war ja abgesehen von der Form alles in Ordnung. Schnell ertappte sie sich dabei, wie sie schon viel neugieriger mit der Hand über die hervorstehende Ecke strich.

„Mir doch egal, wenn ich einen Würfel zur Welt bringe“, sagte sie trotzig vor sich hin. Und wenn sie sich nicht täuschte, war da am unteren Rand des Ultraschallbildes sogar ein kleiner Zipfel zu sehen gewesen. Es würde also ein Junge werden.

Die Auswahl der Namen, die sie sich mit Manfred bereits ausgedacht hatte, mussten sie allerdings noch einmal überdenken. Sie passten einfach nicht zu dem kleinen Quader, der in Kürze das Licht der Welt erblicken würde. Da musste etwas Einprägsameres her. Wie wäre es mit Wilfried? Wilfried, der Würfel? Ob Manfred damit einverstanden war? Sicher würden alle Wilfi zu ihm sagen.

Sie lachte in sich hinein. Dann atmete sie tief durch, warf all ihre Bedenken über Bord und fing an, die letzten Wochen ihres außergewöhnlichen Zustandes zu genießen.

Roswitas Bauch wuchs noch einmal beträchtlich bis zur Entbindung. Die hervorstehende Spitze vergrößerte sich zusehends. Ihr Gynäkologe fuhr bei jeder Untersuchung immer wieder verblüfft mit der Sonde des Ultraschalls über die Beule hinweg und war fasziniert davon, wie dieses Kind seine eckigen Gliedmaßen im Bauch seiner runden Mutter entwickelte. Noch nie in seiner Laufbahn hatte er so einen Fall gehabt.

Er war sich im Klaren darüber, dass er hier mit der üblichen Schwangerschaftsvorsorge nicht weit kam. Die Vorgehensweise musste völlig neu definiert werden. Vor allem, was das Wachstum der noch fehlenden Ecken anging, denn diese waren im Ansatz schon zu sehen.

Roswita stand nun immer öfter vor dem Spiegel. Mit den Wochen passte sich die Rundung ihres Körpers mehr und mehr der künftigen Form ihres Kindes an. In den Flächen platter, in den Umrissen kantig. Sie sah jetzt aus wie der Postbote bei der Paketzustellung. Und die zunehmende Unruhe in ihrem Bauch ließ darauf schließen, dass der Sohnemann bereits das Würfeln für sich entdeckt hatte.

Eines Abends machte sie sich den Spaß und empfing Manfred an der Haustür mit einem weiten Sommerkleid, unter dem sich ihr eckiger Körper in seiner ganzen Form abzeichnete.

„Pack es aus!“, forderte sie ihn sehnsüchtig heraus.

„Was soll ich auspacken?“, fragte Manfred überrascht.

„Dein Paket!“, flüsterte Roswita und knabberte ungeduldig an seinem Ohr. Dann schob sie ihren Mann mit sanftem Druck aufs Sofa und blinkerte ihn mit großen Augen an.

Manfred wusste nicht recht, was tun, als seine Frau ihr Sommerkleid über die Schultern zog. Doch beim Blick auf ihren eckigen Bauch, der in buntes Geschenkpapier verpackt und mit roter Schlaufe umwickelt war, musste er augenblicklich lachen. „Du siehst aus wie der Weihnachtsmann, der die Bescherung nicht erwarten kann.“

„Bist du denn gar nicht neugierig?“, forderte Roswita ihn noch einmal heraus.

Das ließ Manfred sich nicht noch einmal sagen. Wie ein ungeduldiges Kind riss er an der Schlaufe, mit der das Geschenkpapier am Körper seiner Frau befestigt war, und zog es in einem Ruck ab. Auf der Vorderseite ihres quadratischen Körpers stand mit rotem Lippenstift in Großbuchstaben geschrieben: „ICH FREUE MICH AUF EURE RUNDE WELT. WILFRIED DER WÜRFEL.“ Auf allen anderen Seiten waren Zahlen aufgemalt.

Manfred war hin und weg. Das war das schönste Paket, das er jemals in seinem Leben bekommen hatte, und Roswita die bezauberndste Postbotin der Welt.

„Möchtest du nicht ein bisschen mit uns spielen?“, flüsterte sie ihrem Mann ins Ohr und nahm ihn in die Arme. „Jetzt, wo es sicher ist, dass wir einen Würfel bekommen werden, kann ich es gar nicht mehr erwarten.“

Manfred küsste seine Frau lustvoll auf die Wange, zog sie ins Schlafzimmer und würfelte so viele Gerade und Ungerade mit ihr, wie es in ihrem Zustand möglich war. Keine Sekunde zweifelte er daran, dass der Name auf ihrem Bauch der einzig richtige für seinen Sohn war. Fast adelig hörte es sich an. Wenn eines Tages jemand auf den Gedanken käme, den Familienstammbaum zu studieren, würde hinter Roswita und Manfred „Wilfried, der Würfel, geboren Kugelig“ stehen.

Mitten im Supermarkt setzten ein paar Wochen später bei Roswita die Wehen ein. Manfred hatte seine Frau gebeten, die letzten Tage bis zur Geburt zuhause zu bleiben. Aber die kümmerte sich nicht darum, setzte sich wie gewohnt ins Auto, schob den Fahrersitz ein Stück zurück, damit der Würfel genug Platz hatte, und fuhr los. In der Stadt wackelte sie beschwingt von Geschäft zu Geschäft und trug stolz ihren unförmigen Körper zur Schau, während sie sich Kleider anschaute, die ihr seit Monaten schon nicht mehr gepasst hätten. Zwischen den Regalen mit den Tomatendosen war es dann soweit. Die Angestellten des Supermarktes holten sofort einen Krankenwagen. Fünf Minuten später war sie auf dem Weg zur Entbindung.

Im Kreissaal tastete der Arzt vorsichtig alle Ecken ab. Dann sagte er kopfschüttelnd: „Ich glaube nicht, dass das Eckige durchs Runde geht.“

„Was meinen sie damit?“, stöhnte Roswita.

„Dass wir einen Kaiserschnitt machen müssen“, antwortete der Arzt mit sicherem Blick.

Bis Manfred benachrichtigt war und es in die Klinik schaffte, war alles schon vorbei. Er kam geradewegs durch die Tür gestürzt, für Blumen hatte es nicht mehr gereicht. Roswita lag erschöpft und glücklich im Bett. Ihre Augen strahlten, als ihr Blick unter das Tuch ging, in das ein kleiner, aber properer Quader eingewickelt war, den sie fest im Arm hielt. Vorsichtig zog Manfred den Stoff zurück und schaute prüfend, ob alle Ecken am rechten Platz waren.

„Es ist alles in Ordnung“, beantwortete sie seinen fragenden Blick, noch bevor er etwas sagen konnte. „Du wirst nichts Rundes an ihm finden.“

„Wilfried, der Würfel“, erwiderte Manfred glücklich. „Da gibt es keinen Zweifel.“

„Geboren Kugelig“, fügte Roswita hinzu und lachte.

„Was haben der Arzt und die Schwestern dazu gesagt?“

„Sie haben noch nie so ein schönes kantiges Baby gesehen. Leider passte es nicht auf die runde Waage!“

Manfred musste auch lachen. „Sie hätten ja darum würfeln können, wer eine eckige besorgen muss.“

Die nächsten Tage waren aufregend für Roswita. Im Schnellgang musste sie lernen, mit den körperlichen Eigenheiten ihres Sohnes umzugehen. Wilfried war ihr erstes Kind, aber sie fühlte sofort, dass es andere Aufmerksamkeit brauchte, als es bei einem normalen Säugling wohl der Fall gewesen wäre. Immerhin hatte sie es kurz vor der Niederkunft noch geschafft, ein paar eckige Strampelhosen zu stricken, doch schon bei den Windeln wurde es schwierig. Es gab einfach nichts zu kaufen, was der Form des Jungen gerecht wurde, und genau wie bei der Geburt wollte auch beim Trockenlegen das Eckige nicht ins Runde. Immer wieder musste sie über den Spruch des Arztes bei der Geburt lachen und saß kopfschüttelnd mit Schere, Nadel und Faden da, um die konfektionierte Ware umzuschneidern.

Zusammen mit der Hebamme hatte Roswita einen Plan ausgearbeitet, wie Wilfried im Bett zu drehen war, damit er wie all die anderen Kinder abwechselnd auf jeder Seite schlief. Schließlich war der kleine Würfel noch nicht in der Lage, sich über die spitzen Kanten hinweg selbst zu drehen. Weil alle Seiten gleich aussahen, schlug die Hebamme vor, jede mit einer anderen Nummer wie bei einem richtigen Würfel zu versehen und diese beim Drehen zu notieren. So hatte man sofort einen Überblick darüber, welche Seite als nächste an der Reihe war.

Im Gegensatz zu den anderen Neugeborenen eckte Wilfried an, wo er nur konnte. Nur die Töne aus seinem eckigen Mund, die Roswita nachts nicht schlafen ließen, klangen genauso schrill wie die der Kinder in den anderen Zimmern. Ihr Sohn war normal und unnormal zugleich, aber die fragenden Blicke der Verwandtschaft, die in den darauffolgenden Tagen ihren Antrittsbesuch im Krankenhaus machten, waren ein Vorgeschmack darauf, was sich in ihrem Leben verändern würde.

Der Alltag mit Wilfried spielte sich aber schnell ein. Was rund war, wurde eckig gemacht, der Schnuller für den kantigen Mund zurechtgeschnitten, die Löffel gerade gefeilt und eckige Gläser besorgt, damit beim Trinken nicht immer alles daneben ging. Trotzdem wollten Manfred und Roswita ihrem Sohn den runden Teil des Lebens nicht vorenthalten und ließen ihn anecken, wo sie nur konnten. Schließlich musste er früher oder später damit zurechtkommen.

Wilfi wollte so sein wie all die anderen Kinder auch, aber schon im Kindergarten musste er feststellen, dass er ihnen nur schwer folgen konnte. Während seine Spielkameraden nach Lust und Laune Purzelbäume auf der Wiese schlugen, schaffte er in derselben Zeit gerade mal eine Drehung auf die nächste Seite – und war immer der letzte.

Nur mit Beharrlichkeit konnte Roswita ihn davon überzeugen, dass die Fortbewegung schneller ging, wenn sie ihn in einem Wagen mit runden Rädern umherfuhr, statt dass er sich von einer Seite auf die andere kippend neben ihr her bewegte. Auch beim Seifenkistenrennen war er letzter gewesen. Überzeugt von der quadratischen Form hatte er sich von seinem Vater ein Fahrzeug mit eckigen Rädern bauen lassen, ohne auf dessen Bedenken zu hören, und war nicht mal über die Startlinie hinausgekommen.

Nur beim Legospielen hatte Wilfi einen echten Vorteil. Als Kubus war er der ideale Baustein für die anderen Kinder. Dass er dann aber immer an entscheidender Stelle verbaut wurde und alles zusammenkrachte, wenn ihn seine Mutter mittags abholte, war ein arges Problem.

Als er eingeschult wurde und der Sportunterricht hinzukam, war Wilfi vollends abgehängt. „Nicht mal als Ball kann man dich gebrauchen!“, riefen seine Mitschüler hinter ihm her und ließen ihn beim Spielen einfach in der Ecke sitzen, die er so exakt und unauffällig ausfüllte, dass er gar nicht mehr wahrgenommen wurde. Dort zerbrach er sich den Kopf darüber, wie er es anstellen konnte, mit den anderen mitzuhalten. Es musste doch auch für einen eckigen Würfel wie ihn die Möglichkeit geben, zu rollen wie ein Ball – trotz der vielen Kanten.

Zuhause wurde ihm das Leben so angenehm wie möglich gemacht. Aber er merkte nur zu gut, dass er mit seinem Körper schlecht in diese Welt passte. Immer wieder fragte er seinen Vater, warum er nicht so werden durfte wie die anderen Kinder. Manfred erklärte ihm dann, dass es im Leben genug Gelegenheiten geben würde, in denen er mit seinen Ecken und Kanten im Vorteil sei. Wann so eine Gelegenheit käme, konnte er ihm aber nicht sagen.

Dann, an einem Donnerstagvormittag, fielen beide Sportstunden aus, weil der Lehrer unerwartet krank geworden war. Die Schüler saßen gelangweilt herum und wussten nichts mit der plötzlichen Freizeit anzufangen.

„Wir könnten um die Wette würfeln“, schlug einer von ihnen vor.

„Gute Idee!“, kam von den anderen zurück.

„Fehlt bloß noch ein Würfel.“

Sofort fielen die Augen der Jungs auf die Ecke, in der sich ihr quadratischer Mitschüler verkrochen hatte.