Der Begriff des tâtonnement expérimental im Werk Célestin Freinets - Renate Kock - E-Book

Der Begriff des tâtonnement expérimental im Werk Célestin Freinets E-Book

Renate Kock

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Beschreibung

Der vorliegende Band rekonstruiert Célestin Freinets (1896-1966) Theorie des tâtonnement expérimental in seinen Früh- und Spätschriften.

Das E-Book Der Begriff des tâtonnement expérimental im Werk Célestin Freinets wird angeboten von BoD - Books on Demand und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
tâtonnement expérimental, Célestin Freinet, Reformpädagogik, Frankreich, Unterricht und Schule

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INHALT

1. Einleitung

2. T

âtonnement expérimental

als Grundbegriff der Theorie Freinets

2.1 Der Begriff t

âtonnement expérimental

2.1.1 Tâtonnement expérimental - expérience tâtonnée

2.1.2 Tâtonnement expérimental - expérimentation scientifique

2.2

Tâtonnement expérimental

und Pawlows Theorie der Reflexe

2.2.1 Pawlows Theorie der bedingten Reflexe

2.2.1.1 Die unbedingten und die bedingten Reflexe

2.2.1.2 Die höhere Nerventätigkeit

2.2.1.3 Lernen und Denken

2.2.1.4 Das zweite Signalsystem des Menschen

2.2.2 Die Reflexologie Freinets

2.2.2.1 Das mechanische Tasten

2.2.2.2 Mechanisierte Reflexe und mechanisiertes Verhalten

2.2.2.3 Durchlässigkeit für Erfahrung und intelligentes Tasten

2.2.2.4 Lernen als Konstruktion durch Tasten und Imitation

2.2.2.5 Bewußtsein, Sprache und Wissenschaft

2.3

Tâtonnement expérimental

und die genetische Psychologie Piagets

2.3.1 Kontinuität oder Diskontinuität in der Entwicklung?

2.3.2 Zielgerichtetheit der Entwicklung?

2.3.3 Didaktische Anwendung der Psychologie?

2.4 Grundannahmen der Theorie Freinets

3. Die experimentelle Pädagogik Freinets

3.1 Die Lebenspsychologie: Der dynamische Charakter des Lebens als Bezugspunkt

3.1.1

Leben

in der Theorie Freinets

3.1.2 Die Bedeutung des

Instinkts

3.1.3 Die Stellung des Menschen

3.1.4

Freiheit

in der Theorie Freinets

3.1.5 Potentiel de vie

3.1.6 Elan vital

3.1.7 Lernen, Lehren, Erziehung

3.1.8 Der Bezug zur Kybernetik

3.2 Die Überprüfung der Theorie: Das Projekt

Pour la connaissance de l´ enfant

3.2.1 Grundannahmen des Projekts

3.2.2 Systematisierung der Forschungen

3.2.3 Auswertung der Forschungen

3.2.4 Spracherwerb und Begriffsbildung

3.2.4.1 Spracherwerb

3.2.4.2 Begriffsbildung

3.2.5 Das

Profil Vital

3.3 Die natürliche Methode des Erstschreibens und Erstlesens

3.3.1 Zum historischen Kontext

3.3.2 Erstschreiben und Erstlesen in der Theorie Freinets

3.3.2.1 Erste Stufe des Schriftspracherwerbs nach Freinet

3.3.2.2 Zweite Stufe des Schriftspracherwerbs nach Freinet

3.3.2.3 Dritte Stufe des Schriftspracherwerbs nach Freinet

3.3.2.4 Bedeutung der Grammatik

3.4 Die Psychopädagogik Freinets

3.4.1 Methode und Technik

3.4.2 Freinet und Wallon

4. Das didaktische Konzept Freinets

4.1 Die Erfahrungsebene: Kinder lehren Kinder

oder

Der freie schriftliche Ausdruck

4.1.1 Expressive Funktion des freien schriftlichen Ausdrucks

4.1.2 Kommunikative Funktion des freien schriftlichen Ausdrucks

4.1.3 Regulative Funktion des freien schriftlichen Ausdrucks

4.1.4 Unterrichtliche Funktion des freien schriftlichen Ausdrucks

4.2 Die Strukturebene: Die Kooperation der LehrerInnen

und

Die Konstruktion der

Allgemeinen Arbeitspläne

4.2.1 Die Kooperation der LehrerInnen

4.2.2 Die Konstruktion der

Allgemeinen Arbeitspläne

4.2.1.1 Zielsetzung des

Allgemeinen Arbeitsplans

4.2.1.2 Struktur des

Allgemeinen Arbeitsplans

4.2.1.3 Bedeutung des

Allgemeinen Arbeitsplans

4.3 Die Lehr - Lern - Ebene: Unterricht als Konstruktion der Lehr - Lern - Situation

oder

Der Unterrichtsaufbau im Konzept Freinets

4.3.1 Der Unterrichtsaufbau im didaktischen Konzept Freinets

4.3.1.1 Die Erfahrungsebene

4.3.1.2 Die Strukturebene

4.3.1.3 Die Lehr - Lern - Ebene

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung

Wenn Lernen ein Geheimnis bleibt, ist es unmöglich, daß Lehren etwas anderes ist als eine Kunst. (Montmollin zit. n. Freinet. In: LTE, 41. Übers. R. K.)

Im Zentrum der Pädagogik Freinets steht das Lehren des Lernens. Alles Lehren und Lernen ist tâtonnement expérimental: experimentelles Tasten, das zugleich das Werden und Verhalten jedes Einzelnen, jeden wissenschaftlichen Fortschritt und die ganze menschliche Geschichte begründet.

Tâtonnement expérimental wird auf verschiedene Weise übersetzt und interpretiert: als tastendes Versuchen (Baillet, Boehncke/Hennig, Hagstedt, Jörg; Minuth); als experimentelles Versuchen, Experimentieren oder freies Experimentieren (Teigeler); als experimentierendes Sich - Vorantasten in Abgrenzung zur reinen Nachahmung oder Wiederholung (Dietrich in Anlehnung an Bertrand), d. h., in Abgrenzung zum Behaviorismus; als tastendes Lernen oder tastendes Sich - heranarbeiten (Jörg); als entdeckendes Lernen (Laun) bzw. experimentierendes, entdeckendes, forschendes Lernen in Anlehnung an die Untersuchungen Piagets (Schlemminger/den Bezug zu Piaget sehen ebenfalls Jörg und Heitkämper) oder als forschendes Verhalten angesichts einer Fragestellung (Baillet), als Fragen, Forschen und Experimentieren (Grunder).1 Eine besondere Interpretation bringt Hannoun mit der Wendung tâtonnement pédagogique/ pädagogisches Tasten: eine forschende Haltung, permanentes Fragen des Kindes mit einer ihm eigenen Sprache.2

Hier wird tâtonnement expérimental mit experimentellem Tasten übersetzt. Auch Heitkämper verwendet in seinem Aufsatz "Experimentelles Tasten. Zur Aktualität der Pädagogik Freinets" diesen Begriff, der für Heitkämper die Dimensionen des Experiments und des Systematischen eher zum Ausdruck bringt als der nach Versuch und Irrtum klingende Begriff des tastenden Versuchens.3

Die mit der jeweiligen Übersetzung verbundene Interpretation der von Freinet verwendeten Begriffe ist für die Aufarbeitung seiner Theorie von Bedeutung. Dieses betrifft weiter die von Jörg eingeleitete Übersetzung von sensible mit sinnlich (vgl. z. B. EOZ, 124; MFS 21, 22, 29, 53).4 Auch in der neuesten deutschen Ausgabe des Essai de psychologie sensible übersetzt Jörg mit Sinnespsychologie bzw. Wahrnehmungspsychologie5im Sinne sinnlich wahrnehmbarer Entwicklungen oder Tatsachen.6

Heitkämpers Interpretation des experimentellen Tastens basiert auf genau dieser Grundlage (psychologie sensible/Sinnespsychologie). Im Zentrum der Pädagogik Freinets steht nach Heitkämper die Sinneserfahrung (etwas spüren, handeln, arbeiten),7 die Ausgangspunkt für alle weiteren Wahrnehmungen, Emotionen, Kognitionen, Bewußtheiten ist. Die Frage nach der Freinetpädagogik heute wird für Heitkämper zur Frage nach der Sinneserziehung heute.8

Hier wird sensible mit sensibel im Sinne von empfänglich für oder offen für übersetzt und entsprechend sensibilité mit Sensibilität im Sinne von Empfänglichkeit für oder Offenheit für. Für diese Übersetzung spricht, daß Freinet den Begriff perméabilité à l´ expérience/Durchlässigkeit für Erfahrung, der in Abgrenzung zu Pawlow und den Behavioristen entsteht und wie gezeigt werden kann eine reflexive (vgl. 2.2.2.3) sowie konstruktiv - sprachliche (vgl. 2.2.2.5) Dimension einschließt und der heute vor dem Hintergrund der These von der Geschlossenheit autopoietischer Systeme neue Aktualität erlangt, auch mit sensibilité à l´ expérience/Offenheit für Erfahrung umschreibt.

Obgleich Freinet den Begriff tâtonnement expérimental als Kern- und Grundbegriff seiner Pädagogik bezeichnet und dieser, wie die Vielfalt der Übersetzungen und Interpretationen zeigt, als solcher auch Beachtung findet, ist die mit ihm verbundene theoretische Konzeption bis heute nicht aufgearbeitet. Nur eine übergreifende, all ihre Dimensionen einbeziehende Debatte um das Für und Wider der Freinet - Pädagogik aber kann ihre Bedeutung für die aktuelle methodisch - didaktische Diskussion um die Reform von Unterricht und Schule herausstellen, ihrer verkürzten, punktuellen und oberflächlichen Rezeption entgegenwirken9 und verhindern, daß auf neue Weise10: kindorientiert - offenunterrichtlich - allsinnig - fächerübergreifend - kreativ - stationär wieder (alte) Lernzielinhalte untergebracht werden. Durch Aufarbeitung der ideengeschichtlichen Wurzeln Freinets als politisch linksstehender Pädagoge11 und eine Neuinterpretation des gesamten pädagogischen Werkes Freinets auf der Grundlage seiner Idee von der Laizität12 konnte die traditionelle Kontroverse um die politische Begründung der Pädagogik Freinets überwunden und gleichzeitig dargelegt werden, wie die Heranwachsenden in den Diskurs über die Modernisierung der Gesellschaft und die Kritik moderner Lebensformen eingeführt werden.13 Hier wird gezeigt, wie die laizistische Pädagogik Freinets näher zu bestimmen ist, wobei mit dem experimentellen Tasten der Aspekt der Sprache besonders herausgestellt wird.

Das pädagogische Konzept Freinets betont den dynamischen, konstruktiven, interaktiven und kommunikativen Aspekt allen Lehrens und Lernens. Durch die Produktion Freier Texte und die Produktion von Unterrichtsmaterialien werden die Erfahrungen und das Wissen der Kinder zum Ausgangs- und Mittelpunkt des gesamten Unterrichtsgeschehens gemacht (Erfahrungsebene). Die LehrerInnen sind nicht Ausführer einer Methode, sondern eingebunden in einen komplexen methodischen Lehr - Lern - Prozeß, der den schulischen Rahmen übersteigt, eine grundlegende Handlungslinie und eine Gesamtkonzeption vom Leben und menschlichen Werden umfaßt (vgl. L´ EP 10/Febr/1937, 207 - 213) und der als permanenter Forschungs- und Lernprozeß (vgl. L´ E 15/16/17/Mai 1949, 324) zugleich die Einheit von schulischem Unterricht, Fort- und Weiterbildung der LehrerInnen garantiert14 (Strukturebene). Die Transformation von Wissens- in Lernstrukturen erfolgt in Bezugssystemen, die in der Lehr - Lern - Situation unter Bezugnahme auf die eingebrachten Beiträge sowie die Lehr- bzw. Arbeitspläne von Lehrern/-innen und Schülern/-innen gemeinsam konstituiert werden (Lehr - Lern - Ebene).

Auf den Aspekt der Sprache im didaktischen Konzept der Freinetpädagogik haben neben Hannoun auch Hausmann und Dumas aufmerksam gemacht.15 Hausmann sieht in der Freinetpädagogik den Versuch, dem Handeln im Unterricht einen größeren Stellenwert einzuräumen und es mit der Sprache und den Lebenserfahrungen der Kinder zu verbinden. Den Zusammenhang von Handeln und Sprache reflektiert Hausmann desweiteren jedoch nicht durch Aufarbeitung der Theorie Freinets, sondern unter Rückgriff auf die Tätigkeits- theorie der sowjetischen Kulturhistorischen Schule, die er um die Beschreibung der Genese und Funktion und der Merkmale unbewußter Motive im Tätigkeitszusammenhang erweitert. Hier wird aufgezeigt, daß Freinets Begriff des tâtonnement expérimental mit dem Begriff des Handelns und mit einem Verständnis von Lernen als aktiver Aneignung bzw. Lehren als Vermittlung gattungsgeschichtlich angehäuften Wissens nicht erfaßt wird. Dumas thematisiert ausgehend von Freinet (Sprache als Werkzeug) und in Auseinandersetzung mit Piaget, Saussure, Derrida und Lacan den Zusammenhang Sprache - Subjekt. Dumas zeigt auf, daß die Sprache nicht lediglich dem Subjekt als Substanz zur Verfügung gestellt ist, sondern das Subjekt begründet und strukturiert. Auch Dumas unternimmt jedoch keine Aufarbeitung der Theorie Freinets und seiner Vorstellung von der Sprache als Werkzeug. Hier wird aufgezeigt, daß der Sprache in der Theorie Freinets subjekt- bzw. persönlichkeitskonstituierende Bedeutung zukommt.

Mit seiner Theorie des tâtonnement expérimental, der theoretischen Absicherung seiner langjährigen pädagogischen Praxis, begründet Freinet die Eigenständigkeit seiner Pädagogik (vgl. L´ E 15/16/Mai/1954, 609) und ihre Lehr- und Lernbarkeit.16 Das tâtonnement expérimental bestimmt die méthodes naturelles, die natürlichen Methoden, die für alle schulischen Disziplinen Gültigkeit haben (vgl. OPII, 231; vgl. z. B. auch Méthode naturelle de dessin. In: OPII, 416 - 488; Pour un méthode naturelle d´ enseignement scientifique. In: L´ E 8/Jan/1957, 3 - 5) und die Freinet besonders für den Lese-, Schreib- und Spracherwerb näher definiert (vgl. Méthode naturelle de lecture. In: OPII, 206 - 379).17

Das tâtonnement expérimental zur Grundlage des unterrichtlichen Lehr - Lern - Prozesses zu machen, bedeutet keine Rückbindung des Lehrens an vorgängig ermittelte (Lern-) Gesetzmäßigkeiten, bedeutet keine Entlassung der LehrerInnen aus ihrer spezifischen Aufgabe zu lehren. Dem tâtonnement expérimental liegt vielmehr eine neue Vorstellung vom Lehren zugrunde (vgl. Freinet. In: LTE, 50, 56), die Abschied nimmt vom traditionellen Bild der LehrerInnen als Vermittler des Wissens, der SchülerInnen als in vorbestimmten Sequenzen lernenden Adressaten des Wissens und der Schule als Institution für systematische Wissensvermittlung18.

Der folgende Text umfaßt vier Kapitel. Nach der hier in Kapitel eins einleitend aufgezeigten Aktualität der Pädagogik Freinets wird in Kapitel zwei zunächst der Begriff tâtonnement expérimental als Grundbegriff der Theorie Freinets in seiner konstruktiven Dimension herausgestellt (2.1) und danach, Freinet selbst folgend, in Auseinandersetzung mit der Theorie Pawlows (2.2) und der Theorie Piagets (2.3) näher untersucht. Von hierher werden dann Grundannahmen der Theorie Freinets formuliert (2.4). Indem die Auseinandersetzung Freinets mit Pawlow bzw. den Behavioristen und Piaget nachgezeichnet wird, eine Auseinandersetzung, die auch Konstruktivisten wie Glaserfeld führen, wird deutlich, daß die Theorie Freinets sich heute wie damals auf der Höhe der wissenschaftlichen und pädagogischen Diskussion der Zeit bewegt.19

Kapitel drei behandelt die experimentelle Pädagogik Freinets. Zunächst wird die Lebenspsychologie, in die Freinet seine Theorie des tâtonnement expérimental einbettet und die seinem Forschungsprojekt Pour la connaissance de l´ enfant zugrundeliegt, in ihren wesentlichen Punkten beschrieben (3.1). Anschließend wird das Forschungsprojekt, mit dem Freinet seine Theorie systematisch überprüft, vorgestellt (3.2). Besonders hervorge- hoben werden dabei Freinets Untersuchungen zum Spracherwerb und zur Begriffsbildung (3.2.4). Es folgt die Darlegung Freinets früher Forschungen zum Erstschreiben und Erstlesen (3.3). Die Teilkapitel 3.2.4 und 3.3 bringen zugleich eine Abgrenzung der Theorie Freinets zu zentralen Aspekten der Theorie Wygotskis. In Auseinandersetzung mit der Kritik Wallons wird dann der wissenschaftstheoretische Hintergrund der Pädagogik Freinets und seiner Theorie des tâtonnement expérimental herausgearbeitet (3.4).

Kapitel vier entfaltet das didaktische Konzept Freinets, das der Theorie des tâtonnement expérimental zugrundeliegt. Zunächst wird die Bedeutung dargelegt, die Freinet den Beiträgen und dem Wissen der Kinder für ganzheitliche, kommunikative und konstruktive Lehr - Lern - Prozesse zuschreibt (4.1). Anschließend wird das methodisch - didaktische Handeln der LehrerInnen auf seine konstruktive Dimension hin näher untersucht (4.2) und dann die Bedeutung des tâtonnement expérimental für die unterrichtliche Lehr - Lern - Situation aufgezeigt (4.3).

1 Vgl. Baillet, D.: Freinet praktisch. Beispiele und Berichte aus Grundschule und Sekundarstufe, Weinheim und Basel 1983, 20 f; Bertrand, M.: Dossier pédagogique de l´ Educateur 102/103/104/1975, 5 - 6 (Übers. I. D.). In: Dietrich, I. (Hrsg.): Handbuch Freinet - Pädagogik. Eine praxisbezogene Einführung, Weinheim und Basel 1995, hier: 221; Dietrich, I. : Freinet - Pädagogik heute. In: Dietrich, I. (Hrsg.): Handbuch Freinet - Pädagogik. Eine praxisbezogene Einführung, Weinheim und Basel 1995, 13 - 30, hier: 28; Grunder, H. - U.: Freinet - Pädagogik in der Schweiz. In: Hagstedt, H. (Hrsg.): Freinet - Pädagogik heute. Beiträge zum Internationalen Célestin - Freinet - Symposium in Kassel, Weinheim 1997, 117 - 133, hier: 129; Hagstedt, H.: Freinet - Pädagogik heute und morgen. In: Hagstedt, H. (Hrsg.): Freinet - Pädagogik heute. Beiträge zum Internationalen Célestin - Freinet - Symposium in Kassel, Weinheim 1997, 15 - 24, hier: 17; Heitkämper, P.: Experimentelles Tasten. Zur Aktualität der Pädagogik Freinets. In: Engagement. Zeitschrift für Erziehung und Schule 4/1995, 352 - 361, hier: 355; Jörg, H.: Célestin Freinet, die Bewegung Moderne Schule und das französische Schulwesen heute. In: Freinet, C.: Die moderne französische Schule, (MFS) Paderborn 21979, 143 - 257, hier: 163; Jörg, H.: Freinet - Pädagogik - ihre Ziele und ihre weltweite Verbreitung. In: Von Martial, I., Ludwig, H., Pühse, U. (Hrsg): Schulpädagogik heute. Probleme und Perspektive, Frankfurt 1994, 183 - 201, hier: 196; Laun, R.: Freinet 50 Jahre danach. Dokumente und Berichte aus drei französischen Grundschul- klassen. Beispiele einer produktiven Pädagogik, Heidelberg 1983; Minuth, C.: Freie Texte im Französischunterricht, Berlin 1996, 14; Schlemminger, G.: Freinet - Pädagogik - (auch) ein Ansatz für den Fremdsprachenunterricht? In: Fremdsprachen Lehren und Lernen, 25. Jahrgang/1996, 87 - 105, hier: 96; Teigeler, P.: Célestin Freinet. In: Hellmich, A., Teigeler, P. (Hrsg.): Montessori-, Freinet-, Waldorfpädagogik. Konzeption und aktuelle Praxis, Wein- heim und Basel 1992, 38 - 49, hier: 39

2 Vgl. Hannoun, H.: Célestin Freinet (1896 - 1966). In: Hannoun, H.: Anthologie des penseurs de l´ éducation, Paris: Presses Universitaires de France 1995, 344 - 349, hier: 345

3 Vgl. Heitkämper, P.: Experimentelles Tasten. Zur Aktualität der Pädagogik Freinets. In: Engagement. Zeitschrift für Erziehung und Schule 4/1995, 352 - 361, hier: 353

4Sinnlich im Sinne von die Sinnesorgane betreffend ist nach Pons in erster Linie sensoriel (z. B. Sinnes- organ/organe sensoriel; Sinneseindrücke/impressions sensorielles; Sinnesempfindung oder - wahrneh- mung/perception sensorielle; Sinnesstörung/trouble sensoriel; Sinnestäuschung/illusion sensorielle). Die Sinnespsychologie (i. S. v. die Sinnesorgane betreffend) wäre entsprechend die psychologie sensorielle. Vgl. die Stichworte sensible, sensibilité, sensoriel, le bzw. sensibel, Sinn-, sinnlich. In: Pons. Großwörterbuch Französisch - Deutsch/Deutsch - Französisch, Stuttgart 1984

5 Vgl. Jörg, H.: Erläuterungen zur Übersetzung und deutschen Ausgabe des zweiten Bandes der pädagogischen Werke des Célestin Freinet. In: Freinet, C.: Pädagogische Werke. Teil 2 (PWII), hrsg. v. Jörg, H., unter Mitw. v. Zillgen, H., Paderborn 2000, 9 - 10, hier: 9. Dieses Werk erschien nach Abfassung der vorliegenden Arbeit. Übersetzungen werden nur vergleichsweise herangezogen.

6 Vgl. Eine Psychologie der Wahrnehmung (Essai de psychologie sensible). Eine Abhandlung von Célestin Freinet. Übersetzung von Herwig Zillgen und Hans Jörg. In: Freinet, C.: Pädagogische Werke. Teil 2 (PWII), hrsg. v. Jörg, H., unter Mitw. v. Zillgen, H., Paderborn 2000, 11 - 317, hier z. B.: 15

7 Vgl. Heitkämper, P.: Experimentelles Tasten. Zur Aktualität der Pädagogik Freinets. In: Engagement. Zeitschrift für Erziehung und Schule 4/1995, 352 - 361, hier: 353

8 Vgl. Heitkämper, P.: Experimentelles Tasten. Zur Aktualität der Pädagogik Freinets. In: Engagement. Zeitschrift für Erziehung und Schule 4/1995, 352 - 361, hier: 357 ff

9 Vgl. Grunder, H. - U.: Freinet - Pädagogik in der Schweiz. In: Hagstedt, H. (Hrsg.): Freinet - Pädagogik heute. Beiträge zum Internationalen Célestin - Freinet - Symposium in Kassel, Weinheim 1997, 117 - 133; Grunder, H. - U.: Fakten und Rezeption. Über die Schwierigkeiten, reformpädagogische Schulreform zu diskutieren. In: Bildung und Erziehung 2/1995, 183 - 198; Schlemminger, G.: Forschungsdesiderata der Freinet - Pädagogik. In: Hagstedt, H. (Hrsg.): Freinet - Pädagogik heute. Beiträge zum Internationalen Célestin - Freinet - Symposium in Kassel, Weinheim 1997, 203 - 212

10 Vgl. Hövel, W., Resch, U.: Fragen zur Selbstbestimmung der eigenen LehrerInnenpersönlichkeit. In: Fragen und Versuche 92/2000 (Juni), 62 - 63, hier: 63

11 Vgl. in diesem Zusammenhang z. B. Dietrich, I. (Hrsg.): Politische Ziele der Freinetpädagogik, Weinheim und Basel 1982

12 Vgl. Kock, R.: Die Reform der laizistischen Schule bei Célestin Freinet. Eine Methode befreiender Volksbildung, Frankfurt a. M. 1995

13 Anders als in Deutschland ist in Frankreich der Aspekt des proletarischen Ursprungs der Pädagogik Freinets bleibender Gegenstand der Diskussion. Vgl. z. B. Legrand, L.: Célestin Freinet et l´ idéologie aujourd´ hui. In: Cahiers Binet - Simon 4/1996, 13 - 37; Corre, L.: La pédagogie Freinet, est - elle toujours une pédagogie populaire? In: Le Nouvel Educateur 89/Mai/1997, 24 - 25

14 Vgl. Schütz, P.: Alternativen zur gegenwärtigen Form der Lehrerweiterbildung. In: Bildung und Erziehung 3/1982, 273 - 286

15 Vgl. Hausmann, J.: Handlung und Sprache im Unterricht. Die Bedeutung der Tätigkeitstheorie für schulisches Lernen, Frankfurt 1989; Dumas, G.: Pour une pédagogie du sujet. Mérites et limites de Freinet. In: Clanché, P., Debarbieux, E., Testanière, J. (Hrsg.): La pédagogie Freinet. Mises à jour et perspectives, Bordeaux: Presses Universitaires de Bordeaux 1994, 97 - 105

16 Vgl. auch Lafitte, R. (BTR): Vorwort. Zu: Freinet, C.: L´ expérience tâtonnée. Brochures d´ Education Nouvelle Populaire (BENP 36), 1948. Le tâtonnement expérimental (LTE). Collection documents de l´ Institut Freinet. N° 1. Unveröffentliches Manuskript, Vence 1966. In: L´ Educateur de travail et de recherches. Supplément périodique, April/1976, 1 - 3, hier: 2

17 Vgl. auch Peyronie, H.: Célestin Freinet. In: Houssaye, J. (Hrsg.): Quinze pédagogues. Leur influence aujourd´ hui, Paris: Armand Colin 1994, 212 - 226, hier: 219 f

18 Vgl. in diesem Zusammenhang Hänsel, D.: Die konsequentesten und erfolgreichsten Reformer. In: Päd.extra, März/1991, 6 - 10. Hänsel unterscheidet zwischen traditionellem und modernem Lehrersein als historisch unterschiedlichen Formen, "die an je spezifische historisch - gesellschaftliche Kontexte gebunden und für diese funktional sind." Ebd., 8

19 Vgl. in diesem Zusammenhang anders Schlemminger, G.: Forschungsdesiderata der Freinet - Pädagogik. In: Hagstedt, H. (Hrsg.): Freinet - Pädagogik heute. Beiträge zum Internationalen Célestin - Freinet - Symposium in Kassel, Weinheim 1997, 203 - 212, hier: 204

2. Tâtonnement expérimental als Grundbegriff der Theorie Freinets

Das große Gesetz, das wir immer im Zentrum allen menschlichen Verhaltens (recours humains20) finden werden, ist das Gesetz des experimentellen Tastens, dessen Beschaffenheit und Funktionsweise wir untersuchen wollen. (Freinet. In: EPSI, 39. Übers. R. K.)

Die Theorie Freinets, die durch den Begriff tâtonnement expérimental begründet ist (2.1), wird unter Rückbezug auf Freinet selbst durch Pawlows Theorie der Reflexe und in Auseinandersetzung mit dieser interpretiert (2.2). Dabei werden (2.2.1) die für diesen Zusammenhang zentralen Aspekte der Pawlowschen Theorie kurz umrissen und anschließend (2.2.2) wesentliche Aspekte der Freinetschen Reflexologie dargelegt, insbesondere der für die Theorie Freinets entscheidende Aspekt der Durchlässigkeit für Erfahrung. Danach wird, ebenfalls unter Bezugnahme auf Freinet selbst, die Theorie Freinets von der Theorie Piagets abgegrenzt (2.3), und zwar unter den Leitaspekten der Kontinuität oder Diskontinuität in der Entwicklung (2.3.1), der Zielgerichtetheit der Entwicklung (2.3.2) und der Didaktischen Anwendung der Psychologie (2.3.3). Von hierher werden dann (2.4) die zentralen Grundannahmen der Theorie Freinets skizziert.

2.1 Der Begriff tâtonnement expérimental

In seinem zweibändigen Werk Essai de psychologie sensible appliquée à l´ éducation (EPS), das 1950 als letztes der von Freinet während der Kriegszeit verfaßten Bücher von der Coopérative de l´ enseignement laïc (CEL) publiziert wird, faßt Freinet seine Theorie des tâtonnement expérimental zusammen.

2.1.1 Tâtonnement expérimental - expérience tâtonnée

1966 wird der erste Band von EPS (EPSI) bei Delachaux et Niestlé wiederaufgelegt (inzwischen in 4. Aufl. 1978). Es handelt sich - wie Freinet im Vorwort dieser Auflage vermerkt - um eine überarbeitete Fassung. Unter anderem ist hier der ursprüngliche Begriff expérience tâtonnée (ertastete Erfahrung) ersetzt durch den Begriff tâtonnement expérimental (experimentelles Tasten), unter dem die Theorie Freinets heute allgemein bekannt ist.

Den zweiten Teil des Werks (EPSII) läßt Elise Freinet 1971 in der Originalfassung von 1950 wiederauflegen (Delachaux et Niestlé). In diesem Band findet man weiterhin den alten Begriff expérience tâtonnée; ebenso in der von Freinet im April 1948 veröffentlichten, fünfunddreißig Seiten umfassenden Abhandlung zum experimentellen Tasten: L´ expérience tâtonnée (BENP 36) sowie im Educateur bis Anfang der fünfziger Jahre.

Die Änderung der Begriffe hat unterschiedliche Interpretationen gefunden. Piaton differenziert nicht zwischen diesen Begriffen. Ihm zufolge legt Freinet den Schwerpunkt auf das Tasten und fügt später den Zusatz experimentell hinzu.21 Für Schlemminger22 und Lèmery23ist expérience tâtonnée die erste Stufe des Gesamtprozesses des tâtonnement expérimental. Barré sieht in der Begriffsänderung eine Akzentverschiebung24: der ältere Begriff legt für Barré den Akzent auf das Ergebnis: die Erfahrung; der jüngere Begriff betont für ihn den Prozeß: das Tasten und ist zugleich in einem engeren Sinne wissenschaftsorientiert, d. h. benennt das methodische Vorgehen: experimentelles Tasten.

Elise Freinet interpretiert das Gesamtwerk Freinets als einen Weg "vom pädagogischen Empirismus zur experimentellen Pädagogik" (EOZ, 20). Freinet selbst kommentiert die Begriffs- änderung nicht, betont jedoch den experimentellen Charakter seiner Pädagogik (vgl. EPSI, 12) sowie seiner Bewegung, in der Praktiker auf experimentelle Weise ihre Arbeit und Arbeitsbedingungen reflektieren und verbessern (vgl. La charte pédagogique de l´ école moderne. In: L´ E 8/Jan/1954, 293 ff).

Hier werden die Begriffe experimentelles Tasten oder Tasten verwendet. Daß auch der ältere Begriff ertastete Erfahrung den Blick vor allem auf die konstruktive Dimension des Tastens richtet, belegt auch der Untertitel des 1966 wiederaufgelegten ersten Bandes von Essai de psychologie sensible: acquisition des techniques de vie constructive/Erwerb konstruktiver Lebenstechniken (Übers. R. K).

2.1.2 Tâtonnement expérimental - expérimentation scientifique

Im zweiten, nicht überarbeiteten Teil von Essai de psychologie sensible von 1950 (vgl. EPSII, 137) differenziert Freinet zwischen den Begriffen expérience tâtonnée empirique (empirisch ertastete Erfahrung) und expérience tâtonnée méthodique et scientifique (methodisch und wissenschaftlich ertastete Erfahrung).

In seinem Spätwerk von 1965/66 (vgl. LTE, 66) stellt Freinet in demselben Sinne neben den Begriff tâtonnement expérimental als alleinige Grundlage jeder wissenschaftlichen Forschung (recherche scientifique) und jeder Erfindung den Begriff expérimentation scientifique, wissenschaftliches Experimentieren: die wissenschaftliche Absicherung und Einordnung des Erforschten, die dann methodisch gesicherten Zugang zu den neuen Erkenntnissen gewährleisten und die Voraussetzung bilden für experimentelle Lehre (apprentissage expérimental).

Um auf dem Weg experimentellen Tastens selbst wissenschaftlich forschen zu können, benötigen die SchülerInnen eine Einführung, die sich nicht auf dem Weg genuinen experi- mentellen Tastens erreichen läßt, wohl aber durch eine experimentelle Lehre, wobei es nach Freinet Aufgabe der LehrerInnen ist, die Bedingungen dieser Lehre festzulegen. Um die Vermittlung toten Lehrbuchwissens zu vermeiden und dem eigenen Lernrhythmus der Kinder entsprechen zu können, muß nach Freinet die experimentelle Lehre selbst als experimentelles Tasten gestaltet sein, und zwar mit Blick auf forschendes experimentelles Tasten und die Maßgaben wissenschaftlichen Experimentierens.

2.2 Tâtonnement expérimental und Pawlows Theorie der Reflexe

Beide Bände von EPS (Band 1 in der von Freinet überarbeiteten Fassung, Band 2 in der Urfasssung) werden in die Oeuvres pédagogiques von 1994 aufgenommen. Das En guise de préface von 1966 wird nicht übernommen. In diesem Vorwort kündigt Freinet ein weiteres - über die einzelnen verstreuten Aufsätze im Educateur hinausgehendes (R. K.) - Werk zum tâtonnement expérimental an, das aufzeigen soll, wie Theorie und Praxis des experimentellen Tastens der ersten Stufe (Hervorhebung R. K.) der Prinzipien der Pawlowschen konditionierten Reflexe entsprechen.

Bleibt uns noch die Aufgabe zu zeigen, wie unsere Theorie und Praxis sich in die erste Stufe der Prinzipien der Pawlowschen konditionierten Reflexe eingliedern. Das wird Aufgabe unseres nächsten Buches sein ...(EPSI, 6. Übers. R. K.)

Ein erster Entwurf von vierzig Seiten wird von Freinet im August 1965 fertiggestellt und im Februar 1966 in einem Rundschreiben den Mitgliedern des Institut Freinet als Diskussionsgrundlage mit dem Ziel einer späteren Veröffentlichung vorgestellt: Le tâtonnement expérimental (LTE). Collection documents de l´ Institut Freinet. N° 1