Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Mehr und mehr Organisationen setzen auf die Arbeit mit selbstorganisierten Teams. Manager müssen diese Transformation initiieren und begleiten, ohne genau zu wissen, was ihre Rolle nach dem Übergang sein wird. Und wenn sie sich selbst nicht mitverändern, können sie eher zum Hindernis als zum motivierenden Faktor werden. Dieses außergewöhnliche Managementbuch erzählt die Geschichte von Mark, einer Führungskraft in einer großen Supermarktkette, in der auf Selbstorganisation umgestellt wird. Während eines Kurzurlaubs bei seinem Großvater erfährt er von ihm, wie dieser vom Schafhirten zum Imker wurde und was er dabei gelernt hat. Seine klugen und praktischen Lektionen scheinen überraschend gut auf Marks Situation zu passen. Sie helfen ihm, seine eigenen Handlungsweisen zu überdenken und eine Liste zu erstellen, welche von ihnen er ändern bzw. abstellen muss. Denn zuallererst heißt es, zu "ent-managen" und alte Gewohnheiten zu "ent-lernen". Dieses Buch erklärt eindrucksvoll und unterhaltsam, wie das geht.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 159
Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Rini van Solingen
Über das Führen von selbstorganisierten Teams
Ein Roman für Manager und Projektverantwortliche
Aus dem Niederländischen von Rolf Dräther
Rini van Solingen · [email protected], [email protected] oder [email protected]
Lektorat: Christa Preisendanz
Übersetzung: Rolf Dräther, www.happycentric.de
Copy-Editing: Ursula Zimpfer, Herrenberg
Satz: Birgit Bäuerlein
Herstellung: Susanne Bröckelmann
Umschlaggestaltung: Helmut Kraus, www.exclam.de
Druck und Bindung: M.P. Media-Print Informationstechnologie GmbH, 33100 Paderborn
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN:
Print978-3-86490-495-0
PDF978-3-96088-214-5
ePub978-3-96088-215-2
mobi978-3-96088-216-9
Copyright © der deutschen Ausgabe 2017 dpunkt.verlag GmbH
Wieblinger Weg 17 · 69123 Heidelberg
Autorisierte Übersetzung der niederländischen Originalausgabe
Copyright © 2016 by Rini van Solingen, The Netherlands
Title of the Dutch original: De bijenherder: Leidinggeven aan zelfsturende teams, hoe doe je dat?
ISBN 978-9047009382
Translation Copyright © 2017 by dpunkt.verlag. All rights reserved.
Die vorliegende Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung der Texte und Abbildungen, auch auszugsweise, ist ohne die schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und daher strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.
Es wird darauf hingewiesen, dass die im Buch verwendeten Soft- und Hardware-Bezeichnungen sowie Markennamen und Produktbezeichnungen der jeweiligen Firmen im Allgemeinen warenzeichen-, marken- oder patentrechtlichem Schutz unterliegen.
Alle Angaben und Programme in diesem Buch wurden mit größter Sorgfalt kontrolliert. Weder Autor noch Verlag können jedoch für Schäden haftbar gemacht werden, die in Zusammenhang mit der Verwendung dieses Buches stehen.
5 4 3 2 1 0
Als Rini mich bat, dieses Geleitwort zu schreiben, zögerte ich kurz. Der Bienenhirte handelt nämlich hauptsächlich von Selbstorganisation, die für mich lediglich ein Mittel zum Zweck ist. Selbstorganisation muss immer einem höheren Ziel dienen – zum Beispiel dazu, gemeinsam ein bestehendes Problem so gut wie möglich zu lösen oder eine neuartige Verbindung zu seiner Umgebung aufzubauen. In vielen Fällen ist sie dann ein gutes Hilfsmittel, um schnell und lokal zu guten Lösungen zu kommen. Doch sie bleibt ein Hilfsmittel und ist kein Selbstzweck.
Selbstorganisation ist auch nichts Neues. Ihre Wurzeln liegen in den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Zu dieser Zeit arbeitete ich als Gemeindekrankenpfleger. Die Arbeit war abwechslungsreich und ständig war die eigene Kreativität gefordert. Es gab keine Standardlösungen. Jeder Tag war ein Abenteuer – mit Kindern, jungen Müttern, mit Älteren. Die Arbeit war in das tägliche Leben eingebettet: Man war Teil der Gemeinschaft und konnte so sehr effektiv arbeiten.
Das änderte sich in den Neunzigerjahren. Die Politik glaubte, dass das Zusammenlegen zu größeren Einheiten zu einer effizienteren Pflege führen würde. Ambulante Pflegeorganisationen fusionierten und entwickelten sich zu großen Unternehmen mit der Ambition, »Leistungen« zu erbringen. Ich kam mit diesem Managementdenken in der Pflege nicht klar – der Vorstellung, dass es Menschen gibt, die denken (die Manager), und andere Menschen, die ausführen (die Angestellten). Dieses Denken von oben nach unten empfinde ich als äußerst gefährlich! Es wird dann nicht mehr aus der Perspektive des Kunden gedacht, sondern nur noch an die Interessen des Unternehmens. 1993 habe ich deshalb einen Schlussstrich gezogen.
Doch es ließ mich nicht los. Deshalb gründeten meine Frau und ich vor zehn Jahre die Stiftung Buurtzorg. Buurtzorg bietet persönliche häusliche Betreuung und Pflege für Kunden, die ernstlich krank sind, von einem Krankenhausaufenthalt zurückkommen oder weiterhin zu Hause wohnen bleiben wollen. Buurtzorg setzt bei den Möglichkeiten des Einzelnen an. Jeder Kunde bekommt einen Begleiter, der gemeinsam mit ihm oder ihr schaut, was an Betreuung erforderlich ist – heute und zukünftig. Wir lösen die Probleme vor Ort. Auf eine Weise, die für jeden am besten funktioniert und die auch allen Betroffenen in der näheren Umgebung gerecht wird: dem örtlichen Polizisten, dem Hausarzt oder der Nachbarin und auch der Verwandten, die um die Ecke wohnt.
Buurtzorg arbeitet mit kleinen Teams von ambulanten Kranken- und Altenpflegern. Das sind selbstorganisierte Teams, die gezielt auf die speziellen Wünsche und Bedürfnisse jedes einzelnen Kunden eingehen. Dabei entwickeln unsere Mitarbeiter ganz eigene, individuell passende Lösungen. Es sind ihre Kunden, es ist ihr Wohngebiet, ihr Büro, ihr Team. Bei Buurtzorg haben wir kein Management und keine PR-Abteilung. Fachkompetenz und eine persönliche Beziehung zum Kunden stehen im Mittelpunkt. Die Kunden sind zufrieden und die Betreuungszeiten im Mittel kürzer als üblich.
Wir haben Buurtzorg damals mit einem kleinen Team von vier Mitarbeitern gestartet. Inzwischen sind wir rund 880 Teams mit mehr als 9700 Mitarbeitern und haben einen Jahresumsatz von 315 Millionen Euro.
Die Lektionen in Der Bienenhirte funktionieren. Das durfte ich selbst erfahren. Und sie funktionieren nicht nur in der Pflege, sondern auch in vielen anderen Branchen. Menschen ihre eigene Arbeit selbst regeln zu lassen, geht überall. Darüber hinaus werden dadurch allerlei Managementfunktionen und Koordinatoren überflüssig. Man kann das überall anwenden: im Bildungswesen, bei der Polizei, in der Bankenwelt. Lassen Sie die Menschen ihre Arbeit selbst organisieren. Die können das viel besser, als Sie denken. Vertrauen Sie auf ihr Können, ihre Einsicht und ihre Fachkompetenz. Nur auf diese Weise schaffen Sie Menschen den Raum, ihr Bestes zu geben und ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten voll zu entwickeln und zu entfalten.
»Je weniger Sie organisieren, desto besser ist es!« ist dann auch meine wichtigste Botschaft. Vertrauen und Verantwortung anstelle von Kontrolle und Argwohn.
Dieses Buch vermittelt auf leicht verständliche Weise, weshalb selbstorganisierte Teams die Basis für das Arbeiten im 21. Jahrhundert bilden. Es ist für jene Praktiker hervorragend geeignet, die Selbstorganisation im Interesse ihres höheren Ziels erfolgreich einsetzen wollen.
Kurzum: Sehr zu empfehlen!
Jos de Blok
Geschäftsführer der Stiftung Buurtzorg
1Auf zur Insel
2Opa Marcus
3Bienen scheren
4Lex
5Kästen und Rahmen
6Ordnung, Struktur und Chaos
7Weniger ist mehr
8Gestochen werden
9Zurück auf die Insel
Das Bienenhirten-Modell
Nachtrag
Danksagung
Über den Autor
Über den Übersetzer
Es ist abends halb acht, als Mark van den Burg das Bürogebäude verlässt und rasch zu seinem Auto geht. Bis zum Hafen sind es anderthalb Stunden zu fahren und die letzte Fähre legt pünktlich zehn nach neun ab; ihm bleiben also nur zehn Minuten Reserve. Vor ihm liegt eine Woche Auszeit bei seinem Großvater auf der Insel.
Es ist schon ein paar Jahre her, dass er zuletzt dort war, und da sein Großvater die Insel nicht mehr verlässt, haben sie sich eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Ab und zu telefonieren sie miteinander und reden über das Wetter, den Deich und das Wasser. Und natürlich auch immer über die zunehmende Hektik auf der Insel, denn jedes Jahr scheinen mehr Touristen zu kommen.
Mark fährt dieses Mal allein. Eigentlich wäre seine Lebensgefährtin Sandra mitgekommen, aber im letzten Moment konnte sie dann doch nicht. Sie ist Integrationscoach und arbeitet in einem aufeinander eingespielten Team. Ganz plötzlich musste einer ihrer direkten Kollegen wegen Familienangelegenheiten für eine Woche ins Ausland. Dadurch war für den Rest des Teams die Arbeit nicht mehr zu bewältigen und so beschloss Sandra doch einzuspringen. Zwischen Mark und ihr hat es deshalb eine heftige Auseinandersetzung gegeben. Sandra hat noch vorgeschlagen, eine Woche später zu fahren, doch das war für Mark keine Option. Abgemacht ist abgemacht: Dann fährt er eben allein.
Der Arbeitstag ist ziemlich hektisch gewesen. Innerhalb der großen Supermarktkette, für die Mark arbeitet, hat er die Verantwortung für alle IT- und Kommunikationssysteme. Mark wird das Gefühl nicht los, dass sein Aufgabengebiet in den letzten Jahren mehr und mehr an Bedeutung gewonnen hat. Es sieht fast so aus, als ob im Unternehmen nichts mehr ohne die Unterstützung seiner Abteilung läuft. Überall sind sie involviert, ganz gleich, ob es um die Belieferung der Läden geht, um Bestellen, Bezahlen oder die Personaleinsatzplanung. Immer gibt es ein IT-System, das einen solchen Prozess unterstützt. Wann immer es um neue Entwicklungen geht, scheint sich alles um Marks Abteilung zu drehen. Und ganz nebenbei muss er auch noch dafür sorgen, dass alle bestehenden Systeme verfügbar sind. Reichlich Arbeit also für ihn.
Heute ist wieder so ein Tag gewesen. Am späten Vormittag erreichte ihn ein panischer Anruf aus dem Logistikzentrum. Das Programm, das die Bestellungen für die Läden vorbereitet, stürzte ständig ab. Das führte zu enormen Verzögerungen beim Zusammenstellen der Lieferungen. Am späten Nachmittag hatte sich eine lange Lkw-Schlange gebildet, weil das Logistikzentrum mit der Arbeit nicht hinterher kam.
»Der Kick, wenn alles wieder funktioniert, alle Systeme wieder verfügbar sind und die Gefahr gebannt ist – dieser Adrenalinstoß könnte glatt süchtig machen.«
Einerseits ist er ziemlich frustriert, wenn er an Tagen wie diesen begreifen muss, wie einzigartig sein Wissen für das Unternehmen ist und dass seine Mitarbeiter sich kaum trauen, selbstständig etwas zu unternehmen. Zugleich verschafft ihm diese Situation aber auch eine Menge Befriedigung. Der Kick, wenn alles wieder funktioniert, alle Systeme wieder verfügbar sind und die Gefahr gebannt ist – dieser Adrenalinstoß könnte glatt süchtig machen. Wenn sprichwörtlich die Flammen aus den Systemen schlagen und niemand mehr weiß, wo man beginnen oder den Fehler nun genau suchen soll, dann ist Mark in seinem Element. Das war bisher auch nicht zu seinem Nachteil. Jahr für Jahr erhielt er hervorragende Beurteilungen verbunden mit entsprechenden Lohnerhöhungen und weiteren Schritten auf der Karriereleiter. Inzwischen hat er ein eigenes Büro, seine persönliche Assistentin Linda und einen eigenen Parkplatz.
So hat er es dann auch nicht weit zu seinem Auto: einem Aston Martin Cabriolet, das er vor Kurzem nach anfänglichem Zögern gekauft hat. Es ist zwar kein Neuwagen, und doch hatte er Bedenken. Kann man so ein Auto fahren, wenn man für einen Supermarkt arbeitet? Was werden die Lkw-Fahrer sagen? Zu guter Letzt hat er es einfach gekauft; schließlich arbeitet er auch hart genug dafür. Und wenn er an diesem Wochenende mit offenem Verdeck über die Insel touren kann, gibt ihm das ein unvergleichliches Gefühl von Freiheit.
Zügig fährt er zur Schranke des Geländes. Noch ein schneller Gruß an den Wachmann und schon rauscht er in Richtung Autobahn davon. Zum Glück gibt es um diese Zeit nur wenig Verkehr und wenn er mit 140 km/h durchfahren kann, ist die letzte Fähre noch locker zu schaffen.
Viertel nach neun steht Mark an Deck der Fähre. Mit einem großen Kaffee setzt er sich auf eine der Bänke. Der Abend ist wundervoll. Die Sonne steht tief und orangefarben über dem Wasser. Er fühlt, wie sich sein Körper entspannt. Der Stress des Tages schmilzt dahin wie Schnee in der Sonne.
»Mehr Verantwortung übertragen … Aber irgendwie klappt das nie so richtig.«
Stress hat er reichlich in der Firma. Um alles einigermaßen unter Kontrolle zu halten, ist er jeden Tag ab sieben im Büro. Und Abende, an denen er pünktlich zum Essen zu Hause ist, sind selten. Langsam beginnt ihn das zu nerven. Jedes Jahr nimmt er sich aufs Neue vor, etwas zu verändern: Mehr delegieren, seinen Mitarbeitern mehr Verantwortung übertragen, sodass er aus dem Tagesgeschäft einen Schritt zurücktreten und sich mehr um das große Ganze und die Zukunft kümmern kann. Aber irgendwie klappt das nie so richtig.
Im Augenblick läuft in seinem Unternehmen gerade ein Reorganisationsprojekt rund um selbstorganisierte Teams. Das Unternehmen muss flexibler werden. Der CEO hat dafür persönlich die Verantwortung übernommen. Agilität, Flexibilität und Schnelligkeit sind das Credo. Darum dreht sich einfach alles. Alle Mitarbeiter wurden festen Teams zugeordnet, von denen erwartet wird, dass sie selbstorganisiert funktionieren, autonom entscheiden und schnell handeln können. Das sollte der Garant für Schnelligkeit und Agilität sein.
Die Idee findet Mark einleuchtend. Im Prinzip befürwortet er das Delegieren von mehr Verantwortung. Schon seit Jahren ist es ihm ein Dorn im Auge, dass er wieder und wieder bei operativen Problemen aushelfen muss. Aber leider stellt er immer wieder fest, dass die Selbstorganisation der Teams noch nicht richtig funktioniert. Auf dem Papier ist inzwischen zwar alles reorganisiert, aber in der Praxis geht es nur schleppend voran. Was logisch ist, denn es ist neu. Und es gibt noch genügend Situationen, in denen allen Beteiligten unklar ist, was genau die Erwartungen sind. Es vergeht kein Wochenende ohne den einen oder anderen Anruf. Die Teams bitten Mark noch immer um Zustimmung und es fällt ihnen schwer, eigene Entscheidungen zu treffen.
Oft überkommen ihn Zweifel: »Wie soll das gehen – selbstorganisierte Teams führen? Wann mache ich es richtig? Wie behalte ich die Kontrolle? Worum darf ich mich noch kümmern – und worum nicht mehr? Habe ich andere Aufgaben, und wenn ja, welche? Was ist eine gute Balance zwischen Raum geben und Kontrolle? Warum darf ich nicht eingreifen, wenn die Situation aus dem Ruder zu laufen droht, und weshalb müssen sich meine Teams selbst eine blutige Nase holen? Das ist ineffizient und zudem Geldverschwendung. Wie kann ich erwarten, dass meine Teams die gleiche Verantwortung fühlen wie ich?« All das sind Fragen, auf die Mark noch keine Antwort hat.
Der Abschied heute früh war ziemlich kühl. Sandra war nicht glücklich darüber, dass er allein fährt, und ließ ihn das deutlich spüren. Anfangs versuchte Mark, ihre reservierte Haltung zu ignorieren. Doch nach einer Weile brach er das Schweigen: »Hör zu, du hast dich entschieden arbeiten zu gehen, nicht ich.« Auf ihre Erwiderung, dass ihr keine Wahl bliebe, war er nicht eingegangen. Er schüttelte nur den Kopf und sah, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Deshalb hatte er nichts weiter gesagt. Mit einem lauten Knall fiel die Haustür ins Schloss, als Sandra zur Arbeit ging.
Im Grunde ist es Mark ganz recht, dass sie zu Hause bleibt. Er ist der Meinung, dass ihre gemeinsame fünfzehnjährige Tochter Mandy noch zu jung ist, um allein zu bleiben. Was Mandy selbst übrigens völlig anders sieht. Jedenfalls findet er es deshalb gut, dass Sandra nicht mitkommt. Sie hingegen meint, dass er ihrer Tochter nicht genug Freiraum lässt, zu streng ist und ihr zu wenig Verantwortung überträgt. Sie ist immerhin schon fünfzehn, sagt Sandra, was wieder und wieder zu Streitigkeiten zwischen ihnen führt. Also fährt Mark allein. Er kommt auch ganz gut alleine klar, zum Beispiel beim Wandern. Dann hat er alle Zeit der Welt, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Und auch Mountainbiken ist nichts für Sandra. Sie liest am liebsten pro Tag zwei Romane.
Entspannt trinkt Mark einen großen Schluck Kaffee und genießt den herrlichen Sonnenuntergang. Während der Überfahrt fühlt er all seine Probleme am Horizont verschwinden. »Es ist fast so«, denkt er, »als ob man die Ruhe der Insel schon fühlen kann, sobald die Fähre ablegt. Sonderbar, dass auf einer Insel die Uhren gefühlt nur halb so schnell ticken wie auf dem Festland.«
Mark hat dieses Gefühl vermisst. Das wird ihm erst in diesem Augenblick richtig klar. Seit seine Eltern aufs Festland zogen, ist er nur noch selten auf der Insel. Und dieser Umzug ist nun schon mehr als fünfzehn Jahre her, das war kurz vor Mandys Geburt. Seitdem wohnen sie in der Nachbarschaft. Dennoch hat Mark eine besondere Verbindung zu seinem Großvater Marcus. Er ist auch nach ihm benannt: Marcus Emanuel van den Burg ist sein offizieller Name. Seine Eltern nannten ihn früher immer »Marcus junior«. Auf dem Gymnasium hatte er daraus dann Mark gemacht. Mit einem k. Seine Eltern und sein Großvater hatten es stillschweigend hingenommen.
Mark wurde auf der Insel geboren und wuchs dort auf. Zum Studieren ist er schließlich aufs Festland gegangen. Im ersten Studienjahr kam er noch jede Woche zurück, mit einer Tasche voller schmutziger Wäsche. Natürlich war er auch den ganzen Sommer hier. Ab dem zweiten Jahr fuhr er seltener auf die Insel und in den letzten zwei Studienjahren kam er dann auch in den Ferien nicht mehr her. Er hatte einen guten Job gefunden, ein Haus gekauft und entfernte sich auf diese Weise Schritt für Schritt von seiner Insel. Eigentlich der Klassiker.
Nun ist es auch schon wieder drei Jahre her, dass er zuletzt hier war. Und doch ist es seine Insel. Sie liegt ihm im Blut. Das fühlt er. Sogar jetzt, wo er zum ersten Mal seit Jahren wieder auf der Fähre steht. Warum fährt er eigentlich so selten hin? Und – wie konnte er dieses Gefühl vergessen?
Vom Fähranleger braucht man noch ungefähr eine Viertelstunde bis zum Haus von Tante Ruth. Sie wohnt direkt neben seinem Großvater und bestand darauf, dass er bei ihr wohnt. Tante Ruth hat damals das Haus seiner Eltern übernommen, als sie die Insel verließen. Sie hat keine Kinder und ihr Mann ist vor mehr als zehn Jahren gestorben. Sie sorgt gut für Opa. Manchmal sogar etwas zu gut, findet selbst Opa. Jedes Mal, wenn er mit Mark telefoniert, klagt er, dass sie sich ständig einmischt. Mark muss darüber schmunzeln, denn Opa kommt ohne Tante Ruth nicht mehr klar. Und das weiß er. Und Tante Ruth weiß es auch.
Mark hatte noch kurz überlegt, doch ins Hotel zu gehen. Er weiß, wie sehr sich Tante Ruth über Besuch freut, hatte aber eigentlich keine Lust, den ganzen Tag betüddelt zu werden und ihrem Bedürfnis nach Gesellschaft nachzukommen. Gleichzeitig fühlte sich der Gedanke aber nicht gut an, denn zu guter Letzt war es ja auch sein Elternhaus.
Tante Ruth erwartet ihn schon. Mark sieht ihr hageres Gesicht mit den durchdringenden Knopfaugen hinter der Gardine, als er sein Auto abstellt. Nach einer freundlichen Begrüßung mit einem etwas zu feuchten Kuss trinken sie zusammen eine Tasse Tee. Dabei fragt sie ihm über Sandra und Mandy ein Loch in den Bauch. Mark ist erstaunt, was seine Tante so alles interessiert. Über seine Tochter will sie wirklich alles wissen. Doch auf die meisten Fragen weiß Mark selbst keine Antwort. Und über Mandys Probleme in der Schule will er ihr nicht zu viel erzählen, sonst gibt sie keine Ruhe mehr. Ziemlich rasch trinkt Mark seinen Tee aus und lehnt freundlich eine zweite Tasse ab; er hat einen langen Tag hinter sich und will schnell ins Bett. Um elf Uhr verschwindet er in sein altes Zimmer.
Mit seinem Smartphone schickt er eine kurze Nachricht nach Hause: »Hi Schatz. Noch böse? Mandy okay? Letzte Fähre erreicht. Tante Ruth ist noch immer Tante Ruth, hahaha. Rufe dich morgen an, wenn ich darf. ;-) :-***«
Dann macht er das Licht aus. Obwohl er lieber neben Sandra liegt, ist es auch herrlich, bei offenem Fenster zu schlafen. Eine der Freuden, wenn er mal nicht zu Hause ist. Sandra ist immer kalt, deshalb müssen die Fenster geschlossen bleiben.
Eine kühle Brise weht durch sein Zimmer. Er kann die Insel riechen. Diese einmalige Kombination von Gras und Seeluft, die gibt’s nur an einem Fleck auf Erden: zu Hause! Plötzlich fällt ihm auf, wie still es draußen ist. Sogar bei offenem Fenster. Lange kann er das nicht genießen, denn schon nach wenigen Minuten schläft er wie ein Stein.
Am nächsten Morgen ist Mark zeitig wach. Die Macht der Gewohnheit. Viertel nach fünf ist er schon auf den Beinen, zieht sich an und schnürt seine Wanderschuhe zu. Es gibt einfach nichts Schöneres als einen Sonnenaufgang auf der Südostseite der Insel. Von Tante Ruths Haus sind es etwa zehn Minuten zu Fuß bis zum Deich und so beginnt Mark den Tag mit einem ausgiebigen Spaziergang. Herrlich an der frischen Luft zu sein, die Möwen zu hören und auf die Wellen zu schauen.