Der Bucklige von Mossul - Florian Hildebrand - E-Book

Der Bucklige von Mossul E-Book

Florian Hildebrand

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Beschreibung

Vier Frauen - vier Schicksale. Sie haben nicht die besten Startbedingungen gehabt. Das Leben fällt ihnen nicht in den Schoß. Die Täler sind tiefer als die Gipfel hoch. Schließlich findet jede das Gesetz ihres Handelns. Ob es ihr Glück wird, ist eine andere Frage. Und es geht um die Geschichte eines Mannes. In Pjöngjang verliert er fast den Verstand und in Mossul beinahe sein Leben. Er tastet sich an Grenzen entlang, er kann nicht anders. Eine geheimnisvolle Mission lässt ihn nicht los, selbst als er hinter ihren wahren Charakter kommt. Aber da entkommt er sich nicht mehr. Am Ende spitzt sich jedenfalls alles in einem mörderischen Bruderkampf zu. Weniger ein Abenteuer als eine Reise ins finstere Niemandsland der menschlichen Existenz. Eine rasante Geschichte von Lust und Vergeblichkeit...

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Das Absurde ist der Zusammenprall

des menschlichen Rufes mit dem

unbegreiflichen Schweigen der Welt.

Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos

Inhaltsverzeichnis

Teil 1

Kapitel 1: Ein Restaurant

Kapitel 2: Sevilla

Kapitel 3: Das Leben der anderen

Kapitel 4: Köln

Kapitel 5: Pjöngjang

Kapitel 6: Die Geburtstagsrede

Kapitel 7: Island

Kapitel 8: Iran

Kapitel 9: Der Fußabdruck

Teil 2

Kapitel 1: Die Firma

Kapitel 2: Der Zug

Kapitel 3: Die Hütte

Kapitel 4: Humboldt

Kapitel 5: Der Kreuzweg

Kapitel 6: Tiefe Welt

Kapitel 7: An der Mole

Kapitel 8: Immerzu

Kapitel 9: Brüssel

Kapitel 10: Curry

Kapitel 11: Cubbon Park

Kapitel 12: Im Spiegel

Kapitel 13: Der Auftrag

Kapitel 14: Die Begegnung

Teil 3

Kapitel 1: Kriegsreporter

Kapitel 2: Ramin

Kapitel 3: Aspendos

Kapitel 4: Der Kurier

Kapitel 5: Ein Besuch

Kapitel 6: Erbil

Kapitel 7: Im Spiegel

Kapitel 8: Der Präsident

Kapitel 9: Abgewiesen

Kapitel 10: Die Tatarenwüste

Kapitel 11: Charon

Kapitel 12: Showcase

Kapitel 13: Der Tunnel

Kapitel 14: Luise Dahlem

Kapitel 15: Ahmed

Kapitel 16: Der Kommandant

Kapitel 17: Im Strom

Kapitel 18: Der Vater

Kapitel 19: Himmelfahrt

Epilog 1

Epilog II

Teil 1

1 Ein Restaurant

Es war einer dieser Tage. Der Ober trug einen Tisch vor dem Bauch aus dem Haus und stellte ihn mit Nachdruck vor Yul hin. Er breitete eine weiße Decke darauf aus, wischte sie kurz glatt und schob ihm einen Stuhl hin. Dann stützte er sich kurz darauf und sagte: »Der Chef bittet Sie nachher hinein.« Die Tonlage sah Widerspruch nicht vor. Er kannte das Restaurant nicht.

»Um was geht es«»Das sagt er Ihnen selbst.« Nach der obligatorischen Puttanesca und einem Glas Valpolicella ging er hinein. Der Ober wies knapp nach hinten, und vorbei an den Toiletten fand er eine halboffene Tür »Privat». Der Raum lag im Halbschatten und glich einer halb aufgeräumten Rumpelkammer; eine Säule Speisekartenmappen aus braunem Kunststoff suchte die Balance zu halten, Fakturierrollen obenauf. Das Licht des Fensters beschien knapp den Schreibtisch; ein Mann saß daran und kontrollierte Rechnungen. Über der Tür zitterte ein rotes LED-Licht, als registriere es das zunehmende Gewicht der Gäste. Nach einer kleinen Weile sah der Chef auf. Das Gesicht, mittelalt, zielgerichtet, sagte ihm nichts. »Schön.« »Sie spekulieren auf meine Neugierde.« »Zu Recht, wie ich sehe.« Der Zungenschlag verriet eine ausländische Herkunft nur wenig.

»Ich habe ein Angebot für Sie.« »Sie verwechseln mich nicht.« Er wurde taxiert, als habe er ein Dutzend Mal gekniffen, es diesmal aber nicht geschafft:

»Wir irren uns nicht.« Die Puttanesca entsandte ölige Blasen nach oben. Danach hatte das Restaurant ausgesehen. »Also« Yul stand immer noch vor dem Schreibtisch. Er sah sich nicht nach einem Stuhl um. Im Hinterhof beugten sich übereinander gestapelte Tomatensteigen zum vergitterten Fenster als hörten sie mit.

»Sie haben gerade Zeit. Fahren Sie Richtung Tempelhof, Germaniastraße, Kreuzung Sachsenhauser Straße. Dort Sie werden abgeholt.« Dass man ihn wie selbstverständlich vereinnahmte, machte ihn unwirsch. Er suchte die Kreuzung auf und und kaum hatte er sich umgesehen, hielt ein Taxi neben ihm. Der Fahrer ließ das Fenster herunter: »Steigen Sie ein.«

Sie fuhren nach Klein-Kienitz in eine gesichtslose Siedlung. Freundlichkeit über den Zaun signalisierte hier Sorge um die richtigen Nachbarn. Einfamilienhäuser exakt gereiht, Gärten in strammer Zucht. Im Wohnzimmer eine große Sofalandschaft, gegenüber ein Bildschirmloch wie ein Tunneleingang, der Rest unauffälliger Durchschnitt, darin rosa gesichtig eine Zepterkrawatte und scharf manikürte Händen.

»Am Anfang glauben manche, das Ganze ist eine unverbindliche Verabredung, aus der sie aussteigen können wie aus einer Partie Poker. Das ist schade. Sie tricksen sich nur selbst aus. Aber Sie werden es machen.« Yuls Neugier wuchs; gleichzeitig ärgerte er sich weiter.

»Lassen Sie nur, Misstrauen hilft Ihnen.« »Was genau wollen Sie von mir« »Sie denken: warum ich Dabei wird Ihnen nur der Kopf schwer. Machen Sie einfach einen guten Job.« Basedow-Augen haben nicht viel Talent zur Aufmunterung. Was immer sie ausdrücken, es sieht fordernd aus. Der Mann saß in einem nachgemachten Stilsessel, die Bügelfalten stramm gezogen, grauer, leicht in sich karierter Anzug, weißes Hemd, die Krawatte mit Herrscheranspruch. Er sah wie ein Biedermann aus, der ihn für eine Drückerkolonne anwerben wollte.

»Ist das eine Einladung für eine Reportage« Sein Gegenüber zog noch nicht einmal die Brauen hoch. »Sie misstrauen sich Wenn es mal unerwartet kommt«»Schadet das« »Es ändert nichts, meistens jedenfalls. Sie haben es gerne weit weg. Das passt für uns.«

»Was ist, wenn mir am Abzug der Finger zittert« »Wen wollen Sie aufs Korn nehmen Schauen Sie mal raus.« Im Garten saß am Rand des Sandkastens eine hoch gewachsene Frau in dunklem Stretch, langgewelltem Haar, einige Jahre jünger als der Mann und spielte mit einem Kind.

»Ich kann sehr beharrlich und sehr wechselhaft sein,« suchte Yul zu drohen. »Deswegen sind Sie hier.« Jetzt lächelte die Szepterkrawatte andeutungsweise. Es war ihm unangenehm, dass sich der Mann anheischig machte, ihn besser zu kennen als es die Situation erlaubte.

»Draußen im Gang steht eine weiße Tüte. Bringen Sie sie nach Sevilla. Ticket und Spesen sind drin. An der Plaza de la Encarnation übergeben Sie sie und erhalten eine andere. Morgen mittag, vierzehn Uhr, in der Cocktailbar an der Plaza.« »Worum geht es« »Um den Tausch, nichts weiter.« Der Mann stand auf.

Er schaute zur Decke, als zeige sich im Krakelee des Verputzes der Plan. Unaufhörlich teilten sich größere und kleine Risse, wie Nervenbahnen im Gehirn eilten sie auseinander, verbanden sich wieder, liefen über die ganze Decke, manche versanken in vielfach übermalten Stuckwulsten, andere dünnten aus, verloren sich im weißen Nichts, bis die Augen wehtaten.

Früher hatte er geglaubt, eine Art Karma führe ihn von einer Beziehung zur nächsten. Aus dem Verlust einer Frau gehe die Aufgabe für die nächste hervor. Nach einigem Scheitern konnte er sich heute genau so gut fragen, warum die Evolution vor fünfzig Millionen Jahren kleine, laufschnelle Landtiere zurück ins Meer geschickt hatte. Als ob es sie Äonen davor nichts gekostet hätte, Tiktaalik, eine flossige Amphibie aus den Ozeanen ans Ufer zu locken, wo sie in endlosen Generationen lernte, die Erdenschwere auf sich zu nehmen, Luft einzusaugen und sich höchst aufwendig fortzupflanzen – um Millionen Jahren später fast alles wieder rückgängig zu machen, indem sie die Raoelliden, die wie eine Kreuzung aus Ratten und Hyänen ausgesehen haben mochten, erneut ins Wasser schickte. Was für ein Plan.

Das Krakelee an der Decke verzweigte sich wie ein Netzwerk, ohne Richtung, ohne Ziel, ohne Zentrum.

Jeder Schritt eine Entscheidung. Ein Tier beschloss nichts; der Moment verlangte danach. Es hinterließ eine mäandernde Spur hierhin und dorthin, nichts von Bedeutung, aber alles mit Folgen. Jede Winzigkeit, kleine, kaum auffallende Wendungen, vielleicht nur der momentane Hunger, zwischen den Mangrovenwurzeln einem Fisch hinterher zu tauchen. Erst in der Rückschau fügte sich die Fülle der ahnungslosen Handlungen Schritt für Schritt zum großen Richtungswechsel des Tieres, vom Land ins Meer zurückzukehren. Die Beute am warmen Wasser lockte, die Raoelliden kümmerten sich nicht um langwierig erworbenes Erbe des einstigen Landgangs, Lungen, Warmblut, Bewegungsapparat, Brutaufzucht. Sie tauchten einfach zurück, hatten vergessen, wie warmes Wasser sie anfühlte, und blieben. Wurden zu Walen mit kompliziertem Sprechgesang. Artgenossen scheuten das Wasser unter den gepaarten Hufen und wurden zu Flusspferden, vielleicht. Die Evolution lehnte an sehnigen Mangrovenwurzeln und beobachtete sie gleichmütig.

Eine Tüte hierhin, eine andere dorthin, klang nicht nach einer großen Sache, solange nicht geheimdienstliche Paranoia dahintersteckte. Trotzdem hörte er sein Herz pochen, während er sich an der Decke im Gespinst der unendlichen Möglichkeiten verirrte. Er war innerlich eigentümlich erregt. Als handele er sich nicht rückgängig zu machende Verwicklungen ein, folgte er der Szepterkrawatte nicht.

Morgen nahm er das Flugzeug nach Sevilla. Es mulmte in seinem Magen, aber es war entschieden. Ruckartig setzte er sich auf und wies sich zurecht. Sie hatten ihn an der Neugier gepackt, dagegen war er gerne machtlos. Er stand auf. Zweckpessimisten geißelten sich mit Ahnungen, nicht mehr, Herrgott.

2 Sevilla

Das Flugzeug erreichte mit einem kaum spürbaren Senken der Schnauze seine Reisehöhe. Yul schnallte sich los und drückte die Arme am Vordersitz durch, bis vorne jemand murrte. Er schaute an den beiden Sitznachbarn vorbei aus dem Fenster. Unter ihnen eine geschlossene Wolkendecke. Ein Quirl hatte die Watte aufgebauscht, Fetzen zipfelten wie steifgeschlagener Rahm heraus. Jetzt rieselte es wieder warm durch seine Glieder. Verkrampft war er nach Sevilla geflogen. Inmitten der auffallend gleichförmigen Altstadt war er auf die Plaza de la Encarnation gestoßen, überragt von einem Schwarm riesenhafter Parasols. Ein gewaltiges hölzernes Raumschiff, das zwischen klassizistischen Hausfassaden nieder gegangen war. Noch keine zwei Minuten hatte er an den Tischen vor der Bar gewartet, als ein Mann auf ihn zusteuerte und sich ungefragt neben ihn setzte. Ein unauffälliger Typ von Mitte vierzig, im Straßenbild würde er kaum auffallen. Die Plastiktüte stellte er nachlässig neben sich und fing gruß- und umstandslos eine leichtfüßige Plauderei über die Feria de Abril in Sevilla an. Yul gab Hülsenworte zurück. Brachte er den Auftraggeber ins Spiel, redete der andere mit Belanglosem dazwischen. Schließlich erklärte ihm sein Gegenüber, genaue Instruktionen zum nächsten Transfer finde er in der Tüte, erhob sich, nahm ohne zu zögern die richtige Tüte und verschwand zwischen den Füßen des Sternenseglers. Yuls Café solo war noch nicht kalt geworden.

Dem Mann war das Wort ›Mission‹ entschlüpft; er schien selbst ungehalten darüber. So farblos kam er ihm vor, dass Yul sich fragte, wie blass seine eigene Erscheinung sein musste, um im Ensemble der ›Mission‹ seine Rolle zu spielen. Die Plastiktüten, die Schachteln darin weiß, unbeschrieben, einheitliches Format. Am Umschlag wies nichts auf die Herkunft hin. Er gab das Geld nicht aus, sondern verwahrte die Scheine in T. E. Lawrences Sieben Säulen der Weisheit. Er hatte den Blässling im Ton eines langjährigen Vereinsmitgliedes gefragt: »Wie lange sind Sie schon dabei« Der angesprochene erwiderte ohne aufzusehen: »Wobei« »Bei der ›Mission‹.« »Bei welcher Mission« »Was wir hier tun...« »Was tun wir denn« »Mögen Sie vielleicht eine meiner Fragen beantworten.« »Warum fragen Sie«

Über die ›Mission‹ fand er nichts zu recherchieren, weder Kontaktdaten noch Webseite oder einen Eintrag in den Archiven seines Senders. Geheimorganisationen, mafiöse Verbindungen, internationale Betrugsgeschäfte, alle hinterließen irgendwann Spuren. Die undurchdringliche Anonymität beunruhigte ihn mehr als ihm der unkomplizierte Tütentausch Vertrauen einflößte.

Im Nordkorea des Adam Johnson erfuhr niemand, was in dem Geraubten Leben des Waisen Jun Do wirklich vor sich ging, weder die Waise selbst noch all jene, die sie hierhin und dorthin schubsten. Unvermutet wechselten die Rollen von Herr zu Knecht und umgekehrt, niemand durfte sich seiner Existenz sicher fühlen, selbst die gehätschelten Lieblinge des Volkes waren einer anonymen Willkür ausgesetzt.

Er war Lastenträger in einem weltumspannenden Ameisenstaat, der existierte, nicht weil er ein Ziel verfolgte, sondern weil er da war. Keiner Arbeiterin oder Soldatin fiel es ein, dem Organismus oder sich selbst Fragen zu stellen. Käme eine auf die Idee, die Königin um Auskunft zu ersuchen, landete sie bei einer hirn- und willenlosen Gebärmaschine, die sich aus einem schier unerschöpflichen Spermavorrat bediente und lebenslang nichts anderes tat als Nachwuchs zu produzieren. Jedes einzelne Tier erledigte roboterhaft seine Arbeit und wurde umstandslos ersetzt, wenn es nicht mehr funktionierte. Der Ameisenhaufen, eine komplizierte Organisation ohne Richtung. Wie das menschliche Gehirn. Nur waren die grauen Zellen sich selbst auf die Schliche gekommen und suchten einen besänftigenden Sinn zu finden, wozu sie elektrisiert wurden, und hörten damit auch nicht auf, als sie gewahr wurden, dass sie in einer Endlosschleife steckten.

Steinzeitliche Jäger wandten den Orientierung suchenden Blick nach oben, wo sich im ewigen Uhrwerk der Gestirne die göttliche Ordnung der Welt offenbarte. Der Winzling auf der Erde fand am unteren Ende der strengen Vertikale seinen Platz, seinen Ort, seine Bedeutung. Der Zirkelschluss, dass die himmlische Vollkommenheit nur existierte, weil sie als Trost für die menschliche Fehlbarkeit gebraucht wurde, ging dem Gewürm erst in der von der Naturwissenschaft skelettierten Welt auf. Nun, da der Blick sich aufs Horizontale gesenkt hatte, nahmen sich die Menschen gegenseitig in den Blick. Sie erkannten die Illusion ihrer Individualität, was die Sehnsucht nach einem sinnhaften Größeren weckte. Nichts auf der Welt gab sich dafür her. Also verfiel man auf den fortlaufenden Selbstbetrug: die Welt zu erobern, weil sie es zuließ, und sie zu Grunde zu richten, um sie dann zu retten. Man bedrohte also den Planeten um das eigene Dasein zu rechtfertigen.

Irgendwann würde sich der Nebel um die ›Mission‹ lüften. Für ein Mysterium war nicht die Zeit. Dann stünde sie da, ein geschrumpfter Riese, eine anonyme, gesichtslose Organisation, die über den Globus ausgefingert war, weil sie es konnte. Das abzuwarten sollte er die Gelassenheit aufbringen, aber noch hatte er sie nicht.

3 Das Leben der anderen

Es knackte kurz und trocken, fast zurückhaltend. Für einen Wimpernschlag packte sie die Wut, wollte fester zudrücken und das Glas vollends zerbrechen. Ein paar Tropfen Blut mischten sich in das laufende Wasser und schlierten kreisend im Spülbecken, ehe sie in den Abfluss einschwenkten. Früher hätte Yul sie um die einwärts stürzende Taille gefasst und doziert:

»Danke für das Blutopfer im Dienste der Astrophysik. Die Schwerkraft versöhnt uns mit Eleganz. Schauen wir nicht durch ein teures Teleskop, sondern in den Abfluss und wir entdecken die ganze kosmische Dynamik.«

Wenn ihr der große Kerl nahe war, ließ sie sich von seiner sinnlichen Ausstrahlung wärmen. Aber zur Zeit verbreitete er die Kühle einer Marmorstatue um sich. Sie stützte sich am Rand des Beckens auf und schaute dem langsam sich klärenden Wasser nach. In der hellroten Spirale starrte ihr das steinerne Gesicht entgegen, an dem das Glas zersprungen war.

Sie versorgte die tropfende Hand, schaute aus dem Küchenfenster auf das Grundstück gegenüber und die weit ausladenden Schwingen der blühenden Buddleja-Büsche. Wenn er da war, dann nur physisch, er wirkte fahrig und schaute durch sie hindurch. Wenn er redete, dann wie zu einer unsichtbaren Person im Raum. Sonst nicht seine Angewohnheit.

Er fuhr nach Sevilla. Am selben Tag hin und zurück. Kathedrale, Alcazar und all das Andere – »nächstes Mal«. Er, der Dienstreisen nicht mochte, reiste mehr: »Man fährt hin, macht seine Aufnahmen und sitzt wieder im Flieger. Als ließe man das Fleisch auf dem Teller liegen.«

Eine andere Frau verdrehte ihm nicht den Kopf, dafür fehlte ihm die Anspannung, das Glück mit Gleichgültigkeit zu verleugnen. Im Bett war er ohne den sonstigen Appetit. Sie mochte beileibe nicht alles wissen, was ihn bewegte, aber sie fand es schon sonderbar, dass ihre Lockungen seine Tentakel schlaff ließen. Jedenfalls wollte sie nicht als Trockenrasen am Rand seiner Runway enden.

Sie hätte es gern dem Amarone zugeschrieben, dass er auf dem Stuhl ausgestreckt am Tisch lümmelte und entspannt das Glas zwischen den Fingern drehte. »Dass du an den gedacht hast...« Sie zuckte mit den Schultern. Mit dem samtenen Wein wollte sie ihn aus seiner Burg locken, und jetzt kam er ihr auf der heruntergelassenen Zugbrücke entgegen.

Er hatte sie an der Haustür bereits mit Blumen bedacht, vor allem aber mit einer Umarmung, die eher ins Schlafzimmer als auf den Hausflur passte. Er schnüffelte an ihrem Nacken: »Mmhh.«

Nachdem ihm noch »Boah!« entfahren war, als er den Amarone auf dem Tisch entdeckte, wusste sie, sie hätte sich den Aufwand sparen können. Sie hielt sich selbst für eher schwer zugänglich, umso länger wimperten die Fühler nach draußen, um am Leben der anderen teilzunehmen, wenn sie schon keine eigene Familie hatte. Deswegen schrieb sie Kriminalromane.

Am Ende des Studiums hatte sie einen Professor becirct, ihr für ein Jahr ein Stipendium in London zu verschaffen. Sie arbeitete dort in einer Literaturagentur und nach dem Büro wanderte sie oft lange kreuz und quer durch die Straßen. Große Städte vibrierten in einem leisen Tonus von all den Geschichten, die ihre Mauern sättigten, sie musste nur Augen und Ohren offen halten. Vielfach war es babylonisch überschrieben von immer neuen Ereignissen, aber gerade das reizte sie, denn beim Dechiffrieren verschlangen sich menschliche Lebenslinien zu eigentümlichen Webfeldern. Vorzugsweise quirlige Wohngegenden in fortgeschrittenem Alter suchte sie auf, mit aufgegebenen Geschäften, ergrauten Fassaden und Hinterlassenschaften unterschiedlicher Kulturen. Am liebsten hatte sie es, wenn die Mauerfugen bereits bröselten und die herausdrängenden Geschichten nicht mehr halten konnten. Dann setzte sie sich in ein Café oder beobachtete aus einem Laden flüchtige Szenen draußen und fotografierte sie. Warum wusste sie zunächst nicht. Zuhause legte sie die Aufnahmen nebeneinander und betrachtete sie solange, bis die abgebildeten Personen anfingen zu sprechen. Sie erzählten von ihren Kümmernissen, Freuden und Erfolgen, von Lust und Tragödien, und oft kam sie mit dem Notieren kaum nach. Wenn sie nicht Acht gab, entliefen ihr die Geschichten förmlich in alle Richtungen.

Im Café fing sie beiläufig Gespräche auf, Streitereien, Begegnungen, Missgeschicke; Zufälliges verband sie. Sie sah, wie Interessen, Nöte und Leidenschaften aufeinander stießen, sich aneinander rieben, zu einem Knäuel verdichteten, wieder zerfielen oder auf ein Drama zusteuerten und im Desaster endeten.

Sie wurde langsam süchtig, verließ die Agentur nachmittags zu früh, draußen lockten die Geschichten mit ihren offenen Enden. Das Leben.

Abends sitzt sie in einem billigen Restaurant, nebenan spielt ein Mann mit seinem Freund Schach. Am Ende verlässt er das Restaurant und betritt ihre Phantasie. Er steigt leicht beschwipst aufs Fahrrad. Auf dem Weg trifft er auf eine Frau, die auch nicht mehr nüchtern ist; sie hat ihren Wagenschlüssel fallengelassen und findet ihn nicht mehr. Er bleibt stehen, bietet Hilfe an und entdeckt ihn. Sie gehen in eine Kneipe und trinken etwas. Die beiden könnten auseinander gehen oder den Abend mit einer ausgelassenen Vögelei auf einer Parkbank beschließen. So leicht will sie das Paar nicht davonkommen lassen.

Wenige Tage später sieht sie den Radfahrer mit der Frau eine Bar betreten. Sie kommen wieder heraus, setzen sich an einen Tisch, flirten, küssen sich, zurückhaltend zuerst, nach dem zweiten Glas Rotwein versinken sie geradezu ineinander. Eng umschlungen, doch zögerlich gehen sie weg, das Bühnenlicht verlischt. Sie hat bereits eine kleine Fotoserie und erste Notizen.

Einige Zeit später begegnet sie den beiden erneut, in derselben Bar, wieder draußen. Jetzt diskutieren sie heftig miteinander; beide scheinen mehr in ihre Ängste als ineinander vertieft. Steif halten sie Abstand voneinander, dazwischen küssen sie sich über den Tisch hinweg. Eine Affäre, und sie entgleitet ihnen sichtlich. Der Rausch des glücklichen Moments ist auf Dauer toxisch. Menschliche Dramatik hat nicht beliebig viele Gesichter. Nur die Umstände ändern sich.

Das Liebespaar ist ihr ausgeliefert. Sie treibt sie unnachgiebig zueinander, ineinander, sie wehren sich gegen das Begehren, wollen voneinander loskommen, doch sie bleibt eisern, lässt das Paar seiner Gier verfallen und treibt es in die Aussichtslosigkeit. Die Leidenschaft ist mit dem ursprünglichen Leben der beiden nicht zu vereinbaren, die Hindernisse türmen sich, weiter geht es nur, wenn jemand beiseite geschafft wird, das wird unausweichlich, offen ist nur, wann es geschieht, und wen es trifft. Die Obsession hat Gründe, aber darüber denkt sie noch nicht nach. Das Opfer wird jedenfalls so heftig ausfallen wie die Gier. Es wird andere aus den Schienen reißen, Menschen, die ein billiges Recht darauf haben, dass alles bleibt, wie es ist. Sie kann warten, bis die Situation kommt.

Im Eingeweide unter dem Asphalt pumpt die Peristaltik der Stadt, der Organismus strengt sich an, ruht und siecht. Sie öffnet die Kanaldeckel, will hinunter ins Gekröse, in die Kanäle. Sie will beobachten, wie der Stoffwechsel des Lebens die Menschen auftreibt mit Sucht und Gewalt, auszehrender Liebe und Eifersucht, wie sie sich in Hass und Überdruss gegenseitig die Knochen annagen, in die Leere implodieren und in ein Glück flüchten, das sofort zerbräche, sähen sie es. Sie muss darauf achten, dass sie ihren Figuren nicht zu viel auflädt, damit sie nicht vor der Zeit zerbrechen. Manche sind aber auch seltsam unerregbar, Schildkröten, die stoisch an ihrem Salatblatt kauen.

So jedenfalls rückt sie ihren Gestalten viel näher als jenen, denen sie gegenüber sitzt.

Nach dem Jahr in London volontierte sie in einem deutschen Verlag und war, da sie dort Langeweile zu bearbeiten hatte, froh nach der Probezeit gehen zu können. Sie fing an, die in London gesammelten Geschichten zu einer biographisch getönten Symphonie der Stadt zu verarbeiten. Es gelang nicht.

Sie legte das Projekt zur Seite und hatte etwas gelernt. Ihre Personen wollten präziser gefasst und durch ein Schicksal gelenkt werden, das zu ihnen passte.

Kriminalgeschichten mussten es werden. Das Leben war verschwommen genug, da mussten ein paar klare Linien eingezogen werden. Sie interessierte nicht Mafia, politische Intrigen oder internationaler Drogensumpf. Sondern das Verbrechen des ›nackten Menschen‹, der nur so eigenwillig war wie sie ihn vorfand. Ihre Mutter hatte Georges Simenon gelesen. Eine Straftat entstand nicht aus der Gier nach Geld oder Macht oder den dunklen Mörderkammern abartiger Seelen. Die Figuren taumelten ins Unheil, weil sie einer Welt ausgeliefert waren, die nicht erkennen ließ, ob sie eine Wahl hatten. Sie konnten höchstens unglücklich auf ihre Weise werden. Das Verbrechen war die unausweichliche Folge ihrer Nöte, aus denen sie sich nicht anders befreien zu können glaubten. Alles geschah als crime next door. Der suspense lag weniger im Dramaturgischen als in der Unabsehbarkeit des Absehbaren.

Einmal im Jahr verreiste sie für einige Wochen, um den Unterleibsgeschichten in einer fremden Stadt nachzugehen, und daraus wurde jeweils ein Buch. Von den ersten vier erreichte der Verkauf die Auflage nicht, das fünfte wurde ein Erfolg, ohne dass sie ihn sich erklären konnte, und dabei blieb es. Yul beneidete sie; sie wusste, was ihm dabei wirklich imponierte, waren ihr Gespür für die abgründigen Züge ihrer Durchschnittscharaktere. Auf seine Frage, worauf sie sich verlasse, während sie schrieb, sagte sie: »Auf die Stadt.« »Die Menschen darin« »Nein, die Stadt, die die Menschen gebiert.« Das Personal, fand er, könne ein wenig Ironie vertragen. Er hatte nichts verstanden. Am Anfang irritierte sie ihn mit ihrer Neugierde. Er dachte, sie gelte ihm persönlich. Bis er merkte, dass er ihrer Stoffsammlung diente. Seither wich er aus.

Sie wollte ihm mit dem Amarone die Zunge lösen, er kam ihr zuvor. »Im Flieger hatte ich so etwas wie einen Durchbruch. Wahrscheinlich wieder die alte Geschichte: Ich muss die Dinge so lange aushalten, bis sie mir unerträglich werden.« »Mir bist du auch langsam unerträglich geworden.« »Ich weiß.« Sie war überrascht, was alles aus ihm herauskam. Geradezu trotzig erzählte er ihr die Details und kommentierte zornig. Die Selbstherrlichkeit der ›Mission‹. Die herablassende Zepterkrawatte. Die Unverfrorenheit, ihn nach Duschanbe zu schicken.

Mit aufgestelltem Rückenfell, erzählte er, war er zum Zoll getreten. Ohne Taktik, vorsätzlich. Der Beamte holte mit der behandschuhten Hand aus, drückte den weißen Zeigefinger auf das weiße Päckchen und sah ihn fragend an. »Swiss chocolate for a friend.« So viel Chuzpe hatte sie ihm nicht zugetraut. »Show me.« Er nahm die Schachtel hoch und nestelte ein wenig daran herum. Sie ging nicht auf. Auch als er sie ans Ohr hielt und schüttelte, tat sich nichts. Er zuckte mit den Schultern und blickte unschuldig den Beamten an, der ihn beobachtete, die Hände in die Hüfte gestemmt. Sie kannte es, wenn er ein harmloses Gesicht machte, sah es für andere eher grimmig aus. »Sorry, I‘m lying, these are drugs for my own.«

Sagte er in Tadschikistan. Zwischen Wagemut und Dummheit verschwimmt die Grenze. Der Mann in Uniform schaute ihn ausdruckslos an. »Drugs«, kollerte es aus ihm. Pause. Dann schlug er heftig auf Yuls Schulter, lachte explodierend aus seinem tadschikisch runden Schädel: »Towarischtsch, ›drugs‹!« und brüllte nach hinten zu seinen Kollegen. Von dort kam kurzes Grölen. »›That german bastard, fuck off!‹ Auf dem Weg nach draußen hab ich mir erstmal ein Bier gekauft und so gezittert, dass die halbe Dose daneben ging.« »Und dann« »Der Rest war Routine.« »Was hättest du getan, wenn er auf Aufmachen bestanden hätte« Er zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung.« »Hättest du aufgemacht« »Na, sicher. Ich bin ja selbst gespannt, was drin ist.« »Wie, du weißt es immer noch nicht« »Nein. Ich lass es auf mich zukommen. Das reizt mich an der ›Mission‹. Irgendwann passiert es. Was soll schon drin sein. Für Drogen ist der Aufwand zu groß. Für Plutonium ist die Schachtel zu leicht. Höchstens chemische Kampfstoffe, in kleinen Fläschchen. Die ich dann vor den Augen des Zolls austrinken darf.«

»Vielleicht ist die Botschaft nicht die Botschaft.« »Sondern« Sie verstand nicht, was er an der ganzen Tüten-Geschichte fand, die immerhin einiges von seiner Arbeitszeit in Anspruch nahm. Warum er diese ›Mission‹ nicht endlich fahren ließ. Der Mann stand, das hatte sie schon öfter gemerkt, manchmal etwas abseits der Realität. Eins war in jedem Fall klar: Sie ließ sich da nicht hineinziehen. Aber wegen der kriminalistischen Seite blieb sie neugierig.

»Vielleicht wollen sie die Zollkontrollen testen. Das machen sie am besten mit Leuten, die nichts davon wissen.« »Wer« »Hast du nie nachgefragt« »Natürlich habe ich. Sie sind mir immer ausgewichen. Manche Leute fühlen sich bei solchen Operationen sehr bedeutend. Geheimes Wissen stärkt.« »Haben sie gegen dich etwas in der Hand« »Dazu müsste ich erst mal wissen, wer sie sind.« »Und die Leute, die du triffst« »Sind auswechselbar wie ich. Wenigstens werde ich honoriert.« »Du bekommst Honorar Wie viel denn« Das änderte manches. Vielleicht blieb er dabei, weil er dort mehr verdiente als mit seinen Sendungen. »Je nach Aufwand, Dauer. Es ist auskömmlich, aber nicht mafiös.« »Was fängst du damit an« »Nichts. Es liegt bei mir herum.« »Im Kopfkissen In der Wäsche« »Unter den Dielen.« »Die du nicht hast.«

In diesem Krimi war sie jetzt Augenzeugin.

»Solltest du nicht den BND informieren« »Der würde sehr neugierig werden. Geheimdienste verdächtigen eine Zweijährige im Plantschbecken.«

»Du musst irgendwas unternehmen.« Sie zog, riss förmlich den Saum ihres Rocks nach unten.

»Marion, bisher ist alles korrekt zugegangen. Ich will mich nicht beschweren Ich komme herum, der Stress beim Zoll macht mich erfinderisch. Ich bin kein Stubenhocker. Die ›Mission‹ hat sich den richtigen herausgesucht. Vor zehn Jahren wäre ich mit gesenkten Hörnern auf sie losgegangen. Heute erkenne ich mich darin wieder. Es ist mir immer etwas mulmig, aber das reizt mich. Wir gehen doch alle brav hintereinander eine breite Straße entlang. Ich kriege die ›Mission‹ nicht zu fassen, das finde ich aufregend. Ich warte, bis sie sich verrät. Sie hat mein Leben verändert, schon jetzt, ohne mein Zutun.«

»Jungen brauchen sowas.« Sie musste das nicht verstehen. Aber das Honorar fand sie attraktiv, bar auf die Hand, nicht zu versteuern. Es müsste bald für eine Eigentumswohnung reichen. »Niemand wird betrogen, gequält.« »Bist du sicher, Mann Du weißt nicht, was für Schweinereien du damit unterstützt. Wirtschaftskriminelle kommen oft seriös daher, Banker, Investitionshaie, Steuerbetrüger.«

»So sehen die Leute, mit denen ich zu tun habe, nicht aus.« »Du kennst doch nur deine braven Astrophysiker. Die ganze Geschäfts- und Finanzwelt und die Politik – du ahnst nicht ein Mal, was da alles in äußerlich korrektem Rahmen verschoben und betrogen wird.« »Ich will es so lange nicht wissen, bis ich auf etwas Verdächtiges stoße.« »Na dann viel Glück.«

Eine ›Mission‹, die nicht zu greifen war. Das waren nicht die Geschichten, die sie reizte. Geheimnistuerei, ohne dass wenigstens eine Ecke des Teppichs gelüftet würde, ginge allenfalls bis zur Hälfte des Romans, dann musste ein konkreter Anhaltspunkt kommen. Aber nur Tüten: nichts dran, nichts drin. Dankenswerterweise hielt er daran fest. Vielleicht kam ja noch etwas heraus. »Du hast einen sonderbaren Kerl vor dir, einen Journalisten, der nicht wissen will.« Das war nicht, was sie jetzt von ihm hören wollte.

»Es gibt inzwischen mehr, was mir ein Rätsel bleiben kann.« »Zum Beispiel« »Du. Am Anfang wollte ich dich verstehen, Marion. Keine Chance. Ich bin inzwischen dabei, mich mit deiner Eigenart anzufreunden.« »Klingt wie Desinteresse.« »Nein, ich versuche mir nicht zurechtzubiegen, was mir fremd ist. Sondern von mir abzusehen. Wenn ich das lernen kann, dann an dir.«

Sie lächelte ihn unschlüssig an.

»Es ist Demut, Hingabe, wenn du willst.« Er zögerte kurz. »Ich mag solche großen Worte nicht.« »Ich weiß. Wäre es Desinteresse, säße ich nicht hier. Das Leben ist nicht nur, was ich kapiere. Im übrigen bist du nicht gerade die Frau, die sich erklärt.«

»Ach Yul«, sagte sie und schob den Teller von sich, »das klingt alles so evangelisch. Aber du hast ein konkretes Problem.«

»Ein Problem Journalisten tun so, als hätten sie das Recht und die Pflicht, alles zu erfahren und zu wissen. Sie sind Voyeure im Auftrag der Öffentlichkeit. Denken sie. Ich ertrage es manchmal nicht, wie inquisitorisch sich manche aufspielen, wenn sie die Kamera vor sich haben. Es gibt schon genug Neugier, die so geil ist, dass sie sich nicht um Gefühle schert. Und sich im Unglück der anderen suhlt.«

»Also für dich ist diese ›Mission‹ eine höhere Instanz, an die nicht gerüttelt werden darf. Am Ende geht‘s aber immer um Macht und Geld. Ich wundere mich über dich. Einer, der über komplizierte Kosmologie schreibt, und jetzt geht er vor ›Demut‹ in die Knie. Das ist naiv, um nicht ein anderes Wort zu nehmen.«

Sie schloss die Augen und ließ über der durchgedrückten Wirbelsäule den Kopf hängen.

»Die nüchterne Marion. Ich verkläre nichts. Vielleicht ist es für mich ein Ausgleich, fällt mir gerade ein. Naturwissenschaft ist so geheimnislos. Außerdem profitierst du davon.« »Ich profitiere« »Von meinen Lektionen in Hingabe.« Er grinste. Solche Offenbarungen, so unverbindlich charmant sie vielleicht gemeint waren, trieben sie in die Defensive.

»Wollen wir mal verreisen von deinem Geld« »Wir wollen, aber ich möchte noch nicht.« »Warum« »Ich warte ab.« »Kaum kommen die Leute zu Geld, werden sie geizig.« »Dass du das sagst. Ich will noch mehr erfahren.« »Was ist, wenn alles so bleibt« »Dann«, er dachte kurz nach, »wäre Sisyphus glücklich.«»Oh nein, Yul, verdirb mir den Abend nicht.« »Dann komm ins Bett.«

4 Köln

Er hatte sich in den hinteren, etwas höheren Teil des halbdunklen Beirut gesetzt, einen Ellbogen auf das Geländer gelegt und sah zum Ober herunter.

Köln. Alles war anders diesmal. Auf Duschanbe folgte Helsinki, dort hieß es: nach Köln. Er unterstellte der ›Mission‹ Symbolbewusstsein und las aus der provinziellen Nähe zurückgestuft worden zu sein. Wenn seine Kurierdienste nicht mehr erwünscht waren, ließe ihn die ›Mission‹ über ihre Motive mit Sicherheit im Unklaren. Er wäre die pubertäre Geheimniskrämerei los. Aber es ließ ihn das Gefühl nicht los, als hätte man ihm eine besondere Aufgabe entzogen.

Ein junger Mensch von unter zwanzig Jahren betrat in Turnschuhen, kurzer Hose und Schlabber-Shirt das Restaurant. Er peilte Yul zielsicher an, nickte ihm kurz zu und setzte sich an den Tisch. Erleichtert sah Yul, dass er eine weiße Tüte neben sich stellte.

Das Gespräch nahm diesmal er an sich. »Merkwürdig, wie unterschiedlich das Personal ist, mit dem ich es zu tun bekomme.« »Meinst du den Ober« »Sie.« »Wen hast du erwartet, den russischen Präsidenten«, sagte der Junge. »Wäre angemessen.«

Yul fehlte der Anschluss. Wahrscheinlich hatte er sich alles nur eingebildet, und nichts war von Bedeutung.

»Ich gehöre schon seit Jahren dazu.« »Seit Jahren« Der Junge preschte ja munter vor. Wieder kam Yul die Idee, dass die ›Mission‹ ohne Hierarchie auskam. Sie erklärte nichts, niemand dirigierte, niemand wollte etwas; alles war nur da. Ein rätselloser globaler Mechanismus, aus dem der Betrachter ein Geheimnis machte, wenn er nicht begriff. Jeder suchte einen Sinn. Die Eigenliebe des Menschen vertrug es nicht, Spielball statistisch fassbarer Wahrscheinlichkeiten zu sein. Gott, Vorsehung, kosmischer Wille, astrologische Programmierung, Gaia, morphogenetische Felder – Mächte wurden herbei geglaubt. Das Universum durfte nicht ohne Sinn davonkommen. Dabei hatte es noch nicht mal einen Zweck. Wie das Leben. Programmiert hatte es nur Selbsterhaltung, sonst wäre es längst eingegangen. Wenn er weiter dachte, geriete er rasch in philosophisches Binsengeraschel.

Wie war die ›Mission‹ in Gang gekommen Wer hatte die Idee dazu Wer füllte die Umschläge Woher kam das Geld, wer zum Teufel bestimmte die Treffpunkte Er begriff es umso weniger, je mehr daran herum dachte. So spielte das Hirn seine Herrschaft aus, da es für alles Ursache und Zweck brauchte. Tropische Spinnen hockten in großen räumlichen Netzen, webten in Familienverbänden daran und verließen sie nie. Innen das Wunderwerk eines selbst gestrickten Kosmos, außen ein feines Gespinst mit der schönen Sinnlosigkeit von Poesie. Es störte sie nicht.

Sah er den schlaksigen Jungen vor sich, war er nahezu sicher, dass die ›Mission‹ einen Yul Hollweg nicht kannte, so wie Mark Zuckerberg ihm auch noch nie die Hand geschüttelt hatte. Niemand lobte oder maßregelte, zeigte irgendwelche Absichten. Zu glauben, als Kurier gewürdigt zu werden, solange er immer weiter weggeschickt wurde, projizierte ihm der eigene verschwitzte Ehrgeiz. Dem Jungen war es völlig gleichgültig, wen er traf, er machte seinen Job und ging.

Er sollte die ›Mission‹ mal provozieren und zum Beispiel den nächsten Termin verstreichen lassen. Hatte ihm im übrigen jemand gesagt, dass er die Tüte nicht öffnen dürfe

»Wir müssen alle selbst herausfinden, was uns die ›Mission‹ bedeutet.« Sagte der junge Mensch in der kurzen Flatterhose, als läse er Yuls Gedanken mit. »Und wohin geht es als nächstes« »In der Tüte.« Hoffentlich nicht nach Hamm oder Cham.

»Besuchst du hier noch jemanden Zeit ist ja noch.«

»Würden Sie es tun« »Sieht gut aus.« »Das Besuchen oder die Besuchte« Der Junge grinste fast wie Burt Lancaster, nur nicht so abgefeimt. »Es ist dein Job.« Damit erhob er sich, klopfte mit den Fingerknöcheln kurz auf den rohen Tisch, nahm Yuls Tüte, nickte ihm zu und verließ in wenigen Schritten das Beirut.

Wenn er den ICE um sieben nahm, hätte er noch Zeit genug für Lisa. Er aß mit seiner Tochter, spürte die Wärme des Vaterseins und fragte sich während der Rückfahrt, wie ihm einfallen konnte, nach dem Beirut sofort heimzureisen.

Er musste die Regeln nicht brechen, sie brachen ihn. Er fiel von einem Baumhaus, das er mit seinem Patensohn besteigen wollte, und einige Rippen gaben den dicken Ästen in der Falllinie nach. Für die nächsten Wochen wünschte er die schmerzhafte Schwerkraft am besten auf der Internationalen Raumstation zu lindern. Ersatzweise in einem Jacuzzi. Die ›Mission‹ ließ er warten. Sollten sie zusehen, wie sie von seinem Unfall erfuhren. Demut war keine Einbahnstraße.

Marion trug manchmal Perlen am Hals. Bei Nervosität fingerte sie daran herum. Sie waren an einem Gummiband aufgereiht. Wenn man sie dehnte, wanderten die Perlen ein Stück mit und blieben dann zurück. Da verstand er, warum die Welt im Ganzen nie zu fassen ist. Der Kosmos expandierte immer rascher, und das Licht von Sternen und Galaxien kam nicht hinterher. Immer größere Räume des Universums sanken ins ewige Schwarz zurück. Ohne Licht blieben große Teile des Universums unerforschbar. Astronomen schätzten dieses unbeleuchtete Universum knapp viermal so groß wie das sichtbare.

Das war, was Yul an der Kosmologie immer gereizt hatte: Urania schleiertanzte um die neugierigen Physiker herum und verhüllte ihre Umrisse. Hier streckte sie einen Fuß, da eine Hand, dort ein Knie heraus, aber die Gewänder flogen viel zu rasch, um die ganze Gestalt preiszugeben. Je geschickter die Wissenschaftler es anstellten, desto sicherer entzog sich sie sich ihnen. Sie müssten das Weltall von außen betrachten, das wäre es.

Den Kölner Jungen kümmerte die Botschaft der ›Mission‹ wenig; er war Teil von ihr, was ging ihn das Ganze an.

5 Pjöngjang

Er stand am Gate und schaute auf die Flugzeuge draußen. Er hatte vergessen, sich bei dem Jungen zu erkundigen, wie die ›Mission‹ auf ihn gekommen war. Wahrscheinlich hatte ihm sein Großhirn die Frage abgeschlagen, damit er nicht schon wieder Fragen stellte, wo er keine Antworten bekam.

Pjöngjang hatten sie sich diesmal einfallen lassen. Eine Mauer, glatt, hoch, abweisend nach hinten fliehend, eine Zitadelle aus Kalten Kriegszeiten. Von der Hauptstadt sollte er nach Riwon fahren, um vor einer Kaserne seine Kontaktperson zu erwarten. Als vermutlich einziger Europäer würde er sich dort wie auf dem Laufsteg bewegen. Sofern er überhaupt bis dahin kam.

Das nächste Mal wären dann die Yanomamies dran oder der K2. Marion hatte ihm mit ›ich an deiner Stelle‹ abgeraten. »Jetzt testen sie, was du draufhast.« »Ist mir willkommen. Ich nehme das Risiko wie eine Droge.« »Du musst wissen, was du tust.« »Hast du keine Angst um mich« »Sollte ich« Sie glitschte ihm immer weg. »Ach Marion, sei nicht mühsam. Wünsch mir einfach, dass ich durchkomme. Das Drama kommt von allein.« Sie sah ihn unverwandt an, in ihren Augen gab es nichts zu lesen.

Vor der Landung sollte er sich eine Strategie für die Zöllner überlegen. Ihren Nackenhärchen war der Grimm, die Weltrevolution zu verteidigen, vermutlich einzeln eindoktriniert.

Fernöstliche Unbedingtheit war ihm unheimlich. 1945 war ein japanischer Soldat auf einer militärisch belanglosen Pazifikinsel auf Wache geblieben, bis er delirierte, sie kämen von allen Seiten gleichzeitig. Zwanzig Jahre später wurde er erlöst. Heute stand er in Diensten Nordkoreas. Die KP Chinas hatte ihren völkerversehrenden Maoismus nach Pjöngjang ausgelagert, wo die regierenden Kims ihn als lustiges Schattenspiel vorführten, aber mit dem tödlichen Ernst der Vasallen.

Er trat gegen sich selbst und eine Festung an, die nicht nach ihm und noch weniger nach Entsetzung lechzte. Würde die Mauer geschleift, fühlte sich die Besatzung nackt vor einem Feind, den nur sie wahrnahm. Deswegen verteidigte sie ihre Schutzhaft so unnachgiebig. Die fugenlose Mauer stieg ihm entgegen, je weiter das Flugzeug seinem Ziel zusank.

Er stünde vor unergründbaren Wachs-Gesichtern, ausgehärtet in staatstragendem Misstrauen. Weder sie zu schmelzen hatte er einen Plan noch für einen unbehelligten Abstecher nach Riwon. Ohne die Zusage der staatlichen Reiseagentur kam er nicht ins Land. Vorsichtshalber hatte er in seinem Touristenantrag von der ergiebigen Fischerei, dem vorbildlichen Industrie-Komplex und der eindrucksvollen Partei-Architektur in Riwon geschwärmt. Die Agentur ließ ihn im Unklaren.

Im Flughafengebäude lieferte er sich zunächst mit einem jungen Zöllner ein kurzes, gestisches Geplänkel, wer die weiße Box zu öffnen habe. Der Grünrock bohrte mit seinem behandschuhten Finger in seine Brust. Er nahm die Schachtel zur Hand, zog den Klebstreifen weg, löste bedächtig das lackierte Umschlagpapier und reichte sie mit zeremonieller Geste wieder dem Zöllner. Der wich zurück und schickte sich mit mehr Angst als Gesicht an den Deckel zu öffnen. Plötzlich begann er ihn wie ein wütendes Schoßhündchen anzukeifen. Er pochte mit seinen kindlichen Handknochen auf die Schachtel und schrie grell nach hinten. Die übrigen Fluggäste schoben sich mit langen Hälsen vorbei.

Zwei gewichtige Gestalten trugen ihre gestärkten Uniformen und tellergroßen Schirmmützen heran und warfen im Stakkato scharfkantige Satzpakete nach ihm. Er zuckte im Schutz des Nichtverstehens die Achseln und hob hilfesuchend die Hände. Es kam ihm wie ein groteskes Laienspiel vor. Wieder wurde nach hinten gegellt.

In der Zwischenzeit hatte sich die Ankunftshalle geleert, er stand mit den Zöllnern allein um den Tisch. Eine Weile schimpften die drei feindselig auf ihn ein. Ein Agent, kein Zweifel, sie hatten ihn heldenhaft enttarnt, das Land war erneut gerettet. Sie fuhren mit zwei Fingern unter die Knopfleiste seiner Jacke und rüttelten daran.

Noch ein Uniformierter erschien. Auf dem Brustpanzer schuppten zahlreiche Auszeichnungen. Die Zöllner überboten sich, kaum war der Offizier näher getreten, in kläffender Lautstärke, rissen an seinem Arm und fuhren mit der Schachtel in der Luft herum, bis der reich Dekorierte mit einer Handbewegung das Theater beendete und Yul in hartkehligem Englisch anfuhr. Er sei durchschaut. Wovon er mit dem Schmuggel abzulenken versuche. Welche Informationen in der Box seien. Seine Auftraggeber, seine Verbindungsleute im Land Hier, in Riwon

Er fragte, was an der Schachtel auszusetzen sei.

»Sie verhöhnen die Demokratische Volksrepublik Korea. Sie beleidigen unseren Obersten Führer.« »Was werfen Sie mir vor« »Die Invasion der USA findet in Riwon statt. Sie gehören dazu. Wir wissen es bereits.« »Da wissen Sie mehr als ich.«

Ihm riss der Geduldsfaden, seine Ohren ertrugen das Keifen nicht mehr. Er überschrie Kim Jong-uns Tempelhunde und ließ den ganzen Überdruss an der ›Mission‹ von der Leine. Er hatte alles auf einmal so satt. Auch sich selbst, dass er auf die eigene Neugier hereingefallen war, dass er sich für dieses Nichts an ›Mission‹ diese amtsgeilen Hühnerfresser gefallen lassen musste. Sie missachteten jede Grenze von Zurückhaltung, kreischten aber hysterisch auf, wenn sie glaubten, andere brächten ihnen nicht genug Respekt entgegen. Jetzt entfuhr ihm der ganze Atem, den er immer wieder angehalten hatte. Er brüllte hemmungslos auf die verblüfften Kinderköpfe ein, am liebsten würde er ihnen die Amtsschirme herunterhauen, ließ all den angestauten Ärger von der Leine, den Selbsthass, so lange hatte er sich mit seiner eingeredeter Demut betrogen, und schrie schon aus Angst vor dem Kommenden. Der Offizier schrillte dagegen, aber Yul hatte den voluminöseren Brustkasten. Am Ende fühlte sich Yul erschöpft. Willenlos ließ er sich abführen.

Der Mensch stirbt, wenn er nicht mehr gerufen wird. Folter, Demütigungen sprechen zu ihm. Die Nordkoreaner werfen ihn in eine leere, fensterlose Zelle mit einem Loch in der Ecke und sehen nicht mehr nach ihm. Kein Licht, nicht eine Ritze, kein Essen, kein Blick durch die Klappe, kein Geräusch, keine Quälereien. Sie haben von ihren Philosophen gelernt, wo der Ursprung des Schmerzes sitzt. Es ist dort, wo der evolutionäre Erfolg des Menschen arbeitet.

Er legt sich auf den Boden, schließt die Augen und hört seinem Atem zu. Langsam verebben in der Dunkelheit Lärm und Erre-gung. Die rauschende Stille sickert durch die Ohren ins Blut. Er beginnt zu reden, hustet, brummt, stöhnt und singt, jeder Ton füllt ihn und schlägt an unsichtbaren Wänden zurück. Sein Hirn beginnt zu schmerzen, als schlüge er den Kopf an die Wand. Er will in die Nacht hinaustreten, Stimmen, Geschrei, Verkehr hören, Gerüche riechen, Körper spüren. Wieder und wieder klopft er die Mauer ab. Vielleicht spricht sie in hell und dunkel. Sie antwortet trocken und eintönig. Mal kommt ihm die Zelle größer, mal kleiner vor. Er legt sich hin, spürt die Schwere seines Körpers auf dem nackten Boden, hebt den Hintern, wiegt sein Gewicht. Dann steht er wieder auf, drückt die Brust und dann den Rücken an die Wand. Die Hände fahren die roh verputzten Flächen entlang. Auf Brusthöhe fühlt er eine glatte Beule, abgewetzt von schwankenden Köpfen. An anderer Stelle tastet er kurze Kerben nebeneinander. Die Reihe zieht sich in die Länge, steigt auf und sinkt und bricht schließlich ab. Er merkt sich den Ort. Jede Kerbe die Geschichte eines Häftlings. Anderswo ragt ein flacher, abgewetzter Grat heraus. Dann die Tür; sie hat weder Knauf noch Klinke, auch kein Fenster, eine glatte, blecherne Oberfläche, die bündig an die Wand schließt. Mit dem Finger fährt er die Sensation der winzigen Ritzen entlang. Er vermisst die Zelle, mehrfach, fünf Schritte und ein halber die längere Seite, drei die kürzere.

So viel nackter, ungewisser Raum um ihn also. Er wartet auf die Panik, sie kommt nicht. Er denkt an Verliese von früher, in denen Häftlinge vergessen wurden und vermoderten. Das wird ihm nicht geschehen; er ist ein politischer Gefangener und Faustpfand. Er wundert sich über die eigene Zuversicht. Es kann Jahre dauern. In dieser Zeit mutiert er zum Höhlentier, die Augen erblinden, die Haut wird durchsichtig. Er fürchtet weniger Folter als die Dunkelheit, die mit der Zeit in sein Hirn eindringt, langsam Synapse für Synapse abschaltet und seinen Verstand verdämmern lässt.

Durst. Er leckt die Wände nach Feuchtigkeit ab, fängt Schweiß und Urin auf. Der Magen krampft zusammen und rollt sich ein zu einem versteinerten Ammoniten. Der Speichel verschorft, die Zunge pfropft fest unter dem Gaumen. Er muss sie mit Gewalt lösen, um nach Oasen zwischen Zähnen und Lippen und Zunge zu fahnden. Die Melasse der Spucke verklebt den Mund so fest, dass er ihn kaum noch auseinanderbringt. Immer wieder versucht er, einen fetten Schleimkloß auszuhusten oder herunterzuschlucken.

Er vertrocknet wie eine Pflanze. Tief im Stängel ziehen sich die Zellen zusammen, um noch den letzten Tropfen herauszupressen. Mit der Hand raspelt er über verholzende Haut, sie platzt in Risse auf, die Trockenheit sengt in den Schädels. Er beugt sich über eine quecksilbrige Quelle, doch kaum ist er nahe genug, weicht sie zurück und erstarrt einen Finger breit vor seiner Nase. Wenn er nachstößt, sackt das Wasser spurlos nach unten weg.

Er schreckt hoch, glaubt ein Geräusch zu hören; die Ohren konzentrieren sich, das Rauschen wird lauter und nichts darin. Er denkt, er kann seiner inneren Uhr vertrauen, doch wenn er aufwacht, weiß er nicht, wie lange er geschlafen hat. Er muss einen Takt haben, greift nach der Armbanduhr. Bis auf Hose und Hemd haben sie ihm alles genommen. Er denkt an Roman Opalka, der auf die Leinwand Zahl neben Zahl gesetzt hat, bis die Farbe blasser geworden ist. Dann hat er den Pinsel neu eingetaucht und wiederum angesetzt. In jeder Zahl dünnt die Zeit aus. Er fängt an die Sekunden zu zählen, der Rhythmus schwankt, er wird langsamer, als verzögere verharztes Öl das Gangwerk der Uhr. Er sucht aufzuholen und verliert den Takt. Aber das Herz gibt Zeit, fünfzig Mal die Minute in Ruhe. Er fühlt den Puls, zählt das Klopfen, rechnet, eine halbe Stunde. Wenn er aufhört zu zählen, verliert er die Zeit. Ist schon Sonnenuntergang gewesen Er lässt es. Zeit ist, solange sie gemessen wird.

Er kneift die Augen zu. Langsam drängen Gespenster herein, er will sie nicht in seinen Träumen haben. Er arbeitet sich heftig durch die Zelle, versucht im Schneidersitz wie eine Ente auf Händen zu watscheln, steht Kopf, schlägt Rad, kramt das Sonnengebet aus der Erinnerung, zählt Liegestützen. Der Durst holzt seine Glieder ein, je mehr er dagegen anturnt. Der Puls beruhigt sich nicht, sie huschen herum, die großäugigen Lemuren des Alfred Kubin, kriechen heran, umflattern ihn, er starrt sie an, damit sie verschwinden, Augen auf und zu, sie lassen sich nicht vertreiben. Er lehnt sich an die Wand, geht in die Knie, hält aus, bis sie zittern, damit er das Hirn nicht an den Wahn verliert. Doch jetzt drängen sie wahllos nach oben, Erinnerungstrümmer, eins zieht das andere nach sich. Menschen weinen, Kinder angstrufen, Knochen bersten, Autos krachen, der Strahlentunnel brummt, der Sektionssaal stinkt, die Anästhesistin spritzt Knoblauch, die atomare Wolke schiebt in schweigendem Dröhnen über ihn hinweg.

Er schreit, will alles verscheuchen, die Stimmbänder sind steif von getrockneten Pocken. Lautlos krächzen leere Blasen gegen den Lärm. Mit aufgerissenen Augen starrt er angestrengt, um die Freigelassenen zu verjagen. Sie sind lange eingesperrt gewesen, lassen sich nicht mehr einfangen. Er hält sich den Kopf gegen das, was da herausquillt. Alles ist in Aufruhr, es strömt, er wird mitgerissen, stemmt sich vergebens, kein Zweig, an dem er sich festhalten, keine Sandbank, auf die er kriechen kann, er treibt auf einen Wasserfall zu. Es ist zwecklos, er ergibt sich, rutscht über die Kante, fällt in einen ohrenbetäubend stillen Sturz, wird gestrudelt, eingesogen, versinkt. Damit endlich alles ein Ende hat, dieses sich ewig gegen die Schwerkraft Stemmen, das unentwegte Reden in seinem Kopf, das dauernde Sehnen und Planen, gegen den bleiernen Wellengang der Unzufriedenheit auf die Atolle des Glücks zuzurudern, vorbei an den glänzenden Maschinen dieser hochgezüchteten Welt, vorbei an Armen, die nach ihm greifen, vorbei an erwartungsvollen Blicken und Paragraphen. In Richtung Paradies, wo nichts ist, keine Materie, keine Zeit, kein Wollen, keine Schuld, kein Denken, kein Fühlen, nur ein Immer und Jetzt.

Als er wieder zu sich kommt, weiß er nicht mehr, ob er real ist oder nur Erinnerung an sich selbst. Schimmernder Flor weht in das Dunkel herein, will gesehen werden, wendet sich, scheut seine Nähe, droht und verlangt nach ihm. Er öffnet seinen Mund, wie ein Fisch. Drüben sammeln sich durchsichtige Gestalten wie Feen in der Tiefsee, gestikulieren miteinander, als sei er nicht vorhanden. Er möchte hinzutreten, sie stieben wie eine Federwolke auseinander, finden sich wieder, zögerlich eine Gestalt nach der anderen, vorsichtig, neugierig. Jetzt erkennt er, bildet er sich ein, die Mutter, seine Kinder, das umgebrachte Ungeborene, seine frühere Frau, Marion, Menschen, die ihn zu ihrem Glück verlassen haben, die sein Gewissen beschweren. Er will sie bitten, ihn hinaus zu führen, aber der Kloß sitzt wie der Fels vor der Grabkammer. Er winkt sie zu sich heran, erstaunt sehen sie herüber, er kommt ihnen entgegen, bleibt vor ihnen stehen. In ihren Gesichtern sieht er ungetilgte Schuld, sie öffnen den Mund, bleiben stumm, erwarten alles. Er will sie ermuntern, mit ihm zu reden. Sie schweigen mit offenem Mund; es wird ihm dringend, er weiß nicht, wie lange sie bleiben. Er versucht, sie anzufassen; als er sie berührt, stößt er an glatten Stein.

Die Mutter löst sich von den anderen, schüttelt den Kopf, wendet sich ab und vergeht. Er ist verzweifelt. Das Ungeborene, eine Made mit großen Punktaugen wedelt mit den runden Händchen. Es hat keinen Mund, aber er weiß, was es ihm sagen will. Er krümmt sich hilflos vor ihm. Mit der Polizei fährt er hinaus an den Stadtrand in eine Kiesgrube. Dort steht ein grünes Auto; alle Türen sind verklebt. Drinnen sitzt ein Mann zusammengesunken über dem Lenkrad. Neben ihm ein Rohr mit Mundstück, das außen führt. Die anderen stehen wie Grabstelen darum herum. Er wird wütend, rüttelt an ihnen, langt ihnen in die Gesichter. Sie sollen endlich reden. Wenn sie nicht sprechen, kann er nicht. Hilflos dreht er sich um zu den Polizisten, doch da sind keine mehr.

Die Meister des Zen. Nichts ist intelligenter, unsichtbarer, respektvoller, grausamer als das Gehirn sich selbst zerfleischen zu lassen.

Er erschrickt, wie grell es auf einmal ist, oben am steilen Schneehang, von dem er abfährt, aus den Skiern steigt und in die Hütte geht, um mit seinen Freunden zu essen. Er findet zwei, drei, sucht nach weiteren, verliert die ersten, findet andere, die ihm bekannt vorkommen, ohne sie zu kennen, verlässt allein die Hütte, besteigt den Lift, um oben die Abfahrt ins Tal zu nehmen. Die Piste ist gesperrt, er wählt eine andere, versucht auf die ursprüngliche zu wechseln, gerät auf einen verschneiten Forstweg in den Wald. Er folgt ihm, fürchtet, noch mehr von der Richtung abzukommen. Sein Herz bedrängt ihn. Vor ihm wächst der Schnee in die Höhe. Zuerst versinkt der Wald und dann der Weg. Alles ist ohne Unterschied weiß. Es sticht ihm gleißend in die Augen. Er deckt sie ab, unter der Brust dröhnt es und schnürt ihm die Luft ab.

Er weiß nicht, wie es weitergehen soll; aber er muss den Rückweg zu seinen Kindern finden. In der Hütte hat er mit ihnen gesprochen, sie sind mit den anderen am runden Holztisch gesessen, vor sich aufgetürmt die ganze Rüstung fürs alpin Extraterrestrische. Er will sie rufen, sich schreien hören, das Weiß, das nach ihm greift, von sich weg brüllen. Der Schnee verschluckt seine Stimme, jedes Geräusch, alles, was sich bewegt. Er fürchtet, hier kommt er nicht mehr fort. Vorne erscheint plötzlich eine dünne Gestalt. Sie schaut in eine andere Richtung. Freudig fährt er auf sie zu, sie kommt nicht näher. Dann ist er bei ihr, will sie ansprechen, es ist ein Stecken.

Er steht da, der blendende Schnee horizontlos, kriecht auf ihn zu, berührt ihn, heiß frisst er sich in ihn hinein, kokelt in seinen Kleidern hoch und schmurgelt um sich. Der Stoff zieht sich zusammen und schnürt ihm den Atem ein. Tief holt er Luft bis in die Lungenspitzen die Brust aufzupumpen, die inzwischen panzerhart verschwelte Jacke wegzusprengen. Es brechen nur ein paar starre Ränder ab. Langsam rutschen die Kräfte aus ihn heraus. Er beugt sich vor, windet sich und kriecht in sich, immer tiefer hinein, ein Pelztier, das sich einrollt, aus der Welt nehmen will, ehe es der Tod holt. Er hat die glühend weiße Sonne in die Fellhöhle genommen, tiefer und tiefer frisst sie sich, bis sie knisternd ausgebrannt ist. Sein Hirn fließt aus den Rissen der hitzegesprengten Kalotte wie Magma.

Die vertrockneten Glieder lösen sich voneinander und wirbeln in alle Richtungen davon. Am Ende bleibt die Asche der verkohlten Hülle zurück, die Wellen seines Atems treiben sie auseinander, sie dünnen aus und verrinnen. Die Welt ist nicht für ihn geschaffen, sie hat ihn ausgebrannt und den Rest verpustet. Nicht eine Spur bleibt zurück.

Das Letzte, was er hört, ist ein trockenes Klackern.

Am Anfang muss es eine gewaltige Entladung gegeben haben. Das Ende kommt langsam, schleichend und lautlos. Alles treibt auf immer auseinander. Zusammen bleibt, was Kraft dafür hat, der Rest löst sich wie Sand im Wasser.

Früher hatte die Theorie Zukunft. Der urerste Ballon bläht sich auf, zuerst schlagartig, dann langsamer und langsamer, bleibt stehen und sackt wieder in sich zusammen. Ist er wieder auf die Größe eines Punktes geschrumpft, beginnt mit einem neuen Knall alles von vorne.

Inzwischen gehen die Vermutungen in eine ganz andere Richtung. Eine unbekannte Energie hat das Universum fest im Griff: sie pumpt es auf und hört nie mehr damit auf. Alles entfernt sich voneinander. Zusammen bleiben nur die ganz große Materiedichte mit ihrer Anziehungskraft. Galaxienhaufen segeln in alle Richtungen davon, Andromeda, die Nachbarin der Milchstraße verschwindet auf Nimmerwiedersehen. Nebelwolken dünnen bis zur Unsichtbarkeit aus. Der Weltenraum wächst und wächst, dunkelt aus, wird leerer als jedes Vakuum. Am irdischen Himmel wird es finster, die Lichter verlöschen langsam ins Unendliche.

In einer unvorstellbar fernen Zeit sind die Sonnen ausgebrannt, kalt, tot, lichtlos, die Galaxien Ruinen ihrer selbst. Eine kalte Schlacke, einst die schimmernde Milchstraße dreht unbeleuchtet durchs All. Neue Sterne entstehen nicht mehr, zu weit verstreut ist ihr Material, Galaxien finden nicht mehr zusammen. Planeten irren unsichtbar und allein durch den Raum. Alles Leben ist längst, längst verloschen. So stirbt der Kosmos, alle Strahlung ist verendet, nur die Energie, für die es noch keine Formel gibt, treibt den Raum weiter auseinander, trostlos, ohne Gedächtnis, sich zurück zu träumen in die wundervollen Zeiten voller Licht und Leben.

Der linke Arm versuchte sich von der Schulter zu lösen; er zerrte am Gelenk wie ein Hund an der Leine. Weit draußen hatte die Hand anscheinend etwas zu fassen bekommen und ließ es nicht los. Immer ungeduldiger zog sie. Der Körper wollte den abtrünnigen Arm abschütteln. Er war nicht mehr durstig, rollte, Treibholz in den Wellen langsamen Atmens vor, zurück, vor, zurück, nichts anderes wollte er, ausgelaugt vom Salz und abgeraspelt zwischen Wasser und Sand. Die Mitochondrien waren erschöpft. Was sollen sie noch an Stäben kleben, hinter denen keine Welt war

Auf einmal schrillte es von Ferne. Kurz war Ruhe, dann schlugen heftige Schrapnelle an die schrundige Hirnschale und hallten an den Innenwänden wider. Die Wellen sollen die Lästlinge vertreiben, die zerschlagenen Glieder weiter wiegen, nur noch wiegen, unaufhörlich, auf immer, im kosmischen Gleichmaß. Widerwillig rollten sie den Strand hinauf, klaubten sich zusammen und versuchten eine Gestalt, die lange vergessen war, und in die Senkrechte zu kommen. Schwankend kamen sie hoch. Sie wollten nicht, nicht mehr in die Welt, nicht in diese Welt, aber sie wurden gedrängt.

Vor dem Sehspalt wischte Bewegung hin und her, unangenehm nahe. Fordernd drängte Helligkeit herein, es ging nicht, Schuppen hockten davor. Ein Höhlentier, vor Äonen in die Finsternis eingewandert, blind und heimisch geworden, alles hatte es abgelegt, was dem Leben im Schein diente. Jetzt musste es hinaus.

Wieder fuchtelte etwas, dann das Licht stach heftiger an die Lider. Sie blieben zu. Etwas krabbelte außen daran herum, fingerte sie auseinander.

Er wich zurück. Zuerst blind im Dunkel, dann blind in der Sonne. Irgendetwas schlug an sein Ohr, dann ans andere, der Kopf flog in die eine, dann in die andere Richtung; der linke Arm wollte immer noch von der Schulter los. Der Mond erschien oder war es ein Pfannkuchen. Die untere Hälfte riss auseinander, wurde schmerzhaft laut. Striche zitterten hin- und her. Die Scheibe klappte wieder zu, oben kollerten zwei Kohlenstücke herum. Dann riss erneut die Kreischsäge seinen Schädel entzwei. Die Ohren schmerzten, die Augen brannten, die Zunge saß am Gaumen fest. Das Höhlentier mochte nicht, wollte umkehren, sich verkriechen, wo es hergekommen war. Es ließ den Kopf hängen, und während die brennenden Augen nach unten sanken, streiften sie an einer kauernden Gestalt entlang. Sie hing auf einem Stuhl, ein Bein untergeschlagen, das andere ausgestreckt, abgerissen und verdreckt. Es stank muffig und nach Kloake. Sonderbare Bilder waren das, die da hereinsickerten. Vor dem Elenden hielt ein großes Rechteck auf dem Boden sein Maul offen. Etwas Grünes beugte sich darüber, fuhr ungeduldig darin herum, zog dunkles Zeug heraus und warf es der abgerissenen Gestalt hin. Dann wurde sie rau gepackt, hochgehievt, bis sie auf die Stümpfe kam und sich wackelnd hielt. Man schleifte sie fort. Es ging hinaus, wo es weniger hell war, hier herum und dort herum und schließlich in eine kühlere, feucht riechende Umgebung. Sie zerrten an ihr, nahmen ihr alles vom Leib und stellten sie in einen dünnen, kalten Regen.