Der Bunker von Gstaad - Peter Beutler - E-Book

Der Bunker von Gstaad E-Book

Peter Beutler

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Beschreibung

Ein Roman über ein brisantes Kapitel der Schweizer Geschichte, der mehr erzählt als jeder Tatsachenbericht. Kalter Krieg im Nobelort Gstaad: In einem Bunker tief im Fels der Alpen übte die P-26, eine Geheimarmee aus über hundert Männern und Frauen, acht Jahre lang den Kampf gegen die Russen. Sie trugen schwarze Masken, sodass sie sich untereinander nie kennenlernten. Fünfundzwanzig Jahre später werden sie in der Schweiz als Helden gefeiert. Doch die Wahrheit ist eine andere. Und sie ist tödlich.

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Peter Beutler, geboren 1942, ist in Zwieselberg, einem kleinen Dorf am Fusse der Berner Alpen, aufgewachsen. Als promovierter Chemiker war er Lehrer an einem Gymnasium in Luzern. Heute lebt er mit seiner Frau auf dem Beatenberg, hoch über dem Thunersee.

Dieses Buch ist ein Roman. Dennoch sind viele Personen nicht frei erfunden, sondern existierten wirklich. Ihre Handlungen beruhen auf einem historischen Hintergrund. Im Anhang befinden sich ein Personenverzeichnis und ein Glossar.

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© 2019 Emons Verlag GmbH

© 2019 Peter Beutler

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: shutterstock.com/Marcelo Alex

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-506-0

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Agentur Altas, Bern.

Geheimdienste sind arme Schweine. Die leiden unter zwei psychischen Krankheiten: Die eine Krankheit beruht darauf, dass sie für das, was sie tatsächlich leisten, niemals öffentliche Anerkennung bekommen. Es ist unvermeidlich so, sie müssen ja im Verborgenen arbeiten. Das deformiert die Seele. Die andere Krankheit beruht darauf, dass sie tendenziell dazu neigen, zu glauben, sie verstünden die nationalen Interessen des eigenen Landes viel besser als die eigene Regierung.

1

Mitte bis Ende April 1990

An einem kalten, nebligen Tag Mitte April stand ein älterer Herr, auffallend klein von Gestalt, im Torbogen des Zytglogge. Plötzlich lehnte er sich an die Wand und rutschte langsam, die Beine vor sich herschiebend, zu Boden. Er stützte sich mit beiden Händen ab, wohl um zu verhindern, dass sein Oberkörper auf die rechte oder linke Seite kippte. Einige Augenblicke später fiel er nach vorn. Eine durch die Passage eilende Frau wäre beinahe über ihn gestolpert, hielt aber im letzten Moment inne und beugte sich über den Zusammengebrochenen. Sie begab sich zur Telefonkabine gegenüber und wählte die Notfallnummer.

Kurz danach vernahm man lauter werdende Dreiklanghörner. Das erste Fahrzeug, das angerast kam, war ein Wagen der Sanitätspolizei. Drei Uniformierte stürzten heraus. Einer von ihnen nahm die Hand des Darniederliegenden, um den Puls zu fühlen, ein anderer hob dessen Kopf, zog die Augenlider auseinander, entnahm einer Seitentasche seiner Hose eine Spotlampe, knipste sie an und richtete den Lichtstrahl auf den Augapfel. Kopfschüttelnd flüsterte er: «So ein zerfurchtes Gesicht habe ich noch nie gesehen. Es ist nichts zu machen, er ist tot.»

Der tote Körper wurde nicht in die Leichenhalle, sondern in die Notfallabteilung des Inselspitals überstellt, wo man das Ableben amtlich feststellte. Zugegen waren auch zwei Beamte der Fahndungsabteilung der Kriminalpolizei. Sie wiesen den Arzt an, die sterblichen Überreste sicherzustellen, man könne nicht ausschliessen, dass der alte Herr möglicherweise einem Verbrechen zum Opfer gefallen sei.

«Wie Sie meinen. Es sieht allerdings danach aus, dass der Mann einem Herzstillstand erlegen ist», sagte der Arzt.

Die Polizisten durchsuchten die Kleider des Toten, fanden aber nichts ausser einem Zettel mit der Adresse eines Könizer Mehrfamilienhauses und dem Namen Jules Abel, Oberstleutnant a.D. Das war aussergewöhnlich, jeder habe doch ein Portemonnaie mit Ausweisen dabei, sagte der eine Beamte.

«Wir fahren gleich hin», sagte der andere. Er zog den Autoschlüssel aus dem Hosensack und beeilte sich, zum Wagen zu kommen.

Eine Viertelstunde später trafen sie dort ein. Im vierten Stock des Blocks stand die Hauswartin, eine stämmige, wohl auf die sechzig zugehende Frau, am ganzen Leib zitternd vor der Wohnungstür. Als die beiden Kriminalpolizisten, sie trugen Zivilkleidung, sich bei ihr auswiesen, bemerkte sie: «Sie kommen genau richtig. Da drinnen ist etwas Schreckliches passiert.»

Es herrschte ein heilloses Durcheinander im grossen Vierzimmerapartment. Beim Betreten des Schlafzimmers machten die Polizisten einen grausigen Fund. Der Bewohner lag leblos und nur spärlich bekleidet auf dem Bett. In seiner Brust steckte ein Armeebajonett.

«Der Mann ist stocksteif. Er muss bereits vor Tagen umgebracht worden sein», meinte der jüngere der beiden, als er den Arm der blau angelaufenen und einen üblen Geruch verbreitenden Leiche anfasste.

Der andere zog ein Funkgerät aus der Tasche, rief die Zentrale an und teilte mit: «Gewaltverbrechen an der Wabersackerstrasse in der Gemeinde Köniz.» Er gab die genauen Koordinaten des Tatorts durch. «Wir warten, bis der zuständige Abteilungsleiter, der Untersuchungsrichter und der Regierungsstatthalter eintreffen.»

***

Es ging hektisch zu im Büro von Sandro Nydegger, dem baumlangen, kräftig gebauten Abteilungsleiter der Kriminalpolizei bei der Kantonspolizei Bern. Das Radio Bäärn hatte Wind von der Sache bekommen und bat Hauptmann Nydegger am Freitag, den 19. April, um ein Telefoninterview.

Radio Bäärn: Was hat sich an der Wabersackerstrasse in Köniz abgespielt?

Nydegger: Es gab einen Leichenfund. Beim Toten handelt es sich um einen pensionierten Berufsoffizier, fünfundsiebzigjährig, der bis Ende 1975 Mitglied der Untergruppe Nachrichtendienst und Abwehr, der UNA, im Rang eines Oberstleutnants war. Danach erhielt er Spezialaufträge vom Eidgenössischen Militärdepartement, dem EMD.

Radio Bäärn: Details?

Nydegger: Der Mann wurde an diesem Dienstag mit seinem eigenen Armeebajonett erstochen.

Radio Bäärn: Die Täterschaft?

Nydegger: Davon gibt es derzeit keine Spur.

Radio Bäärn: Es geht das Gerücht um, das Opfer habe sich in der homosexuellen Szene bewegt. Stimmt das?

Nydegger: Dazu nehme ich keine Stellung.

Radio Bäärn: War der Offizier a.D. verheiratet?

Nydegger: Ja. Allerdings lebte er seit Längerem von seiner Frau getrennt, sie ist inzwischen verstorben.

Radio Bäärn: Uns ist zugetragen worden, das Opfer sei Mitglied der vor Kurzem aufgeflogenen Geheimarmee P-26 gewesen?

Nydegger: Der Chef des Eidgenössischen Militärdepartements, Bundesrat Kaspar Villiger, hat angeordnet, die Liste der Mitglieder der P-26 dürfe der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht werden. Ich kann somit diese Information weder bestätigen noch dementieren.

Radio Bäärn: Aber Sie wissen, ob sie zutrifft?

Nydegger: Nein. Aber er war in der Vorgängerorganisation aktiv und hat an der Schaffung der P-26 mitgewirkt.

Radio Bäärn: Herzlichen Dank für Ihre Auskünfte, Herr Nydegger.

Nydegger rieb sich mit seinem Taschentuch den Schweiss von der Stirn. Seine rechte Hand, Wachtmeister Ferdinand Oppliger, sass ihm gegenüber.

«Eine ganz faule Sache. An der Wabersackerstrasse pfeifen es die Spatzen vom Dach, dass dieser Jules Abel schwul war. Ich bin fast sicher, einer seiner Liebhaber hat ihn kaltgemacht», mutmasste Oppliger.

«Dafür möchte ich nicht die Hand ins Feuer legen. Immerhin war das Opfer in einem Alter, wo sich sexuelle Aktivitäten in Grenzen halten.»

«Fakt ist: Abel soll in seiner Wohnung ausschweifende Feste gefeiert und regen Umgang mit jungen Nordafrikanern gepflegt haben. Das jedenfalls behaupten Nachbarn. Und der Gerichtsmediziner erwähnt im vorläufigen Bericht, dass er auf der Brust des Ermordeten einen seltsamen Schriftzug ausmachte: Mit Fettstift sei in ungelenken Lettern ein Wort geschrieben worden, das als ‹Amour› zu deuten ist.»

«Das stinkt doch zum Himmel. Haben die Täter falsche Spuren gelegt? Machten sie sich Abels sexuelle Neigung zunutze, um die Ermittlungsbehörden zu täuschen? Alles Fragen, die man sich als Ermittler stellen muss.»

Oppliger konnte ein leicht schadenfrohes Lachen nicht unterdrücken. «Dann geht es zum Untersuchungsrichter und zum Staatsanwalt, und diese beantworten deine Fragen im Brustton der Überzeugung, obwohl sie von allem keine Ahnung haben. Was ist eigentlich mit dem Toten, der unter dem Zytgloggeturm gefunden wurde?»

«Das ist die Stadtpolizei noch am Abklären. Bekannt ist bis jetzt: Er war Kadermitglied der P-26, ehemals Major bei den Luftschutztruppen und heisst Waldemar Wüest.»

«Dann muss er Jules Abel gekannt haben.»

«Mit Sicherheit.»

«An was ist er gestorben?»

«Da tappen die Kollegen aus der Stadt noch im Dunkeln. Eine Zeugin hat ausgesagt, dass sie an Wüest unterhalb des Turms vorbeigelaufen sei. Er unterhielt sich lautstark mit einem anderen Passanten. Es soll zu einem Handgemenge zwischen beiden gekommen sein. Das spätere Opfer habe gerufen: ‹Hey, warum stichst du mich?› Eine Stichwunde, von einer Nadel herrührend, wurde tatsächlich an seinem Unterarm gefunden. Bei der Obduktion konnte jedoch keine tödliche Substanz nachgewiesen werden.»

«Das kann also nicht die Todesursache gewesen sein?»

«Diesen Schluss, Ferdinand, solltest du als Kriminalpolizist wirklich nicht so voreilig ziehen. Es gibt Gifte, die sich nur kurze Zeit nach der Einnahme beziehungsweise nach der Injektion in harmlose Stoffe zersetzen.»

«Gibt es Hinweise, dass Wüest der Mörder von Abel sein könnte?»

«Das wäre allzu schön. Damit hätten wir den Fall gelöst.»

«Wie soll es jetzt weitergehen?», erkundigte sich Oppliger.

«Als Erstes müssen wir uns die Hauswartin vornehmen. Sie dürfte die Person sein, die den Abel der letzten Jahre gekannt hat. Du scheinst mir am geeignetsten, in dieser Sache Erkundigungen anzustellen.» Um die weiteren Nachforschungen über Abel werde er sich selbst kümmern, sagte Nydegger. Seine nächste Anlaufstelle sei das EMD.

«Wird man dir dort Auskunft geben?»

«Ich traue diesen Leuten zwar nicht über den Weg. Aber sich uns verweigern, das können sie, mit Rücksicht auf das, was in den letzten Monaten alles vorgefallen ist – ich denke da an die Fichenaffäre –, nun wirklich nicht mehr. Die dort drüben», Nydegger zeigte in Richtung Bundeshaus, «sind ganz schön in der Defensive.»

***

Rückseite der Staatschutzfiche von Nationalrätin Menga Danuser

Datum: 21.4.77

Gegenstand: v. ID. TG.: Umfangreicher Bericht über die D., die sehr links bei der SP steht und durch ihren Lebenswandel (lebt zusammen mit SCHWARZ Kurt 42 und trinkt Abends gerne ein Bier!) bei der Bevölkerung und insbesondere bei Eltern ihrer Schüler auf Ablehnung stösst, ihre Linke Gesinnung könnte im Unterricht abfärben.

***

Nydegger erhielt beim EMD einen Termin für den kommenden Montag um zehn. Er erschien pünktlich, man liess ihn aber einstweilen warten. Der Pressechef des Departements sei derzeit gerade nicht abkömmlich.

Nydegger protestierte: «Ich komme nicht von einer Zeitung, sondern von der Polizei.»

Der Beamte, der den Auftrag gefasst hatte, ihn auf später zu vertrösten, zuckte hilflos mit den Schultern. «Ich führe lediglich Befehle aus.»

«Das glaube ich Ihnen aufs Wort. Seien Sie froh, nicht darüber nachdenken zu müssen, ob diese Befehle sinnvoll sind.»

Nydegger liess den wütenden Blick des EMD-Angestellten schmunzelnd über sich ergehen. Eine halbe Stunde später erschien der Medienverantwortliche, an einem Sandwich kauend. Kurz angebunden motzte er Nydegger an: «Was gibt es so Dringendes? Bitte fassen Sie sich kurz, mein Terminkalender verträgt nur ein kurzes Gespräch.»

Da geriet er bei Nydegger an den Falschen. «Ich muss Sie doch bitten, Herr … Wie heissen Sie eigentlich?»

«Dr. Schnell.»

«Ich bin Hauptmann der Berner Kriminalpolizei. Ich ermittle in einem Gewaltverbrechen und verlange eine Unterredung mit der zuständigen Amtsperson. Ich nehme nicht an, dass Sie das sind.»

Baff und feindselig musterte Schnell Nydegger. «Mit wem zum Teufel wollen Sie denn reden?»

«Mit dem Oberauditor und dem Chef des Nachrichtendienstes.»

Er nehme nicht an, dass diese verfügbar seien.

Nydegger machte sich zum Gehen bereit. «Wie Sie wollen. Ich habe heute um sechzehn Uhr einen Termin mit Medienvertretern. Bei dieser Gelegenheit werde ich den Journalisten mitteilen, wie man mich bei Ihnen abgefertigt hat.»

Schnell wechselte die Gesichtsfarbe. Abwehrend hielt er die Hände vors Gesicht. «Auch das noch. In diesen Tagen prügelt die ganze Nation auf uns ein, dabei tun wir nur unsere Pflicht.»

«Ihre Pflicht? Wie stellen Sie sich denn das vor? Was derzeit in Ihrem Departement geschieht, hat nichts mit Pflicht zu tun, sondern mit Behinderung von Justiz und Polizei.»

«Also gut, Hauptmann Nydegger, gedulden Sie sich noch einige Minuten. Ich werde versuchen, die beiden Herren dazu zu bewegen, sich mit Ihnen auszutauschen. Sollte das nicht möglich sein, müssen Sie sich mit deren Stellvertretern begnügen. Die wissen ebenfalls gut Bescheid.»

Es vergingen kaum fünf Minuten, da erschien ein goldbetresster Amtsweibel, führte Nydegger in einen feudal ausgestatteten Raum und wies ihm einen kunstvoll verzierten Sessel zu, der mit vier anderen um einen runden Tisch angeordnet war.

Kurz danach erschienen der Oberauditor, Brigadier Pfeuti, und der stellvertretende Nachrichtenchef, Divisionär Robert Anliker. Ein ungleiches Paar. Pfeuti, klein, untersetzt und mit leicht gekrümmtem Rücken, Anliker gegen zwei Meter gross und hager.

Der ranghöhere Anliker mit zwei Generalsternen auf den Achselpatten begrüsste Nydegger überschwänglich. Danach stellte er ihm den einsternigen Pfeuti vor. «Die ganze Geschichte um Oberstleutnant Abel ist uns sehr unangenehm.»

«Gut zu erfahren, dass Sie wissen, um was es hier geht. Schnell hatte keine Ahnung davon.»

Anliker warf Pfeuti einen Blick zu. Dieser begann auf salbungsvolle Art zu sprechen: «Die Militärjustiz ist ja nicht direkt in diesen Fall involviert. Abel hat als Privatperson gehandelt.»

Nydegger lachte auf. «Abel kann ich nicht mehr vernehmen. Es geht um die Person, die ihn umgebracht hat. Vielleicht waren es auch mehrere.»

«Wir gehen von einem Beziehungsdelikt aus», kam es wie aus einer Pistole geschossen aus Pfeutis Mund.

«Verstehe», gab Nydegger zurück. «Da wäre der Nachrichtendienst aus der Sache raus. Ein Mord im Schwulenmilieu ist nur eine Variante. Doch müssen wir alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.»

«Zum Beispiel?» Pfeuti schob das Kinn nach vorn.

«Einer aus dem Kreis der P-26.»

«Hey, nun legen auch Sie diese Platte auf», brachte sich Anliker unwirsch ein. «Davon kann überhaupt nicht die Rede sein. Unseres Wissens war Abel bis Ende 1975 Mitglied der Untergruppe Nachrichtendienst und Abwehr, der UNA. Diese befasste sich mit der Vorbereitung des Widerstandes im Fall einer militärischen Besetzung der Schweiz. Es handelt sich dabei also um die Vorgängerorganisation der Geheimarmee P-26.»

«Tut mir leid, Herr Divisionär, das sehe ich anders. Ich lege mich ja nicht darauf fest, dass die Mörder von Abel aus Geheimdienstkreisen kommen, ebenso wenig darf ich behaupten, es handle sich um ein Sexualverbrechen. Allerdings, um meiner Stimmungslage gerecht zu werden, spricht für mich weit mehr für das Erstere. Doch klar ist: Ich werde in alle Richtungen ermitteln.»

«Das nehmen wir so zur Kenntnis. So oder so handelt es sich um ein Delikt, das an einer Privatperson, die längst nicht mehr im Dienst des EMD steht, begangen wurde. Was ich damit sagen will …», Anliker unterbrach seinen Redefluss, zog seine Tabakpfeife aus einer schicken kleinen Ledertasche und stopfte sie mit Hingabe, «… was ich sagen will: Wir können uns zurücklehnen und abwarten, was die Berner Untersuchungsbehörden herausfinden –»

Nydegger fiel Anliker ins Wort. «Sie missverstehen mich gründlich. Weshalb bin ich wohl hier? Ich brauche Unterlagen über Abel, ebenso welche über Wüest, Waldemar Wüest …» Nydegger stoppte seine Ausführungen, als er wahrnahm, wie Pfeuti beim Namen Waldemar Wüest zusammensackte.

Hilfesuchend blickte Pfeuti zu Anliker. Dieser nickte und ergriff das Wort.

«Major a.D. Waldemar Wüest war seinerzeit ein umsichtiger und fähiger Offizier. Schicksalsschläge, wie sie uns alle treffen können, haben leider sein Gehirn beeinträchtigt. Nun ist er von seinem Leiden erlöst worden. Wir werden ihn in guter Erinnerung behalten.»

Nydegger konnte sich kaum mehr auf dem Sessel halten. «Dass Waldemar Wüest ein psychisch angeschlagener Mann war, mag ja zutreffen. Trotzdem kommen wir nicht umhin, seine Rolle im Zusammenhang mit dem Tod von Abel unter die Lupe zu nehmen. Wüest war zweifellos ein Geheimnisträger. Deswegen wurde er zum Risiko genau für diejenigen Kreise, denen er sich bedingungslos verschrieben hatte …»

Anliker machte ein Stoppzeichen, was offensichtlich Pfeutis Miene verdüsterte. Doch er unterliess es, seinen militärisch höherrangigen Kollegen zur Vorsicht zu ermahnen, und sagte: «Bitte unterstellen Sie uns nicht, Wüest zu einer unüberlegten, möglicherweise gesetzeswidrigen Handlung überredet zu haben …»

«Das liegt mir fern», stellte Nydegger klar. «Doch Wüest haben wir es zu verdanken, dass wir einigermassen zeitig am Tatort eintrafen.»

«Und was haben Sie dort gefunden, Oberfahnder Nydegger? Was? Hinweise, dass der Tod von Abel nichts mit unseren Geheimdiensten zu tun hatte?»

Nach Pfeutis Gesichtsausdruck zu schliessen, wäre er am liebsten in den Boden versunken.

Nydegger kniff die Augen zusammen. «Herr Anliker, wie können Sie denn wissen, was wir am Tatort gefunden haben? Die Wohnung von Abel, nachdem wir seine Leiche sichergestellt hatten, wurde von uns versiegelt. Niemand ausser unserer Spurensicherung hat sie betreten.»

Erst jetzt schien es Anliker zu dämmern, dass er eine grosse Dummheit begangen hatte. «Ach, lassen wir das, ich kann mir gut vorstellen, was Sie dort ausfindig gemacht haben.»

«Wie bitte? Nun, wenn Sie’s schon wissen, reibe ich es Ihnen nicht nochmals unter die Nase. Ich werde dazu an der für sechzehn Uhr anberaumten Medienorientierung informieren.» Nydegger stand auf und verabschiedete sich freundlich von Anliker und Pfeuti, die einander eine Weile ratlos ansahen.

***

Rückseite der Staatschutzfiche von Meyer Kaspar, Zugführer

Datum: 22.9.78

Gegenstand: v. C. S. BE: Umfangreicher Bericht über K. M., der als linksextrem auffällt (Mittglied der SP). Sein Lebenswandel gibt zu reden (lebt zusammen mit KUPFER Inge 31 im Konkubinat! und soll häufig alkoholisiert sein!). Bei den Arbeitskollegen und insbesondere bei den Vorgesetzten stösst er wegen seiner kommunistischen Gesinnung auf Missbilligung.

***

Nydegger war kaum fünf Minuten wieder in seinem Büro zurück, als sein Telefon klingelte. Es war der höchste Beamte im kantonalen Polizei- und Militärdepartement, Generalsekretär Michael Gallati.

«Wir müssen uns unterhalten. Leider ist mir dies erst ab Mitte nächster Woche möglich. Ich bitte Sie, bis zu diesem Zeitpunkt keine Pressekonferenzen zu den Fällen Abel und Wüest anzuberaumen.»

Nydegger wollte dagegen protestieren, doch Gallati sagte, darüber möchte er nicht diskutieren, und hängte grusslos auf.

Wachtmeister Oppliger schaute Nydegger fragend an. «Und, was meint dieser Schreibtischtäter dazu?»

«Dieser bescheuerte Halbschuh. Hat nichts zu bedeuten. Ich werde mich schlicht darüber hinwegsetzen.»

«Damit wirst du dir aber Unannehmlichkeiten einhandeln.»

«Darauf kannst du Gift nehmen. Aber ich weiss mich zu wehren. Ich bitte meinen Kollegen von der Stadt Bern um Mithilfe. Einer der ungeklärten Todesfälle ist ja unter dem Zytgloggeturm in der Berner Altstadt geschehen. Er wird die Medienkonferenz einberufen und zwar in den Räumen der Stadtpolizei. Doch ist es besser, wenn ich den Gemeinderat vorher informiere.»

Nydegger wählte eine Nummer und stellte den Apparat auf Lautsprecher.

«Gärtner. Sei gegrüsst, Sandro. Was hast du auf dem Herzen?»

Nydegger erzählte ihm von seinem Vorhaben, eine Pressekonferenz in Sachen Mordfall Abel anzuberaumen und vom Gespräch mit dem Generalsekretär des kantonalen Polizei- und Militärdepartements.

«Soso … der Gallati Michael. Dem ist das offenbar nicht geheuer. Verstehe, verstehe … Die haben ihm die Hölle heiss gemacht, die vom EMD, meine ich. Es sind halt auch Freisinnige wie Michael, der treue Parteisoldat der FDP. Nun ja, die dort oben im Bundeshaus haben die Hosen gestrichen voll … ha, ha, ha … Der Villiger ist nicht zu beneiden. Nach der Fichenaffäre nun das P-26-Debakel, dieser Sauladen … ha, ha, ha … und jetzt noch der Mord an einem ehemaligen hohen Geheimdienstoffizier. Kopf hoch, Sandro, tue bitte, was du nicht lassen kannst. Ich kenne Michael gut und werde mit ihm reden. Es ist ihm, dessen bin ich gewiss, noch so recht, wenn er die Verantwortung auf jemand anderen abschieben kann. Dann werde ich die Pressekonferenz arrangieren. Ich werde mit meinem Gemeinderatskollegen vom Polizeidepartement sprechen.»

«Aber der ist ja auch ein Freisinniger.»

«Ein eigenständiger. Er ist nicht abgeneigt, die Finger auch dort hineinzustecken, wo bereits die Kantonspolizei hinlangt.»

«Ganz herzlichen Dank, Klaus.»

Die Pressekonferenz begann pünktlich im grossen Medienraum des alten Waisenhauses, dem Sitz der Stadtpolizei. Der Raum war nahezu voll besetzt. Gegen fünfzig Journalistinnen und Journalisten aus allen Landesteilen waren anwesend.

Beinahe wäre es zu einer Verzögerung gekommen. Vier Zivilisten mit gehalfterten Pistolen wurde auf Geheiss von Stadtpolizisten zunächst der Einlass verwehrt. Das liessen sich diese nicht bieten und zückten ihre Ausweise. Es waren Agenten der Bundespolizei. «Sie haben die Wahl, meine Herren», herrschte sie Nydeggers Kollege, Leutnant Schürch, an. «Entweder verlassen Sie dieses Gebäude, oder Sie geben Ihre Waffen ab.»

Die vier tauschten ratlose Blicke untereinander aus. «So wird’s bald?», rief Schürch mit angehobener Stimme. «Wenn Sie uns weiter Umstände machen … haben wir noch genügend Arrestzellen hier im Hause.»

Kleinlaut gehorchten die Männer und mischten sich unter die Schar der Journalisten.

Schürch begrüsste die Anwesenden und stellte Nydegger vor. Der Mord an Abel sei Sache der Kantonspolizei, der noch ungelöste Todesfall unter dem Zytgloggenturm werde aber von der städtischen Polizei untersucht.

Danach ging Nydegger ans Rednerpult. «Meine Damen und Herren, es geht um den ungeklärten Tod des ehemaligen Oberstleutnants der Untergruppe Nachrichtendienst und Abwehr, der UNA, Jules Abel. Zuerst informiere ich über die uns schon bekannten Fakten. Auf Ihren Plätzen finden Sie ein Papier mit den Informationen. Danach können Sie Fragen stellen.»

Ein Raunen ging durch den Saal.

«Fast scheint mir, einige sind nur hierhergekommen, um die Konferenz platzen zu lassen. Das können diese sich ans Bein streichen. Auf faule Tricks falle ich nicht herein. Ich werde mir herausnehmen, zu sagen, was zu sagen ist – und zwar ungestört.»

Noch einmal schwappte eine Welle von Unmutsäusserungen durch die Reihen der Medienvertreter.

Nydegger begann zu sprechen. Zunächst über das, was er bereits im letzten Radiointerview gesagt hatte. Er berichtete über die Todesumstände bei Abel und den mysteriösen Hinschied von Waldemar Wüest. Dann kamen die Details, die er vom Papier ablas, von denen mit Ausnahme der Bundespolizisten und Oppliger niemand im Saal wusste. Eine aufmerksame Stille machte sich breit, man hätte eine Stecknadel fallen hören.

«Bei der Durchsuchung der Wohnung des Opfers fielen uns zahlreiche Akten in die Hände. Es handelt sich um solche der höchsten Geheimhaltungsstufe. Zumindest stand diese Klassifizierung auf den Papieren.»

Nydegger nahm seine Lesebrille ab und begann frei zu sprechen: «Selbstverständlich studierten wir diese Dokumente. Ich bin selbst Justizoffizier in der Armee und war vom Inhalt bass erstaunt. Was wir gefunden haben, ist alles andere als geheim. Und wenn es das einmal war, kann heute jeder Journalist in einem halben Tag mehr geheime Unterlagen ausfindig machen.»

Er setzte seine Brille wieder auf und fuhr mit Lesen weiter. «Die Täter haben nach Aussage der Hauswartin eine Reihe von Wertgegenständen mitgenommen.»

Es kam Unruhe im Saal auf. «Na also, ist doch klar. Unsere Leute von der militärischen Abwehr klauen doch nicht Wertgegenstände …», gab ein schon fast Weisshaariger zu bedenken.

Nydegger fasste den Mann ins Auge. «Als Kriminalist wären Sie völlig ungeeignet. Gerade ein Geheimdienst würde alles daransetzen, falsche Spuren zu legen, Spuren, die einen anderen Täterkreis belasten. Geschieht dies aber so faustdick wie im Fall Abel, erweckt es den Verdacht, die Untersuchungsbehörden sollten getäuscht werden. Ein höchst unprofessionelles Vorgehen, das dafür spricht, dass unsere Staatsschützer dahinterstecken.»

Ein lang anhaltendes Gelächter brach aus.

Ein Dutzend Medienvertreter erhob sich und verliess unter Protestrufen den Saal.

Als Nydegger sein Papier zu Ende gelesen hatte, bat er die Anwesenden, Fragen zu stellen. Und diese kamen zuhauf.

«Vermutet die Polizei, Leute aus der P-26 hätten Abel umgebracht?»

Nydegger antwortete: «Wir schliessen das nicht aus. Es gibt einen gewichtigen Hinweis dafür. Das ist allerdings noch kein Beweis.»

«Was ist das für ein Hinweis?»

«Es handelt sich hier um ein laufendes Verfahren. Gewonnene Erkenntnisse, die die Täterschaft warnen könnten, werden wir nicht preisgeben. Doch kann ich verraten: Der Tote unter dem Zytgloggeturm, Waldemar Wüest, war P-26-Mitglied. Er kannte das Opfer, denn er arbeitete mit ihm jahrelang in der UNA zusammen. In seiner Jackentasche fanden wir einen Zettel mit Adresse und Namen von Abel. Ein entscheidender Hinweis, der unsere Ermittlungen vorwärtsbrachte.»

«War Abel auch Mitglied der P-26?»

Nydegger antwortete: «Das EMD händigt die Mitgliederliste der P-26 nicht aus. Aus gut unterrichteter Quelle wissen wir allerdings, dass Abel nicht der P-26 angehörte.»

Nydegger legte eine kurze Pause ein, um nachzudenken. «Daraus den Schluss zu ziehen, die P-26 sei damit aus dem Schneider, könne also nichts mit dem Mord zu tun haben, würde ich nicht unterschreiben. Abel war als ehemaliger UNA-Offizier am Aufbau der P-26 beteiligt. Er war genauestens über deren Strukturen informiert.»

Wieder wurde Nydegger unterbrochen. Diesmal von einem seiner Leute, einem jungen Gefreiten namens Gottlieb Himmelberger, der ihm einen Zettel überreichte.

Nydegger las den Zettel. Die Lektüre dauerte enervierende Augenblicke.

«Soeben erfahre ich Folgendes: Abel habe mit Ex-Brigadier Jean-Louis Jeanmaire, seinerzeit Kommandant der Luftschutztruppen und als angeblicher Jahrhundertspion zu achtzehn Jahren Zuchthaus verurteilt, vor drei Wochen Kontakt aufgenommen und ihm Brisantes enthüllt. Er, ‹als Insider›, habe Verteidigungsminister Villiger angeboten, bei der Aufdeckung der ‹ganzen Wahrheit› über die vermeintliche ‹Geheimarmee der EMD-Spione› mitzuhelfen. Leider wollte man im EMD nichts davon wissen.»

Die Kugelschreiber der Journalisten tanzten über ihre Notizblöcke.

Der Vertreter der «Bild der Schweiz» streckte auf und fragte: «Herr Nydegger, glauben Sie das?»

Nydegger antwortete: «Ich nehme alle Hinweise zu diesem Mordfall ernst. Sie werden bei uns überprüft und als glaubwürdig oder zweifelhaft, als relevant oder irrelevant klassifiziert. Diese Zeugenaussage stufe ich eindeutig als relevant ein.»

Schürch beendete mit wenigen Worten die Pressekonferenz.

***

Aus der Staatschutzfiche von Bassi Franco, Primarlehrer

Datum: 18.9.77

Gegenstand: v. T. T. BE: B.F. meldete sich bei einem Lichtbildervortrag über Südafrika anlässlich der Hauptversammlung der örtlichen Offiziersgesellschaft zu Wort. B. F. griff den Referenten, Oberst Robert Anliker, der die wirtschaftlichen und militärischen Erfolge im Kampf gegen Negerterroristen der Apartheidregierung lobte, ungebührlich an.

B. F. wurde danach aus dem Saal verwiesen. Ihn erwartet ein Verfahren, das zum Ausschluss vom aktiven Dienst führen könnte. B. F. ist derzeit Leutnant in einer Infanteriekompanie.

***

Am nächsten Tag war das, was Nydegger über Jean-Louis Jeanmaire erfahren hatte, in den Printmedien das Topthema. Nydegger wurde als unerschrockener Polizist geradezu gefeiert. Das hatte allerdings gravierende Folgen. Der kantonale Polizeidirektor und FDP-Regierungsrat, Wilhelm Wasmer, lud Nydegger für den kommenden Tag vor.

Nydegger hatte sich auf eine rüde Kopfwäsche gefasst gemacht. Doch dieses Treffen verlief anders, als er es sich vorgestellt hatte. Wasmer, in schickem grauen Anzug, blauer Krawatte, schwarzen Lackschuhen, ein Strahlenmann von imposanter Statur, begrüsste Nydegger beim Eintreten in seine Suite überschwänglich. «Gratuliere, Herr Major. – Ich sehe das Staunen in Ihren Augen. Glauben Sie’s doch: Wir haben Sie befördert. Ab sofort werden Sie eine neue Funktion ausüben. Als Stabsoffizier in der Polizeidirektion. Das bedeutet fünfhundert Franken mehr Lohn im Monat und viel weniger Stress. Sie werden sich nicht mehr als Kommandant einer Abteilung mit widerspenstigen Untergebenen herumschlagen müssen. Sie werden sich nicht mehr über unlösbare Kriminalfälle nächtelang den Schädel zerbrechen müssen. Sie werden sich nicht mehr von einer Meute unflätiger Zeitungschreiberlinge schikanieren lassen müssen. All das hat jetzt ein Ende. Sie haben es geschafft.»

Wasmer ergriff Nydegger kumpelhaft am Arm, verliess mit ihm den Raum, ging zur Tür gegenüber, zog den Schlüsselbund aus seinem Hosensack und öffnete die Tür. Sie standen in einem pompösen Zimmer mit Spannteppichen und Bildern an den Wänden, einem Lavabo, einem wundervollen Schreibtisch aus Eichenholz, einem Sofa, in einer Ecke der neueste IBM-Computer mit einem überdimensionierten Bildschirm, einer der besonders teuren, er war eingeschaltet und leuchtete farbig. Wasmer riss einen der vielen Wandschränke auf. Auf Tablaren waren zahlreiche grossformatige Ordner aufgereiht. «Darin werden Sie sich in den nächsten Wochen vertiefen müssen. Nehmen Sie sich Zeit dafür. Wir treiben Sie nicht an, Unmenschen sind wir nicht.»

Ein Uniformierter tauchte auf. Er schlug die Hacken zusammen. «Herr Major, Wachtmeister Biedermann, ab sofort bin ich Ihr Adjutant, Ihr Mädchen für alles, wie man so schön sagt.»

Wasmer lachte aus vollem Halse, schlug Nydegger freundschaftlich auf die Schultern. «Sie können hier gleich anfangen. Biedermann wird Ihnen die persönlichen Sachen aus dem alten Verschlag, den ich nicht einmal Büro zu nennen wage, im Laufe des Tages hinüberschleppen.» Der Polizeidirektor drehte sich auf dem Absatz und sagte, beinahe gehetzt: «Viel Glück.» Und weg war er.

Nydegger stand wie ein begossener Pudel vor Biedermann, der sich ein hämisches Grinsen nicht verkneifen konnte.

Nydegger setzte sich auf den Polstersessel vor dem Schreibtisch und starrte an die Wand. Es mochte eine Minute vergangen sein, als Biedermann rülpste. «Ach ja, Wachtmeister, da stehen Sie ja noch. Bringen Sie meine Sachen erst am Nachmittag, bitte nicht vor drei Uhr.»

«Zu Befehl, Herr Major. Wird gemacht.» Biedermann schlug die Hacken zusammen und ging.

Nydeggers Blick fiel auf das schicke Tischtelefon. Er wählte die Nummer von Gemeinderat Gärtner, erzählte ausführlich, was seit dem letzten Anruf mit ihm geschehen war, und fragte ihn: «Klaus, hast du mir nicht einen Job bei der Kriminalpolizei der Stadt Bern?»

«Hör zu, mein Lieber. Notfalls könnte ich dir dort schon einen vermitteln. Aber nicht einen so fürstlich bezahlten. Denk an deine Familie. Eben hast du ein Häuschen gekauft und kannst Geld gebrauchen. Habe mich ein wenig gewundert. Du, der bislang immer ganz oben in einem Hochhaus wohnte.»

«Meine bessere Hälfte wollte das.»

«Geniesse das Leben, freue dich auf die Kugel, die du von nun an ruhig schieben kannst.»

«Aber …»

«Nichts, aber.» Gärtner begann zu lachen, konnte fast nicht mehr aufhören damit. «Dieser Wasmer, alle Achtung. Dass er ein derart durchtriebenes Schlitzohr ist, hätte ich nicht gedacht.»

Am Boden zerstört, mit Tränen in den Augen öffnete Nydegger die Tür seines neuen kleinen Einfamilienhauses. Seine Frau Anna schloss ihn in die Arme. «Um Himmels willen, Sandro, was ist denn geschehen?»

Er erzählte ihr alles, was ihm an diesem Tag zugestossen war.

«Und willst du bei der Kantonspolizei bleiben und die neue Stelle annehmen?», fragte Anna erwartungsvoll.

«Was bleibt mir denn anderes übrig? Das tragische Schicksal von Meier 19, dem Wachtmeister der Stadtpolizei Zürich, ist mir eine Lehre. Es ist immer noch so wie in den Siebzigern. Wer nicht spurt, wird fertiggemacht.»

«Kommst du damit zurecht?»

«Ich versuche es. Vor allem muss ich auch an euch denken, an dich und an unsere Kinder.»

«Ich bin erleichtert – aber ich hätte auch mitgetragen, wäre dein Entscheid anders gewesen. Und? Machst du gar nicht weiter im Fall Abel? Vielleicht gäbe es eine Möglichkeit, im Versteckten, sozusagen auf privater Basis, weiterzuermitteln.»

«Diese Idee hat etwas an sich. Ich werde darüber nachdenken. Doch zunächst muss ich ein wenig Gras über die Sache wachsen lassen. Ich hoffe, dass sich auf politischer Ebene etwas tut. Die Rede ist von einer parlamentarischen Untersuchungskommission, einer PUKEMD. Vielleicht kommt der Mord an Abel auf diesem Weg nochmals aufs Tapet.»

«Du gehst davon aus, dass die Berner Justiz und Polizei die Ermittlungen in diesem Fall einstellt?»

«Dessen bin ich mir sicher. Sonst hätten sie mich an meiner alten Stelle belassen und zumindest das Ergebnis meiner Untersuchungen abgewartet. Nun, sie geben mir mit der Versetzung zu verstehen, dass man nicht riskieren will, allenfalls den Tatsachen ins Auge sehen zu müssen. Was man vermeiden möchte, ist, ein Verfahren gegen P-26-Mitarbeiter eröffnen zu müssen.»

«Du glaubst immer noch, die P-26 stecke hinter dem Mord an Abel?»

«Ja, daran glaube ich immer noch. Und ich hätte das auch belegen können.»

***

Die nächste Pressekonferenz berief Nydeggers Nachfolger, der neue junge Chef der Kriminalpolizei, am frühen Donnerstagabend, den 26. April 1990, ein. In den Ermittlungen der Tötung von Abel sei man einen grossen Schritt weitergekommen. Das Verbrechen sei ein Beziehungsdelikt. Beim Täter handle es sich um einen achtzehnjährigen Strichjungen marokkanischer Herkunft. Leider sei ihm die Flucht in sein Heimatland geglückt. Man habe einen internationalen Haftbefehl ausgestellt. Allerdings habe ein Sprecher der marokkanischen Botschaft zu verstehen gegeben, dass Bürger ihres Landes nicht an Drittstaaten ausgeliefert würden. Polizei und Justiz des Kantons Bern sähen sich unter diesen Umständen gezwungen, ihre Untersuchungen im Mordfall Abel einzustellen.

Die Reaktionen am Tag darauf waren in fast allen Medien ratlos, verhalten. Es gab einige bissige Artikel darüber, aber im Grossen und Ganzen hielt sich der Protest in Grenzen.

***

Aus der Staatschutzfiche von Bisang Theres, Fürsprecherin (Rechtsanwältin)

Datum: 28.2.79

Gegenstand: v. U. S. BE: B.T. verteidigte vor dem Divisionsgericht II den Dienstverweigerer M. K. Dabei geisselte sie mit anmassenden Formulierungen den Auditor. Der vorsitzende Militärrichter, ein Oberstleutnant, musste sie zur Mässigung aufrufen. Als das nicht fruchtete, wurde sie von Soldaten aus dem Saal geführt. B. T. ist Mitglied der progressiven Organisationen der Schweiz (POCH). Sie kandidiert zudem auf der Liste dieser staatsgefährdenden und linksextremen Partei für einen Sitz im Grossen Rat. B. T. ist an ihrem Wohnort übel beleumdet. Man sagt ihr nach, sie würde ihre Liebhaber so oft wie ihre Unterwäsche wechseln.

***

Nach Feierabend traf Nydegger zufällig seinen Parteifreund Klaus Gärtner im Café Fédéral.

«Ich finde es weise von dir, dass du dich mit deiner beruflichen Situation abgefunden hast und die neue Stelle akzeptierst. Natürlich hat das EMD seine Pfoten im Spiel. Aber immerhin hat dessen Vorsteher, Bundesrat Kaspar Villiger, die P-26 auf Eis gelegt. Dass er sich entschlossen hat, die Namen der P-26-Aktivisten nicht zu veröffentlichen, hat einen guten Grund. Viele der P-26-Mitarbeiter dürften der FDP, seiner Partei, angehören oder ihr zumindest nahestehen. Er will die leidige Geschichte aus den Schlagzeilen haben. Ich würde an seiner Stelle nicht anders handeln.»

«Gerade das wurmt mich. Wenigstens hätte man unter ihnen diejenigen aussortieren sollen, die Mitbürger bespitzelt und dazu beigetragen haben, dass über sie Akten angelegt wurden. Was sich nun immer mehr zeigt, die Denunzianten haben oft tatsachenwidrig gehandelt, haben Menschen schlicht verunglimpft, ihnen erfundene kriminelle Handlungen angedichtet. Diese sind nun in den Fichen festgehalten. Als stossend empfinde ich, dass die Namen dieser Verleumder schwarz abgedeckt sind. Wer sich der üblen Nachrede schuldig macht, wie es die Fichenanleger getan haben, müsste strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.»

Gärtners Gesicht wurde ernst. «Natürlich stimmt das, was du sagst. Aber warte bitte noch einige Monate zu. Ich erinnere dich daran: Am 12. März 1990 beschlossen National- und Ständerat, die PUKEMD einzusetzen. Sie ist bereits an der Arbeit. Ich denke, wenn der Bericht dieser Kommission der Öffentlichkeit vorgestellt wird, dürfte im Militärdepartement kein Stein mehr auf dem anderen bleiben.»

«Schön wäre es, doch mir fehlt der Glaube, dass deine Prophezeiung nur annähernd zutrifft. Trotzdem liegst du mit dem Vorschlag, zuzuwarten, nicht falsch. Ändern kann ich derzeit sicher nichts.»

Gärtner räusperte sich. «Ausschliessen, dass du letztendlich recht bekommst, kann ich zwar nicht. Doch die Affäre P-26 wird ihre Spuren in der Bundesstadt hinterlassen. Da ist die Stimmung eindeutig. Eine Mehrheit ist empört darüber, dass von neunhunderttausend Personen Fichen angelegt wurden, dass die gleichen Leute, die das zu verantworten haben, nun auch noch ertappt wurden, eine Geheimarmee zu unterhalten. Nach den Wahlen im November 1992 werden wir in der Regierung und im Parlament der Stadt Bern eine linke Mehrheit haben.»

Kaum hatte er das gesagt, stürmte eine Gruppe tanzender, Flöte, Violine, Saxofon, Mundharmonika spielender Jugendlicher den Bundesplatz. Ihnen folgten weitere Menschen aller Altersklassen. Einige davon trugen Transparente, auf denen stand: «Wir wollen keine Geheimarmee. Werft die Fichenjäger ins Loch.» Es war eine fröhliche Prozession.

Doch immer mehr Stadtpolizisten in Kampfmontur tauchten auf. Besorgt sah Nydegger Gärtner an. «Was geschieht jetzt?»

«Nichts, gar nichts – unsere Ordnungshüter markieren einfach Präsenz.»

«Und wenn einige Kundgebungsteilnehmer randalieren?»

«Damit werden sie nicht weit kommen. Die Organisatoren der Demonstration haben einen Ordnungsdienst aufgezogen. Der wird eingreifen und von einigen Polizisten in Zivil unterstützt.»

«Wow! Da seid ihr weiter als die Kantonspolizei.»

«Ja, sind wir», antwortete Gärtner selbstzufrieden.

2

1979

Waldemar Wüest war zu der Parteiversammlung der SVP in Oberburg bei Burgdorf eingeladen worden, um über die Bedrohung der Schweiz durch die Streitkräfte der Warschauer-Pakt-Staaten zu referieren.

Der Berufsoffizier und Major der Luftschutztruppen projizierte die Weltkarte auf die grosse Leinwand. Die kommunistischen Länder waren rot, die blockfreien rosa, die westlich orientierten, also die den USA freundlich gesinnten, blau markiert. Gelb eingefärbt waren die gefährdeten mit einer prowestlichen Regierung, violett Südafrika, Israel, Chile, Brasilien und einige weitere. Zu diesen Staaten habe der militärische Nachrichtendienst besonders gute Beziehungen. Etwa zu Südafrika und Chile, führte Wüest aus. «Die Feinde der Machthaber von Chile und des weissen Südens in Afrika gibt es leider auch in der Schweiz. Wir sind gerade an der Schwelle eines Zeitabschnitts, wo wir weniger die Panzer aus dem Osten als vielmehr die Wühlmäuse in unserem Innern befürchten müssen. Wir sind daran – mit ‹wir› meine ich die militärischen Nachrichtendienste und das höhere Offizierskorps –, eine Widerstandsorganisation aufzubauen, die dann in Aktion tritt, wenn in der Schweiz linke Kreise die Macht übernehmen. Ob sie mit Hilfe von Truppen des Warschauer Pakts oder durch Wahlen an die Macht kommen, ist nebensächlich.»

Frenetischer Beifall brandete durch den Saal. Am lautesten gebärdete sich dabei ein Mann, der in der ersten Reihe sass. Er schrie auch noch aus Leibeskräften «Bravo».

Am Schluss der Veranstaltung trat Wüest zu ihm, dem unscheinbaren Mittdreissiger. Wüest streckte ihm die Rechte entgegen. «Waldemar, und wie heisst du?»

«Alois, Alois Hofstetter.»

«Welchen Beruf übst du denn aus?»

«Berufs-Unteroffizier bei den Übermittlungstruppen im Rang eines Feldweibels. Ich bin in der Kaserne Jassbach stationiert.»

Wüest klopfte Hofstetter kollegial auf die Schultern. «Ein verantwortungsvoller Job. Du bringst dafür auch die richtige Einstellung mit. Kennst du deine Gemeinde wirklich?»

«Ich sollte schon, schliesslich kandidiere ich für den Gemeinderat von Oberburg.»

«Ich will dir etwas verraten, von dem du noch nichts weisst. In Lorbach, dem ländlichen Dorfteil von Oberburg, ist gerade das Hauptquartier dieser neuen Widerstandsbewegung, von der ich eben berichtete, im Entstehen. In einem Gebäude, das wie ein altes Emmentaler Bauernhaus aussieht, mit dem von aussen nicht wahrnehmbaren Unterschied, dass es statt eines Kellers ein weit verzweigtes Bunkersystem hat.»

«Darf ich mir das mal ansehen?»

Wüest streckte seine Arme gönnerhaft auseinander. «Wenn du möchtest, schon morgen. Um acht Uhr?»

«Das geht schlecht. Ich werde dann in der Kaserne Jassbach erwartet.»

«Nun hör mal, mein junger Freund. Ich kenne den Schulkommandanten dort.» Wüest stapfte zum Wandtelefon im Korridor der Wirtschaft, zog ein Büchlein aus der Jackentasche und wählte eine Nummer.

«Waldemar am Apparat. Bist du es, Alfons?» – «Hör zu, Alfons, ich muss dir für morgen Vormittag einen deiner Leute abspenstig machen. Alois Hofstetter. Geht das?» – «Alois ist ein guter Mann, sagst du. Ganz richtig, diesen Eindruck hatte ich gleich bei der ersten Begegnung mit ihm.» – «Vielen Dank, dass du ihn morgen entbehren kannst. Das nächste Mal werde ich dir einen Dienst erweisen.»

Wüest sah Hofstetter verschmitzt an. «Alles paletti. Morgen treffen wir uns um acht vor dem Bauernhaus in Lorbach.»

Hofstetter staunte nicht schlecht, als ihn Wüest zur Kellertreppe des Bauernhauses führte. Da war ein gepanzerter Zugang. Danach folgten viele, viele Stufen durch einen engen, in den Felsen gehauenen Korridor. Endlich unten angekommen, war eine zweite befestigte Türe. Wüest öffnete sie mit einem grossen, schweren Schlüssel. Welche Überraschung! Sie betraten eine riesige Halle, die Platz für gut hundert Personen bot. Darin standen ein Dutzend Tische mit Telefonanschlüssen und Schreibmaschinen.

«Rücken die Leute hier ein, werden sie registriert. Unbefugte bleiben draussen», erklärte Wüest.

«Sind es viele, die hierher aufgeboten werden?»

«Derzeit sind wir noch im Aufbau begriffen. Unsere Truppe zählt vorderhand etwa fünfzig Personen. Bis Mitte der neunziger Jahre werden wir, wenn alles rund läuft, den Sollbestand von achthundert Leuten erreicht haben.»

«Eine Truppe, bestehend aus lediglich achthundert Mann? Das ist recht klein.»

«Es handelt sich um eine Eliteeinheit. Auch Frauen sind dabei. Anteilsmässig deutlich mehr als in der Schweizer Armee.»

«Gehört diese Truppe denn nicht zur Schweizer Armee?»

«Nicht unbedingt. Sie ist Bestandteil einer anderen Armee. Einer, die ebenfalls im Entstehen ist.»

«Da komme ich nicht mit. Einem Schweizer ist es untersagt, Dienst in einer fremden Armee zu leisten.»

Wüest lachte. «Alles ist nicht so einfach, wie du dir das vorstellst. Die männlichen Angehörigen dieser Truppe sind ausnahmslos auch in der Schweizer Armee eingeteilt oder waren es bis zu ihrer ordentlichen Entlassung. Nur eine Handvoll der Frauen tat noch nie Militärdienst. Das Handhaben von Waffen und diverse Kampftechniken werden sie nachholen müssen. Zu deiner Frage wegen ‹fremden Kriegsdiensten›: Das ist tatsächlich nicht verfassungskonform. Aber die Existenz der P-26, so heisst übrigens diese Truppe, ist streng geheim. Kein einziger Bundesrat weiss davon. Es gibt nur wenige in unserem Land, die über ihre Existenz informiert sind. Es gibt einen obersten Chef der P-26. Sein Deckname ist Ruben. Alle Angehörigen unserer Truppe tragen einen Decknamen. Sie werden nur damit angeredet. Meiner zum Beispiel ist Cäsar. Übrigens: Die Befehlsgewalt Rubens ist nicht allmächtig. Er ist nicht mehr als eine Art Moderator. Die Gruppen, aus denen die P-26 zusammengesetzt ist, bestehen aus vier bis höchstens sechs Leuten. Jede von ihnen hat einen Chef, der einer höheren Instanz verantwortlich ist.»

Das Gesicht von Hofstetter wurde immer länger. Wüest entging das nicht. Er schien es zu geniessen, jemand vor sich zu haben, der vor Neugierde fast platzte, aber beharrlich schwieg, um den Erzähler nicht aus dem Konzept zu bringen.

Wüest klopfte Hofstetter auf die Schulter. «Du musst noch einiges umlernen. Unsere Armee ist nur Teil, wenn auch ein wichtiger, des westlichen antisozialistischen Netzwerkes. Die P-26 ist das Verbindungsstück zwischen ihr und den übergeordneten Instanzen.»

Hofstetter wirkte verdrückt, verängstigt, aber auch erwartungsvoll. Würde er in Zukunft eine Rolle spielen? Er, der Unteroffizier, stand ziemlich tief in der gesellschaftlichen Hierarchie, er war keine besonders geachtete Person. Das wurmte ihn. Er wollte nach oben, noch weit mehr drängte ihn seine Frau dazu.

«Ich zeige dir jetzt die ganze Anlage. Sie ist noch im Bau», sagte Wüest mit stolzer Miene.

Wieder stiegen sie eine Treppe hinunter. Baulärm war zu hören, Presslufthämmer, Schlagbohrer, laute Stimmen. Einige Arbeiter hoben eine Kaverne aus. Sie unterhielten sich in einer Sprache, die Hofstetter nicht genau zuordnen konnte. Italienisch? Spanisch? Portugiesisch?

«Geht das überhaupt? Das sind ja gar keine Schweizer, und sie bauen bei uns eine Festung?», fragte Hofstetter.

«Sie wissen gar nicht, an was sie hier arbeiten. Sie wissen nicht einmal, wo sich diese Anlage überhaupt befindet. Keiner von ihnen hat jemals danach gefragt. Sie wollen lediglich den Lohn für die getane Arbeit und dann wieder zurück in ihre Heimat. Es sind sogar welche aus dem kommunistischen Jugoslawien darunter. Die Leute werden aus Bern, Thun, Basel, Zürich und anderen Städten hierhergekarrt. Sie marschieren in einen Stollen, dessen Eingang zweihundert Meter von hier entfernt liegt. Davon, dass das Bauernhaus als Hauptquartier einer Widerstandsarmee dient, haben sie keine Ahnung. Sie verlassen während der Woche die Festung nie. Sie nächtigen in unterirdischen Unterkünften, die mit den notwendigen sanitären Einrichtungen ausgerüstet sind. Die einheimische Bevölkerung ist nicht informiert, was hier geschieht. Bis jetzt ist es weder in Burgdorf noch in Oberburg einer Menschenseele aufgefallen, was in Lorbach abgeht. Das vernähmen wir sofort. Wir würden jegliche Gerüchte im Keim ersticken. Wir haben an jedem Stammtisch unsere Späher.»

«Was ich clever finde», bemerkte Hofstetter anerkennend.

«Siehst du. Du wohnst ganz in der Nähe, bist an militärischen Aktivitäten interessiert und hast gar nichts mitbekommen.» Wüest wieherte geradezu. Er wies mit der Hand auf eine Nische. «Nun werde ich dir etwas ganz Besonderes zeigen.» Er zog einen weiteren Schlüssel aus der Jackentasche, hob ihn in die Höhe. «Mit diesem Ding öffne ich jetzt eine regelrechte Wundertüte.» Es war eine kleine Türe, die zu einem Kleiderschrank gepasst hätte. «Wir müssen uns bücken, um da hineinzugehen.»

Sie traten in einen engen Gang, rechts, links, unten und oben war feuchter Fels.

«Die Feuchtigkeit ist hier ein Problem. Wir können nicht die gesamte Festung belüften. Das tun wir nur in Räumen, in denen sich Personen über längere Zeit aufhalten.»

Nach einem holprigen Marsch von einigen Minuten hörten die beiden Schüsse, abgefeuert aus Schnellfeuerwaffen.

«Jetzt wird’s ernst», sagte Wüest bedeutungsvoll. Er griff in seine Tasche, reichte Hofstetter eine schwarze Sturmmaske, griff nochmals hinein und zog eine weitere heraus, streifte sie sich über.

«Das sind die Kapuzen, die alle Mitglieder der P-26 zu tragen haben. Nur die Mitglieder einer Gruppe dürfen sich gegenseitig kennen. Der Chef einer Gruppe ist ein Offizier der Schweizer Armee. Die Funktion im regulären Dienst hat nichts mit der in der P-26 zu tun. Seine militärischen Vorgesetzten wissen in der Regel nichts von der Existenz der P-26.»

Sie kamen wieder an eine Panzertür, diesmal eine mächtige, massive. Wüest drückte auf einen Knopf und gab über die Tastatur auf Augenhöhe ein Passwort ein. «Nur damit wird dieser Zugang passierbar. Die Zeichenfolge ändert sich täglich.»

Das Tor öffnete sich. Sie traten in einen spärlich beleuchteten Korridor, nach zehn Metern standen sie erneut vor einer Tür. Ein bisschen leichter. Auch hier wurde ein Eintrittscode verlangt. Unvermittelt befanden sich die beiden in einem niedrigen, aber grossflächigen Raum. Die Grösse mochte etwa fünfzehn mal dreissig Meter sein.

Drei Mann knieten und legten an. Reflexartig hielten sich die beiden Besucher mit den Handflächen die Ohren zu. Es folgte ein wahres Feuerwerk. Aus drei Maschinenpistolen hämmerte ein Kugelhagel auf die gegenüberliegende, dreissig Meter entfernte Wand. Dann wurde es schlagartig still. Die Schützen bemerkten die Besucher und sahen zu ihnen hin.

«Berettas, der letzte Schrei aus italienischer Produktion. Eine leichte, effiziente automatische Pistole mit exzellenter Treffsicherheit.» Wüest machte Kaubewegungen, als ob er gerade einen Leckerbissen im Mund hätte. Die knienden Männer mit den Schiesseisen nickten zustimmend.

Wüest klopfte einem Schützen auf die Schulter. «Lass meinen Freund doch mal mit dieser Wunderwaffe ballern. Aber erklär ihm zuerst, wie man sie handhabt.»

Der Mann tat das mit wenigen Worten. Hofstetter verstand sofort. Mit Schusswaffen umzugehen war schliesslich sein Metier.

Nun meldete sich Wüest nochmals kurz. «Da, verborgen in einem Schrank», er wies mit dem Finger darauf, «gibt es Scheiben, auf denen bekannte Gesichter prangen. Darf ich einige herausnehmen und aufstellen?» Das war eine rhetorische Frage, denn Wüest hatte hier etwas zu sagen, das realisierte Hofstetter gleich. Wüest ging hin, öffnete den Schrank und zog mehrere Pappfiguren heraus. «Wie wäre es mit dem?» Er hob eine in die Höhe.

Zustimmendes Gejohle.

«Aber wir brauchen noch einen zweiten.» Er zog eine zweite Attrappe hervor. Er stellte beide Figuren auf. «Durchlöchere deren Fratzen», befahl Wüest, Hofstetter fordernd ansehend.

Hofstetter erkannte die Gesichter nicht, dennoch schoss er eine Salve auf das Konterfei des ersten, dann eine auf das zweite. Die Stirnpartie beider war durchsiebt.

«Brillant», lobte Wüest. «Du hast genau die richtigen Stellen getroffen. Noch ist es nur eine Simulation, aber wer weiss, vielleicht wird es tatsächlich mal Realität.»

Wüest zog zwei neue kopfgrosse Bilder von Politikern aus dem Kasten, die Hofstetter schon in der Stadt Bern auf SP-Plakaten gesehen hatte. Wüest fuhr auf deren Rückseite mit einem Klebestift darüber und drückte das Papier wieder auf den Pappkarton. Er lachte. «Für das nächste Mal.»

Wüest führte Hofstetter durch die halb fertige Festung. An vielen Orten wurde noch gesägt, gehämmert, gebohrt, gemauert. Es war ein gigantisches Bauwerk, das man sich unter dem Boden von Oberburg vorgenommen hatte.

Da fragte Hofstetter unerwartet, wer denn das bezahle, wenn ja kaum jemand davon wisse.

Wüest zog die Brauen zusammen. «Du stellst die falsche Frage. Von Bedeutung ist, dass es bezahlt wird.»

Wüest überlegte noch mal kurz. Dann schleuderte er einen beinahe strafenden Blick gegen Hofstetter. «Mach dir nie mehr Gedanken darüber, wer die P-26 finanziert.»

Hofstetter fuhr verängstigt zusammen.

Wüest schmunzelte zufrieden und versöhnlich. «Kumpel, du hast eine glänzende Zukunft vor dir. Falls du bereit bist, dich an unsere Regeln zu halten. Erstens: Rede mit niemandem darüber, was du hier gesehen hast. Zweitens: Befolge von nun an meine Befehle. Du wirst in meine Gruppe aufgenommen. Ab sofort bist du ein Geheimarmist. Und drittens: Dein P-26-Deckname ist Pinocchio. Ich frage gar nicht, ob du möchtest oder nicht. Wir fragen nie jemanden, ob er sich uns anschliessen möchte. Wir wählen die Personen dafür aus.»

Mit gemischten Gefühlen ging Hofstetter am Nachmittag an seinen Arbeitsplatz in der Kaserne Jassbach zurück. Der Schulkommandant, Oberst Alfons Wälchli, holte Hofstetter in seinem Arbeitszimmer ab und führte ihn zu sich, in das am luxuriösesten ausgestattete Büro des kleinen Waffenplatzes. Der runde, von schicken Ledersesseln umgebene Besuchertisch war gedeckt mit zwei dampfenden Kaffeetassen und Süssigkeiten.

«Feldweibel, für Sie beginnt nun eine neue Zeit.» Wälchli hob seinen Drohfinger. «Sie wissen, dass über Ihre neue Beschäftigung, der Sie neben der bisherigen nachgehen, niemand etwas erfahren darf. Ich bin der Einzige hier, der darüber informiert ist.»

«Zu Befehl, Herr Oberst.»

«Das ist kein Befehl, sondern eine Feststellung.» Wälchli räusperte sich und sprach weiter: «Das Gebot der Geheimhaltung gilt auch in Ihrem privaten Bereich. Auch Ihrer Gemahlin dürfen Sie niemals verraten, dass Sie von nun an Mitglied einer geheimen Widerstandsorganisation sind. Besonders Frauen können keine Geheimnisse bewahren, das sollten Sie wissen.»

Wälchli nahm einen Schluck des heissen Kaffees, brach einen Nussgipfel in zwei Teile und schob den einen in den Mund. Hofstetter machte es ihm nach. Amüsiert blickte ihn Wälchli an. «Ich bin zuversichtlich. Wir scheinen uns zu verstehen. Wirklich?» Er sah Hofstetter fragend an.

Hofstetter bekräftigte das mit einem entschiedenen Ja.

«Sie werden häufig von einem Tag auf den anderen von der Kaserne abgezogen, um sich Aufgaben der P-26 zu widmen. Das werde ich problemlos in den Griff bekommen, solange ich hier, in Jassbach, das Zepter schwinge. Sollte sich eine Änderung abzeichnen, werden wir für Sie eine Lösung finden.»

3

Mai bis Oktober 1990

Nydegger hatte Mühe mit seinem neuen Job. Er war mit Leib und Seele Kriminaler gewesen. Doch er fand sich mit der neuen Situation ab. Seine Lieben, Anna und die drei Kinder, Lili, Melanie und Benjamin, bedeuteten ihm so viel, dass es gar keine Frage war, die berufliche Existenz aufs Spiel zu setzen. Und zudem hatte er jetzt mehr Zeit für die Familie und der Lohn war auch höher.

Gerade die zusätzlichen zeitlichen Freiräume boten ihm Gelegenheit, sich mit vielem, was er in den letzten Jahren vernachlässigt hatte, ausführlicher zu befassen. Er begann wieder Bücher zu lesen, die Zeitungen nicht nur oberflächlich auf der Suche nach Kriminalfällen zu überfliegen, sondern auch Hintergrundartikel genauer zu studieren, mit Anna ins Kino zu gehen oder mit ihr zusammen ein Konzert zu besuchen. Das war möglich, weil seine Schwiegereltern für diese Abende den Kinder-Hütedienst übernahmen.

Im Frühjahr und im Sommer 1990 wurde in den Medien viel über die Fichenaffäre und die P-26 berichtet. Bin ich auch davon betroffen?, begann sich Nydegger zu fragen. Denn während seiner Zeit an der Universität Bern, er studierte an der Juristischen Fakultät, war er Mitglied der sozialdemokratischen Hochschulgruppe und hatte an zahlreichen Veranstaltungen, mitunter sogar auf dem Podium, teilgenommen. Er erlangte innerhalb der Studentenschaft und auch unter den Professoren einen hohen Bekanntheitsgrad als linker Aktivist. So wurde er von den einen bewundert und von den andern gehasst. Dennoch hielt er es nicht für nötig, sich beim Fichendelegierten, alt Regierungsrat Walter Gut aus Luzern, zu melden und eine allfällige Herausgabe seiner «Staatsschutzakten» anzufordern.

Mit zunehmender Semesterzahl nahm sein Elan, sich an der Uni politisch einzubringen, ab. Da seine Eltern nicht begütert waren, konnte er es sich nicht leisten, ein oder gar zwei Studienjahre in den Sand zu setzen. Nydegger bestand alle Prüfungen, die letzte und anspruchsvollste, das Lizentiat, mit Bestnoten. Gerne hätte er eine Doktorarbeit geschrieben, doch das lag finanziell nicht drin. Mit dem Abschluss als Jurist im Sack bewarb er sich auf unzählige Stelleninserate. Trotz seines brillanten Abschlusses erhielt er lange Zeit nur Absagen. Grenzenlos überrascht war er über die erste Zusage. Er hatte sich mehr aus Jux als ernsthaft auf eine Stelle als Leutnant bei der Kriminalabteilung der Kantonspolizei Bern beworben. Mit gemischten Gefühlen sagte er zu. Doch schon nach den ersten Wochen war ihm, als hätte er das grosse Los gezogen. Im Aufdecken von Kriminalfällen entwickelte er ein goldenes Händchen. Nach zwei Jahren wurde er zum Oberleutnant befördert, nach vier war er Hauptmann und der führende Ermittler in der Kriminalabteilung der Berner Kantonspolizei. Dann kam der Fall Abel.

Es war ein Glück, dass Nydegger Anna hatte. Sie war nicht die Frau, die ihm alles von den Lippen las, ihm gehorchte, sein Hausmütterchen war. Die beiden standen einander auf Augenhöhe gegenüber, obwohl er sie um mehr als einen Kopf überragte. Anna kam aus gutem Haus. Sie war ausgesprochen bescheiden und erstklassig gebildet. Sie studierte zur gleichen Zeit wie Sandro an der Universität Bern, allerdings nicht an derselben Fakultät. Ihre Fächer waren Geschichte und Deutsch. Nun unterrichtete sie in einem Teilpensum am Berner Gymnasium Neufeld. Anna kam mit der neuen Stelle von Nydegger gut zurecht. Sie freute sich, dass er seinen Lebensstil änderte. Dass er derzeit beruflich wenig gefordert war, empfand sie nicht als Makel. «Das wird sich auch wieder ändern», tröstete sie ihn. Oft, weit mehr als noch in seiner Zeit bei der Kriminalpolizei, legte sie ihm Artikel, Hefte und Bücher über das Zeitgeschehen, aber auch über Geschichte auf seinen Schreibtisch.

Anfang Mai fand er «Der aufhaltsame Aufstieg der Loge P2» von Giuseppe D’Alema. Das Buch über die «Propaganda Due» war 1984 aus dem Italienischen ins Deutsche übersetzt worden.

Nydegger blätterte darin. Er stiess auf den Namen Licio Gelli, der ihm durchaus etwas sagte. Für Nydegger war das Buch eine zeitgemässe Lektüre über Faschismus, Rechtsextremismus, Verschwörung, Mord und Menschenverachtung. Er vertiefte sich in das Werk. Er machte sich Notizen und schrieb Fragen auf wie zum Beispiel: «Gibt es einen Zusammenhang zwischen der P2 und der P-26?» Nydegger fand, dass es den durchaus gebe. Obwohl die P2 und die P-26 nicht ganz vergleichbar waren. Die P-26 war eine Geheimarmee, eine bewaffnete Organisation, deren Führer sich vorbehielten, unter Umständen Gewalt anzuwenden, nicht nur gegen einen äusseren Feind, sondern je nach Situation auch gegen Leute im eigenen Land. Die P2 war ein Verein aus einflussreichen Personen, die Ideen, Ideologien lieferten, den Parlamentarismus zu überwinden, aber auch Macht ausübten und konspirativ wirkten. Zudem war die P2 vernetzt mit organisierten kriminellen Vereinigungen, deren bedeutendste die Mafia war. All das segelte unter der Flagge des Antikommunismus.

«Was bedeutet Antikommunismus in Italien eigentlich?», notierte er und gab eine Antwort darauf: «In der Lesart der Mitglieder der P2 eine Ideologie, die alles verdammt, was sich gegen die Mächtigen auflehnt. Auf der politischen Bühne wird kein Unterschied zwischen der kommunistischen Partei, den linken und eher der Mitte zuneigenden Sozialisten und den neu aufkommenden Grünen gemacht. Die Leute, die nach den rechten Verschwörern hinter diesen Kreisen stehen, sind ausfindig und unschädlich zu machen. Zumindest müssen sie eingesperrt werden.» Und er ergänzte: «Wir wissen noch zu wenig über die P-26. Aber was im kleinen Zeitfenster zwischen dem Auffliegen dieser Organisation und heute an Nachrichten darüber an die Öffentlichkeit gesickert ist, lässt vermuten, dass die Ziele der P-26 eine auffallende Ähnlichkeit mit denen der P2 haben. Ob die P-26 wirklich schon versucht hat, einige ihrer Ziele in die Tat umzusetzen, wissen wir noch nicht.»

***

Aus der Staatschutzfiche von Werren Heinrich, Kondukteur/Zugführer

Datum: 2.3.80

Gegenstand: v. P. R. BE: W. H. hatte einen Militärzug von Wolhusen nach Oberburg zu betreuen. Während der Fahrt äusserte er sich vor Wehrmännern negativ über die Schweizer Armee. Es sei eine reine Geldvernichtungsmaschine. Er wurde von dem die Truppe begleitenden Kompaniekommandanten zurechtgewiesen. Darauf leistete er sich die Ungeheuerlichkeit, dem Offizier auf unflätige Weise zu widersprechen. W. H. wurde angewiesen, sich beim Kompaniekommandanten schriftlich zu entschuldigen. Stattdessen schrieb er ihm einen von Beleidigungen strotzenden Brief.

***

Die Verbrechen der P2 verschwanden wegen der turbulenten weltpolitischen Lage, bedingt durch den Zerfall der Sowjetunion, aus den Schlagzeilen und gerieten in Vergessenheit. Doch bisweilen wurde wieder daran erinnert. In den Samstagsausgaben der Tagespresse erschienen am letzten Juliwochenende 1990 längere Erinnerungsbeiträge über das Attentat auf den Bahnhof von Bologna vom 2. August 1980. Nydegger las sie mit Interesse, eben, weil er den Verdacht nicht loswurde, auch die P-26 könnte darin verwickelt sein.

Nydegger stiess dabei in der Schweizer Zeitung «Bundesstadt» auf das Interview mit einem Zeitzeugen, der den Anschlag hautnah erlebt hatte, Josua Berger aus Oberburg.

BS: Herr Berger, Sie waren Augenzeuge des Anschlags in Bologna.

Berger: Nicht nur ich, auch meine Gattin Ursula und mein Sohn Moritz waren dabei.

BS: Sie alle sind durch eine glückliche Fügung dem Attentat unversehrt entgangen. Wie war das möglich?

Berger: