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Schonungslos und aufrüttelnd erzählt von Bestsellerautor Peter Beutler. 1965 geschieht ein grausamer Mord im sonst so ruhigen Emmental. Der angesehene Fabrikbesitzer Balthasar Haller wird im Hof des Schlosses Trachselwald mit durchschnittener Kehle aufgefunden. Einziger Hinweis: die Tatwaffe, ein Schweizer Armeemesser. Die Ermittlungen drehen sich im Kreis, bis Staatsanwalt Ronald Weber tiefer in Hallers Vergangenheit gräbt und dabei auf einen menschenverachtenden Skandal stößt . . .
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Seitenzahl: 464
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Peter Beutler, geboren 1942, ist in Zwieselberg, einem kleinen Dorf am Fuße der Berner Alpen, aufgewachsen. Als promovierter Chemiker war er Lehrer an einem Gymnasium in Luzern. Heute lebt er mit seiner Frau auf dem Beatenberg, hoch über dem Thunersee.
Dieses Buch ist ein Roman. Dennoch sind manche Personen nicht frei erfunden, sondern existierten wirklich. Ihre Handlungen basieren auf einem realen Hintergrund. Darüber hinausgehende Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang befinden sich ein Personenverzeichnis, ein Glossar und eine Übersicht über die Schauplätze des Romans.
© 2024 Emons Verlag GmbH
© 2024 Peter Beutler
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Djamila Jaenike
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-207-9
Originalausgabe
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Sie wurden einfach weggegeben und verdingt. Hunderttausende Kinder, oft unehelich geboren, verwaist oder aus ärmlichen Verhältnissen stammend, wurden in der Schweiz in Anstalten gesteckt oder in Pflegefamilien platziert. Für viele mit traumatischen Folgen.
»Kaum war der Vormund weg, ging der Terror erneut los.« Dieses Zitat von Edith Lüthi-Hess fasst auf einer Zeile das ganze Drama der Verdingkinder in der Schweiz zusammen.
Renate Käser-Burri, 71: »Hinter der Fassade gab es Gewalt und Schläge der Bäuerin.« Murmeln sind das Einzige, was Renate Käser-Burri aus ihrer Kindheit aufbewahrt hat. Sie waren ihr einziges Spielzeug.
Aus:
1
Am frühen Morgen des Dienstags, dem 14. September 1965, lag Balthasar Haller, Burger der Stadt Bern und Einwohner von Wasen bei Sumiswald, mit aufgeschnittener Kehle auf dem Schlosshof Trachselwald. Landjäger Konrad Krummenacher vom Polizeiposten Wasen wurde gerufen. Er war für Sicherheit und Ordnung zuständig. Im Schloss Trachselwald, dem Sitz der Verwaltung des gleichnamigen Amts, gab es zwar ein Gefängnis, aber keinen Ordnungshüter.
Das Schloss Trachselwald ist die letzte erhaltene Burg im oberen Emmental. Das historische Baudenkmal wurde erstmals 1131 erwähnt. Das Schloss war im Spätmittelalter Eigentum der Freiherren von Trachselwald, dann derjenigen von Rüti bei Lyssach und zuletzt derjenigen von Sumiswald. 1408 verkaufte Burkhard von Sumiswald das Schloss unfreiwillig an die Stadt und Republik Bern, die damit im Emmental erstmals oberhalb von Burgdorf eine Bastion in ihr Herrschaftsgebiet einverleibte.
Im Schloss Trachselwald wurde der am 19. Juni 1653 verhaftete Bauernführer Niklaus Leuenberger gefangen gehalten. Wochen später brachte man ihn in die Stadt Bern, wo der Scharfrichter ihn am 27. August 1653 mit dem Schwert enthauptete und vierteilte. Leuenbergers Kopf wurde neben dem Dokument, das den Schweizer Bauernkrieg besiegelte, an den Galgen vor Huttwil genagelt, und seine Körperteile wurden an den vier Landstraßen ausgestellt, die vor dem Städtchen nach Bern führten.
Die Emmentaler verziehen den Bernburgern, den Aristokraten, die die Stadtrepublik mehr als sechshundert Jahre beherrschten, bis zu ihrer Entmachtung durch die französische Revolutionsarmee, nie. 1798 suchten Einheimische das Schloss Trachselwald heim, plünderten und verwüsteten es.
Balthasar Haller war im oberen Emmental kein Unbekannter. Er besaß ein Landgut und mehrere Fabriken für Metallbearbeitung, eine davon in Wasen.
Der Zeitpunkt seines Mordes und der Tatort wurden von den Einheimischen mit Erstaunen zur Kenntnis genommen. Dass er einem Verbrechen zum Opfer fiel, verwunderte allerdings weniger, Haller war unbeliebt. Auch der von Luzern eingewanderte Krummenacher fand kaum Anklang in den Dörfern Wasen, Trachselwald und Sumiswald. Er war Katholik, was im evangelikalen oberen Emmental nicht gut ankam.
Dennoch war Krummenacher Vertreter des Gesetzes, und man hatte seinen Anordnungen Folge zu leisten. Noch vor Arbeitsbeginn war er mit seinem Untergebenen, dem Polizeisoldaten Markus Renfer, bei dem ermordeten Haller.
Neben der Leiche wurde die Tatwaffe gefunden, ein Taschenmesser der Schweizer Armee. Der Landjäger, der den Ruf eines Säufers und Stammtischproleten hatte, rief laut aus: »Dieses Messer kenne ich!« Er nahm es in die Hand.
Der gerade eingetroffene Statthalter Werner Moser trat neben ihn. »Krummenacher, haben Sie schon einmal etwas von Spurensicherung gehört?«
Kleinlaut bemerkte Krummenacher, dass dies kein Problem sei, ein zusätzlicher Fingerabdruck auf dem Messer würde die Ermittlungen nicht behindern.
Moser musterte Krummenacher mit zusammengekniffenen Augen. »Was glauben Sie, wem gehört dieses Messer?«
Krummenacher erwiderte, dass er es nicht nur glaube, sondern ganz sicher wisse. Das Messer gehöre Christian Hachen, einem in Wasen ansässigen Tunichtgut.
Moser belehrte Krummenacher, dass es nur am Rande seine Aufgabe als Statthalter sei, in die Ermittlungen einzugreifen. Als vom Volk gewählter oberster Verwaltungsbeamter trage er jedoch die Verantwortung dafür, dass die Untersuchungen korrekt ablaufen würden. Diesbezüglich hege er seine Zweifel. »Tun Sie nun, was Sie nicht lassen können. Ich werde Ihr Handeln genau beobachten.«
Nachdem Moser den Tatort verlassen hatte, murmelte Krummenacher vor sich hin: »Hochnäsiges Arschloch … Ich werde mich jetzt zum Empfangsschalter des Schlosses begeben und die Überstellung der Leiche ins Gerichtsmedizinische Institut von Bern anordnen. Dann, Renfer, fahren wir zum Wohnort von Hachen und sehen uns dort genauer um.«
Hachen lebte in einer Mansarde, die sich nur einen Katzensprung vom Bahnhof entfernt in Andreas Ramseyers Schuhmacherwerkstatt befand.
Die Ramseyers hatten Christian Hachen nach seiner Entlassung anfangs April aus der Erziehungsanstalt Tessenberg in der Gemeinde Prêles aufgenommen. Er war am 2. September 1965 vierundzwanzig Jahre alt geworden.
Krummenacher und Renfer fuhren mit ihren Motorrädern um acht Uhr bei der Schuhmacherei in Wasen vor. Sie polterten an die Tür und traten, ohne eine Antwort abzuwarten, in das Haus ein.
»Morgen, Hausdurchsuchung und Verhaftung von Hachen«, brüllte Krummenacher.
»Nicht doch, bitte. Was hat denn Christian verbrochen?«, fragte Ramseyer mit lauter Stimme.
»Er hat heute Morgen dem Fabrikbesitzer Balthasar Haller mit einem Militärmesser die Kehle durchgeschnitten.«
»Heute Morgen? Das ist unmöglich. Ich habe Christian um sechs Uhr geweckt. Seitdem haben meine Frau Erna und ich ihn keinen Moment aus den Augen verloren.«
Krummenacher unterbrach ihn scharf: »Ramseyer, sprechen Sie bitte nur, wenn ich es Ihnen erlaube.« Dann zog er ein Taschenmesser mit einer geöffneten blutigen Klinge aus der Hosentasche und wollte es dem Schuhmacher reichen.
Dieser weigerte sich und wies darauf hin, dass man Tatwaffen nicht ohne Schutzhandschuhe anfassen sollte.
Krummenacher erwiderte verärgert: »Blödsinn, holen Sie sich einfach Handschuhe …«
Nach einer kurzen Suche brachte Erna ihrem Mann ein Paar Handschuhe. Er zog sie an und betrachtete das Messer. »Das ist nicht Christians Messer. Ich habe es ihm geschenkt, und auf dem Griff fehlen die Initialen, die ich selbst angebracht habe.«
»Ramseyer, sprechen Sie nicht so einen Unsinn. Ich stelle fest, dass es sich um das Messer von Christian Hachen handelt. Bringen Sie mich jetzt zu diesem Kerl.«
Ramseyer begleitete die beiden Polizisten in die Werkstatt, wo Christian arbeitete.
»Hachen Christian, ich verhafte Sie wegen des Mordes an Balthasar Haller, begangen heute Morgen circa um sieben Uhr.«
Christian entgegnete: »Um diese Zeit saß ich beim Frühstück –«
»Halten Sie Ihr dreckiges Maul. Sie haben nichts mehr zu sagen«, unterbrach Krummenacher ihn grob.
»Ich möchte den Haftbefehl sehen«, sagte Christian.
Statt dem Festzunehmenden das verlangte Dokument auszuhändigen, verabreichte der Landjäger ihm eine Ohrfeige.
»Das geht zu weit«, sagte Ramseyer empört.
»Geht dich nichts an«, gab Krummenacher zurück.
Dann zog er das Messer mit der blutigen Klinge aus seiner Hosentasche und wollte es Christian reichen.
»Stopp, berühre das Ding nicht«, schrie Ramseyer.
»Mache ich auch nicht, auf diese dumme Masche falle ich nicht herein«, sagte Christian selbstbewusst.
»Lege ihm Fußfesseln und Handschellen an«, wies Krummenacher Renfer an.
Dieser führte die Anweisung auf unsanfte Weise aus.
»Wir lassen den Mörder jetzt in der Werkstatt und durchsuchen das Haus. Zuerst besuchen wir Hachens Mansarde«, sagte Krummenacher und an Ramseyer gewandt: »Sie begleiten uns.«
Das Zimmer war peinlich ordentlich. An der Wand befand sich ein selbst gebautes Regal, in dem mehrere Ordner standen.
Krummenacher nahm einen heraus und blätterte darin. Ungläubig schüttelte er den Kopf. »AKAD? Was soll dieser Quatsch?«
»AKAD ist ein Fernkurs zur Vorbereitung auf die Eidgenössische Maturitätsprüfung«, antwortete Ramseyer.
Krummenacher schwieg vorerst, um nach einigen Augenblicken auszurufen: »Wie bitte? Das kann doch nicht sein, dass sich ein Dummkopf und Armenhäusler einbildet, studieren zu können.« An Renfer gerichtet, fuhr er fort: »Öffne das Fenster.« Dann warf Krummenacher den Ordner hinaus.
»Krummenacher, Sie haben eindeutig eine Grenze überschritten. Ich werde Sie anzeigen.«
»Wenn Sie nicht endlich schweigen, werden wir Sie ebenfalls auf das Schloss mitnehmen.«
Erna, die von der Türspalte aus das Geschehen in der Mansarde beobachtet hatte, rannte die Treppe hinunter ins Freie hinter das Haus und hob den arg lädierten Ordner auf, um ihn ins Wohnzimmer zu bringen. Das war notwendig, denn es regnete in Strömen.
Im Dachzimmer wüteten die beiden Ordnungshüter wie Berserker. Sie rissen die Ordner, Papierstapel und Bücher vom Gestell und verstreuten alles auf dem Boden. Mit ihren nassen und schmutzigen Schuhen trampelten sie darauf herum.
Renfer entdeckte Christian Hachens Sackmesser.
»Gib mir das«, sagte Krummenacher und ließ es in seiner Hosentasche verschwinden.
Ramseyer protestierte lautstark: »Ich habe alles genau gesehen. Sie sollten sich schämen, Landjäger. Sind Sie sich nicht zu schade, Beweise zu vernichten?«
»Jetzt reicht es mir, Ramseyer. Verschwinden Sie!«
»Nein!«
»Das ist ein Befehl.«
Stimmen waren im Treppenhaus zu hören. Gut zehn Personen stürmten herauf und betraten die Mansarde. Erna hatte Leute aus der Nachbarschaft geholt.
Ein stämmiger, fast zwei Meter großer Hüne stellte sich vor den verblüfften Krummenacher. »Verschwinden Sie sofort, sonst fliegen Sie als Nächster zum Fenster hinaus.«
Krummenacher schaffte es nicht, nach seinem Halfter zu greifen. Renfer entschied sich, es erst gar nicht zu versuchen. Die beiden wurden entwaffnet. Man stieß sie die Treppe hinunter. Unten rappelten sie sich auf, rannten zu den Motorrädern und fuhren davon.
Christian wurde aus seinen Fesseln befreit und in einen geheimen Unterschlupf gebracht.
Leider wurde er verraten und zur Mittagszeit von einer Patrouille der Polizeiwache Sumiswald in eine Zelle des Schlosses Trachselwald überführt.
Die Ramseyers und ihre Nachbarn blieben jedoch nicht untätig. Sie besprachen sich mit ihnen. Christians Mansarde wurde geräumt und das Material auf mindestens zehn Häuser verteilt, wo es aufbewahrt werden sollte.
Ramseyer informierte den Pfarrer der reformierten Kirche in Wasen über die Razzia. Der Geistliche war empört über diesen Vorfall und versprach, darauf zu reagieren. Er hatte gute Verbindungen zu den kantonalen und kommunalen Behörden. Kurz vor Mittag kam es zu einem Treffen mit Statthalter Moser, gefolgt von einem Treffen am frühen Nachmittag mit den Gemeindepräsidenten von Sumiswald und Trachselwald.
Sowohl der Statthalter als auch die Ortsvorsteher waren entsetzt über das Geschehene. Doch allen war klar, dass in diesem Fall die Justiz das letzte Wort haben würde. Die vereitelte Verhaftung von Christian Hachen könnte zu einem Problem für die Ramseyers und ihren Freundeskreis werden. Auch die Entwaffnung von Polizisten sei eine strafbare Handlung. Doch die Justiz könne nicht über die schwerwiegenden Fehler des Landjägers Krummenacher hinwegsehen, und das hatte schließlich zu diesen Gesetzesverstößen geführt.
Am Nachmittag um drei Uhr klingelte Krummenacher zusammen mit dem Polizeisoldaten Renfer an der Haustür der Ramseyers. Es handle sich nicht um eine Festnahme, stellte Krummenacher etwas kleinlaut fest. Es war eine Aufforderung, sich dem Staatsanwalt von Trachselwald zu stellen zwecks Ermittlung im Mordfall Haller. Die Ramseyers kamen dieser Bitte nach und stiegen in den Streifenwagen, der sie zum Schloss brachte.
Diesem wurde von zehn Personenwagen und genauso vielen Mopeds gefolgt. Aus den geöffneten Autofenstern wurden Plakate präsentiert, auf denen stand: »WIR SOLIDARISIEREN UNS MIT DEN RAMSEYERS UND CHRISTIAN HACHEN.«
Eigenartig war, dass Krummenacher und Renfer den verfolgenden Konvoi erst bemerkten, als es schon zu spät war. Sie realisierten die Zwei- und Vierradfahrzeuge, als sie auf dem Vorhof des Schlosses ausstiegen. Wutentbrannt schrie Krummenacher: »Was will denn dieses Saupack hier?«
Krummenacher führte Andreas und Erna Ramseyer zum Büro des Staatsanwalts Ronald Weber. Eine Gruppe von etwa zwanzig ungebetenen Gästen folgte ihnen, die ebenfalls Einlass begehrten, ihn jedoch nicht gewährt bekamen.
Protokoll des Verhörs der Ramseyers durch Ronald Weber im Gerichtssaal
Beginn: 15:30Uhr
Anwesend:
Staatsanwalt Weber (SA)
Statthalter Moser
Gerichtsschreiber
LandjägerKrummenacher
Polizeisoldat Renfer
Andreas und Erna Ramseyer
Nachdem der Staatsanwalt Ramseyer aufgefordert hatte, zu erzählen, was sich heute Morgen nach acht Uhr in seinem Hause abgespielt hatte, schilderte es Ramseyer detailliert, mit klarer Stimme und in verständlichen Sätzen. Krummenacher wollte ihn mehrmals unterbrechen, was der Staatsanwalt vorerst ablehnte.
SA:Nun, Landjäger Krummenacher, stimmen Sie den Aussagen von Andreas Ramseyer zu?
Krummenacher:Vieles davon ist nicht korrekt. Ich möchte jedoch nicht näher darauf eingehen.
SA:Aber das sollten Sie tun.
Krummenacher:Ich werde nicht auf Ramseyers Lügen eingehen.
SA:Ich muss jedoch auf die Aussagen von Ramseyer eingehen. Stimmt es, dass Sie das Messer von Christian Hachen aus seiner Mansarde mitgenommen haben?
Krummenacher:Nein, das trifft nicht zu.
SA:Ich tue das ungern, leider bleibt mir nichts anderes übrig.
(Weber drückt auf einen roten Knopf. Zwei Gefangenenwärter kommen zur Tür herein.)
SA:Wärter, durchsuchen Sie die Taschen von Landjäger Krummenacher.
(Krummenacher wehrt sich dagegen, kann es jedoch nicht verhindern. Wenig später hebt einer der Wärter das Messer in die Höhe.)
SA:Herr Krummenacher, Sie haben mich belogen. Warum?
Krummenacher:Ich habe mich nicht mehr an das Messer erinnert. In der Aufregung habe ich es versehentlich in die Hosentasche gesteckt.
SA:Herr Krummenacher, das ist nicht akzeptabel. Ich suspendiere Sie bis zum Abschluss der Ermittlungen bezüglich des Vorfalls heute Morgen in der Schuhmacherei Ramseyer. Verlassen Sie mit Renfer den Raum.
(Krummenacher und Renfer verlassen den Raum unter Protestrufen.)
SA:Herr und Frau Ramseyer, Landjäger Krummenacher und Polizeisoldat Renfer wurden in der Mansarde von Hachen entwaffnet. Wer hat diese Entwaffnung angeordnet?
Andreas Ramseyer:Ich weiß es nicht.
Erna Ramseyer:Ich weiß es nicht.
SA:Herr und Frau Ramseyer, haben Sie beide dabei geholfen, Krummenacher und Renfer die Waffen abzunehmen?
Andreas und Erna Ramseyer: (beide) Ja.
SA:Im Raum waren noch zahlreiche andere Personen. Wer von ihnen hat aktiv daran mitgewirkt, die beiden Polizisten zu entwaffnen?
Andreas und Erna Ramseyer: (beide) Das müssen Sie die Personen selbst fragen.
SA:Wir werden das nachholen. Zu Ihnen, Herr und Frau Ramseyer, Sie haben sich gegen die Staatsgewalt vergangen. Das ist eine Straftat. Ich werde Sie beide wegen dieses Vergehens zu je zwei Tagen Gefängnis verurteilen, bedingt vollzogen mit einer Probezeit von drei Jahren. Damit ist für das Gericht Trachselwald der Vorfall vom Morgen des 14. September 1965 erledigt, es sei denn, Sie, Herr oder Frau Ramseyer, leisten sich während der Probezeit ein weiteres Vergehen. In dem Fall müssten Sie die Strafe absitzen.
Andreas Ramseyer:Das wäre mir eine Freude.
Andreas und Erna Ramseyer verließen den Gerichtssaal. Statthalter Moser und der Staatsanwalt Weber tauschten noch einige Worte aus. Moser fand das Vorgehen Krummenachers unentschuldbar und unwürdig für einen ermittelnden Landjäger. Dieser Mann müsse diszipliniert werden. Er schlug vor, ihn von seinem derzeitigen Posten in Wasen zur größeren Hauptwache in Sumiswald zu versetzen.
Danach fragte er: »Was geschieht nun mit Christian Hachen?«
»Ich muss ihn vernehmen, obwohl nichts darauf hindeutet, dass er den Mord begangen hat. Danach werde ich ihn aus der Untersuchungshaft entlassen. Bei einem Verdächtigen eines Kapitalverbrechens ist ein psychiatrisches Gutachten zwingend erforderlich. Der zuständige Arzt, Dr. Reist, wird Hachen heute um siebzehn Uhr in seiner Zelle besuchen und anschließend einen Bericht verfassen. Diesen wird er mir persönlich morgen übergeben«, antwortete Weber.
»Schön und gut. Wenn es dir recht ist« – Moser und Weber kannten sich persönlich aus dem Studium und waren seitdem per Du – »besuche ich die Ramseyers kurz und beruhige sie wegen des inhaftierten Hachen. Er wird übermorgen freigelassen und für die Umtriebe entschädigt.«
Moser lag eine weitere Frage auf der Zunge. »Was passiert mit den Menschen, die aktiv daran beteiligt waren, Krummenacher und Renfer zu entwaffnen?«
»Ach, vergessen wir das. Es bringt nichts, sich mit der halben Bevölkerung von Wasen anzulegen. Wir wollen doch nicht riskieren, dass die Bevölkerung wie anno 1798 unseren Laden plündert …«
Beide lachten.
Christian Hachen erzählte Dr. Reist viel von seiner schweren Jugend als Heimkind. Diese Unterhaltung dauerte rund drei Stunden. Am Ende entschuldigte sich Reist, dass er noch einen Intelligenztest machen müsse. Sein Ergebnis dürfe nur ausgewählten Personen weitergegeben werden. Da er, Christian Hachen, mit Sicherheit am Mord von Haller unbeteiligt sei, müsse er sich deswegen keine Sorgen machen.
Es war jedoch der Test, der Christian Hachen plötzlich in einem anderen Licht erscheinen ließ. Ein Wert von 145! Nun war es wissenschaftlich erwiesen: Christian Hachen war hochbegabt. Er gehörte zu dem intelligentesten ein Promille der Bevölkerung.
Am Mittwochmorgen, dem 15. September 1965, überreichte Dr. Joseph Reist dem Staatsanwalt Ronald Weber den psychiatrischen Bericht über Christian Hachen.
Weber war überrascht. »Wow, dieser bemerkenswerte Mensch wäre beinahe zerstört worden … Ich werde ein Auge auf ihn haben. Er verdient es, beschützt zu werden.«
»Aber nicht nur aufgrund seiner Intelligenz, sondern auch wegen seines feinen Charakters«, fügte Reist hinzu.
Protokoll des Verhörs von Christian Hachen durch Ronald Weber im Gerichtssaal
Anwesend:
Staatsanwalt Weber (SA)
Statthalter Moser
Gerichtsschreiber
Landjäger Krummenacher
Polizeisoldat Renfer
Christian Hachen
Andreas und Erna Ramseyer
Beginn: Donnerstag, 16. September 1965; 14:00Uhr
SA:Guten Tag, meine Damen und Herren. Die Anwesenheitsliste mag überraschen. Zwei von ihnen sind nicht freiwillig hier. Konrad Krummenacher und Markus Renfer wurden dazu aufgeboten.
(Die beiden Polizisten laufen rot an und starren verbissen zu Boden.)
SA:In diesem Fall geht es nicht um den Mord an Balthasar Haller. Der Untersuchungshäftling, der jetzt vorgeführt wird, hat damit nichts zu tun. Er wurde zu Unrecht festgenommen. Die Schuld daran tragen die beiden anwesenden Polizisten. Was sie getan haben, ist moralisch verwerflich und bewegt sich in der Grauzone der Kriminalität. Es handelt sich jedoch nur um eine Grauzone, sodass sie gesetzlich schwer zur Verantwortung gezogen werden könnten. Wir werden auf eine Bestrafung verzichten. Es handelt sich vielmehr um ein berufliches Versagen, das nur disziplinarisch geahndet werden darf.
Der Staatsanwalt verlas den Bericht des Psychiaters Reist. Das dauerte eine gute halbe Stunde. In dem Bericht wurden viele Demütigungen, tiefgründige Bosheiten und offensichtliche Ungerechtigkeiten beschrieben, die Christian Hachen als ehemaliges Heimkind erleiden musste. Anschließend stellte der Staatsanwalt weitere Fragen an Christian Hachen.
SA:Herr Hachen, haben Sie Balthasar Haller gekannt?
Christian Hachen:Ich habe noch nie mit ihm gesprochen, aber sein Name ist mir bekannt, wie wohl allen, die in unserer Gegend wohnen.
SA:Herr Hachen, Sie waren Insasse der Erziehungsanstalt Tessenberg von Mai 1958 bis März 1959. Wussten Sie, dass der damalige Verwaltungsratspräsident dieser Institution Balthasar Haller hieß?
Christian Hachen:Ja, das wusste ich. Er hielt an der internen Weihnachtsfeier 1958 die Festansprache.
SA:Was ist Ihnen von seiner Rede in Erinnerung geblieben?
Christian Hachen:Seine geringe Wertschätzung uns Heiminsassen gegenüber, die in tiefste Verachtung überging. Ich möchte keine Details seiner Rede wiedergeben. Ich versuche, sie zu vergessen, aber bislang ist es mir noch nicht gelungen.
SA:Haben Sie etwas mit der Ermordung von Balthasar Haller zu tun?
Christian Hachen:Nein.
SA:Christian Hachen, bitte stehen Sie auf. – Ich habe gute Nachrichten für Sie. Ihre Untersuchungshaft ist beendet. Sie wurden in Bezug auf den Mord an Balthasar Haller für unschuldig befunden. Ihnen wird eine Entschädigung von zweihundert Franken für die Zeit in Haft gewährt. Sie dürfen den Gerichtssaal als freier Mann verlassen.
Am Tag danach berichtete der »Emmentaler Bote« ausführlich über den Prozess. Der Artikel erstreckte sich über eine ganze Seite.
Am folgenden Montag veröffentlichte die Kantonspolizei ein Communiqué, in dem die Umbesetzung des Polizeipostens in Wasen angekündigt wurde. Es wurde jedoch nichts über die Gründe geschrieben.
2
Am 21. September 1965 feierte Christine Hauser ihren zweiundzwanzigsten Geburtstag in den Strafanstalten Hindelbank.
Das Schloss Hindelbank wurde 1721 von Hieronymus von Erlach erbaut. Es erstreckte sich über mehrere Hektare und umfasste auch einen Gutshof. Bis 1866 war die gesamte Anlage im Besitz der Familie von Erlach und ging dann in den Besitz des Kantons Bern über. Über mehrere Jahrzehnte diente es als Notarmenverpflegungsanstalt für Frauen.
Von 1896 bis 1911 wurde das Schloss in eine Zwangsarbeitsanstalt für Frauen umgewandelt und anschließend in eine Arbeits- und Strafanstalt für Frauen umfunktioniert. Es wurden auch weibliche Personen zur administrativen Versorgung aufgenommen. 1959 wurde eine Erweiterung um eine Abteilung für Ersttäterinnen und Rückfällige vorgenommen. Die Anlage erhielt den Namen »Anstalten Hindelbank«.
Es war eine besondere Ehre für Christine, dass sie das Frühstück mit dem Direktor einnehmen durfte. Sie wurde darauf vorbereitet. Zwei Wochen zuvor kam eine Schneiderin, um ihre Maße für ein neues Kleid zu nehmen, das dann zwei Tage vor dem Geburtstag geliefert wurde. Ein Coiffeur aus dem Dorf kam extra in die Anstalt und kümmerte sich am Vortag um ihre hellen Haare. Am frühen Morgen des 21. Septembers wurde eine Schminkerin engagiert, die Christines Gesicht noch schöner machte, als es ohnehin schon war.
Das Frühstück begann pünktlich um neun Uhr. Es war auch ein Fotograf anwesend, der den Direktor zusammen mit Christine am festlich gedeckten Tisch im Salon des Schlosses ablichtete.
Der eher kleinwüchsige Direktor Magnus Tscharner hielt eine kurze Ansprache, die er von einem Blatt ablas. »Liebe Christine, heute ist ein freudiger Tag für Sie. Ihre Strafe endet um zehn Uhr am heutigen Tag.«
Tscharner konnte seinen Ohren kaum trauen, als er von Christine unterbrochen wurde. »Herr Direktor, Sie sagen, die Strafe sei vorbei. Was habe ich denn verbrochen?«
Tscharner, einst evangelischer Pfarrer, sammelte sich wieder. »Liebe Christine, Sie haben sich schwängern lassen.«
»Ich wurde vergewaltigt.«
Tscharner lachte herzlich. »Ach was, das behaupten alle diese jungen Damen.«
Christine wurde sich langsam bewusst, dass sie vielleicht ein wenig zu weit gegangen war. »Es tut mir leid, Herr Direktor, alles ist jetzt in Ordnung. Ich freue mich wirklich darauf, endlich frei zu sein.«
Mit einem aufgesetzten Lächeln, das nicht besonders authentisch wirkte, da sein Gebiss etwas verrutscht war, antwortete Tscharner: »Es freut mich auch, dass Sie so einsichtig sind.«
Dann fuhr er fort, von seinem Blatt zu lesen. Dabei kamen oft die Worte Gott und Jesus sowie Sünde und Vergebung vor. Christine hatte nichts anderes erwartet.
Als Tscharner sein Referat beendet hatte, klopfte es an der Tür. Die Tür wurde geöffnet, und davor stand ein sechsjähriges Mädchen mit gelockten hellblonden Haaren, strahlend blauen Augen und kunstvoll geflochtenen Zöpfen – ein lebendiges Abbild seiner Mutter.
»Mami, Mami.« Das Mädchen rannte auf Christine zu. »Ich möchte wieder bei dir sein.«
Christine brach in Freudentränen aus und umarmte ihre Sarah.
»Das ist nicht möglich, mein liebes Kind. Du bist adoptiert und hast eine neue Mutter«, mischte sich Tscharner ein.
Sarah konnte die Worte des Direktors nicht verstehen, aber Christine verstand sie nur zu gut. Sie warf ihm einen missbilligenden Blick zu.
»Bringen Sie das Mädchen kurz weg, ich möchte noch ein paar Worte mit Christine wechseln«, bat Tscharner.
Das Kind wurde von der Mutter weggenommen und weinte bitterlich.
»Typisch Mutter, das Kind trotzt«, stellte Tscharner fest.
Christine reagierte verstört, gab jedoch keinen Kommentar ab.
»Wir haben den Auftritt des Kindes geübt und ihm eingetrichtert, dass es ›Mami, Mami‹ rufen soll.«
»›Eingeimpft‹ wäre das passende Wort«, bemerkte Christine, die genau wusste, dass Tscharner den Sinn ihres Kommentars nicht verstand. Doch ihr war klar, dass sie es sich mit ihm nicht verderben durfte. Das wurde ihr bei seinen nächsten Worten noch klarer.
»Sie haben einfach Glück, Christine. Glück, dass Wasen weit weg von Hindelbank liegt. Eigentlich hätten wir Sie gerne bei uns behalten. Für Kost, Logis und Betreuung würden wir aufkommen. Es bliebe noch die Arbeitskraft. Sie haben die besten Voraussetzungen, um in einer Fabrik zu arbeiten. Die Fabriken benötigen seit Jahren Leute wie Sie …«
Tscharner hatte den Faden verloren. Nervös suchte er mit dem Finger die Stelle auf dem Blatt, an der er stecken geblieben war.
»Ah, da habe ich es wieder. Unsere Fabrik in Hindelbank platzt aus allen Nähten, anders als in Wasen. Dort könnten Sie arbeiten, bräuchten jedoch eine Wohnung. Die Wohnung stellen wir Ihnen zu einem günstigen Preis zur Verfügung. Sie ist einfach, aber ausreichend für ein angenehmes und genügsames Leben.«
Dann zog Tscharner ein weiteres mit Schreibmaschine getipptes Blatt aus seiner Jackentasche. »Es handelt sich um einen Vertrag. Eine Wohnung für hundert Franken pro Monat.«
»Wie soll ich das denn bezahlen? Ich verdiene noch nichts.«
»Das wird sich ändern. Bei uns haben Sie bereits seit Jahren außerhalb gearbeitet. Die Metallfabrik in Hindelbank, die teilweise nach Wasen bei Sumiswald verlegt werden muss, hat Verträge mit unserer Einrichtung. Unsere Insassinnen arbeiten dort und erhalten von uns Kost und Logis. Also werden Sie in diesem Ableger der Fabrik in Hindelbank, die Sie ja bereits kennen, weiterarbeiten.«
»Ich habe aber ein Dokument bekommen, in dem steht, dass ich aus der Anstalt entlassen werde und ab sofort frei bin.«
»Was nützt es Ihnen, auf freiem Fuß zu sein, wenn Sie keine Arbeitsstelle haben? Sie könnten obdachlos und zum Sozialfall werden, was dazu führen könnte, dass man Sie erneut in unsere Anstalt einweist. Dann für unbestimmte Zeit, möglicherweise sogar für den Rest Ihres Lebens.«
Christine erblasste. »Jetzt bin ich ein freier Mensch und habe das Recht, dort zu wohnen, wo ich möchte, sowie die Arbeit anzunehmen, die ich selbst auswähle.«
»Nehmen Sie doch Vernunft an. Fahren Sie jetzt mit dem Zug nach Wasen.« Tscharner reichte Christine ein Bahnbillett für Hindelbank–Wasen i. E., einfach. »Am Bahnhof Wasen wird Sie jemand abholen und zu Ihrer neuen Wohnung bringen. Morgen beginnen Sie dann Ihre Arbeit in der Metallfabrik. Sie erhalten ein Taschengeld von etwa hundert Franken pro Monat. Die Miete für die Wohnung übernehmen wir von Hindelbank aus.«
Dann hielt der Direktor den Finger über der Stelle, wo der Name »HAUSER CHRISTINE« stand.
»Unterschreiben Sie jetzt!«
»Ich möchte zunächst den Vertrag durchlesen. Das steht mir zu. Ich halte fest, dass ich keine Gefangene mehr bin.«
Tscharner seufzte. »Eine solche Halsstarrigkeit habe ich noch nie erlebt. Wenn es sein muss, lesen Sie den Vertrag halt durch.«
Christine las. »Ich brauche Bedenkzeit, bevor ich ihn unterzeichne.«
»Wie bitte? Sie haben keine andere Wahl.«
»Ich weigere mich, zum jetzigen Zeitpunkt zu unterschreiben.«
Tscharner stand auf. »Einen Moment, ich muss jetzt telefonieren.«
Christine wartete am Frühstückstisch auf den Direktor.
Nach einer Viertelstunde kam er mit hochrotem Kopf zurück. »Christine, ich mache mir Sorgen um Sie. Es ist beleidigend, wenn man bedenkt, wie sehr ich mich in den letzten Wochen für Sie eingesetzt habe. Gut, wir geben Ihnen etwas Bedenkzeit. Fahren Sie trotzdem jetzt nach Wasen. Warten Sie auf weitere Anweisungen, die Ihnen mündlich überbracht werden. Gehen Sie, ich ertrage Ihre Anwesenheit nicht mehr.«
»Halt, wo ist meine Tochter?«
»Sie wurde ihrer Adoptivmutter übergeben.«
Christine schluchzte. »Wo ist diese Frau?«
»Sie wohnt in Wasen und ist auf dem Weg dorthin. Sie ist zu Hause, wenn Sie in diesem Dorf ankommen.«
»Wie lautet ihre Adresse?«
»Die brauchen Sie nicht.«
Tscharner verließ den Salon wortlos und ließ Christine einfach sitzen.
Was sollte sie jetzt tun? Sie betrachtete ihr Bahnbillett und öffnete ihr Portemonnaie. Darin befanden sich fünfundzwanzig Franken. Für einen Kaffee im Bahnhofbuffet reichte das längst.
Wann wurde sie am Bahnhof Wasen erwartet? Sie überlegte. »Ihre Strafe endet um zehn Uhr am heutigen Tag …«, hatte der Direktor gesagt. Also musste es der Zug sein, der um zehn Uhr zweiundzwanzig von Hindelbank wegfährt. Sie wartete noch einige Minuten im Salon, sah sich um und stellte fest, dass ihr Koffer an den Türrahmen angelehnt war.
Um zehn Uhr verließ sie die Anstalt, spazierte zum Bahnhof Hindelbank und wartete auf den Zug, der direkt nach Wasen fuhr. Er sollte dort kurz vor halb zwölf eintreffen.
Drei Herren erwarteten sie auf dem Perron 1, wo der Zug aus Hindelbank pünktlich hielt.
»Guten Tag, Fräulein Hauser«, sagte der älteste der drei Herren. »Mein Name ist Isaak Brechbühler, ich bin der Pfarrer von Wasen. Rechts neben mir steht Werner Moser, der Statthalter des Amts Trachselwald, links Heinrich Bolliger, Vizedirektor der Metallfabrik Wasen und Hindelbank. Ich denke, Sie kennen diesen Herrn bereits von Ihrem Aufenthalt in Hindelbank. Wir fahren jetzt gemeinsam zum Schloss Trachselwald und werden uns zusammensetzen und Ihnen erläutern, was Sie in Wasen erwartet.«
Die Fahrt dauerte zehn Minuten. Christine war noch nie dort gewesen. Als sie in den Schlosshof einfuhren, kam sie sich vor, als wäre sie in einer anderen Welt.
»Lassen Sie uns jetzt in mein Büro gehen und es uns gemütlich machen«, verkündete Statthalter Moser.
Christine fand das Büro ähnlich wie das des Direktors Tscharner. Elegant, geräumig, mit Bildern an den Wänden. Es gab einen riesigen Schreibtisch und einen noch größeren Besuchertisch.
Der Tisch war gedeckt, und es roch nach Mittagessen. Einen solch herzlichen Empfang hatte Christine nicht einmal in ihren Träumen erwartet.
»Nach Ihrer langen Reise haben Sie sicher Hunger, Fräulein. Und wir nach der harten Arbeit«, fügte er lachend hinzu.
Es wurden köstliche Speisen serviert: Kartoffelstock, Fleisch, Gemüse und Salat.
Als Nachtisch gab es eine gebrannte Crème und eine Tasse Milchkaffee.
Nachdem alle fertig gegessen hatten, ergriff Pfarrer Brechbühler das Wort.
»Fräulein Hauser, wir heißen Sie herzlich willkommen im Amt Trachselwald. Es ist bei uns nicht üblich, eine zugezogene Person so zu empfangen. Warum tun wir das? In den letzten Tagen sind in unserem Amt schreckliche Dinge geschehen, die unsere Bevölkerung aufgewühlt haben. Über viele Jahre wurde Menschen schweres Leid zugefügt. Nicht nur in unserem Amt, sondern im ganzen Kanton Bern. Unsere Gesetze lassen eine schlechte Behandlung von benachteiligten Personen nicht zu. Doch man hat einfach darüber hinweggesehen. Sie, Fräulein Hauser, gehören auch zu einer Gruppe von Menschen, die geschunden, gequält und gedemütigt wurden. Wir möchten, dass so etwas nie mehr vorkommt.«
Brechbühler gab Moser ein Zeichen, ihn beim Sprechen abzulösen.
»Heute Morgen erhielt ich einen Anruf von Magnus Tscharner, dem Direktor der Anstalten Hindelbank. Er kündigte mir Ihr Eintreffen an. Als Leiter einer Institution, die sich um administrativ Verwahrte kümmert, ist er verpflichtet, Entlassene nicht sich selbst zu überlassen, sondern sie auf das Leben in Freiheit vorzubereiten. – Er hat uns diese Aufgabe übertragen. Sie werden heute eine einfache Wohnung beziehen und morgen eine Arbeitsstelle antreten. Wohnung und Arbeitsplatz befinden sich im Dorf Wasen, das ein Ortsteil der Gemeinde Sumiswald ist. – Dazu braucht es zwei Verträge, die Sie gründlich durchlesen sollten und auch hinterfragen dürfen. Wir sind darauf vorbereitet, Ihnen Auskunft zu geben. Sie haben das Recht, die Verträge zu kündigen, wenn Sie damit nicht zufrieden sind.« Moser überreichte Christine die Verträge.
Währenddessen warf Christine einen Blick in die Runde und bemerkte etwas, das ihr sauer aufstieß. Es war die Miene von Heinrich Bolliger, dem Leiter des Betriebes, in dem sie von nun an arbeiten sollte. Offensichtlich hatte Bolliger sich die Verträge anders vorgestellt. Als Christine fertig war mit dem Lesen und keine Einwände hatte, meldete er sich zu Wort. Er mache keinen Hehl daraus, dass ihm diese Verträge Kopfzerbrechen bereiteten. Mehrere Jahrzehnte habe seine Firma mit den Anstalten Hindelbank zusammengearbeitet und viele ihrer Insassen beschäftigt, zu beider Zufriedenheit. Alles sei gut gelaufen. Die Frauen hätten in der Anstalt Kost, Logis und ein kleines Sackgeld erhalten. Mehr würden sie nicht brauchen.
Er wisse, dass der Direktor der Anstalten ein ähnliches Modell für das Amt Trachselwald vorgeschlagen habe. Die Wohnungen würden den Verwahrten gratis oder gegen ein kleines Entgelt zur Verfügung gestellt. Sie wären immer noch unter der Obhut von Hindelbank. Die Kosten für das Essen würden übernommen. Die Verwahrten könnten sich frei bewegen, aber wären verpflichtet, über ihr Leben Rechenschaft abzulegen.
Pfarrer Brechbühler unterbrach den Redefluss des Fabrikleiters. »Diese Frauen sind nicht mehr bevormundet, sondern freie Menschen mit Pflichten und Rechten. Die Inhaber der Metallfabrik haben kein Recht mehr auf Arbeitssklaven.«
Das war für Bolliger zu viel. Er erhob sich wütend und schimpfte: »Da mache ich nicht mehr mit.« Er ging zur Tür hinaus und schmetterte sie zu.
»Was denkst du, Isaak, was sollen wir jetzt tun?«, fragte Statthalter Moser.
»Ich nehme Christine Hauser für die nächsten Tage oder Wochen im Pfarrhaus auf, mache mich auf die Suche nach einer Unterkunft für sie. Eine Beschäftigung habe ich für sie bereits gefunden. Ein Mitglied unserer Kirchgemeinde betreibt eine kleine Uhrenfabrik in Wasen. Christine kann morgen bereits dort anfangen zu arbeiten.«
»Hab vielen Dank. Ein Stein fällt mir vom Herzen«, sagte Moser.
»Dann wäre da noch das Kind von Christine«, sagte Brechbühler. »Es wurde ihr einfach weggenommen, als sie mit Stillen fertig war. Dann wurde es ohne ihre Einwilligung adoptiert.«
»Ein Unrecht, gar keine Frage«, sagte Moser. »Doch leider mit unseren Gesetzen vereinbar. Derzeit können wir nichts dagegen unternehmen.«
Brechbühler schüttelte den Kopf. »Ein Unrecht muss man nicht einfach hinnehmen, auch wenn es durch Gesetze geschützt ist. Ich kenne die Adoptivmutter. Sie ist etwas über fünfzig, eigentlich zu alt für ein so kleines Kind. Zudem ist sie gesundheitlich angeschlagen. Ich habe mit ihr gesprochen. Sie ist bereit, das Kind Christine Schritt für Schritt zu übergeben. Sarah hat dann eben zwei Mütter.«
Moser schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Isaak, du bist Gold wert. Auch wenn ich dem christlichen Glauben längst abgeschworen habe, akzeptiere ich deine Religiosität. Wir werden das Problem Christine lösen.«
Der Pfarrer hob den Finger. »Werner, rede nicht vom Problem Christine, rede vom Problem Staat und beanstande, wie er mit benachteiligten Menschen umgeht.«
»Du hast recht«, schloss Moser die Diskussion.
Christine kamen die Tränen. »Es sind Tränen der Freude. Heute ist für mich der schönste Tag im Leben. Ich danke Ihnen herzlich, Herr Pfarrer, ich danke Ihnen herzlich, Herr Statthalter.«
Isaak Brechbühler brachte Christine ins Pfarrhaus. Seine Frau war nicht überrascht. Sie umarmte Christine.
***
Werner Moser begab sich ins Büro des Staatsanwalts Ronald Weber, das seinem gegenüberlag.
»Wir haben noch einen Mord aufzuklären, den an Balthasar Haller«, begann Moser.
»Wir sind dran. Es gibt ein neues Team bei den Polizeien unseres Amtes. Dann weiß ich noch etwas von einer Kriminalabteilung der Kantonspolizei«, meinte Weber.
»Die liegt noch in den Geburtswehen. Irgendwann wird sicher etwas daraus. Doch wie es aussieht, müsst ihr die Ermittlungen für diesen Fall übernehmen.«
»Und du kannst zuschauen …«
Das Statthalteramt sei keine Ermittlungsbehörde. Aber er habe eine Ausbildung als Jurist und könne bei den Untersuchungen mithelfen, erklärte Moser.
Moser und Weber unterhielten sich über Balthasar Haller.
»Man mochte ihn in Wasen nicht. Mentalitätsmäßig hatte er das alte Bern nie überwunden«, stellte Weber fest. »Ich hatte mit Haller zwei Jahrzehnte lang zu tun. Aber ein richtiges Gespräch zwischen ihm und mir kam nie zustande.«
Dass Haller keine Freunde hatte, sei unbestritten. »Doch wo waren seine Feinde?«, fragte Moser.
Weber wusste keine Antwort darauf. Dann überlegte er. »Wir müssen recherchieren. In Hallers Vergangenheit, in seiner Verwandtschaft, über seine Besitztümer, etwa, was gehört ihm im Amt Sumiswald. Das war bislang kein Thema, Haller scheute die Öffentlichkeit.«
»Das mit seinen Besitztümern könnten wir leicht herausfinden«, schlug Moser vor.
»Dann tun wir das mal. In den nächsten Tagen hast du die Unterlagen in deinem Postfach, ich werde gleich einen Termin mit dem Chef der Polizeiwache Sumiswald vereinbaren. Ich denke, dort erwartet man Zeichen von uns. Die sind wohl schon an der Sache dran, doch sie wissen nicht, wo ermitteln. Denn einen Mord, wie den an Haller, gab es seit Menschengedenken in unserer Gegend nicht.«
Am Mittwoch, den 29. September 1965, lag ein Stoß Papiere von der Wache Sumiswald im Postfach von Statthalter Moser. Er nahm sich Zeit, diese ausführlich durchzugehen.
Liegenschaften von Balthasar Haller in Hindelbank
Balthasar Haller war Miteigentümer mit einem Anteil von siebzig Prozent der Metallfabrik Hindelbank.
Er war Alleineigentümer von zwei Bauerngütern.
Er war Alleineigentümer von vier Mietshäusern mit insgesamt zwanzig Wohnungen.
Liegenschaften von Balthasar Haller in Wasen i. E.
Er war Alleineigentümer der Metallfabrik Wasen.
Er war Hauptaktionär von vier metallverarbeitenden Betrieben mit rund dreißig Angestellten.
Liegenschaften von Balthasar Haller in Sumiswald
Er war Hauptaktionär von zwei landwirtschaftlichen Zulieferbetrieben mit rund zehn Angestellten.
Er war Miteigentümer der Arme-Leute-Anstalt und des ihm angeschlossenen Kinderheims.
Liegenschaften von Balthasar Haller in Langnau
Er besitzt ein Heim für Kleinkinder in Bärau. Durchschnittlich halten sich dort etwa zwanzig Kinder auf, fünfzehn davon im Alter von drei Jahren oder darunter. (Bärau ist ein Ortsteil von Langnau.)
Verwandtschaftliche Bande
Balthasar Haller ist ein Cousin von Magnus Tscharner.
Staatsanwalt Weber rief Statthalter Moser an. »Mir kollern beinahe die Augen aus den Höhlen. Und wie ging es dir bei der Lektüre der Unterlagen über Balthasar Haller?«
Moser schlug sich laut lachend auf die Schenkel. Ihn wundere das nur zum Teil. Der Staat Bern habe ein beträchtliches Korruptionspotenzial. Dass dieser Haller seine Finger überall drin habe, sei Eingeweihten schon längst bekannt. Doch mit dem Ableben von ihm werde Bern nicht minder korrupt. Hinter den Hallers und den Tscharners stünde eine ganze Sippe. Etwas habe er allerdings nicht erwartet. Dass die berüchtigten Heime für Kleinkinder auch zu Hallers Besitztümern gehörten. Diese Heime wirkten, böse gesagt, als Eintrittsbillett in die Anstalt Hindelbank und wohl auch in andere Justizvollzugseinrichtungen. Er habe sich in dieser Sache noch weitere Informationen beschafft. Neben seinem großzügigen Lohn erhalte Tscharner eine Prämie für jeden Insassen von seiner Anstalt in Hindelbank, die er in die Metallfabrik vermittle. Und das dürfte mit Sicherheit auch bei Hallers Unternehmen in Wasen so sein.
3
Am 21. September 1943 lag Christines Mutter auf einem Bauerngut in der Gemeinde Trubschachen in den Wehen. Sie war noch nicht ganz vierzehn Jahre alt und besuchte die achte Klasse der Primarschule.
Die Geburt verlief schwierig. Nach zwei Stunden Wehen kam das Kind noch nicht zur Welt. Der Bauer, der Großvater, machte seinen Einspänner bereit und galoppierte damit zur Hebamme, die zwei Kilometer entfernt wohnte. Zum Glück war sie zu Hause. Als er mit ihr zurück auf seinem Hof war, befand sich das Kind immer noch im Mutterleib.
Es bliebe keine andere Wahl, sie müssten ins Spital nach Langnau fahren, erklärte die Hebamme. Eine halbe Stunde später kamen sie dort an.
Der Arzt in der Notfallabteilung machte ein besorgtes Gesicht. »Ich muss operieren, um die Mutter und vielleicht auch das Kind zu retten.«
Das Kind kam lebend auf die Welt. Die Mutter konnte es noch einige Augenblicke in ihren Händen halten, dann verstarb sie.
Der Kindsvater, ein zweiundzwanzigjähriger Käser, wurde vom Landjäger von Trubschachen festgenommen und ins Gefängnis von Langnau gebracht.
Das Baby kam in die Obhut seiner Großmutter in Trubschachen, die es sehr umsorgte. Nach einem halben Jahr starb sie an einer schweren Krankheit. Es sei vermutlich Bauchspeicheldrüsenkrebs gewesen, sagte der Arzt.
Der Großvater war nicht in der Lage, sich um das Kind zu kümmern. Er erhielt die behördliche Anweisung, Christine in ein Heim für Kleinkinder in Bärau, einem Ortsteil von Langnau, zu bringen. Obwohl es ihm schwerfiel, denn der Ruf dieses Heims war schlecht.
Der noch nicht fünfzigjährige Mann weinte, als er sein Enkelkind dort ablieferte. Es stank grauenhaft im Zimmer, in dem gut zehn Wickelkinder von halbwüchsigen Mädchen betreut wurden. Diese Mädchen waren ebenfalls Insassen des Kinderheims, das auch Waisenhaus oder Anstalt für Arme-Leute-Kinder war.
Kaum eine Woche später verunfallte Christines Großvater tödlich beim Holzfällen. Keines seiner Geschwister war bereit, Christine aufzunehmen.
Der führungslose Hof des Bauern Hauser wurde versteigert, jedoch nicht zu einem besonders guten Preis. Der Erlös wurde auf ein Konto überwiesen, mit dem Zweck, die Betreuung von Christine zu finanzieren. Monatlich wurde für das Kleinkind eine bestimmte Summe an das Kinderheim Bärau überwiesen. Diese Beträge waren jedoch viel zu hoch für die unzureichende Pflege von Christine.
In Langnau und Umgebung verbreiteten sich Gerüchte über die Zustände in diesem Heim. Die Aufsicht darüber lag beim Sozialamt der Gemeinde Langnau. Wenn viele Beschwerden über die Einrichtung eingingen, entsandte die Gemeinde jemanden dorthin, um sich umzusehen und einen Bericht zu verfassen.
***
Im November 1965, im Zuge der Ermittlungen zum Mord an Balthasar Haller, gelangte Staatsanwalt Ronald Weber in den Besitz eines solchen Berichts.
Bericht von Blaser Albert, Gemeinderat, Ressort Armenwesen und Heime, Montag, 3. Dezember 1946
Inspektion der Kinderanstalt Bärau
Verwaltungsrat: Balthasar Haller, Präsident
Leitung: Hermine Rieder, Primarlehrerin, und Sabine Minder, Krankenschwester
Verwaltung:
Buchhaltung, Rechnungswesen: keine Beanstandung
Verhalten der Angestellten: keine Beanstandung
Führung des Betriebes: keine Beanstandung
Insassen:
•0 bis 3Jahre: 8; 4Buben, 4Mädchen
•3 bis 6Jahre: 10; 4Buben, 6Mädchen
•6 bis 9Jahre: 11; 4Buben, 7Mädchen
•9 bis 12Jahre: 8Mädchen
•12 bis 15Jahre: 9Mädchen
Todesfälle:
1 männliches Kind, 6Monate alt, Todesursache: hohes Fieber
1 weibliches Kind, 14Jahre alt, Todesursache: Suizid
Betreuende Personen:
3Frauen, ausgebildet durch Kurse, die von der Gemeinde Langnau vermittelt wurden
Zustand der Zimmer:
•Alter: 0 bis 3Jahre. Schlaf- und Aufenthaltsraum. Personen, die dieses Zimmer betreuen: 3 Mädchen im Alter von 12 bis 15 Jahren, alle sind Insassen. Windeln sind unsachgemäß angebracht, und die Betten sind durch Kot verschmutzt.
Verbesserungsvorschläge: Die Betreuerinnen sollten in ihre Arbeit eingeführt werden.
•Alter: 3 bis 6Jahre. Schlaf- und Aufenthaltsraum. Personen, die dieses Zimmer betreuen: 2 Mädchen im Alter von 12 bis 15 Jahren. Der Raum ist unordentlich und schmutzig. Die Kinder prügeln sich, und mehrere haben leichte Verletzungen.
Verbesserungsvorschläge: Es sollte zeitweise eine erwachsene Betreuungsperson hinzugezogen werden.
•Alter: 6 bis 9Jahre. Schlaf-, Aufenthalts- und Schulraum. Der Unterricht wird abwechselnd zwei Stunden vormittags und nachmittags sowie am Samstagvormittag von Hermine Rieder durchgeführt. Es gibt keine Beanstandungen bezüglich des Unterrichts. In den Zwischenzeiten wird der Raum von zwei Mädchen im Alter von 12 bis 15 Jahren, die im Heim leben, überwacht. Während der unterrichtsfreien Zeiten herrscht im Raum eine hohe Unruhe.
Verbesserungsvorschläge: Es sollte zeitweise eine erwachsene Betreuungsperson hinzugezogen werden.
•Alter: 9 bis 12Jahre. Der Raum dient als Schlaf-, Aufenthalts-, Schul- und Arbeitsraum. Der Unterricht wird von Hermine Rieder abgehalten und findet abwechselnd zwei Stunden am Vormittag und am Nachmittag statt sowie am Samstagvormittag. Während der unterrichtsfreien Zeiten ist es im Raum unruhig.
Verbesserungsvorschläge: Es wird empfohlen, zeitweise eine erwachsene Betreuungsperson hinzuzuziehen.
•Alter: 12 bis 15Jahre. Schlaf-, Aufenthalts-, Schul- und Arbeitsraum.
•Der Unterricht wird durch eine von der Gemeinde Langnau zur Verfügung gestellte Primarlehrperson durchgeführt. Der Unterricht findet alternierend zwei Stunden vormittags und nachmittags sowie am Samstagvormittag statt. Jeden Monat unterrichtet eine andere Person.
Kommentar von Albert Blaser: Der häufige Wechsel der Lehrpersonen ist zwar nicht optimal, aber nachvollziehbar. Die Lehrtätigkeit unter den schwierigen Bedingungen in der Kinderanstalt Bärau stellt für Lehrkräfte eine extreme Belastung dar. Verbesserungsvorschläge sind nicht zwingend erforderlich. Die Gemeinde Langnau hat Verständnis dafür, wenn diese nicht umgesetzt werden können. Man ist froh, dass in Bärau überhaupt Unterricht stattfindet, der obligatorisch ist.
***
Jedem Kind, das in ein Heim eingewiesen wurde, wurde ein Amtsvormund zugeteilt. Diese übten verschiedene Berufe aus und dieses Amt neben ihrer regulären Arbeit. Sie hatten keine spezielle Ausbildung und wurden nicht in diese anspruchsvolle Aufgabe eingeführt.
Christines Amtsvormund war ein Metzger, der sich einen Namen als Stammtischredner gemacht hatte. Er berichtete seinen Kumpels ausführlich über diese Nebenbeschäftigung, auf die er sehr stolz war. Neben Christine betreute er noch zehn weitere Mündel.
Christine war noch nicht einmal drei Jahre alt, als der Amtsvormund in einer verrauchten Spelunke in Langnau seine soziale Ader hervorhob und behauptete, er hätte ihr das Leben gerettet. Als er sie das letzte Mal besucht hatte, bemerkte er, dass sie Bauchschmerzen hatte.
»Entschlossen handelte ich und befreite sie schnell von ihren verschmutzten Windeln. Diese waren vollständig verunreinigt und mit Blut befleckt. Vorsichtig hob ich Christine aus ihrem Bett und setzte sie behutsam in eine mit kaltem Wasser gefüllte Metallwanne. Warmes Wasser gibt es dort nicht. Dreimal leerte ich das Wasser und füllte frisches nach, bis sie endlich sauber war. Ihr Po war blutig, und auch ihre Intimregion war stark blutverschmiert. Ich nahm mir die Leiterin des Heims vor und wies sie an, einen Arzt zu rufen. Im Nachhinein erfuhr ich, dass man das Kind ins Spital einweisen musste. Dort blieb Christine eine ganze Woche.«
Dann beschwerte sich der Metzger über die Leitung des Heims. Die beiden Damen Rieder und Minder würden ihre Aufgaben nicht ernst nehmen. Das müsse sich ändern. Er werde sich nun mit Gemeinderat Blaser, der ebenfalls Mitglied seiner Partei sei, zusammensetzen.
Nach ihrem dritten Geburtstag wurde Christine eine leichte Aufgabe zugewiesen. In ihrem Aufenthalts- und Schlafraum gab es Basteltische, an denen die Kleinen in das »Arbeitsleben« eingeführt wurden. Viele Briefe von der Gemeinde- und Amtsverwaltung und von Büros privater Firmen kamen zur Verpackung ins Kinderheim. Marken mussten auf die Couverts aufgeklebt und diese zugeklebt werden, nachdem die Briefe hineingelegt worden waren. Diese Tätigkeit wurde bereits Dreijährigen zugemutet.
Für jeden verpackten Brief erhielt das Heim fünf Rappen. Dadurch kam eine beträchtliche Summe zusammen, die die Finanzen des Heims entlastete, das teilweise von der Gemeinde finanziert werden musste.
Nach der Sitzung im Dezember 1946 behandelte der Gemeinderat von Langnau auch das Thema »Kinderheim Bärau« und erstellte ein Protokoll.
Leider gab es zwei Todesfälle im August und September zu bedauern. Es handelte sich um den Selbstmord eines vierzehnjährigen Mädchens, das ertrunken in der Emme gefunden wurde. Die Gemeindeverwaltung Langnau wurde vom Gerichtsmedizinischen Institut Bern über den Autopsiebericht informiert, wie der Gemeindepräsident mitteilte. »Das junge Mädchen hatte sich ohne Einwilligung schwängern lassen. Es ist tragisch, aber immerhin ein Problem weniger. Es wird keine gerichtliche Untersuchung zu diesem Todesfall geben.«
Der Heimleitung kann nicht vorgeworfen werden, dass ein sechs Monate alter Bub einen Fieberschub hatte und daran verstarb. Zu dieser Zeit herrschte eine Grippewelle, von der auch immer wieder kleine Kinder betroffen waren. Darüber hinaus stammte das Kind aus einer Familie mit Alkoholproblemen. Es ist bekannt, dass Kinder geschwächt zur Welt kommen, wenn beide Eltern Alkohol trinken. In diesem Fall hat der Amtsarzt auf eine Obduktion verzichtet.
Der Frieden war da, doch während der Folgejahre waren viele immer noch arm, vor allem in ländlichen Regionen. Die Arme-Leute-Kinderanstalt von Bärau war besonders betroffen. Im Herbst wurden die Kinder barfuß auf die Stoppelfelder geschickt, um Ähren zu sammeln. Das war für die Kleinen äußerst schmerzhaft, da ihre Fußsohlen wund wurden, bluteten und sich entzündeten. Die Infektionen führten nicht selten zu Fieberschüben. Wenn mehrere Kinder betroffen waren, wurde der Amtsarzt gerufen, der einige von ihnen ins Spital Langnau brachte.
Auch Christine war unter ihnen. Ihr Fieber stieg auf über einundvierzig Grad. Der zuständige Arzt in der Notfallstation befürchtete, dass sie es nicht überleben würde, und verlangte nach ihren Angehörigen.
»Dieses Mädchen hat keine Angehörigen. Zum Glück, denn sonst würden ihre Verwandten kommen und die Herausgabe ihres Vermögens verlangen. Christine ist eine der wenigen Insassinnen unseres Heims, die etwas abwirft. Wir erhalten monatlich zweihundert Franken von ihrem Vermögen. Wir wollen sie behalten. Sie darf nicht sterben«, erklärte die Leiterin der Anstalt dem Arzt. Christine überlebte.
Allerdings traf es nicht ganz zu, dass sich außerhalb des Heims niemand um Christine kümmern wollte. Es gab eine verwitwete Schwägerin des verstorbenen Bauern Hauser, die sich regelmäßig nach Christines Wohlbefinden erkundigte. Jedes Mal wenn Tante Heidy die Kleine besuchen wollte, wurde sie jedoch abgewiesen. Es hieß, dass es immer wieder Probleme gäbe, wenn Angehörige sich um die Insassen der Anstalt kümmerten. Das Verhalten der betroffenen Kinder gerate außer Kontrolle, was sich oft negativ auf die Gemeinschaft im Heim auswirke.
Heidy ließ sich nicht abwimmeln, bis der für Soziales verantwortliche Gemeinderat, der Armenvater, ihr drohte. Falls sie weiterhin auf Besuche bei Christine bestehen würde, würde gegen sie ein Verfahren eingeleitet werden. Schließlich werde sie von der Gemeinde als Bedürftige unterstützt. Sollte sie keine Ruhe geben, würde sie in die Armenanstalt eingewiesen werden.
4
Christian Hachen wurde am 2. September 1941 auf einem der größten Landgüter in Sumiswald, im Amt Trachselwald, geboren. Seine Mutter war eine achtzehnjährige Magd. Es wurde gemunkelt, dass der leibliche Vater des Kindes der jüngste Sohn von Edwin Rindlisbacher sei. Emma Hachen gab bei der Polizei an, dass er sie immer wieder vergewaltigt habe.
Der Chef der Hauptwache Sumiswald, ein Feldweibel der Kantonspolizei Bern, weigerte sich, eine Anklage entgegenzunehmen. Er behauptete, dass geschwängerte Mädchen dies oft behaupteten, nur um einen wohlhabenden Ehemann zu angeln.
Emma Hachen wurde zusammen mit Christian in die Armenanstalt des Amts Trachselwald überstellt, wo sie zwei Monate bleiben durfte, um das Kind zu stillen. Der Heimleiter hatte Mitleid und wies der Kindsmutter keine schwere Arbeit zu. Dies veranlasste sie zu der Bemerkung, dass sie in diesem Armenhaus zumindest ausreichend zu essen habe, was auf dem Hof des Großbauern selten der Fall sei.
Nach zwei Monaten kehrte sie zu Rindlisbacher zurück, ohne eine andere Wahl zu haben. Christian wurde in die Arme-Leute-Kinderanstalt des Amts Trachselwald gebracht. Es brach Emma Hachen fast das Herz, denn sie kannte die Umstände in dieser Anstalt nur zu gut. Das Haupthaus des Landguts, in dem sie arbeitete, lag nur wenige hundert Meter entfernt.
Sie schrieb einen Brief an die Leiterin des Heims, Hedwig Neuhaus, und bat darum, ihr Kind besuchen zu dürfen. Die Antwort war ablehnend. Daraufhin wandte sie sich an den Gemeindepräsidenten von Sumiswald. Die Reaktion war heftig. Er drohte ihr damit, sie zu bevormunden, sollte sie weiterhin solch unsinnige Forderungen stellen. Doch Emma Hachen gab nicht auf. Sie schrieb an den Statthalter im Schloss Trachselwald.
Dieser schickte einen Beamten, der persönlich mit ihr sprechen wollte. Rindlisbacher wehrte sich dagegen. Er konnte es nicht akzeptieren, dass ein Lakai des Statthalters sich in dieser Angelegenheit einmischte. Auf seinem Hof hatte er das Sagen und niemand sonst. Er bestand darauf, bei dem Gespräch dabei zu sein. Der Beauftragte kehrte unverrichteter Dinge zurück.
Der Statthalter begab sich nun selbst auf den Weg und ließ sich von zwei Landjägern begleiten. Auf dem Vorplatz des Gutshauses kam es zu einem lauten Wortwechsel zwischen dem Statthalter und Großbauer Rindlisbacher, der schließlich klein beigeben musste. Der Statthalter sprach eine gute Stunde lang mit Emma Hachen und ließ dann den Gutsbesitzer hinzukommen. Er teilte ihm mit, dass die Magd den Hof ab sofort verlassen werde und dass die ausstehende Lohnzahlung an die Frau umgehend erfolgen müsse.
Rindlisbacher war kurz davor, den Statthalter gewaltsam vom Hof zu vertreiben. Die beiden Polizisten griffen ein, und Emma Hachen konnte den Hof mit einer anständigen Geldsumme verlassen.
Die Nachricht über den missglückten Auftritt Rindlisbachers vor dem Statthalter verbreitete sich im ganzen Emmental wie ein Lauffeuer. Viele mochten den Gutsbesitzer nicht und freuten sich insgeheim. Doch sie vermieden es, öffentlich darüber zu sprechen.
Emma Hachen fand eine Stelle bei einem anderen Bauern in Sumiswald, um in der Nähe ihres Sohnes bleiben und ihn regelmäßig besuchen zu können. Die Heimleiterin konnte sich den Besuchen von Emma Hachen im Heim nicht länger widersetzen.
Im Januar 1944 starb der Statthalter, und ein neuer wurde von den wahlberechtigten Männern des Amts gewählt. Der Neue, Ottokar Küpfer, zeigte kein Verständnis für die Anliegen der Heimkinder. Dies nutzte die Leiterin der Arme-Leute-Kinderanstalt aus und teilte Emma Hachen mit, dass die Zeit des gefühlsduseligen Umgangs mit den Heimkindern, die die öffentliche Hand hohe Geldbeträge koste, vorbei sei. Besuche von Angehörigen würden auf einmal jährlich beschränkt.
Emma Hachen war verzweifelt über diese Nachricht. Es war Mitte August 1944, und sie hatte Christian in diesem Jahr bereits zehn Mal besucht. Sie bat Hedwig Neuhaus schriftlich darum, ihr wenigstens einen Besuch zu Christians Geburtstag zu erlauben. Ende August erhielt sie eine Antwort von Neuhaus. Sie sei eigentlich dagegen, überlasse jedoch die Entscheidung Statthalter Küpfer. Emma Hachen schrieb ihm, und er zeigte sich großzügig. An Geburtstagen und Weihnachten seien Besuche im Heim generell erlaubt.
Emma Hachen brachte ein Geschenk mit: einen selbst gebackenen Kuchen. Doch das stieß bei Hedwig Neuhaus auf Unmut. Solche Präsente würden nur Unruhe stiften. Emma Hachen entschied sich daher, den Kuchen in kleine Stücke zu schneiden und sie an alle zu verteilen. Sie war darüber traurig und teilte dies bei ihrem Besuch Christian mit. Neuhaus, die keinen Meter von Emma Hachen wich, hörte alles mit.
Zwei Tage später wurde Christian mit mehreren Knochenbrüchen und einer ausgekugelten Schulter ins Spital Sumiswald eingeliefert. Der Arzt der Notfallstation erkundigte sich bei Christian, wie er sich diese Verletzungen zugezogen habe. Trotz der Schmerzen konnte der dreijährige Junge sich klar und plausibel ausdrücken. Seine sprachlichen Fähigkeiten fielen den Pflegekräften und Ärzten auf. Der Arzt hatte keinen Zweifel: Die Heimleiterin hatte das Kind misshandelt. Er besprach sich mit dem Chefarzt. Obwohl dieser der Einschätzung seines Untergebenen zustimmte, riet er vorerst davon ab, die Polizei zu informieren. Vielleicht würde Hedwig Neuhaus ihr Fehlverhalten bereuen und das Kind nicht erneut schlagen.
Der Notarzt schüttelte den Kopf. Das komme für ihn nicht in Frage. Es gebe klare Verpflichtungen in seinem Beruf, über die man nicht hinwegsehen dürfe.
Er erstattete Anzeige gegen Hedwig Neuhaus. Der Chef der Wache Sumiswald war damit nicht einverstanden und weigerte sich, das Strafverfahren weiterzuleiten. Der Arzt zuckte nur mit den Schultern und wies den Polizisten darauf hin, dass Anzeigen an jedem Polizeiposten gemacht werden konnten. Daraufhin begab er sich nach Burgdorf, dem Hauptort des benachbarten Amts, wo die Anzeige angenommen wurde.
Ein Gerichtsmediziner, der nebenberuflich als außerordentlicher Professor an der Universität tätig war, besuchte Christian im Spital und untersuchte ihn. Er war schockiert. Was Hedwig Neuhaus sich erlaubt hatte, sei ein Verbrechen gegen Leib und Leben. Der Staatsanwalt des Amtsgerichts Burgdorf erließ einen Haftbefehl gegen sie. Sie wurde in Untersuchungshaft genommen, jedoch nicht im Schloss Trachselwald, sondern in der Haftanstalt der Stadt Burgdorf.
Statthalter Küpfer von Trachselwald protestierte gegen die Festnahme bei dem zuständigen Mitglied der Kantonsregierung. Dieser musste seinen Parteifreund jedoch daran erinnern, dass in Bern die Gewaltenteilung gelte. Die Exekutive dürfe sich nicht in die Angelegenheiten der Justiz einmischen.
Die Heimleiterin Hedwig Neuhaus wurde nach zwei Tagen wieder freigelassen, musste jedoch den Prozess abwarten, der vom Staatsanwalt aus Burgdorf gegen sie vorbereitet wurde. Aufgrund eines Beschlusses des Regierungsrates musste der Justizdirektor Hedwig Neuhaus fristlos entlassen. Sie verlor ihre gut bezahlte Arbeit, und ihre Stellvertreterin übernahm die Leitung des Kinderheims.
Für Christian begann die schönste Zeit seiner frühen Kindheit, als seine Verletzungen geheilt waren und er in der Kinderabteilung des Spitals Sumiswald bleiben durfte. Dort wurde er regelrecht verwöhnt, und seine Mutter besuchte ihn fast jeden Tag. Diese Zeit dauerte bis zur zweiten Woche des Jahres 1945.
Statthalter Küpfer des Amts Trachselwald war mit dem Ausgang der Misshandlung von Christian alles andere als zufrieden. Er beschloss, ihn »loszuwerden«, und ordnete an, dass Christian beim Bauern Rudolf Affolter verdingt werden sollte. Affolter teilte Küpfer mit, dass das derzeit schlecht möglich sei. Anfang Januar 1948 würde er aber den Verdingbub gerne aufnehmen.
So beschloss Küpfer, Christian noch weitere drei Jahre in der Arme-Leute-Kinderanstalt zu belassen. Um die Situation zu beruhigen, erlaubte er Christians Mutter ein Besuchsrecht.
Ende 1947 beauftragte er für das neue Jahr Christians Umplatzierung an den Bauern Affolter im Dürrgraben.
Obwohl sich Emma Hachen dagegen wehrte, lag diese Entscheidung in seinem Ermessen. Sie wehrte sich dagegen, weil Christian Pflegeeltern zugeteilt werden sollte, die bekannt dafür waren, ihre Zöglinge auszunutzen und schlecht zu behandeln.
Affolter war einer der drei Großräte des Amtes Trachselwald, Gemeindepräsident, Kranzschwinger, Vorsitzender der Jäger des Oberemmentals und Großgrundbesitzer.
Mitte Januar 1948 wurde Christian Verdingbub der Affolters.
Frau Affolter, die ihm alles zeigte, was er wissen musste, führte Christian als Erstes in den Stall. Dort befand sich ganz hinten ein kleiner Raum aus Holz, etwas größer als eine Besenkammer.
»Das wird dein Schlaf- und Aufenthaltsraum sein, den kannst du jetzt beziehen«, erklärte sie. »Sei dankbar, du hast immerhin ein eigenes Zimmer.«
In dem Raum stand ein alter Schrank mit einer schiefen Tür. Vorsichtig schob sie diese auf. »Pass auf, dass sie dir nicht auf den Kopf fällt.«
Anschließend öffnete sie eine große Tasche und sagte: »Schau mal hinein, das sind deine Kleider.«
Der Gestank war unerträglich, und Christian kamen die Tränen. »Das sind ja Lumpen, das sind nicht die Kleider, die ich in der Anstalt getragen habe.«
Frau Affolter kniff die Augen zusammen und öffnete ihren Mund. Ein hässlicher Anblick. Die schwarz umrandeten, spitzen Zähne machten ihr Gesicht noch böser. »Du frecher kleiner Wicht, was sagst du da?« Sie hob ihre Hand und schlug Christian mehrmals ins Gesicht.
Er schrie auf.
»Hör auf zu weinen. Jetzt beginnt für dich ein neues Leben, das dir zusteht. Du hast eine schwierige Vergangenheit, du bist nicht besonders begabt, du kannst noch nicht viel und wirst keinen Erfolg haben. Aber sei dankbar, dass es Menschen gibt, die Mitgefühl und dich aufgenommen haben.«
Der aufgeweckte sechsjährige Christian konnte den Sinn dieser Worte sehr wohl erfassen. Er hörte sofort auf zu weinen und sah Frau Affolter mit einem Blick an, den sie verstand, aber der sie noch wütender machte.