Langnauer Gift - Peter Beutler - E-Book

Langnauer Gift E-Book

Peter Beutler

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Beschreibung

Ein neuer brisanter Gesellschaftskrimi von Peter Beutler, der auf einer wahren historischen Begebenheit beruht. Langnau, 1925. Der Arzt Wendolin Roder und seine Assistentin Laura Borelli werden zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Sie werden beschuldigt, Roders Frau Linda vergiftet zu haben. Sechs Jahre später kommt der Freispruch im Revisionsprozess. Weder ihre Schuld noch ihre Unschuld konnte bewiesen werden. Als Roder kurz vor seinem Tod Besuch von einem ehemaligen Ermittler bekommt, stellt sich heraus, dass er nicht der Einzige ist, der weiss, wer das Verbrechen begangen hat – und massive Versäumnisse der Untersuchungsbehörden kommen ans Licht ...

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Peter Beutler, geboren 1942, ist in Zwieselberg, einem kleinen Dorf am Fusse der Berner Alpen, aufgewachsen. Als promovierter Chemiker war er Lehrer an einem Gymnasium in Luzern. Heute lebt er mit seiner Frau auf dem Beatenberg, hoch über dem Thunersee.

Dieses Buch ist ein Roman. Dennoch sind viele Personen nicht frei erfunden, sondern existierten wirklich. Ihre Handlungen beruhen auf einem historischen Hintergrund. Im Anhang befinden sich ein Personenverzeichnis und ein Glossar.

©2021 Emons Verlag GmbH

©2021 Peter Beutler

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Reilika Landen/Arcangel.com

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-678-4

Originalausgabe

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Wenn man reale Menschen, Orte und Ereignisse

in einem Roman mischt,

ist das immer eine riskante Sache.

1. Die Verhaftung

Um halb neun am Dienstagmorgen des 22.Dezember 1925 machte Wendolin Roder eine kurze Pause, weil das Wartezimmer sich ausnahmsweise geleert hatte. In dieser dunklen Jahreszeit mit Schneestürmen und Nebel litten die Menschen im Emmental an Erkrankungen der Atemwege. Viele davon hatten sich bereits um sieben Uhr ins Arzthaus begeben und auf die Behandlung gewartet. Der junge Mediziner praktizierte erst seit fast einem Jahr in Langnau. Er hatte sich bereits in dieser kurzen Zeit einen guten Ruf als tüchtiger Landdoktor erworben.

Roder vertrat sich die Füsse auf dem Vorplatz seines aufwendig renovierten herrschaftlichen Gebäudes. Er übernahm es, nachdem sein Vorgänger Ende 1924 in den Ruhestand gegangen war. Roder hatte sich deswegen in hohe Schulden gestürzt. Die vielen Patienten liessen ihn hoffen, zügig das aufgenommene Geld zurückzahlen zu können. Doch heute vor vier Tagen hatte ihn ein Schicksalsschlag getroffen; seine Gattin war unter ungeklärten Umständen verstorben.

Er war gerade daran, den Stummel seiner eben gerauchten Zigarette wegzuwerfen, als der Landjäger Armin Wäfler am Eingang des Gartens auftauchte. «Herr Doktor», rief er, gut zehn Meter bevor er zu ihm getreten war, «ich möchte mit Fräulein Borelli sprechen, sie soll sich in Ihrem Hause aufhalten.»

«Stimmt, sie wohnt bei mir. Um was geht es?»

«Das möchte ich mit ihr unter vier Augen besprechen.»

«Darf ich wirklich nicht zugegen sein, wenn Sie mit ihr reden?»

Wäfler überlegte. «Meinetwegen, das dürfte an der Angelegenheit kaum mehr etwas ändern.»

Roder ging mit Wäfler ins Besucherzimmer seiner Wohnung im ersten Stock. «Laura, jemand möchte dich sprechen. Kommst du rasch in die Stube?»

«Um Himmels willen, die Polizei?», rief sie entsetzt.

«Nehmt doch Platz am runden Tisch, ich setze mich dazu», sagte Roder mit leicht bebender Stimme.

Wäfler zog aus seiner Jackentasche ein Papier und reichte es Fräulein Borelli.

RegierungsstatthalteramtSIGNAU

VERHAFTUNGSBEFEHL

gegen

Borelli Laura Agostina,

geboren am 7.Mai 1894, heimatberechtigt in Burgdorf. Zurzeit wohnhaft bei Dr.Roder Wendolin, Arzt, Kirchgasse, Langnau.

Grund der Festnahme: Todesfall Frau Dr.Linda Roder.

Fräulein Borelli ist in das Bezirksgefängnis Langnau zu überstellen.

Der Regierungsstatthalter

sig. Dr.iur. Friederich Wüterich

Amtshaus Langnau, 22.Dezember 1925

Laura Borelli begann heftig zu schluchzen. Roder legte den Arm um ihre Schultern. «Beruhige dich, alles wird wieder gut. Es muss sich um ein Missverständnis handeln.»

Roder fragte den Landjäger, ob er Fräulein Borelli mit seinem Ford zum Gefängnis fahren dürfe.

Wäfler dachte einige Augenblicke nach. Das sei möglich, unter einer Bedingung, sagte er. Das Auto dürfe nur so schnell fahren, dass er ihm mit seinem Fahrrad folgen könne.

Eine halbe Stunde später war Roder wieder in seiner Praxis. Mittags um Viertel nach zwölf hatte er alle Patienten behandelt. Er war nun allein. Das Kindermädchen, das er nach dem Tod seiner Frau engagieren musste, hatte die kleine Rosemarie in seine Obhut genommen.

Roder machte sich Gedanken darüber, wie es am nächsten Tag weitergehen sollte. Er hoffte, dass Laura bis am Abend wieder freikommen, die Verhaftung sich als Missverständnis herausstellen würde.

Hunger verspürte er trotz seines Arbeitsaufwands kaum. Die letzten Tage hatten ihn mitgenommen. Nicht dass er seiner am Abend des 18.Dezember verstorbenen Frau nachtrauerte. Aber dass sich seine Nachbarn von ihm abwandten, das machte ihm zu schaffen. Besonders wenn sie in seiner Gegenwart verhalten, aber doch vernehmbar das Wort «Mörder» aussprachen.

Er bereitete sich einen Schwarztee zu, ass ein Käsebrot und einen Apfel. Das war das Minimum, das er für den kommenden Nachmittag brauchte. Eine Reihe von Hausbesuchen stand an.

Er machte sich auf den Weg zu seinem Ford, der in einem kleinen Häuschen neben der Arztpraxis untergebracht war. Es fiel ihm auf, dass am Garteneingang der Landjäger Armin Wäfler, begleitet vom Gefreiten Jenni, stand. Die beiden steuerten auf ihn zu. Wäfler sprach Roder freundlich an. «Herr Doktor, ich habe Ihnen eine Mitteilung zu machen.»

«Wollen wir zusammen in meine Wohnung gehen? Dort können wir uns ungestört unterhalten.»

Das sei nicht nötig, sagte der Landjäger. «Herr Roder, Sie sind verhaftet.»

«Herr Roder…?» Der Arzt zog beleidigt die Augenbrauen zusammen. «Verhaftet weswegen?»

«Wegen der Ermordung Ihrer Gattin.»

«Jetzt komme ich noch ins Zuchthaus.»

«Interessant. Das haben Sie gesagt, Roder.»

«Sie werden immer unfreundlicher. Nach der Begrüssung vergassen Sie den ‹Doktor›, nun lassen Sie bereits den ‹Herrn› weg.»

«Das tun wir bei allen Verhafteten.»

Wäfler legte Roder Handschellen an, griff ihn unsanft am Arm und führte ihn geradewegs in Richtung «Hirschenstöckli», das Bezirksgefängnis von Langnau. Das erregte Aufsehen, denn es war ein Weg von gut fünfhundert Metern, an vielen Häusern vorbei.

Das Gefängnis bot Platz für acht Insassen. Im Erdgeschoss für sechs Männer, im ersten Stock für zwei Frauen. Doch Roder wurde vorerst nicht dort hingebracht.

Vom Innenhof wurde er direkt in den Verhörraum geführt. Ein Verlies, das eher an eine Folterkammer erinnerte.

Kahle, feuchte Mauern, kleine, vergitterte Fenster, ein Holztisch, an dem vier Stühle standen. Staatsanwalt Christian Lauener und Regierungsstatthalter, Untersuchungsrichter und Gerichtspräsident Friederich Wüterich sassen bereits. Landjäger Wäfler und der Gefreite Jenni setzten sich dazu. Roder kannte jeden der vier.

Wüterich begrüsste Roder, ohne ihm die Hand zu reichen. «Grüessech Untersuchungshäftling Roder.» Und er stellte ihm die drei Anwesenden vor. Die Aufgabe des Gefreiten Jenni war, die Vernehmung zu protokollieren.

Roder suchte nach einer Sitzgelegenheit, aber es gab nur die vier Stühle am Tisch.

«Lieber Friederich, warum siezt du mich plötzlich? Wir trafen uns seit rund einem Jahr fast jeden Donnerstag anlässlich der Herrenabende im ‹Hirschen›.»

«Was fällt Ihnen ein, mich zu duzen?»

«Herr Regierungsstatthalter, auch ich möchte mich setzen. Ich nehme an, das steht mir zu.»

Wüterich lachte. «Roder, Sie kennen unsere Sitten nicht. Mörder haben keinen Anspruch auf schonungsvolle Behandlung.»

«Herr Regierungsstatthalter, Sie behandeln mich respektlos.»

«Roder, was unterstehen Sie sich. So spricht ein Mörder einen Vertreter der Justiz nicht an. Für diese Frechheit verordne ich Ihnen vier Tage verschärfte Haft.»

Roder schluckte leer. «Das mit den Haftbedingungen können Sie ja mal durchziehen, aber es wird auf Sie zurückfallen. Irgendwann. Dass Sie mich, bevor überhaupt ein Urteil gesprochen wird, als Mörder bezeichnen, ist juristisch nicht haltbar. Eindeutig eine Vorverurteilung.»

Wüterich hörte mit offenem Mund zu, und vor Ärger wurde sein Gesicht immer röter. «Das werden Sie mir büssen, Roder.» Wüterich zog aus einer schwarzen Mappe ein Papier. «Lesen Sie das bitte!»

Landjägerposten Langnau, 19.Dezember 1925

Berichtbetreffend mündliche Mitteilung von verschiedenen Zeugen aus Langnau an LandjägerWÄFLERARMIN

Weitergeleitet an das

RegierungsstatthalteramtSIGNAUin Langnau

In der Nacht vom Freitag auf Samstag, den 18./19.Dezember 1925, verstarb Frau Dr.Roder, geboren am 21.April 1890, Tochter des Charles und der Bertha Henriette Schneeberger von Zürich, Ehefrau des Roder, Wendolin, Paul, Theodor, Arzt in Langnau, verheiratet seit dem 23.November 1925.

Die Verstorbene wurde Mitte Dezember noch im Dorfe gesehen und als vollständig gesund betrachtet.

In der hiesigen Ortschaft geht nun das Gerücht um, es dürfte sich beim plötzlichen Ableben der Frau Roder um einen unnatürlichen Tod handeln (Vergiftung oder dergleichen).

Wie dem Unterzeichneten bekannt ist, hält sich zurzeit bei der Familie Roder ein gewisses Fräulein auf. Borelli, Laura, Agostina, geboren 1894, welche seinerzeit bei Herrn Dr.Roder als «Haushälterin», zwischenzeitlich auch als «Praxishilfe», angestellt ist und sich als seine Braut ausgibt.

Da diese Person der Verstorbenen ein Dorn im Auge war und sie nicht dulden mochte, dass dieses Frauenzimmer noch in ihrer Nähe war, dürfte nicht ausgeschlossen sein, dass Frau Roder aus Gram Hand an ihr Leben legte. Ohne Zweifel war das Einvernehmen der Verstorbenen und des Fräulein Borelli kein schönes, und es dürfte deshalb auch dahingehend untersucht werden, ob das Fräulein Borelli eine Schuld am Ableben der Frau Roder hat.

Warum sich die Borelli, nachdem Dr.Roder verheiratet war, immer noch bei ihm aufhielt, ist nicht zu verstehen. Dieselbe soll sich geäussert haben, dass Herr Dr.Roder schon wisse, warum er sie noch in seinem Haus dulde.

Um Klarheit über das Gerücht zu verschaffen, wäre es wohl angezeigt, eine Sektion der Leiche anzuordnen.

sig. Wäfler Armin, Landjäger

Dieses Schreiben wurde von Jenni Adolf, Gefreiter, Polizeiposten Langnau, dem Herrn Regierungsstatthalter Wüterich um halb sieben vormittags, Samstag, den 19.Dezember 1925, persönlich überreicht.

«Was sagen Sie dazu, Roder?»

Roder schwieg.

***

Nach ihrer Unterbringung im Bezirksgefängnis wurde Laura Borelli am späten Nachmittag vom Staatsanwalt und stellvertretenden Untersuchungsrichter Lauener vernommen. Lauener forderte sie auf zuzugeben, dass sie bei der Tötung von Frau Roder mitgeholfen habe. Trotz Drohungen und Überredungskünsten von Lauener, der ihr Haftverkürzung zusicherte, sollte sie auch noch Wendolin Roder als Haupttäter bezichtigen. Mittäterschaft würde in der Regel wesentlich milder bestraft als der Mörder, und der heisse, das stehe jetzt schon fest, Wendolin Roder.

Lauener hatte das Nachsehen, Fräulein Borelli stieg nicht auf dieses Angebot ein, was ihn masslos erzürnte.

Laura Borelli wurde nach dem Verhör in den ersten Stock hinaufgebracht, wo sie eine Gefangenenwärterin in einen kleinen Verschlag, der mehr einer Besenkammer als einem Zimmer glich, bugsierte.

«Jetzt hast du für lange Zeit fertig gevögelt, du Schlampe. Wir werden dir das Leben schwer machen. Zum Frühstück gibt es Wasser und Brot. Mittags Sauerkraut und geschwellte Kartoffeln.»

***

Das Kind von Wendolin und Linda Roder, Rosemarie, wurde vorübergehend in einem Waisenhaus untergebracht. Drei Tage danach holten es die Eltern von Roder ab. Das ging zunächst nicht ohne Schwierigkeiten. Der Vater von Roder trat im Sozialamt von Langnau aber so selbstsicher auf, dass es der zuständige Gemeinderat vorzog, klein beizugeben.

2. Jugendjahre

Wendolin Paul Theodor Roder wurde 1892 in Berlin geboren. Seine Eltern waren seit 1893 in Davos ansässig und betrieben eine Pension für Lungenkranke; sie waren wohlhabend. In Davos besuchte Wendolin die Volksschule. Ein Bruder und eine Schwester wuchsen mit ihm auf. Er galt damals als schwieriger Schüler. Zwar war er aufgeweckt, lernte leicht, aber nervte die Lehrpersonen mit vielen Fragen, was den Unterricht über Gebühr störte. Man führte dieses Verhalten auf eine Unterforderung zurück. So wurde den Eltern nahegelegt, Wendolin im Alter von dreizehn Jahren in einer höheren Schule unterzubringen. Der Entscheid fiel auf die Evangelische Mittelschule Schiers im Prättigau.

Doch bald nach seinem Eintritt erkrankte er an Tuberkulose. Er musste den Unterricht für gut ein Jahr aussetzen. Er kehrte nach Hause, ins hoch gelegene Davos zurück, das sich als Kurort für diese Krankheit geradezu aufdrängte. Wendolin nutzte die Zeit, sich in die Fächer Latein, Griechisch, Französisch, die in der Volksschule von Davos nicht angeboten wurden, unter Mithilfe seiner gebildeten Eltern weiter zu vertiefen.

1907 trat er in die Kantonsschule Frauenfeld ein. Von Montag bis Samstag nach dem Frühstück, das um sieben begann, waren vier Stunden Unterricht angesagt, nachmittags, ausgenommen am Samstag und am Sonntag, von zwei bis sechs Uhr. Eine Stunde Mittagessen, eine Stunde im Zimmer danach. Darin waren zehn Betten, drei Vierertische.

Nach der Schule das Nachtessen, es folgten zwei Stunden Hausaufgaben im Zimmer. Die Zeiten mussten eingehalten werden. Alles war auf die Minute genau geregelt. Mädchen gab es keine. Eine einzige Frau, Erna Affolter, die Angetraute des Konviktvorstehers, tauchte hin und wieder im Speisesaal auf. Zweihundert Schüler und zwanzig Lehrer verpflegten sich dort.

Erna Affolter war siebenunddreissig Jahre alt, Wendolin gerade mal fünfzehn. Schon vom ersten Tag an verschlang Wendolin Roder Erna Affolter mit seinen Blicken. Er war beileibe nicht der Einzige, der das tat. Vergleichsmöglichkeiten hatten die jungen Burschen keine. Erna Affolter war für die Jungs erotisierend. Sie hatte volle Brüste und brachte sie– immer noch im Rahmen des Erlaubten– mit einem ziemlich grossen Ausschnitt zur Geltung, einen prallen Hintern und wohlgeformte Beine, von denen sie viel blosslegte, da ihre Röcke nur die Oberschenkel bedeckten.

Es vergingen Wochen, bis sich die Blicke von Wendolin Roder und Erna Affolter während der Mittagsverpflegung trafen. Als das geschah, lächelte sie einige Augenblicke. Roder zitterte vor Erregung. Er trug Sommerhosen, die bis zum Knie reichten, und legte unwillkürlich seine Serviette darüber. Dem Jungen, der neben ihm sass, entging das nicht. Er stupste ihn am Arm. «Hey, Wendolin, reg dich ab, bei der kannst du nicht landen.»

Wendolin errötete und schwieg. Er schob seine Serviette in den Hosenbund. Auch das bemerkte sein Nachbar und hielt die Nase zu. «Freund, bald stinkst du nach Fisch.»

Wendolin stand auf.

«Hast du Probleme mit der Verdauung», fragte ihn ein Lehrer, der am Ende des Tischs sass.

Erleichtert sagte Wendolin: «Mich plagt seit dem frühen Morgen Durchfall.» Und er rannte danach zur Toilette.

Im Frühjahr 1908 trafen sich Wendolin Roder und Erna Affolter in einem engen Korridor des grossen Schulgebäudes. «Bist du der Junge aus Davos?»

Wendolin war wie vor den Kopf geschlagen. Er blieb unschlüssig stehen.

«Oh weh, bist du ein schüchternes Bübchen. Hast du Heimweh?»

«Eigentlich nicht.»

Erna Affolter lachte. «Eigentlich nicht? Vielleicht doch ein wenig? Mich dünkt, dir fehlt die Mama. Komm doch auf einen Sprung in unsere Wohnung. Du besuchst den Lateinunterricht bei meinem Mann. Ich weiss alles von dir. Komm jetzt!»

Sie zog den verdatterten Jüngling mit sich in ihre Behausung, die im Nebengebäude untergebracht war. Es war eine grosse, luxuriöse Wohnung, noch fast vornehmer als die in seinem Elternhaus.

«Hilf mir ein bisschen in der Küche.»

«Darf ich denn das?»

Wieder perlte das helle Lachen über die Lippen von Erna Affolter. «Alles, um was ich dich bitte, darfst du.»

Wendolin zog seine Taschenuhr hervor, sah stirnrunzelnd auf das Zifferblatt und sagte mit gepresster Stimme: «In zehn Minuten sollte ich auf dem Zimmer sein, um meine Hausaufgaben zu machen. Erscheine ich dort nicht, blüht mir eine Strafe.»

«Hör mal zu, mein Junge. Wenn du bestraft werden solltest, sagst du einfach, du wärest bei mir gewesen. Ich kann dir versichern, dann wird dir kein Haar gekrümmt werden.»

Erna Affolter strich Wendolin zärtlich über die Haare, was ihn richtiggehend elektrisierte. Seine Hose wölbte sich etwas. Erna Affolter warf einen Blick unter seine Gürtellinie, zwinkerte mit dem rechten Auge und stellte sich nahe hinter ihn, so nahe, dass ihre Brüste seinen Rücken berührten, legte die rechte Hand auf seine Brust und fuhr damit sachte nach unten, über den Hosenbund und berührte mit dem Zeigfinger die Wölbung darunter. «Ich spür es doch, Kleiner, bei dir kribbelt’s. Ich bin offen zu dir. Bei mir auch.»

Erna Affolter öffnete ihren Jupe und liess ihn nach unten gleiten. «Dreh dich zu mir, Schätzchen.»

Wendolin gehorchte. Sie fasste Wendolins rechte Hand und schob sie unter ihr Höschen. «Was spürst du, mein Junge?»

«Es ist feucht.»

«Nicht nur feucht, sondern richtig nass.» Sie schob Wendolins Hose nach unten und fasste zwischen seine Beine. «Ganz passabel, mach’s mir, mein Schatz.»

«Hier?»

«Ja, genau hier. Reiss mir die Bluse vom Leib.»

«Wirklich? Dann spicken aber die Knöpfe ab.»

«Sollen sie doch. Nur zu…»

Wendolin tat es.

Erna Affolter drehte ihm den Rücken zu. «Öffne meinen Büstenhalter.»

Folgsam kam Wendolin dem Befehl nach.

«Umfasse von hinten meine Brüste. Knete sie… Jetzt dreh dich um.»

Erna Affolter umarmte ihn, presste ihren Köper an den seinen. «Knabbere an meinen Brustwarzen. Du darfst ruhig ein bisschen zubeissen.» Sie stöhnte… Sie legte sich rücklings auf den Boden, spreizte ihre Beine.

Und so verlor Wendolin Roder seine Unschuld.

Wendolin kam zu spät ins Zimmer. Der beaufsichtigende Lehrer, ein fast schon weisshaariger Herr, schalt ihn. Als Wendolin sich mit zittriger Stimme rechtfertigte, er hätte der Frau des Konviktvorstehers in der Küche helfen müssen, verzog sich sein Gesicht zu einem säuerlichen Grinsen. «Na dann, viel Glück. Du hast es sicher gut gemacht, oder? Wir müssen also mit weiteren Verspätungen von dir rechnen. Wohl bekomm’s.»

Einer von Wendolins Zimmergenossen lachte laut auf. Der Lehrer sah den vorlauten Jungen streng an, dann setzte er eine neckische Miene auf und sagte den Finger hebend: «Psssst, man sollte zurückhaltend sein können, wenn man mehr merkt als die anderen.»

Von nun an kam Wendolin oft zu spät in die Zimmerstunde. Regelmässig, wenn Direktor Affolter im Militärdienst war, und das geschah oft, denn er war Oberst in der Schweizer Armee.

***

Erna Affolter war des Lebens im Konvikt überdrüssig. Wendolin war im Frühling 1911 achtzehn, sie stand vor dem einundvierzigsten Geburtstag. «Diese Enge hier und meinen schwulen Mann ertrag ich nicht mehr», klagte sie Wendolin einmal während eines Schäferstündchens. «Ich verschwinde nach Amerika. Kommst du mit?»

Wendolin zögerte nicht, er sagte spontan Ja.

«Bist du dir sicher, ist dir klar, auf was du dich da einlässt?», bemerkte Erna augenzwinkernd.

Wendolin nickte nachdrücklich. «Aber sicher weiss ich das. Ich muss sowieso damit rechnen, dass unser Verhältnis bald auffliegt. Immer wieder hänseln mich meine Klassenkameraden, sodass ich befürchte, der Konviktvorsteher könnte bald Wind davon bekommen.»

Spontan erfasste Erna ein Lachanfall. «Bist du ahnungslos! Glaubst du wirklich, der wüsste das nicht? Er kontrolliert seine Schule wie keiner vor ihm. Der hoch angesehene Direktor hat einen veritablen Geheimdienst aufgebaut. In jeder Klasse hat er mindestens einen Spitzel, ganz zu schweigen vom Lehrerkollegium. Die meisten Lehrpersonen sind feige Kerle, die genauestens über die sexuelle Ausrichtung ihres Bosses Bescheid wissen. Doch keiner würde sich je getrauen, das nach aussen zu tragen.»

Erna entging nicht, dass Wendolin leicht erbleichte. «Mach dir keine Sorgen. Liebe zwischen meinem Mann und mir existiert nicht, existierte nie. Er ist noch so froh, dass ich ihm nicht davonlaufe, und verheerend für ihn wäre es, würde ich den Grund dafür öffentlich kundtun. Er kann es sich nicht leisten, keine Frau zu haben. Für einen Konviktvorsteher ist verheiratet zu sein ein Muss.»

So begannen Erna Affolter und Wendolin Roder mit den Vorbereitungen ihrer Flucht. Als Zwischenstation wurde Paris gewählt. Einen Dampfer für die Atlantiküberquerung zu buchen war nur in einer bedeutenden Stadt, von der aus die Küste in wenigen Stunden zu erreichen war, möglich. Das traf auf Paris zu. Wendolin hatte sich kurz vor der Zimmerstunde abzusetzen, so war Ernas Plan. Er entschuldigte sich beim Lehrer, der in seinem Zimmer Aufsicht hatte. Er müsse in Frauenfeld einen Zahnarzttermin wahrnehmen. Der Lehrer wollte wissen, wie der Zahnarzt heisse. Da mehrere davon in Frauenfeld praktizierten, würde sich der Lehrer später kaum noch an ihn erinnern. Ohne eine Miene zu verziehen, nannte Wendolin einen Namen.

Erna und Wendolin reisten in zwei nacheinander abfahrenden Zügen nach Zürich. Erna um ein Viertel vor drei, Wendolin zwei Stunden später. Am Hauptbahnhof Zürich wartete Erna beim Perron. Ihre Vorbereitungen waren minutiös. In aller Heimlichkeit hatte sie das, was er für die erste Übernachtung brauchte, aus Wendolins Schrank geholt und in ihrer Wohnung zwischengelagert. Die erste Nacht sollten Wendolin und Erna zusammen im Schlafwagen des Zugs Zürich–Paris verbringen. Fast hätte die Fahrt in Les Verrières, dem Grenzbahnhof nach Frankreich, vorzeitig geendet. Bei der Passkontrolle machte der französische Zöllner Schwierigkeiten. Er wollte Wendolin nicht einfach so nach Frankreich einreisen lassen und fragte: «Qu’est-ce que ce garçon veut ici?» Er fragte nach der verwandtschaftlichen Beziehung zwischen Frau Affolter und Wendolin. Sie sagte ihm, er sei der Neffe ihres Gatten. Danach erkundigte er sich nach dem Wohnort des Mannes und seiner Tätigkeit. Die Kaltblütigkeit Ernas musste dem Grenzbeamten Eindruck gemacht haben. Er schrieb gar nichts auf. «Excusez-moi. Je devais demander ça. Vous pouvez entrer les deux.» Damit war die Angelegenheit erledigt.

Die Plätze von Paris nach Le Havre hatte Erna von Frauenfeld aus reserviert. In Paris sollte das Einschiffen in Le Havre arrangiert werden. Es war auch nicht ihre erste Reise in die Vereinigten Staaten von Amerika. Ihr Bruder besass in Pennsylvania eine Fabrik für Elektrogeräte. Erna hatte ihn schon mehrmals besucht.

Bereits in Paris wurden sie mit Problemen konfrontiert, mit denen Erna nicht gerechnet hatte. Im Hotel, einer billigen Absteige im Bahnhofsquartier, kam es schon am ersten Abend zu einem peinlichen Streit.

«Ein Achtzehnjähriger mit einer Vierzigjährigen zusammen in einem Doppelbett, das dulden wir nicht», sagte der Concierge.

Erna löste den Zwist, indem sie den Concierge mit einem ansehnlichen Geldbetrag schmierte.

Dieser Vorfall verunsicherte Wendolin. Als sie endlich im gemeinsamen Zimmer waren, klagte er: «Glaubte ich doch, Paris sei die Stadt des Prunks, der Lebenslust und des Flirts, in der auch unsere verrückte Liebe kein Aufsehen erregen würde. Und nun das: Es spricht sich die hässliche Geschichte herum, ein ungleiches Paar logiere in diesem Haus, eine alte Schachtel treibe es mit einem pubertierenden Knaben. Schlendern wir durch die Empfangshalle, drehen lüsterne Gäste den Kopf nach uns um. Im grossen Essraum wird getuschelt, gerade so verständlich, dass wir alles mitbekommen.»

«Da hast du dich eben getäuscht. Mir scheint, ich habe das falsche Hotel gewählt. Es gäbe auch andere Etablissements, die den Ruf haben, käufliche Liebe anzubieten. Bordelle nennt man sie. Dort würden wir nicht auffallen, doch diese bergen das Risiko, dass sie häufig Polizeirazzien ausgesetzt sind. Ist etwas mit den Papieren nicht in Ordnung, steht die Identität des Gasts nicht eindeutig fest, machen die kurzen Prozess. Man wird festgenommen, als Ausländerin oder Ausländer landet man in Ausschaffungshaft und wird in den Heimatstaat zurückspediert. In unserem Fall naheliegend, da die Schweiz ein Nachbarland ist.»

«Glaubst du, wir sind international ausgeschrieben?»

«Heute und in den nächsten Tagen wohl kaum, doch in einer Woche ist das wahrscheinlich. Eine ältere Frau, die einen Jungen entführt, ist nicht alltäglich, es gäbe in Polizeikreisen bestimmt zu reden.»

«Für mich eine neue Sachlage. In Frauenfeld wäre es uns nie eingefallen, zusammen auszugehen. Jetzt in Paris benehmen wir uns wie ein verliebtes Paar. Wir flanieren Arm in Arm durch die Strassen und Gassen, zwischendurch küssen wir uns in der Öffentlichkeit. Fast kommt bei mir Scham auf. Sollten wir uns nicht wenigstens im Restaurant des Hotels voneinander fernhalten?»

Erna geriet das in den falschen Hals. «Bist du ein kleinkariertes Geschöpf, ein richtiger Hasenfuss. Du enttäuschst mich.»

«Ein Hasenfuss? Vielleicht schon, ja, ich bin nicht gerade heldenhaft. Aber ist das nicht eine menschliche Eigenschaft, das eigene Überleben zu sichern?»

Sie schüttelte entnervt den Kopf. «Jetzt redest du wie mein Angetrauter. Du musst noch viel lernen, Wendolin, wenn du dich in dem Amerika, das ich schätze, mit mir zusammen zurechtfinden willst.»

«Was meinst du denn für ein Amerika?»

«Zu deiner Horizonterweiterung: Amerika besteht nicht nur aus den USA. Die lateinamerikanischen Staaten haben zusammen weit mehr Einwohner als die USA und Kanada. Die Vereinigten Staaten und vielleicht noch Kanada dürfen also nicht einfach mit Amerika gleichgesetzt werden. Ich stelle mir unter Amerika eine offene, tolerante Gesellschaft vor, wo auch freie Liebe erlaubt ist, wo sich eine ältere Frau und ein junger Mann lieben dürfen oder ein älterer Mann und eine junge Frau. Ein Land, wo Weisse, Schwarze, Rote und Gelbe gleich viel zählen. Das ist in vielen Gebieten der USA längst nicht und im übrigen Amerika fast nirgends erfüllt. Aber es gibt wunderbare Oasen auf diesem Kontinent, wo das möglich ist. Ich hoffe es jedenfalls.»

Wendolin fand keine Antwort darauf.

«Jetzt fahren wir zur US-amerikanischen Botschaft», fuhr Erna weiter. «Dort müssen wir unsere Visen beantragen.»

«Beantragen?»

«Ja. Und das kann ein bis zwei Wochen dauern, bis sie fertiggestellt sind und wir sie dann abholen können.»

«Zu dieser Botschaft fahren wir? Ist sie denn so weit weg von hier?»

«An der Place de la Concorde. Einige Kilometer bis dort.»

«Ich stelle fest, dass ich noch längst nicht alles von dir weiss. Dann warst du ja schon mehrmals in Paris.»

Erna gab Wendolin einen leichten Klaps auf den Hinterkopf. «Mehrere Male. Um zur Place de la Concorde zu gelangen, müssen wir die Metro nehmen.»

Sie nahm Wendolin an die Hand. «Sonst gehst du mir noch verloren. Jetzt suchen wir die Station, wo die Billete ausgegeben werden… Dort sehe ich sie.» Erna zeigte auf einen in Stein gehauenen Eingang. Sie ging, immer noch Wendolin an der Hand, hinein, klaubte einige Münzen aus ihrem Portemonnaie und erhielt dafür zwei Billete.

Wendolin hatte im Geografieunterricht von der Metro gehört. Konnte sich darunter einen Zug vorstellen, der durch einen langen Tunnel fuhr. Dass es weit mehr war, wurde ihm bereits bewusst, als er über eine lange Treppe in den Untergrund hinabstieg. Es waren Massen von Menschen, die sich mit ihm in die Tiefe wälzten. Zwanzig, dreissig oder mehr Meter unter der Erdoberfläche war man plötzlich in einer ganz anderen Welt. Es tat sich eine riesige Halle auf, die hell erleuchtet war, obwohl kein einziger Sonnenstrahl in sie fiel. Alles war sehr sauber. Die Wände aus Kacheln glänzten. Dutzende von Frauen putzten mit Bürsten, die an langen Stangen befestigt waren.

«Ein leicht stechender Geruch nach Chlor steigt einem in die Nase. Das Chlor entströmt dem Javelwasser, einer Lösung, die die Chlorverbindung Kaliumhypochlorit enthält», belehrte Wendolin Erna. Das sei nicht so angenehm, sagte er zu Erna. Aber notwendig. Wäre dem nicht so, würden viele Menschen an Infektionen erkranken.

Auf dem Perron wartete eine unübersehbare Menschenmenge. Ein Zug fuhr mit hoher Geschwindigkeit in den Höhlen-Bahnhof ein, bremste kreischend und hielt nach wenigen Augenblicken an. Erna bemerkte Wendolins Unbehagen und konnte ein helles Lachen nicht unterdrücken. «Wenn du im Wagen bist, halte dich an mir fest, sonst wirst du bereits beim Anfahren erbarmungslos nach hinten geschleudert und prallst auf andere Passagiere.»

Die Fahrt dauerte mit einmal Umsteigen sehr lange… eine halbe Stunde? Vielleicht sogar doppelt so lange. Wendolin hatte das Gefühl für die Zeit verloren. Alles kam ihm geheimnisvoll, ja fremd vor. Sogar Erna musterte er plötzlich kritisch. Auf ihren Lippen war dick Rouge aufgetragen. Dann ihr Ausschnitt. Er war gewagt, zog lüsterne Blicke von Männern an. Warum war Wendolin das nicht aufgefallen, als sie am Morgen zusammen das Hotel verlassen hatten?

«Du siehst eigenartig aus», flüsterte er ihr im überfüllten Metrowagen ins Ohr.

«Ach, komm doch endlich in meine Welt. In Paris schminkt man sich und zeigt seinen Körper. Das mag in Mostindien als schlampig daherkommen. Das ist auch der Grund, weshalb ich es dort nicht mehr aushalte. Du bist ein Bünzli», entgegnete sie in breitem Thurgauer Dialekt und gab ihm einen Kuss auf den Mund. Mehrere Fahrgäste drehten sich zu ihnen um.

Die Zielstation war erreicht. Das Perron führte direkt in eine prächtige Halle, in der mehrere einem ins Auge springende Plakate hingen mit dem Bild einer fast nackten Frau und der Schrift: «MATA HARI: Une danseuse nue conquiert Paris.»

Wendolin übersetzte flüsternd: «Mata Hari, eine Nackttänzerin erobert Paris.»

Wieder erscholl das quirlige Lachen Ernas, und sie sagte mit fester Stimme: «Das darfst du hier laut sagen.»

Nach einem Aufstieg über eine Treppe mit fast hundert Stufen sahen sie wieder Tageslicht. Sie standen vor einem wunderschönen Park, umflutet von gleissendem Sonnenlicht. Mittendrin ein herrschaftliches Gebäude. Die Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika. Auf dem Vorplatz ein reges Kommen und Gehen. Wohl Menschen, die in die USA auswandern wollten. In diesem Land, das hörte Wendolin immer wieder, herrschten ungeahnte Freiheiten. Arbeitslosigkeit gebe es dort nicht. Tüchtige Leute könnten es in kurzer Zeit zu Wohlstand, mitunter zu unermesslichem Reichtum bringen.

Erna suchte den speziell bezeichneten Eingang für Migranten. Er war leicht zu finden. Eine gigantische Menschentraube breitete sich über eine lange Treppe aus, an deren Ende war ein offenes Tor. Es mochte gut und gerne eine halbe Stunde gedauert haben, bis sie an die Reihe kamen. Der Portier zeigte auf Wendolin. «Grosse und kleine Kinder bleiben draussen», sagte er in einem breiten Englisch, das Wendolin irgendwie ordinär vorkam.

Wendolins Gesichtsausdruck war unmissverständlich: Er war zutiefst gedemütigt.

Erna amüsierte sich. «Bald wirst du ein richtiger Mann sein.»

Wendolin wollte aufbegehren, doch dazu kam es nicht. In das Haus hastend, rief sie zurück: «Ich bemühe mich, möglichst bald zurück zu sein.» Dann war sie verschwunden.

Nach fast anderthalb Stunden erschien Erna mit einem strahlenden Lächeln am Ausgang. Sie winkte Wendolin, umschlang ihn. «Armer Junge, gut ist es draussen richtig warm, so hast du wenigstens nicht gefroren.»

Wendolin musterte sie mit einem Blick, der in etwa ausdrücken konnte: Ich fühle mich wie dein Schosshündchen an der Leine.

«Und– wie lange dauert es, bis wir uns einschiffen können?», erkundigte er sich.

«Ein paar Tage, bis wir Bescheid erhalten.»

«Was ist mit ‹Bescheid› gemeint?»

Erna sah Wendolin fast verloren an. «Wenn ich das genau wüsste. Ich habe das Gesuch für beide eingereicht. Der Beamte, der es entgegennahm, sagte, man würde es prüfen und mitteilen, ob alles in Ordnung sei oder wir allenfalls etwas nachreichen müssten.»

«Nachreichen? Was, denkst du, ist damit gemeint?»

«Er wirkte etwas geheimnisvoll und meinte, wenn du volljährig wärst, gäbe es keine Probleme. In Pennsylvania, wo wir Wohnsitz nehmen, werde man das nach dem einundzwanzigsten Geburtstag.»

Was man denn nachreichen müsse, fragte Wendolin.

Das habe man ihr nicht gesagt.

Als die beiden wieder in ihr Hotel zurückkehrten, griff Erna beim Vorbeigehen die Neue Zürcher Zeitung von gestern und bezahlte die neunzig Centimes. «Im Zimmer oben», es war in der vierten Etage, «vertiefst du dich in den Inland- und ich in den Auslandteil», beschied Erna.

Wendolin gehorchte ohne Widerrede– wie immer seit Anfang ihrer Flucht.

Bei der Lektüre fuhr er plötzlich zusammen, so heftig, dass es Erna, die auf der gegenüberliegenden Seite des Tischs sass, auffiel. «Ist etwas?», fragte sie.

«In der Tat, ja.»

Wendolin schob ihr die Seite mit dem Artikel zu.

Frauenfeld. Vermisst werden ein Schüler des Konvikts und die Gattin des Vorstehers. Die Vermisstenmeldung wurde allen Polizei- und Grenzposten zugestellt.

Erna lachte. «Beruhigend ist, dass die keinen internationalen Haftbefehl ausgestellt haben. Ich denke, wir können uns vorläufig noch zurücklehnen.»

«Was wird wohl der Konviktvorsteher denken?»

«Denken ist gut. Vielleicht denkt er tatsächlich einmal nach.»

Am 2.Juni, vier Tage nach dem Besuch in der Botschaft, fand Erna einen Brief in ihrem Postfach. Er war von der Migrationsbehörde der USA und in Englisch abgefasst.

Bitte melden Sie sich am 6.Juni 1911, um zehn Uhr in der Botschaft derUSA. Eingang Migration.

Der 6.Juni war ein Dienstag. Erna ging dorthin, Wendolin begleitete sie. Um rechtzeitig auf der Place de la Concorde zu sein, verliessen sie das Hotel bereits um acht Uhr.

Erna wurde Punkt zehn Uhr einem Einwanderungsbeamten vorgeführt. Der sagte zu ihr gerade mal zwei Sätze. «Es fehlt noch die Einwilligung der Eltern von Wendolin. Wir erwarten Sie damit genau in einer Woche.»

Als Erna Wendolin diese Nachricht eröffnete, wurde er kreideweiss und stotterte: «Damit habe ich nicht gerechnet.»

«Ich auch nicht.»

«Was machen wir jetzt?», fragte Wendolin.

«Du musst, sobald wir zurück im Hotel sind, deine Eltern anrufen und sie um ihre Einwilligung bitten.»

«Ich werde es versuchen, aber die Hoffnung, dass sie Ja sagen, ist minim.»

Er rief von der Telefonkabine in der Lounge an. Erna stand neben ihm. Es klingelte lange, bis jemand abnahm. Eine Frauenstimme, die er nicht kannte. Wohl das neue Hausmädchen. Wendolin fragte nach dem Herrn oder der Frau Roder. Mit wem sie denn das Vergnügen habe zu sprechen, wollte die Frau wissen. Erst dann sagte Wendolin, wer er war.

Danach ging es hektisch zu. «Moment bitte…»

Wendolin vernahm ein rasches Trippeln. Anschliessend schnelle, schwere, immer lauter werdende Schritte. Dann die donnernde Stimme seines Vaters. «Junge, Junge, was machst du für Sachen? Wo bist du? Bist du entführt worden? Um Himmels willen, wie geht’s dir? Kannst du frei sprechen?»

Wendolin beantwortete klar und deutlich jede Frage und verriet auch, wer sich neben ihm in der Kabine aufhielt. Der Vater verhielt sich einige Augenblicke still. Dann wieder eine rhetorische Sturmflut. «Komm sofort nach Hause. Das geht so nicht. Diese Schlampe hat dich entführt.»

Erna schmiegte sich mit dem Kopf an Wendolins Ohr. Sie hörte so alles mit.

«Vater, ich bitte dich. Das ist keine Schlampe. Ich liebe die Frau.»

«Sohn, du drehst durch. Du hattest immer schon verrückte Ideen, um deine perversen Sehnsüchte zu befriedigen. Doch diesmal übertreibst du. Gib mir jetzt die Adresse des Hotels an. Ich überweise dir… welche Zeit ist es gerade?…»

«Das fragt er meine Mutter», bemerkte Wendolin.

Und Erna rief die Antwort: «Sechzehn Uhr siebenundzwanzig…»

«Verdammt, halb fünf. Das reicht nicht mehr, um bei der Bank Geld zu überweisen. Junge, ich hoffe, übermorgen oder am Tag danach erhältst du das Geld für das Bahnbillet nach Zürich. Dann steigst du in den Nachtzug. Am folgenden Morgen hole ich dich am Hauptbahnhof ab, dann fahren wir nach Hause ins Bündnerland.»

«Ich muss mir das alles noch überlegen.»

«Solltest du nicht einlenken, sähe ich mich gezwungen, die Polizei einzuschalten.»

«Ich werde noch mit Erna reden–»

Vater Roder fiel Wendolin ins Wort. «Mit dieser verdammten Hure–»

Wendolin hängte auf. Erna begann zu schluchzen. Sie umarmte Wendolin. «Du bist ein guter Junge. Gehen wir ins Zimmer, reden wir darüber. Danach genehmigen wir uns ein gutes Nachtessen.»

Das Ergebnis der Unterredung konnte, was Wendolin betraf, nicht anders ausfallen. An eine Reise über den Atlantik war nicht mehr zu denken. In Frankreich zu bleiben kam auch nicht in Frage. Die Behörden in Paris und Bern arbeiteten gut zusammen, Wendolin hätte sich auf eine Abschiebung gefasst machen müssen. Das Gleiche galt für die anderen europäischen Staaten.

«Und du, Erna, wie siehst du deine Zukunft?», fragte Wendolin einfühlsam.

«Niemals werde ich nach Frauenfeld zurückkehren. Ich reise allein nach Pennsylvania. Ich werde in der Fabrik meines Bruders arbeiten. Er hasst meinen Mann, weil er das Militär hasst. Zu Beginn der Rekrutenschule hatte mein Bruder einen Unfall und wurde für ein Jahr zurückgestellt. Nach dem einundzwanzigsten Geburtstag beantragte er in der Botschaft der USA in Bern ein Visum. Das lief damals– vor fünfzehn Jahren– problemlos ab.»

Wendolin fasste zusammen. «Ich reise also zurück in die Schweiz. Ganz sicher nicht mehr ins Frauenfelder Konvikt. Dort, das nehme ich an, hat man mich bereits rausgeworfen. Ich werde nach einer anderen Möglichkeit suchen, die Matura zu machen, und dabei wieder ein Jahr verlieren. Dann bin ich einundzwanzig, in unserem Land und auch in Pennsylvania volljährig und werde zu dir nach Amerika reisen.»

Sie legte die Arme um Wendolin. «Sobald ich bei meinem Bruder angekommen bin, werde ich dir schreiben. Ich kenne deine Adresse in Davos. Doch denk daran, ich werde zu diesem Zeitpunkt dreiundvierzig Jahre alt sein.»

Das Nachtessen war ausgezeichnet, beide in guter Stimmung.

Wendolin wurde vier Tage später im Zürcher Hauptbahnhof von seinen Eltern in Empfang genommen. Sie waren sehr lieb und machten ihm keine Vorwürfe. Es war buchstäblich die Rückkehr des verlorenen Sohns.

«Entspanne dich mal bei uns, dann wollen wir weitersehen», versuchte die Mutter, Wendolin aufzumuntern.

Eine Woche machte er Spaziergänge, dann anerbot er seinen Eltern, in ihrem Betrieb auszuhelfen, was diese dankbar annahmen.

Was er aber fortan jeden Tag machte: Er öffnete den Briefkasten. Als er einen Monat später darin keinen Brief von Erna fand, war er traurig. Doch er sprach mit niemandem darüber. Es vergingen weitere Wochen, der Herbst ging vorüber, auch an Weihnachten kam kein Brief aus Amerika. Er beschloss, sein Schicksal selbst in die Hände zu nehmen. Beim Mittagessen am 24.Dezember schnitt er das Thema seiner beruflichen Zukunft an. Er wolle Arzt werden. Die Eltern nahmen diese Ankündigung zustimmend zur Kenntnis.

«Doch dazu musst du zuerst die Maturaprüfung machen», ermahnte ihn der Vater.

Das schaffe er schon.

«Glaubst du, ein öffentliches Gymnasium würde dich trotz des Rauswurfs aus dem Konvikt von Frauenfeld aufnehmen?»

«Wir könnten es mal versuchen.»

«Wenn das nicht funktioniert?»

«Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als in eine Privatschule einzutreten.»

«Das dürfte hart werden. Du musst in einem solchen Fall ohne Erfahrungsnoten die eidgenössische Maturaprüfung ablegen.»

Darin sah Wendolin kein unüberwindbares Hindernis.

Er wurde in kein Gymnasium mit eigener Matura zugelassen. Man fand eine andere Lösung. Das Institut Lémania in Lausanne. Das Schuljahr begann im Herbst 1912.

Im September 1914 bestand er die eidgenössische Maturaprüfung, zwei Jahre später, als es seinem Jahrgang entsprach.

3. Linda

In Zürich fand Wendolin Roder eine günstige Unterkunft in der Wohnung von Fräulein Linda Schneeberger, die zusammen mit ihren beiden Geschwistern Hulda und Karl einen Haushalt führte. Linda betrieb gleichzeitig in einem Atelier, das sich im Parterre desselben Hauses befand, eine Damenschneiderei.

Nach wenigen Tagen kam Wendolin Roder ziemlich niedergeschlagen nach Hause. Linda Schneeberger fiel das auf. «Was ist Ihnen denn über die Leber gekrochen, Herr Roder?»

Wendolin Roder verwarf die Hände. «Ich bekam meine Klausur, für die ich das vergangene Wochenende gebüffelt habe, zurück. Sie war knapp genügend.»

«Genügend? Das reicht doch.»

«Knapp. Geht es so weiter, habe ich keine Reserve, und das Risiko ist gross, dass ich bei der nächsten Prüfung durchfalle. Ich müsste dann womöglich ein ganzes Semester wiederholen.»

Linda Schneeberger sah Roder einen Augenblick lang bedauernd an. «Könnte es sein, dass Sie zu hart arbeiten und sich deswegen verkrampfen?» Dann lächelte sie und nahm Wendolin in die Arme. «Die zwei Jährchen, die ich älter bin, zählen nicht. Wir sind also fast gleich alt. Ich heisse Linda. Und du? Darf ich dich Wendolin nennen?»

Ganz kurz zögerte er, einfach aus Verlegenheit, und sagte schliesslich herzhaft: «Jaaa…», während er Linda zart auf beide Wangen küsste. Ihm gefielen ihr ausgesprochen hübsches Gesicht und ihre wohlproportionierte Figur.

Sie drückte ihn an sich und presste ihre vollen Lippen auf die seinen.

«Sind wir nun ein Liebespaar?», fragte er.

«Klar doch, du dummer Junge.»

Wendolin schaute betreten zu Boden.

«Gehen wir ins Kino? Ich lade dich dazu ein. Dann vergisst du deine verpatzte Klausur.»

Linda und Wendolin sahen kaum auf die Leinwand, zu sehr waren sie mit sich beschäftigt.

Linda nahm Wendolins Hand und legte sie auf ihren vollen Busen.

«Ich nehme vorerst nur Stoff wahr», flüsterte er ihr ins Ohr.

Sie lachte so laut, dass sich die benachbarten Kinobesucher nach den beiden umdrehten, und sagte dann deutlich vernehmbar: «Sind wir zu Hause, darfst du die nackte Haut berühren.»

Das war für Wendolin die erste Nacht im Bett von Linda, und es folgten weitere.

Einen Monat später polterte es mitten in der Nacht an die Wohnungstür. Man hörte eine durchdringende Männerstimme. «Polizei, bitte unverzüglich aufmachen.»

Wendolin stand als Erster hinter der Tür. «Nicht so schnell. Sind Sie wirklich von der Polizei? Von welchem Posten kommen Sie?»

«Warte nur, was meinst du eigentlich, wer du bist.» Mit ihren schweren Schuhen bearbeiteten die Hüter des Gesetzes die Tür, bis sie buchstäblich in zwei Stücke brach. Sie rannten durch den Korridor, öffneten das erste Zimmer. Dort standen zwei verängstigte Frauen in Nachthemden vor ihren Betten. Einer der beiden Polizisten knallte die Tür zu und brummte: «Wo ist das verdammte Schlafzimmer der Konkubine und ihres Begatters? Das Zusammenleben eines unverheirateten Paares ist ein Offizialdelikt. Eine von ihnen schlief mit dem Herrn, der uns an der Tür empfangen hat.»

Wendolin Roder reagierte ungehalten. «Wie steht es mit Ihren Manieren, Sie trotteliger Bulle?»

Der Angesprochene schmierte Roder eine kräftige Ohrfeige auf die linke Gesichtshälfte. Sie wurde gleich feuerrot. Roder holte aus, besann sich aber eines Besseren und schlug nicht zu. Stattdessen gab er mit Worten zurück: «Sind solche Schläger-Attacken bei der Zürcher Stadtpolizei überhaupt erlaubt? Ich bin mir sicher, dass das nicht der Fall ist.»

«Vielleicht nicht, aber das nehme ich mir heraus.» Der Polizist zog aus einer Seitentasche einen Schlagstock, ging auf Roder zu, setzte zu einem Schlag an, doch er war zu langsam, Roder wich behände aus.

Dann mischte sich der zweite Polizist ein. «Lass das, Kollege, das bringt uns wieder Scherereien ein. Denk daran, was uns bei einem der letzten Einsätze passiert ist. Plötzlich versammelten sich so an die zwanzig Hausbewohner vor der eingetretenen Wohnungstür. Am übernächsten Tag stand alles in der Zeitung. Sollte das wieder geschehen, sind wir beide unseren Job los. Wir werden ins Militär eingezogen und müssen zu einem mickrigen Sold an der Grenze zum Elsass stehen, wo derzeit ein Massaker zwischen Deutschen und Franzosen stattfindet. Ich habe sieben hungrige Kindermäuler zu versorgen.» Er sah Roder an. «Tut mir leid, aber mein Kollege ist mit den Nerven am Ende. Wir sind schon die fünfte Nacht auf der Jagd nach illegalen Liebespärchen, so ein himmelschreiender Blödsinn. Denken Sie ja nicht, uns würde das Spass machen. Wir befolgen nur Befehle. Würden Sie uns bitte jetzt ins Schlafzimmer führen?»

«In welches? Es gibt mehrere in dieser Wohnung», entgegnete Roder mit einem süffisanten Grinsen.

«Dort, wo Sie und das Frauenzimmer zusammen im Bett gelegen haben.»

«Das Frauenzimmer?»

Der Uniformierte entnahm aus einer Rocktasche einen Zettel. «Sie heisst Linda Schneeberger, und Sie sind Wendolin Roder?»

«Richtig.»

«Und die Schneeberger schlief mit Ihnen. Nun tut sie so, als ob sie im Zimmer der andern Frau nächtigt, das glauben wir nicht. Wer ist eigentlich die andere Frau?»

«Hulda Schneeberger, die Schwester von Linda.»

Roder führte die beiden Polizisten in den Raum, wo er geschlafen hatte.

«Da sind zwei Personen dringelegen. Das stellen meine geübten Augen fest. Das müssen Sie und die Frau da sein.» Der Polizist zeigte auf Linda Schneeberger, die nun neben Roder stand. «Alfred, hol bitte den Fotoapparat aus dem Veloanhänger. Wir müssen einige Aufnahmen machen, solange man die beiden Dellen noch sieht.»

Eine Viertelstunde später verabschiedete sich der freundlichere Polizist mit kräftigem Händedruck von Roder und Schneeberger. «Sie werden eine gerichtliche Vorladung bekommen. Wie das der zuständige Untersuchungsrichter handhaben wird, steht in den Sternen. Häufig verzichtet er auf eine Strafe, wenn die Angeschuldigten versprechen, umgehend zu heiraten. Andernfalls müssen sie mit einer saftigen Busse rechnen, im Wiederholungsfall mit einigen Tagen Gefängnis.»

Der andere Polizist war wortlos verschwunden.

Linda Schneeberger und Wendolin Roder entgingen einem Gerichtsverfahren, indem sie einer unverzüglich anberaumten Ziviltrauung zustimmten. Wendolin besuchte mit Linda seine Eltern, um deren Einverständnis einzuholen. Linda war aus deren Sicht nicht die Traumfrau für ihren Sohn. Sie verhielten sich ihr gegenüber derart abweisend, dass Wendolin und Linda beschlossen, gleich wieder abzureisen.

Als Wendolin den Eltern einige Tage später seine Heiratsanzeige zuschickte, schrieben sie ihm einen geharnischten Brief mit einer Absage ihrer Teilnahme an den Hochzeitsfeierlichkeiten. Wendolin teilte ihnen anschliessend in einer Einschreibnachricht mit, dass er den Kontakt mit ihnen abbrechen werde.

Wendolins Mutter rief ihren Sohn schluchzend an. «Dein Vater lässt dir ausrichten, er werde von nun an die Zahlungen an dich einstellen. Er ist aber bereit, seinen Entschluss rückgängig zu machen, unter einer Bedingung. Du musst die Beziehung mit Linda Schneeberger beenden.»

«Mama, das werde ich nicht tun.» Wendolin hängte den Hörer auf die Gabel.

Linda, die neben ihm stehend das Telefonat mitverfolgte, umarmte ihn. «Wendolin, du hast das einzig Richtige getan. Wie geht es nun weiter? Ich setze mich an die Schreibmaschine und tippe einen Vertrag. Den werden wir beide unterzeichnen. Wir lassen ihn notariell beglaubigen.»

Wendolin sah Linda ratlos an.

«Du bist immer noch ein kleiner Junge, Wendolin. Du musst geführt werden, andernfalls landest du auf der Gosse. Ich bin von nun an deine Partnerin. Anders als du stehe ich auf eigenen Füssen. Das soll aber nicht heissen, dass du wie bis anhin keine Pflichten wahrzunehmen hast. Damit wir all das schaffen, musst du auch Hand anlegen.»

«Wie stellst du dir das denn vor?»

«Eben, ich setze einen Vertrag auf, und du unterschreibst ihn.»

«Und ich habe dabei nichts zu sagen?»

Linda wog den Kopf hin und her. «Wir können über das eine oder andere diskutieren.»

«Gut, ich lasse mich überraschen.»

«Ich gehe jetzt in mein Atelier. In einer Stunde komme ich mit dem Schriftstück zurück.»

Ehevertragzwischen Wendolin Roder, geb. 12.09.1892, und Linda Schneeberger, geb. 21.04.1890.

Erstens:W.R. wohnt während seines Studiums bei seiner Ehefrau,L.S., bei freier Kost und Logis.

Zweitens:L.S. kommt für die Studien- und Prüfungsgebühren auf.

Drittens:L.S. gibtW.R. monatlich ein Sackgeld von Franken 20.-.

Viertens:W.R. hilft, soweit das Studium es erlaubt, im Geschäft und im Haushalt mit.

Diese Verpflichtungen und Gegenleistungen sind, solange das Studium nicht abgeschlossen ist, nur in gegenseitigem Einvernehmen kündbar.

«Ein kurzer Vertrag, doch der Teufel liegt im Detail», sagte Wendolin.

«Stimmt. Das war meine Absicht.»

«Nachteile? Vorteile?», fragte Wendolin.

«Oh weh! Hast du Angst, ich würde dich übers Ohr hauen? Um das geht es nicht. Auch du könntest schlechter wegkommen. Das möchte ich sicher nicht», beschwichtigte Linda.

«Gut. Unter ‹viertens› geht es um meine Gegenleistungen. Da steht ‹soweit das Studium es erlaubt›… Aber wie kannst du wissen, was mein Studium erlaubt?»

Linda lachte und legte Wendolin beide Hände auf die Schultern. «Damit tust du wieder mal kund, dass du noch nicht erwachsen geworden bist. Ist es dir nicht möglich, eine Handreichung für mich auszuführen, sagst du es einfach. Mit einer plausiblen Begründung, versteht sich. Dann werden wir das zusammen besprechen. Ich bin auch interessiert daran, dass du möglichst bald als Arzt arbeiten kannst. Ist es so weit, werde ich deine Praxishilfe sein, und du wirst sagen, wo’s langgeht.»

«Bis es so weit ist, könnten einige Jahre vergehen.»

«Du sagst es. Aber das liegt in deiner Hand. Je mehr du für dein Studium arbeitest, je rascher wirst du zum Staatsexamen zugelassen.»

«Richtig, aber merkst du denn nicht, wie du dir widersprichst. Je mehr ich Dienstleistungen für dich erbringe, je weniger bleibt mir Zeit für mein Studium.»

«Hört sich plausibel an. Aber bislang bist du stets flott vorwärtsgekommen, mit Ausnahme der nur knapp bestandenen Klausur am Anfang deines Studiums hier in Zürich. Du hast deine Examen in der kürzestmöglichen Zeit hinter dich gebracht. Trotzdem hast du dir immer wieder grosszügig Freiräume herausgenommen. Du hast Übungen und Vorlesungen geschwänzt, hast am Abend oder sogar über den Tag mit deinen Studienkollegen Bier getrunken. Du hast, statt zu studieren, einen Ausflug gemacht, auf den Uetliberg, mit dem Schiff nach Rapperswil. Auf diese Art Zerstreuung musst du nun verzichten, stattdessen mir beim Haushalt und im Geschäft beistehen.»

«Ich werde mich bemühen, allem, dir und meinem Studium, gerecht zu werden. Doch auf meine sozialen Kontakte möchte ich nicht ganz verzichten, auch wenn ich einsehe, dass ich sie ein wenig zurückbinden muss.»

Linda sah Wendolin herausfordernd an. «Darüber können wir reden. Du hast immer noch die Wahl. Du kannst vor deinen Alten zu Kreuze kriechen, dich wieder von ihnen aushalten lassen.»

Wendolin sagte nichts darauf, er schüttelte lediglich resigniert den Kopf.

«Ich verstehe.» Linda hob den Finger. «Wie soll’s jetzt weitergehen, Wendolin?»

«Wir werden heiraten. Jetzt erst recht.»

Linda machte einen Luftsprung. Sie fiel über Wendolin her, nahm ihn in die Arme, küsste ihn mit einer Heftigkeit, dass er kaum noch atmen konnte.

«Einen Moment.» Sie rannte weg, hielt kurz inne und sah zurück. «In fünf Minuten bin ich wieder da.»

Es dauerte zehn Minuten. Sie stürzte mit einer Flasche Champagner durch die Wohnungstür, nahm einen Zapfenzieher aus der Schublade des Küchentischs und warf ihn Wendolin zu. «Öffne das Ding, dann ab ins Schlafzimmer. Ich habe unten den Laden dichtgemacht.»

«Gläser?»

«Gläser? Du steifer Junge. Brauchen wir nicht.»

Linda und Wendolin heirateten im Januar 1917. Standesamtlich, nicht in der Kirche.

***

Linda Schneeberger wurde 1890 in Rümlang, Kanton Zürich, geboren. Ihr Vater war Kassier in der Gemeindeverwaltung, daneben arbeitete er als Briefträger. Er galt als intelligent, allerdings mit einem Handicap: Zwischendurch blickte er zu tief ins Glas. Seine Sucht wurde immer schlimmer. Zunächst verlor er die prestigeträchtige Stelle bei der Gemeinde, dann auch seinen Broterwerb bei der Post. Linda war damals sechzehn und hatte gerade eine Lehrstelle als Schneiderin gefunden. Ihre Schwester Hulda, zwei Jahre jünger, ging noch zur Schule, ebenso wie Karl, mit Jahrgang 1893 der Jüngste von den dreien. Die Familie zerbrach. Die Mutter musste sich um Karl und Hulda kümmern und arbeitete wie besessen als Putz- und Kinderhütefrau, bis sie plötzlich erschöpft zusammenbrach und kurz darauf starb. Der Vater, er hatte sich in der Zwischenzeit wieder gefangen, kam zu einer Stelle als Versicherungsagent und heiratete wieder, ohne sich allerdings einen Deut um Linda, Hulda und Karl zu kümmern.

Eine kinderlose Tante, die mit ihrem Mann ein kleines Bauerngut auf dem Gemeindegebiet von Rümlang bewirtschaftete, nahm die drei Geschwister auf. Dort mussten sie allerdings Hand anlegen, was ihnen zunächst nicht sehr behagte. Als sie noch bei ihren Eltern lebten, mussten sie lediglich im Haushalt mithelfen. Wie Linda als Schneiderin fanden Hulda und Karl eine Lehrstelle. Beide im Warenhaus Globus, Hulda mit dem Berufsziel Sekretärin, Karl als Kaufmann. Sie schlossen ihre Ausbildungen erfolgreich ab und fanden eine Arbeitsstelle.

Nach dem achtzehnten Geburtstag trat Linda in Zürich eine Stelle im Atelier der Damenschneiderin Greta Zwicky an. Diese hatte bereits das sechzigste Lebensjahr hinter sich, ihre Kräfte liessen nach, sodass sie gezwungen war, Linda die Kontrolle über die Ausgaben und Einnahmen des kleinen Geschäfts zu übergeben. Linda nahm den Auftrag mit Begeisterung an. Frau Zwicky hatte keine Nachkommen. Sie setzte einen Vertrag auf und bat Linda, ihn zu unterzeichnen. Linda wurde darin als Alleinerbin eingesetzt, mit der Verpflichtung allerdings, für die alte Dame bis zu ihrem Tod zu sorgen. Linda ging in der Arbeit auf. Das Geschäft lief gut, besser als je zuvor. Linda zog in die Wohnung von Greta Zwicky um und besorgte dort auch den Haushalt. Das liess sich machen, da die Wohnung an der Nelkenstrasse im Stock über dem Atelier lag. Damit fiel für sie der lange Arbeitsweg weg.

An ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag klopfte Linda an die Schlafzimmertür von Frau Zwicky und trat leise ein, als diese nicht reagierte.

Greta Zwicky lag friedlich, mit einem Lächeln auf dem Gesicht, im Bett und sagte: «Ich gratuliere dir zum Geburtstag. Gerne hätte ich dir ein gutes Frühstück gemacht. Doch ich bin so müde. Ich mag heute nicht aufstehen.»

«Ich bringe es dir ans Bett.»

«Vielen lieben Dank… mir wird plötzlich schwindlig.» Der Kopf von Greta Zwicky fiel auf das Kissen.

Linda umfasste das Handgelenk der alten Frau und fühlte keinen Puls mehr.

Nun war Linda allein in der Wohnung. Sie bat ihre Schwester, die in einem Zimmer in der Stadt Zürich wohnte, zu ihr zu ziehen. Ein gemeinsamer Haushalt käme für beide billiger. Hulda, die als Sekretärin in einem Büro arbeitete, nahm das Angebot dankend an.

Doch wunschlos glücklich war Linda nicht. Ihr fehlte etwas, was Hulda nicht vermisste. Ihr fehlte ein Mann. Sie schreckte davor zurück, sich den Erstbesten zu angeln. Sie dachte dabei immer an ihren trunksüchtigen Vater, der, bevor er die Familie verliess, ihre Mutter, ihre Schwester und selten auch sie terrorisierte. Sie wusste, dass sie auf Männer anziehend wirkte, im Gegensatz zu ihrer Schwester, die das Kapitel «Heiraten» ad acta gelegt hatte. Nicht zuletzt, weil sie sich einbildete, wenig hübsch zu sein und sich deswegen mit einem hässlichen Partner zufriedengeben zu müssen.

Linda stellte sich ihren Zukünftigen als begüterten und gebildeten Menschen vor.

Warum sollte sie nicht einen Studiosus von der Universität oder gar der Eidgenössischen Technischen Hochschule in ihrer Wohnung einquartieren, ihm ein Zimmer vermieten? Das wäre doch eine kreative, nicht aufdringliche Art, mit einem solchen Mann Kontakt aufzunehmen. Linda begab sich ins Hauptgebäude der ETH und erkundigte sich beim Empfang, wie man es anstellen müsse, Studenten gegen bescheidenes Entgelt eine Schlafgelegenheit anzubieten.

Die ältliche Dame am Schalter musterte Linda skeptisch. «Es gibt immer junge Männer, die das möchten. Wenn ich Sie so anschaue, gehe ich davon aus, dass einige dieser Tunichtgute auch noch etwas mehr von Ihnen möchten. Sehen Sie sich vor. Sie wären nicht die Erste, die heulend zu mir kommt und nach dem Burschen fragt, der bei Nacht und Nebel die Schlafbude geräumt, das Geld für die Monatsmiete unter das Kopfkissen gelegt hat und etwas im Bauch der Schlummermutter zurücklassend verschwunden ist.»

Mit dem könne sie problemlos umgehen, sagte Linda und fragte nochmals nach, was sie tun müsse, um ein Zimmer an einen Studenten zu vermieten. Die Frau händigte ihr ein Formular aus und bat Linda, es auszufüllen. Als Linda es zurückgab und den Geldbeutel aus ihrer Handtasche zog, sagte die Dame, es koste nichts.

Schon am nächsten Tag klopfte ein junger Typ an ihre Ateliertür. Er hatte rote, fettige Haare und Pickel im Gesicht.

«Sie kommen wohl wegen des Zimmers?», sprach ihn Linda an.

Er errötete leicht und nickte.

«Tut mir leid. Es ist schon vergeben.»

Fünf weiteren Bewerbern ging es genauso. Dann kam einer, der Linda wirklich zusagte. Gut aussehend, muskulös, ein Männlichkeitsprotz zweifellos und offensichtlich aus gutem Haus. Von Anfang an, wie Linda sich eingestand, war ihr aber klar, dass daraus nur ein Techtelmechtel werden konnte, sicher nichts Ernstes. Aber sie rechtfertigte sich damit, mal behutsam in diese Kreise einzudringen.

Der neue Mieter trug den Namen Lothar Sommerhalder und war der Enkel eines bekannten Textilfabrikanten. Er biss gleich an. Man wurde handelseinig zu einem für Linda guten Mietzins. Sie wollte zunächst weniger verlangen, er aber beharrte auf der Zugabe, so nannte er den Mehrpreis.

Hulda, die Linda kritisch beäugte, als sie mit Sommerhalder verhandelte, machte ihr Vorwürfe, als er gegangen war. «Merkst du denn nicht, um was es diesem Burschen geht? Du hättest besser den schüchternen Rothaarigen genommen. Der hätte dich bestimmt nicht angerührt.»

Linda beantwortete das mit einem vielsagenden Lächeln.

Schon am ersten Tag des Einzugs von Sommerhalder geschah das, was Lothar wollte und Linda im Geheimen erhofft hatte. Hulda war noch am Arbeiten im Büro. Für Lothar war es eine «körperlich intime Einweihung» der neuen Bude, wie er unumwunden gestand. Das Liebesnest sei allerdings renovierungsbedürftig, bemerkte er. Aber das liesse sich ändern. Er habe so seine Beziehungen.

Linda liess das alles über sich ergehen, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, machte aber Lothar darauf aufmerksam, dass ihre Schwester nichts davon erfahren dürfe. In einem Bett zusammen nächtigen liege nicht drin. Für ihn kein Problem, wie er schmunzelnd einräumte, das könne man in einem Hotel nachholen. Er reise bisweilen ins Tessin oder an den Genfersee.

Es war eine lustige Zeit für Linda.

Nach zwei Semestern nahm der Spass ein Ende. Lothar wechselte an die École polytechnique de l’Université de Lausanne.

Danach kam Wendolin, und Linda hatte ihr Ziel erreicht.

4. Die ersten Ehejahre der Roders

Das erste Jahr unter der Obhut seiner frisch Angetrauten war für Wendolin gewöhnungsbedürftig. Er gab sich sehr Mühe. Doch es kam zunehmend zu Spannungen. Als Bettgespielin schätzte er sie sehr, ja war ihr irgendwie verfallen. Er vermisste an Linda jedoch die Fähigkeit, mit ihm auf Augenhöhe zu diskutieren.

Zwischen ihrem und seinem Bildungsstand klaffte ein tiefer Graben. Manchmal konnte Wendolin Linda überreden, mit ihm ins Theater oder ins Konzert zu gehen. Die Stücke, die auf der Bühne vorgeführt wurden, vermochten sie nicht zu erwärmen, und die Opern, in die ihr Gatte sie mitschleppte, nervten sie entsetzlich, so entsetzlich, dass sie Wendolin einmal bat, bei Beginn der Pause nach Hause zurückzukehren. Dann ging er mit Linda nur noch ins Kino.

Mit den Dienstleistungen im Haushalt und in Lindas Geschäft kam er gut zurecht. Er sah es als Ausgleich zu seinem Studium, das er gezielt vorwärtstrieb.