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Im Jahre 916 geleitet der Edeling Wido den Grafen Egino zur Quedlinburg, wo dieser, der letzten Anordnung des verstorbenen Königs Konrad folgend, dem Sachsenherzog Heinrich die Königskrone des Ostfrankenreiches anbietet. Von diesem Tag an behält der neue König Wido als Glücksbringer an seinem Hof. Einige Jahre später rechtfertigt Wido erneut seinen Ruf, als er den ungarischen Fürstensohn Zoltan gefangen nimmt und König Heinrich damit die Gelegenheit verschafft, die wieder einmal in das ostfränkische Reich eingefallenen Magyaren zu einem Waffenstillstand zu zwingen. Die so gewonnene Zeit kann Heinrich I. nutzen um sein Königreich auf den Kampf mit den heidnischen Steppenreitern vorzubereiten. Überall im Land lässt er Burgen erbauen und aus deren Besatzungen eine schlagkräftige Panzerreiterei aufstellen, die er in mehreren Kriegen gegen die ostelbischen Slawen erprobt. Auch Wido, der nun zu den engsten Ratgebern des Herrschers zählt, wird zum Burgwart der neu zu erbauenden Pfalz Bodfeld ernannt. Bei der Suche nach drei verschwundenen Bauerntöchtern begegnet er auf einem Streifzug durch die Harzberge dem fünfzehnjährigen Mädchen Dieta, das allein mit ihrem Vater Rumold in einer versteckten Hütte lebt. Doch welches dunkle Geheimnis umgibt Rumold und warum will er die schnell wachsende Liebe zwischen Wido und seiner Tochter schon im Keim zerstören?
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Seitenzahl: 528
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Der Autor
Jens–Uwe Nebauer wurde am 5. Juni, dem Pfingstsonntag des Jahres 1960, in Magdeburg geboren.
Nach erfolgreich bestandenem Abitur studierte er an der Technischen Hochschule „Otto von Guericke“ Magdeburg. Als Diplomingenieurökonom arbeitete er dann jahrelang im Anlagenbau und in anderen Berufen.
Der Autor interessiert sich seit seiner Kindheit für Geschichte. Der Besuch von Burgen, Schlössern und Museen mit seinen ebenfalls geschichtsinteressierten Eltern weckte in ihm schon früh diese Vorliebe. Später spezialisierte er sich auf das europäische Mittelalter und die Zeit der römischen Antike.
Der Burgwart von
Bodfeld
von
Jens–Uwe Nebauer
Meinen Kindern Katrin, Mathias, Uwe und Juana,
sowie meinen
Eltern Margot und Manfred gewidmet
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© 2015 Jens–Uwe Nebauer
Illustrationen: Gunter Czyrnik
Umschlaggestaltung: Nebauer, Czyrnik
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback
978-3-7345-1752-5
Hardcover
978-3-7345-1753-2
e-Book
978-3-7345-1754-9
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Inhaltsverzeichnis
Vogelherd
Werla
Bodfeld
Brennaburg
Lunkini
Quedlinburg
Riade
Erklärung zum Schlachtort Riade
Personenverzeichnis
Worterklärungen
Ortsverzeichnis
Lageplan
Schlachtpläne
Vogelherd
919
Im Winter stapften die zur Wache eingeteilten Knechte des Woradhofes nur widerwillig den Weg zu dem bei den drei Felsnadeln errichteten Ausguck hinauf. Allzu ungeschützt war man dort dem Frost und den eisigen Winden ausgesetzt, die um die hochragenden, eng beieinander stehenden Klippen wehten.
Dem blonden Jüngling jedoch, der an diesem klaren, sonnigen Januartag auf der kleinen, hölzernen Plattform des an den westlichsten der drei Felsen gelehnten Luginsland auf Posten stand, konnten weder der Frost noch der schneidende Wind die Freude an seiner einsamen Wache verderben. Wie an jedem Tag, an dem er die Leiter des Beobachtungspostens hinaufgestiegen war, genoss er die wunderbare Aussicht, die sich ihm dort bot und das Alleinsein, das es ihm ermöglichte, seine Gedanken ungehindert schweifen zu lassen.
Die Kälte machte ihm nichts aus. Als ältestem Sohn des Hofherrn und Edelings Worad gebührte ihm eine deutlich bessere Kleidung als den einfachen Knechten.
Er trug eine mit Fell gefütterte Hose, derbe Schuhe mit bis unter die Knie reichender, kreuzweiser Riemenschnürung, ein leinenes Hemd, eine grüne Tunika und einen langen Mantel aus Schaffell. Auf seinem Kopf saß eine Mütze aus Fuchspelz, auf die der junge Bursche ganz besonders stolz war, hatte er den rotfelligen Räuber doch eigenhändig erlegt. Unter dem Mantel des Jünglings hingen an einem schmalen Gürtel der kurze Sachs und ein ellenlanges Signalhorn mit einem Mundstück aus Zinn. Kräftig geblasen schallte dessen Hornruf bis zu den letzten Häusern von Tammosrode.
Obwohl der Sohn Worads im vergangenen Jahr erst seinen vierzehnten Sommer gesehen hatte, war er schon so groß und kräftig wie ein Achtzehnjähriger. Auch sprossen auf seinem Kinn und seinen Wangen bereits die ersten Barthärchen. Selbst von den schon kurz vor dem Mannesalter stehenden Söhnen der freien Bauern von Tammosrode wagte es kaum noch einer sich mit ihm auf einen herzhaften Raufhandel einzulassen.
Der junge Edeling warf einen Blick auf den eine gute halbe Meile von seinem Beobachtungsposten entfernten Hof seines Vaters, den er als Erstgeborener einmal erben würde. Das schon zur Zeit des Sachsenherzogs Widukind erbaute Anwesen war etwa hundert Schritte breit und ebenso lang. Es wurde von einem klaftertiefen, trockenen Graben, einem Erdwall und einem festen Zaun aus Palisaden geschützt, durch den nur ein einziges Tor Einlass gewährte.
Im Inneren der an den Ecken abgerundeten Umwallung standen das große Haupthaus, eine Scheuer für das Getreide, ein Backhaus, eine Schmiede, ein Brunnen mit Schöpfarm sowie einige Ställe für die Pferde, Rinder, Schweine, Schafe und Ziegen.
Von seinem erhöhten Standort aus konnte der Sohn Worads einige der Hofbewohner zwischen den Gebäuden hin und herlaufen sehen. Obwohl er niemanden genau erkennen konnte, riefen seine Gedanken sogleich das Bild der ansehnlichen Magd Wandela und die Erinnerungen an einen gewissen, noch nicht sehr lange zurückliegenden Abend, in ihm wach! Doch gleich darauf riss er sich kopfschüttelnd davon los.
„Wido, Wido“, sprach der junge Bursche zu sich selbst, „reiß dich zusammen. Du bist nicht hier um in angenehmen Erinnerungen zu schwelgen, sondern um Wache zu halten!“
Zwar gab es dieser Tage keine Kunde von einem neuerlichen Einfall der gottlosen Hungaren - doch bei der Schnelligkeit mit der die verfluchten Steppenreiter immer wieder in das Land einfielen, durfte man sich nie gänzlich vor ihnen in Sicherheit wähnen. Da auch die Kämpfe, die der Sachsenherzog Heinrich gegen den Frankenkönig Konrad geführt hatte, noch nicht allzu weit zurücklagen, drohte auch von den Kriegern des Königs Gefahr und aus den dichten Wäldern der Harzberge konnte zu jeder Stunde räuberisches Pack über die friedlichen Dörfer herfallen.
Mit erneuerter Aufmerksamkeit ließ Wido seine Blicke wieder über die von einer dünnen Schneedecke bedeckte Landschaft schweifen.
Um die Umgebung Tammosrodes und des ein wenig außerhalb des Dorfes gelegenen Woradhofes im Auge zu behalten, hätte man keinen besseren Platz finden können, als den bei den drei Sandsteinfelsen, die von den Dorfbewohnern die „Schwurfinger“ genannt worden.
Während sich im Norden der markanten Felssäulen eine große, sumpfigen Heide ausbreitete, die nach zwei bis drei Meilen von einer Reihe von Bergen und Höhenzügen begrenzt wurde, erstreckte sich nach Osten, auf die Pfalz Quedlinburg zu, eine offene, fruchtbare Ebene, über die sich einige, von zackigen Klippen gekrönte Hügel erhoben. Nach Westen teilte der langgestreckte Klippenzaun, dessen Entstehung die meisten Leute dem Wirken des Teufels zuschrieben und ihn deshalb Teufelsmauer nannten, die Landschaft wie ein Burgwall. Im Süden senkten sich eine Reihe von Acker - und Wiesenstreifen sanft in das breite Tal hinab, in dem sich die zehn Gehöfte Tammosrodes zu beiden Seiten eines zerfahrenen Weges aneinanderreihten.
Mitten durch den Ort schlängelte sich der schmale Jordanbach, den die Dorfleute unweit der kleinen, hölzernen Kirche zu einer Viehtränke angestaut hatten. Gleich hinter den südlich der Dorfstraße gelegenen Höfen wuchs eine schmale, aber langgezogene und von dornigem Gesträuch bewachsene Bodenwelle in die Höhe. Hinter ihr nahm nach weniger als einer halben Meile der dunkle Kamm der Harzberge seinen Anfang.
Eine halbe Stunde verging ohne dass der junge Wächter etwas Beunruhigendes entdeckt hatte. Stattdessen begann nun auch für ihn allmählich die winterliche Kälte spürbar zu werden.
Ein Blick nach Westen verriet Wido, dass die durch den dunstverschleierten Himmel nur als heller Fleck zu erkennende Sonne kurz davor stand hinter den Bergen zu versinken. Das hieß für ihn, dass sich seine Wache bald ihrem Ende zuneigen würde. Denn sobald sich die Dämmerung über das Land senkte, durfte er seinen Posten verlassen und zum Woradhof zurückkehren.
Um die Kälte zu vertreiben stampfte er einige Male fest mit den Füßen auf den aus armdickem Knüppelholz gefertigten Boden der Warte und schlug sich mit den Armen um den eigenen Körper.
Plötzlich hielt er inne und trat an die Brüstung der Aussichtsplattform. Mit leicht zusammengekniffenen Augen schaute er zu dem von Westen nach Tammosrode führenden Fahrweg, der sich zwischen der Teufelsmauer und den Harzbergen durch das wellige Land zog. Unvermittelt war dort eine Gruppe von sechs oder sieben Reitern erschienen, die schnell näher kamen.
Zwar war dies heuer nichts gänzlich Außergewöhnliches - denn seit Herzog Heinrich sich die nahegelegene, auf einem hohen Fels erbaute Quedlinburg zu seiner Lieblingspfalz auserkoren hatte - nahmen die meisten der von Sonnenuntergang kommenden Besucher des mächtigen Stammesführers den Weg über Tammosrode. Doch da man nie wirklich sicher sein konnte, welche Absichten die Herannahenden hegten, setzte Wido hastig sein Urhorn an die Lippen und ließ einen dumpfen Signalruf ertönen.
Nachdem er dem ersten noch einen weiteren Hornstoß hatte folgen lassen, stieg er hastig von der Warte und trabte durch die nun kräftig einsetzende Dämmerung den hangabwärts führenden Weg zum Woradhof hinunter.
Als der junge Edeling die hölzerne Brücke erreichte, die auf der Südseite des Hofes den Graben überspannte, hatten die Männer seines Vaters das Tor bereits bis auf einen kleinen Spalt geschlossen und die Wehrgänge zu beiden Seiten des Durchgangs besetzt. Schnell schlüpfte Wido durch die schmale Öffnung zwischen den Torflügeln, die gleich hinter ihm geschlossen und mit einem Sperrbalken gesichert wurden.
„Was gibt’s denn, junger Herr“, fragte der lange Volmar, der sich mit dem Schwert am Gürtel neben dem Tor aufgebaut hatte.
„Sieben Reiter von Sonnenuntergang, bewaffnet, ohne Begleitwagen“, gab Wido knapp zurück. „Sie müssten gleich hier sein.“
Auf den Schaft eines Speeres gestützt kam Worad über den Innenhof gehinkt. Sein linker Unterschenkel fehlte, dafür trug er ein einfaches Holzbein, das mit Lederriemen an Knie und Oberschenkel befestigt war. Nachdem er sich bei seinem Sohn nach dem Grund für dessen Warnruf erkundigt hatte, legte er seine rechte Hand auf den Griff seines Schwertes und bedachte er die zu so später Stunde Herannahenden mit einigen wenig freundlichen Worten.
Noch war von der aus Westen kommenden Schar nichts zu entdecken, doch dann erklang aus den zum Dorf führenden Hohlweg das unverkennbare Schnauben von Pferden. Gleich darauf erschienen die sieben Reiter vor dem Tor.
„Holla, wer seid ihr und was wollt ihr?“, rief Volmar und beugte sich über die Brüstung, um die Ankömmlinge genauer betrachten zu können.
„Ich bin Graf Egino aus Franken und habe eine wichtige Botschaft für euren Herzog!“, antwortete der vorderste der Reiter. „Für heute Nacht bitte ich euch um ein Nachtlager für mich und meine Männer.“
Volmar schaute fragend zu dem am Fuße des Erdwalles stehenden Worad. Als dieser zustimmend nickte, rief er den Wartenden zu: „Unser Herr, der edle Worad heißt Euch und eure Begleiter willkommen!“
Zwei Knechte öffneten das Tor und ließen die fränkischen Reiter ein. Doch die Männer des Hofes behielten die Ankömmlinge genauestens im Auge, um sich beim ersten Anzeichen eines üblen Verrats sofort auf sie zu stürzen. Aber die Franken stiegen friedlich aus den Sätteln und überließen ihre Rösser bereitwillig den Pferdeknechten des Woradhofes, die die dampfenden Tiere in einen der großen Ställe führten.
„Herr Graf“, wandte sich Widos Vater an den Anführer der fränkischen Reiter, „Ich heiße Worad und bin der Herr dieses Hofes und des umliegenden Landes. Wenn es Euch gefällt, dann seid mit euren Begleitern Gast in meiner Halle.“
Der fränkische Graf war ein großer, kräftiger Mann mit dunkelbraunen Haaren und einem kurzgeschnittenen Kinn und Wangen bedeckendem Bart. Seine Kleidung war aus gutem dunkelgrünem Stoff gefertigt. Sein Mantel wurde von einer goldenen Fibel mit eingelegten Granatsteinen gehalten. Sein Schwert steckte in einer reich verzierten Scheide.
„Ich danke Euch, Herr“ erwiderte Graf Egino. Er zog seinen rechten Handschuh aus und reichte dem sächsischen Edeling die Hand. „Es ist mir eine Ehre.“
„Dann folgt mir“, forderte Worad, von der unerwarteten Umgänglichkeit des fränkischen Grafen sichtbar überrascht, und schritt seinen Gästen voraus zu dem großen Wohnhaus, das im hinteren Teil des Hofes stand und alle anderen Gebäude überragte.
Als Wido, der den Knechten noch beim Schließen und Verrammeln des Tores geholfen hatte, ihnen kurz darauf folgte, begegnete er vor der Pforte des alten Gebäudes der blonden Magd Wandela. Im Vorübergehen warf er der jungen Frau einen schmachtenden Blick zu, den diese jedoch geflissentlich ignorierte.
So abweisend hatte sie sich nicht immer gezeigt. Vor einigen Wochen, im Spätherbst, da hatte er mehr von ihr gesehen als nur die kalte Schulter.
Alles hatte begonnen, als er sich mit seinem Lehrmeister Volmar auf ihrem üblichen Platz zwischen Wohnhaus und Kuhstall im Schwertkampf geübt hatte. In einer der Pausen zwischen den schweißtreibenden Übungen hatte Volmar bemerkt, dass die Blicke des Jungen verdächtig lange bei den mit ihren Melkeimern vor dem Stall stehenden Mägden ruhten.
Nachdenklich hatte sich der gut zehn Sommer ältere Mann hinter dem Ohr gekratzt und gebrummt: „Hm, naja, alt genug dafür ist er ja.“
Dann hatte er Wido unvermittelt gefragt: „Na, junger Herr, welche von den Mägden gefällt Euch am besten?“
Erschreckt und rot geworden wie ein ertappter Sünder, hatte Wido erst nach einigem Zögern den Namen Wandela gestottert.
„Und warum gerade sie?“, hatte Volmar gefragt.
„Weil sie so große Brüste hat“, hatte der Jüngling, noch eine Spur röter geworden, zurückgegeben.
Dann war das Gesicht des Versuchers plötzlich ganz nah vor dem seinen gewesen. „Und da möchtet Ihr wohl gern mal bei ihr liegen, so wie Mann und Frau es machen?“
Stotternd vor Aufregung hatte der Junge nur ein mühsames Ja hervorbringen können.
„Also hört zu“, hatte der Kriegsmann verschwörerisch geflüstert, „Ich werde mit Wandela sprechen und ich denke, sie wird sich nicht weigern. Dafür stibitzt Ihr mi … äh hmm … ihr, ein Krüglein von dem guten roten Wein, der in dem bemoosten Fass ganz am Ende der Speisekammer lagert. Aber schweigt gegen jedermann darüber, auch gegenüber Eurem Vater und erst recht Eurer Mutter!“
Das hatte Wido gern versprochen. Schon am nächsten Abend hatte er dann auf dem Heuboden über dem Pferdestall bei der Magd gelegen, hatte ihre heiße Haut, das trefflich gerundete Fleisch ihrer Brüste und ihrer Hinterbacken gespürt und das atemberaubende Glücksgefühl erfahren, das sich in dem Augenblick einstellte, als sein Samen in Wandelas Schoß geschleudert wurde.
Seit jenem Abend aber hatte es kein weiteres heimliches Treffen zwischen ihnen mehr gegeben, denn schon kurz danach begann sich Wandela nach Kräften von ihm fernzuhalten und wich allen seinen Annäherungsversuchen aus.
Dabei hätte die stattliche Magd durchaus nichts Gewichtiges gegen eine weitere Liebesnacht mit dem jungen Herrn Wido einzuwenden gehabt. Der erfahrenen Frau hatte der junge Bursche mit seinen langen, blonden Haaren, den ernst dreinschauenden braunen Augen und der hohen Stirn, der schon fast wie ein Mann aussah, wohl gefallen. Sie war sogar etwas stolz darauf, die Erste gewesen zu sein, mit der er sich in Lust vereinigt hatte. Gewiss, da würden ihr noch viele folgen - doch an die Frau, die ihn zum Mann gemacht hatte, würde er sich sein ganzes Leben lang erinnern.
Unglücklicherweise aber war der Mutter Widos das auffällige Gebaren ihres Sohnes nach ihrer Vereinigung nicht verborgen geblieben. Da der resoluten Frau der Gedanke, dass sich ihr Sohn schon in so jungen Jahren mit einer Stallmagd im Stroh herumwälzen könnte, überhaupt nicht gefiel, hatte sie Wandela deutlich zu verstehen gegeben, dass sie sich von Wido gefälligst fernhalten sollte.
Natürlich hatte die Magd völlige Überraschung geheuchelt und von den Annäherungsversuchen des jungen Herrn nichts bemerkt haben wollen. Auch hatte sie jegliche diesbezügliche Absichten ihrerseits tapfer abgeleugnet. Doch da Frau Radwalde nicht zimperlich war, wenn es galt einer ihrer Dienerinnen ein paar kräftige Ohrfeigen zu verpassen, hielt sie sich klugerweise an deren Gebote.
Wenn Wido gewusst hätte, dass nicht der eigene Willen, sondern der seiner Mutter der Grund für Wandelas abweisendes Verhalten war, dann wäre es ihm wesentlich leichter gefallen ihre Zurückhaltung hinzunehmen. So aber bohrte ihre plötzliche Kühle wie ein Stachel in ihm.
„Irgendwann“, dachte er trotzig und sehnsuchtsvoll zugleich, als er eine halbe Stunde später zum Abendmahl ging und Wandela mit den anderen Mägden in der Küche hantieren sah, „werde ich wieder bei dir liegen! Selbst wenn ich das ganze bemooste Fass für dich leer machen muss!“
In der Halle des großen Wohnhauses beleuchtete der Schein zahlreicher Kienspäne, die mit Fellen, Jagdtrophäen und verschiedenartigen Waffen behängten Wände und die rußigen Balken der Decke. Am hinteren Ende des Saales war der aus gestampftem Lehm bestehende Fußboden um anderthalb Spannen erhöht worden. Dort stand der Tisch, der dem Hausherrn, seiner Familie und seinen edleren Gäste vorbehalten war.
In der Mitte des Tisches, hinter dem in einem großen Kamin ein frisch geschürtes Feuer loderte, hatten sich Worad und Egino niedergelassen. Rechts von dem Hausherrn saßen Widos Mutter und ihre beiden Töchter Herrada, die zwölf, und Eigilvi, die acht Jahre alt waren. Links neben dem fränkischen Grafen hatten Wido und seine beiden jüngeren Brüder Einhard und Bernward, die elf und sechs Sommer gesehen hatten, ihre Plätze eingenommen.
Im vorderen Teil der Halle standen zwei lange Tafeln mit den dazugehörigen Bänken, auf denen Schafs - und Wolfsfelle lagen. Während sich die Männer - Freie wie Knechte - bereits auf den ihnen nach der Rangordnung zustehenden Plätzen niedergesetzt hatten, schleppten die Mägde große Krüge mit Bier für die einfachen Leute und den Wein für die Tafel des Hausherrn heran. Dazu verteilten sie große Schüsseln mit gebratenem und gekochtem Fleisch, dampfendem Hirsebrei, gelben Rüben und rohen oder gedünsteten Zwiebeln sowie Körbe mit Brot und Platten mit goldgelbem Käse.
Nachdem sich dann endlich auch die Mägde am unteren Ende der beiden Tafeln hatten hinsetzen dürfen, nahmen die Hungrigen ihre Löffel zur Hand, zückten ihre Messer und begannen kräftig zuzulangen.
Nachdem er ein erstes Stück von dem recht wohlschmeckenden Wildschweinbraten verspeist hatte, hob Egino seinen Becher gegen Worad und sagte: „Noch einmal danke ich Euch für eure Gastfreundschaft, die Ihr mir und meinen Männern zuteilwerden lasst. Das ist durchaus nicht selbstverständlich. Denn wie wir alle nur allzu genau wissen, haben Sachsen und Franken nicht immer so einträchtig an einem Tisch gesessen und so friedlich miteinander verkehrt!“
„Wofür ich selbst ein beredtes Beispiel bin“, erwiderte der sächsische Edeling, „denn mein Bein“, er schlug sich auf seinen linken Oberschenkel, „habe ich vor vier Jahren in der Schlacht bei der Eresburg verloren, die unser Herr Heinrich gegen euren Königsbruder Eberhard geschlagen hat!“
„Ihr wart dabei?“, erkundigte sich der Franke interessiert, während Frau Radwalde heimlich die Augen verdrehte, da sie diese Geschichte ihres Gemahls schon viele Dutzende Male hatte mit anhören müssen.
„Ich sah damals gerade meinen dreiunddreißigsten Sommer, als die dunklen Wolken des Krieges über uns aufzuziehen begannen. Nach dem Tod Herzogs Ottos, des Vaters unseres Herrn Heinrichs, hatte König Konrad dem Reichskloster Hersfeld, dem unser alter Herzog noch als Laienabt vorgestanden hatte, die freie Abtwahl zugesichert, wodurch unser neuer Herzog nicht die Nachfolge seines Vaters antreten konnte. Außerdem versuchte König Konrad unserem Herrn Heinrich die thüringischen Lande, die sein Vater Otto an sich gebracht hatte, wieder zu entreißen.
Als wir Edlen davon erfuhren, bestürmten wir ihn, seine berechtigten Ansprüche mit Gewalt durchzusetzen. Doch zunächst sann unser Herzog noch auf eine gütliche Einigung, denn er sah wohl ein, dass ein solcher Kampf weder den Sachsen noch dem König Vorteile bringen könnte.
Vielleicht wäre eine solche Einigung auch zustande gekommen, wenn der Mainzer Erzbischof Hatto, der in Thüringen große Besitzungen sein Eigen nannte, unserem Herzog nicht nach dem Leben getrachtet hätte.
Mit einer nur zu diesem Zweck in Auftrag gegebenen, goldenen Halskette und anderen in Aussicht gestellten, reichen Geschenken sollte Herr Heinrich zum Besuch bei Bischof Hatto gelockt und dann enthauptet werden. Doch als er schon auf dem Weg nach Mainz war, erschien plötzlich eben jener Goldschmied, der die Halskette angefertigt hatte, bei Herrn Heinrich und entdeckte ihm den feigen Plan des elenden Bischofs.
Sofort kehrte Herr Heinrich um und rief nun endlich den Heerbann zusammen. Mit Freude plünderten und verwüsteten wir die thüringischen und sächsischen Besitzungen Hattos, die der Herzog danach an seine Vasallen verteilte.“
Der Sachse unterbrach sich und befeuchtete seine trocken gewordene Kehle mit einem kräftigen Schluck aus seinem Becher. Dann wischte er sich mit dem Handrücken über den feucht gewordenen Schnurrbart und fuhr mit leuchtenden Augen fort: „Natürlich ließ die Antwort des Königs nicht lange auf sich warten. Er rief ein Heer zusammen, stellte seinen Bruder Eberhard an dessen Spitze und ließ es gegen die Eresburg marschieren.
Graf Eberhard soll gesagt haben, dass ihm nichts größere Sorgen bereite, als das die Sachsen es nicht wagen würden sich vor den Mauern der Burg zu zeigen, damit er mit ihnen kämpfen könne.
Seine Sorgen waren jedoch unbegründet. Denn noch in der Nacht zogen wir mit dem ganzen Heer durch das Tal unterhalb der großen, auf ihrem hohen Berg gelegenen Burg nach Süden und besetzten die Hänge zu beiden Seiten des Weges. Als die Franken dann am kommenden Morgen herangerückt kamen, ließ Herzog Heinrich das Sturmhorn erschallen und wir fielen von allen Seiten überraschend über sie her.
Es war ein wahrhaft heldenhafter Kampf, so wie ihn unsere Ahnen in alter Zeit gegen die Römlinge im Teutoburger Wald oder gegen die Heere Kaiser Karls am Süntel oder an der Hase ausgefochten hatten. Eure Stammesbrüder zeigten sich als unerschrockene, tapfere Krieger! Sie setzten sich so heftig zur Wehr, dass wir uns, trotz des Vorteils, den uns unsere günstige Stellung bot, mühsam Schritt für Schritt vorkämpfen mussten.
Ich hatte gerade einen Gegner niedergestreckt als mich schon ein Anderer hart anging. Sein Schwert traf mich am Kopf, doch mein Helm hielt dem ungefügen Schlag stand. Im Gegenzug schlug ich ihm eine tüchtige Kerbe in seinen Schild.
Da spürte ich plötzlich einen teuflischen Schmerz in meiner linken Wade!
Der Mann, den ich gerade niedergeworfen hatte, trug noch ein wenig Leben in sich und als ich im Eifer des Kampfes auf ihn trat, schnitt er mir mit letzter Kraft den halben Unterschenkel auf.
Mein Schwager Willigis und unser Gefährte Romuald, der seit der Schlacht vermisst wird, brachten mich aus dem Kampf und verbanden mich. Doch als schon wenige Tage später der Wundbrand einsetzte und das Bein zu faulen begann, sah unser Heilkundiger schließlich keinen anderen Weg mehr als es mit dem Schlachterbeil abzuschlagen!“
An dieser Stelle seiner Geschichte kreischten Herrada und Eigilvi wie immer entsetzt auf, während sich Einhard und Bernward mit etwas verkniffener Miene bemühten, Haltung zu bewahren.
„Jahahaa“, lachte Worad dröhnend. „Seit diesem Tag muss ich mit einem Bein aus Eiche vorlieb nehmen. Doch Gott der Gerechte hat mir in seiner unendlichen Güte immerhin das Leben erhalten.“
„Ihr habt recht“, murmelte Egino mit umwölkter Stirn, „viele sind damals ums Leben gekommen, auf beiden Seiten …“
„Und darum“, setzte der Hausherr wieder an, „hoffe ich, dass dies der letzte Kampf zwischen unseren Stämmen war. Denn im Angesicht der immer wieder über uns herfallenden gottlosen und mörderischen Hungaren sollten wir alle, ob Sachsen, Franken, Schwaben, Bayern oder Lothringer wie ein Mann zusammenzustehen!“
Der Graf aus Franken nickte. „Das wäre wünschenswert und notwendig, wenngleich es schwer vorstellbar ist.“
„Das ist wahr“, stimmte Worad zu und wischte sich seine vom Braten fettig gewordenen Hände an einem ihm von seiner Gemahlin gereichten Tuch ab. „Doch bei unserem Herzog würde man mit solchen Vorstellungen auf offene Ohren stoßen, denn ihm liegt vor allem anderen das Wohl der ihm anvertrauten Lande am Herzen.“
„Wir werden sehen“, murmelte der Franke, so als führe er ein Selbstgespräch, „ob sich Eure Worte als wahr erweisen werden …“.
„Wie meint Ihr das?“, fragte Worad mit gehobenen Augenbrauen. Doch Egino schüttelte nur den Kopf und fragte anstelle einer Antwort: „Sagt, wie weit ist es noch bis zur Quedlinburg?“
„Keine zehn römischen Meilen“ antwortete der Hofherr.
„Vater“, rief da plötzlich Wido, der dem Gespräch aufmerksam gefolgt war, „darf ich den Herrn Grafen und seine Männer zur Quedlinburg führen?“
„Geh, du Naseweis“, brummte Worad, „um den Weg zu finden braucht der Herr Graf ganz gewiss nicht die Hilfe eines grünen Jungen.“
Werla
926
Bodfeld
927
„Nun sag schon“, forderte Grifo, der mit Egino auf dem westlichen Mauerabschnitt der Quedlinburg stand und die wärmenden Strahlen der Märzensonne genoss, als sich Wido nach beendeter Unterredung mit dem König zu ihnen gesellte, „Wohin hat dich der Alte geschickt?“
„Zum Bodfeld, südlich von Rudaburg. Ich soll dort eine Pfalz erbauen, wo bisher nur eine Jagdhütte steht.“
„Da hab ich ja noch Glück gehabt“, erwiderte Egino lächelnd, „ich brauche nur die Pfalz Tullede ausbauen und ummauern.“
„Mitten in der Wildnis“, rief Grifo und schüttelte sich, „oh, du bedauernswerter Knecht Gottes, dann wirst du ja deine Engeltrud für längere Zeit nicht zu sehen bekommen.“
„Und bis du dir ein paar dralle Mägde auf deine Jagdpfalz holen kannst, wird’s auch noch ein Weilchen dauern“, hieb Egino in die gleiche Kerbe.
„Das ihr auch immer nur die Weibsbilder im Kopf habt“, rief Wido in gespielter Entrüstung und warf einen Blick auf das zweistöckige Wohnhaus, welches den Hofdamen der Königin vorbehalten war. „Wir müssen halt alle Opfer bringen, für die große Sache!“
„Meinst du dich oder Engeltrud“, lachte Grifo.
„Wie viele Reiter soll denn deine Jagdhütte, entschuldige, deine Jagdpfalz einmal stellen?“, erkundigte sich der fränkische Graf.
„Neben mir wenigstens noch zwei. Dazu kommen dann noch je zwei Reiter aus Rudaburg und Taremburg.“
„Wann brichst du auf?“
„Gleich morgen früh.“
„Und ich muss hierbleiben und auf die jungen Prinzen aufpassen“, murrte Grifo, den der König zum zweiten Befehlshaber der Quedlinburger Burgwachen ernannt hatte.
„Und auf die jungen, hübschen Fräulein“, versetzte Wido und legte seinem Vetter auf väterliche Weise den Arm um die Schulter. „Was für dich nur von Vorteil sein kann, denn es wird allmählich Zeit, dass du anfängst deine Blicke endlich auch in diese Richtung zu lenken!“
„Ach weißt du“, erwiderte der Dunkelhaarige, „diese feinen, gertenschlanken Fräulein sind nichts für mich, ich brauche eine an der ein bisschen was dran ist und die nicht gleich mittendurchbricht, wenn ich mich auf sie lege. Aber so etwas findest du bei den holden Maiden hier nicht, die knabbern doch tagelang nur am Salatblatt oder an einer gelben Rübe, damit sie ja kein Fitzelchen zunehmen.“
„Das täte dir auch mal ganz gut“, spöttelte Wido. Doch dann schüttelte er den Kopf, knuffte dem Anderen in die Seite und sagte: „Nein, nein, bleib einfach wie du bist, du alter Hunne, so gefällst du mir immer noch am besten!“
*
Der Taremburger Knecht hatte Wido und seine drei Begleiter durch das Trecktal bis zum Oberlauf des Teufelsbaches geführt. Dort hatten sie die Pferde in der Obhut Erwins zurückgelassen und waren auf einem schmalen Pfad zum Plateau des Bergsporns hinaufgestiegen. Der Weg, der sich mehreren Kehren nach oben schlängelte, hatte die Männer trotz des Schattens, den die hier überall wachsenden, uralten Buchen und Eichen warfen, ordentlich ins Schwitzen gebracht.
Die alte Jagdhütte stand am nördlichen Ende des hufeisenförmigen Bergvorsprungs und war inmitten des in den vergangenen Jahren kräftig gewachsenen Unterholzes kaum noch zu erkennen.
Seit den königlichen Jagdaufseher von Taremburg vor drei Jahren ein ungarischer Pfeil ins Paradies gesandt hatte, war der Ort in Vergessenheit geraten - bis zu dem Tag an dem König Heinrich und Graf Thietmar die Plätze im nördlichen Harz ausgewählt hatten, die mit Mauern und Gräben umgeben werden sollten.
Die Hütte war aus dicken Stämmen erbaut und mit großen Stücken abgeschälter Rinde gedeckt. Die einzige Tür war nur durch einen, in zwei Halterungen liegenden Stock verriegelt, Fenster gab es keine, nur einige kleine, schartenähnliche Öffnungen.
Die dürftige Einrichtung bestand lediglich aus einer lange Wandbank und einem dicker Baumklotz, der als Tisch diente. In einer von Steinen umrahmten Grube lag noch ein Rest alter Asche, darüber durchbrach ein einfacher Rauchabzug, das nicht sehr vertrauenerweckende Dach.