Der Chinese - Friedrich C. Glauser - E-Book

Der Chinese E-Book

Friedrich C. Glauser

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Beschreibung

Ein neues Abenteuer mit dem unorthodoxen Alpen-Columbo. Ein Kaff: Pfründisberg. Zwei Tote. Eine - vielleicht - mit Arsen vergiftete Frau und ein Chinese mit durchlöchertem Herzen. Und dann ist da noch das Armenhaus, in dem die Armen bei Wasser und Brot sitzen, während der Betreiber es sich gutgehen lässt. Wachtmeister Studer nimmt die Fährte auf, "Hier wird ein ebenso gebildeter wie scharfsinniger Schriftsteller sichtbar, der seine Texte in Frage stellte, immer wieder überarbeitete, weiterentwickelte und variierte, dem vor allem das Handwerk des Schreibens ein vorrangiges Anliegen war und der schon während seiner Gymnasialzeit nichts anderes als Schriftsteller sein wollte." Spiegel Spezial Null Papier Verlag

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Friedrich Glauser

Der Chinese

Ein Wachtmeister Studer Kriminalroman

Friedrich Glauser

Der Chinese

Ein Wachtmeister Studer Kriminalroman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 EV: Morgarten, Zürich, 1938 3. Auflage, ISBN 978-3-954182-76-3

www.null-papier.de/studer

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ein To­ter auf ei­nem Grab und zwei strei­ten­de Her­ren

Erin­ne­run­gen

Das Ge­wit­ter

Krach

Die drei At­mo­sphä­ren

Angst

Fin­ger ab de Rösch­ti!

Blin­der Pas­sa­gier

Die Ge­schich­te von der Bar­ba­ra

»Pau­pe­ris­mus«

Fort­set­zung ei­nes Vor­tra­ges

At­mo­sphä­re Nr. 3

’s Tri­li-Müt­ti

In der Bun­des­stadt

Zwei Müt­ter

Jaß­par­tie mit ei­nem neu­en Part­ner

Im Ge­wächs­haus

Schü­ler bei Nacht

Fun­de in der Hei­zung

No­tar Münch macht einen nächt­li­chen Be­such

Leh­rer Wott­li will ver­rei­sen

Ein lee­rer Tag

Be­ginn des En­des

Un­ter­bruch ei­nes Mit­ta­ges­sens…

… und sei­ne Fort­set­zung

Ein No­tar er­scheint

Die Mut­ter

Dan­ke

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Die Ro­ma­ne mit Wacht­meis­ter Stu­der bei Null Pa­pier

Wacht­meis­ter Stu­der

Mat­to re­giert

Die Fie­ber­kur­ve

Der Chi­ne­se

Krock & Co

An­de­re Kri­mi­nal­ro­ma­ne von Fried­rich C. Glau­ser

Der Tee der drei al­ten Da­men – Eine Kri­mi­nal­ge­schich­te

Autor

Fried­rich Charles Glau­ser (✳ 4. Fe­bru­ar 1896 in Wien; † 8. De­zem­ber 1938 in Ner­vi bei Ge­nua) war ein Schwei­zer Schrift­stel­ler. Er gilt als ei­ner der ers­ten deutsch­spra­chi­gen Kri­mi­au­to­ren.

Schrift­stel­ler zu sein, hieß für Fried­rich Glau­ser zu­nächst, Ge­dich­te zu schrei­ben. In der ly­ri­schen Form glaub­te er, sein in­ne­res Er­le­ben aus­drücken zu kön­nen. Vor­bil­der wa­ren für ihn Sté­pha­ne Mall­ar­mé und Ge­org Trakl; der Ton ent­spricht dem ex­pres­sio­nis­ti­schen Te­nor der Zeit am Ende des Ers­ten Welt­krie­ges. Doch kei­ner die­ser Tex­te wur­de ge­druckt. Für die Samm­lung sei­ner Ge­dich­te, die Glau­ser 1920 zu­sam­men­stell­te, fand sich kein Ver­le­ger. Sei­ne Ge­dich­te wur­den da­her erst post­hum ver­öf­fent­licht.

In den letz­ten drei Le­bens­jah­ren schrieb Glau­ser fünf Kri­mi­nal­ro­ma­ne, in de­ren Mit­tel­punkt Wacht­meis­ter Stu­der steht, ein ei­gen­sin­ni­ger Kri­mi­nal­po­li­zist mit Ver­ständ­nis für die Ge­fal­le­nen der Ge­sell­schaft.

Der Kri­mi­nal­ro­man »Mat­to re­giert« spielt in ei­ner psych­ia­tri­schen Kli­nik und man merkt ihm ge­nau­so wie den an­de­ren Ro­ma­nen an, dass der Au­tor ei­ge­ne Er­leb­nis­se ver­ar­bei­tet hat. Mit ein­dring­li­chen Mi­lieu­stu­di­en und pa­cken­den Schil­de­run­gen der so­zi­al­po­li­ti­schen Si­tua­ti­on ge­lingt es ihm, den Le­ser in sei­nen Bann zu schla­gen.

Glau­ser ist nach der Auf­fas­sung von Er­hard Jöst »ei­ner der wich­tigs­ten Weg­be­rei­ter des mo­der­nen Kri­mi­nal­ro­mans«. Sei­ne Ro­ma­ne und drei wei­te­re Bän­de mit Pro­sa­tex­ten wur­den zwi­schen 1936 und 1945 ver­öf­fent­licht.

Glau­sers Nach­lass be­fin­det sich im Schwei­ze­ri­schen Li­te­ra­tu­rar­chiv in Bern.

Bei ei­ner Umfrage im Jahr 1990 un­ter 37 Kri­mi­fach­leu­ten nach dem »bes­ten Kri­mi­nal­ro­man al­ler Zei­ten« lan­de­te Wacht­meis­ter Stu­der als bes­ter deutsch­spra­chi­ger Kri­mi auf Platz 4.

Ein Toter auf einem Grab und zwei streitende Herren

Stu­der stell­te das Gas ab, stieg von sei­nem Mo­tor­rad und wun­der­te sich über die plötz­li­che Stil­le, die von al­len Sei­ten auf ihn ein­drang. Aus dem Ne­bel, der fil­zig und gelb und fett war wie un­ge­wa­sche­ne Wol­le, tauch­ten Mau­ern auf, die ro­ten Zie­gel ei­nes Haus­da­ches leuch­te­ten. Dann stach durch den Dunst ein Son­nen­strahl und traf ein run­des Schild – es glüh­te auf wie Gold – nein, es war kein Gold, son­dern ir­gend­ein an­de­res, viel un­ed­le­res Me­tall – zwei Au­gen, eine Nase, ein Mund wa­ren auf die Plat­te ge­zeich­net; von sei­nem Ran­de gin­gen stei­fe Haar­sträh­nen aus. Un­ter die­sem Schild bau­mel­te eine In­schrift: ›Wirt­schaft zur Son­ne‹; aus­ge­tre­te­ne Stein­trep­pen führ­ten zu ei­ner Tür, in de­ren Rah­men ein ur­al­tes Mann­li stand, das dem Wacht­meis­ter be­kannt vor­kam. Doch die­ser Alte schi­en Stu­der nicht ken­nen zu wol­len, denn er wand­te sich ab und ver­schwand im In­nern des Hau­ses. Ein Luft­zug brach­te den Ne­bel wie­der in Wal­lung – Haus, Tür und Wirt­schafts­schild ver­schwan­den.

Und wie­der durch­brach die Son­ne das Grau, ein Mäu­er­lein rechts von der Stra­ße tauch­te auf, Glas­per­len glänz­ten auf Krän­zen, gol­de­ne Buch­sta­ben auf Grab­mä­lern und Buchs­blät­ter fun­kel­ten wie Sma­rag­de.

Aber um ein Grab stan­den drei Ge­stal­ten: ihm zu Häup­ten ein Land­jä­ger in Uni­form, rechts ein ele­gant ge­klei­de­ter Glat­tra­sier­ter, der jung schi­en, links ein äl­te­rer Herr, des­sen un­ge­pfleg­ter Bart gelb­lich­weiß war. Bis auf die Stra­ße war das er­bit­ter­te Ge­zän­ke die­ser bei­den zu hö­ren.

Stu­der zuck­te die Ach­seln, roll­te sein Rad zu der Trep­pe mit den aus­ge­tre­te­nen Stu­fen, schob den Stän­der un­ter das Hin­ter­rad, be­trat dann den Fried­hof und ging auf das Grab zu, über dem zwei Le­ben­de strit­ten, wäh­rend ein Drit­ter es schwei­gend be­wach­te.

Und Wacht­meis­ter Stu­der von der Ber­ner Kan­tons­po­li­zei seufz­te wäh­rend des Ge­hens ei­ni­ge Male sehr be­küm­mert, weil er dach­te, er habe es nicht leicht im Le­ben…

Heu­te Mor­gen hat­te der Statt­hal­ter von Rogg­wil ins Amts­haus te­le­fo­niert: – Auf dem Fried­hof des Dor­fes Pfrün­dis­berg sei die Lei­che ei­nes ge­wis­sen Farny ge­fun­den wor­den, der seit neun Mo­na­ten in der Wirt­schaft ›zur Son­ne‹ ge­wohnt habe. Vom Wir­te Brön­ni­mann sei der Tote ge­fun­den und der Land­jä­ger Merz be­nach­rich­tigt wor­den; die­ser habe dann ge­mel­det, die Ur­sa­che des Hin­schie­des sei ein Herz­schuss. »Eine Un­ter­su­chung habe ich bis jetzt nicht füh­ren kön­nen, doch kommt mir der Fall ver­däch­tig vor. Der Arzt be­haup­tet, es hand­le sich um einen Selbst­mord. Ich bin nicht die­ser Mei­nung! Um Si­cher­heit zu ha­ben, scheint es mir wich­tig, dass ein ge­schul­ter Fahn­der zu­ge­gen ist. Der Fried­hof liegt ge­ra­de der Wirt­schaft ge­gen­über…«

»Das weiß ich«, hat­te Stu­der un­ter­bro­chen, und ein un­an­ge­neh­mes Frös­teln war ihm über den Rücken ge­lau­fen. Eine Ju­li­nacht war näm­lich in sei­ner Erin­ne­rung auf ge­stie­gen; ein Frem­der hat­te ihm da­mals die­sen Mord pro­phe­zeit…

»Ah, das wis­sen Sie? Wer spricht ei­gent­lich dort?«

»Wacht­meis­ter Stu­der. Der Haupt­mann ist be­schäf­tigt.«

»Gut, gut! Der Stu­der! Aus­ge­zeich­net! Kom­men Sie so­fort! Ich er­war­te Sie auf dem Kirch­hof…«

Stu­der seufz­te zum vier­ten Male, hob sei­ne mäch­ti­gen Schul­tern, kratz­te sei­ne dün­ne, spit­ze Nase und fluch­te in­ner­lich. Na­tür­lich wür­de es dies­mal ge­hen, wie all die an­de­ren Male. Man war kein be­rühm­ter Kri­mi­na­list, ob­wohl man im­mer­hin in frü­he­ren Zei­ten viel stu­diert hat­te. We­gen ei­ner Int­ri­gen­af­fä­re ver­lor man die Stel­le ei­nes Kom­missars an der Stadt­po­li­zei, fing an der Kan­tons­po­li­zei wie­der an – und stieg in kur­z­er Zeit zum Wacht­meis­ter auf. Ob­wohl man ab­ge­baut wor­den war, ob­wohl man Fein­de ge­nug hat­te, muss­te man stets ein­sprin­gen, wenn es einen kom­pli­zier­ten Fall gab. So auch dies­mal. Nach dem Te­le­fon­ge­spräch hat­te Stu­der dem Haupt­mann Rap­port er­stat­tet und den Vor­fall je­ner Ju­li­nacht er­wähnt… »Geh nur, Stu­der! Aber komm erst zu­rück, wenn du et­was Si­che­res weißt – wenn der Fall auf­ge­klärt ist. Ver­stan­den?« – »Mi­ra… Aaa­diö!« Stu­der hat­te sein Töff be­stie­gen, war los­ge­fah­ren. Die Ju­li­nacht vor haar­ge­nau vier Mo­na­ten! In ihr hat­te er je­nen Frem­den ken­nen­ge­lernt, der den Schwei­zer Na­men Farny trug – und die­ser Frem­de war nun also tot…

»Sie kön­nen dem Him­mel dan­ken! Ja! Dem Him­mel kön­nen Sie dan­ken, Herr Statt­hal­ter Och­sen­bein, dass ich mei­ne Pra­xis nun bald auf­ge­be! Denn sonst müss­ten Sie mir Red’ und Ant­wort ste­hen! La­chen Sie nur… Sprengt man für einen of­fen­sicht­li­chen Selbst­mord – ähäm­häm –, alar­miert man für einen Selbst­mord ja­wohl! die ge­sam­te Kan­tons­po­li­zei?«

Also sprach der äl­te­re Herr (gelb­lich­wei­ße Bart­haa­re wu­cher­ten um sei­nen großen Mund); der ele­gan­te Glat­tra­sier­te hob ab­weh­rend sei­ne Hän­de, die in brau­nen Glacéhand­schu­hen steck­ten.

»Herr Dok­tor Buff, mä­ßi­gen Sie Ihre Rede! Schließ­lich bin ich Amts­per­son…«

»Amts­per­son!… Ha­ha­ha!… Da muss ja ein Ross la­chen!« Wa­rum spre­chen die bei­den ei­gent­lich Schrift­deutsch? frag­te sich Stu­der. »Sie hal­ten sich für eine Amts­per­son? Eine Amts­per­son sieht auf den ers­ten Blick, dass es sich hier um einen Selbst­mord han­del­t*, um einen Selbst­mord*, Herr Statt­hal­ter Och­sen­bein!«

»Um einen Mord! Ja­wohl, um einen Mord, Herr Dok­tor Buff! Wenn Sie in Ihrem Al­ter nicht ein­mal einen Mord von ei­nem Selbst­mord un­ter­schei­den kön­nen…«

»In mei­nem Al­ter! In mei­nem Al­ter! Will so ein jun­ges Mond­kalb… Ja! Ein Mond­kalb, ich be­har­re auf die­sem Wor­t… mir al­tem Arz­te er­klä­ren, wo es sich um einen Mord han­delt und wo…«

»In mei­nen be­hörd­li­chen Vor­schrif­ten steht, dass ich in Zwei­fels­fäl­len stets eine kri­mi­na­lis­tisch ge­schul­te Au­to­ri­tät…«

Stu­der hör­te nicht mehr zu. Durch sei­nen Sinn spa­zier­te ein Vers­lein:

Din­ge ge­hen vor im Mond, Die das Mond­kalb nicht ge­wohnt, Tu­le­mond und Mon­da­min Lie­gen heu­lend auf den Kni­en…

Aber er rief sich selbst zur Ord­nung, denn es schick­te sich nicht, vor ei­ner Lei­che an lus­ti­ge Ge­dicht­lein zu den­ken.

Die Lei­che: Das Ge­sicht war alt, ein wei­ßer Schnurr­bart fiel über die Mund­win­kel, weich, wie eine je­ner Sei­den­sträh­nen, die Frau­en zu fei­nen Hand­ar­bei­ten ge­brau­chen. Die Au­gen ge­schlitz­t… Es war der Mann, den Stu­der vor vier Mo­na­ten in ei­ner Ju­li­nacht ken­nen­ge­lernt und den er vom ers­ten Au­gen­blick an den ›Chi­ne­sen‹ ge­nannt hat­te.

Wäh­rend der alte Land­arzt, der in sei­nem ab­ge­tra­ge­nen Ha­ve­lock einen arg ver­wahr­los­ten Ein­druck mach­te, mit dem ele­gan­ten Statt­hal­ter wei­ter dis­ku­tier­te, dach­te der Wacht­meis­ter zum drit­ten Male an die­sem Mor­gen an jene Ju­li­nacht. Und wenn die Erin­ne­rung an die­ses merk­wür­di­ge Er­leb­nis die bei­den an­de­ren Male noch dun­kel ge­we­sen war, so wur­de es jetzt klar, far­big, und auch die Wor­te, die da­mals ge­spro­chen wor­den wa­ren, be­gan­nen in Stu­ders Ohren zu klin­gen…

Er frag­te – und wie die Stim­me ei­nes Frie­den­sen­gels klang die sei­ne, als sie die schrift­deut­sche Dis­kus­si­on zwei­er Ber­ner un­ter­brach: »Wer liegt hier be­gra­ben?«

Dr. Buff ant­wor­te­te:

»Der Haus­va­ter der Ar­men­an­stalt hat vor zehn Ta­gen sei­ne Frau ver­lo­ren…«

»Der Haus­va­ter Hun­ger­lott?«

Der Arzt nick­te. Im Na­cken und über den Ohren wa­ren sei­ne Haa­re all­zu­lang.

»Wie wol­len Sie er­klä­ren, Herr Dok­tor Buff«, sag­te der Statt­hal­ter, »dass ein Selbst­mör­der sich ins Herz schießt, wäh­rend die Ku­gel we­der sei­nen Man­tel noch sei­ne Kut­te, nicht ein­mal Hemd und Wes­te durch­lö­chert hat?… Ist das ein Selbst­mord, Wacht­meis­ter? Sie se­hen es ja selbst. Die Klei­der sind zu­ge­knöpft. So ha­ben wir die Lei­che ge­fun­den. Aber der Herz­schuss ist da.«

Stu­der nick­te ver­träumt.

»Und der Re­vol­ver?« krächz­te Dr. Buff. »Liegt der Re­vol­ver nicht ne­ben der rech­ten Hand des To­ten? Ist das nicht ein Selbst­mord?«

Stu­der sah die große Re­pe­tier­pis­to­le – und er­kann­te ihn wie­der, die­sen Colt. Er nick­te, nick­te –, und dann schwieg er fünf Mi­nu­ten, weil die Nacht des 18. Juli wie ein Film durch sei­nen Sinn flim­mer­te…

Erinnerungen

Es war ein Zu­fall, dass Stu­der an je­nem Abend in Pfrün­dis­berg ab­ge­stie­gen war. In Ol­ten hat­te er ver­ges­sen zu tan­ken. Des­halb war er da­mals in der Wirt­schaft ›zur Son­ne‹ ein­ge­kehr­t…

Er trat ein. An der Tür, die ins Ne­ben­zim­mer führ­te, stand ein Ei­se­nofen, der sil­bern schim­mer­te, weil er mit Alu­mi­ni­um­far­be be­stri­chen war. Vier Män­ner sa­ßen um einen Tisch und jaß­ten. Stu­der schüt­tel­te sich wie ein großer Neu­fund­län­der, denn auf sei­ner Le­der­jop­pe lag viel Staub. Er nahm Platz in ei­ner Ecke… Nie­mand küm­mer­te sich um ihn. Nach ei­ner Wei­le frag­te er, ob man hier eine Kan­ne Ben­zin ha­ben kön­ne. Ei­ner der Jas­ser, ein ur­al­tes Mann­li in ei­ner Wes­te mit an­ge­setz­ten Lei­nen­är­meln, sag­te zu sei­nem Part­ner:

»Er wott es Ches­se­li Ben­zin…«

»Mhm… Er wott es Ches­se­li Ben­zin…«

Schwei­gen… Die Luft hock­te dumpf und sti­ckig im Raum, weil die Fens­ter ge­schlos­sen wa­ren; durch die Schei­ben sah man das grün­ge­stri­che­ne Holz der Lä­den. Stu­der wun­der­te sich, weil kei­ne Ser­vier­toch­ter er­schi­en, um nach sei­nen Wün­schen zu fra­gen. Der Part­ner des Al­ten mein­te:

»Du hescht d’Stöck nid g’schry­be.«

Der Wacht­meis­ter stand auf und er­kun­dig­te sich, wo es hier auf die Lau­be gehe, denn in dem Zim­mer war es ers­tens heiß und zwei­tens saß an dem Ti­sche, wo ge­jaßt wur­de, ein ma­ge­rer Spitz­bart, den Stu­der kann­te: der Haus­va­ter der Ar­men­an­stalt Pfrün­dis­berg, Hun­ger­lott mit Na­men… Ein un­sym­pa­thi­scher Mensch, den man ken­nen­ge­lernt hat­te, frü­her, als man noch Ge­frei­ter an der Kan­tons­po­li­zei war und Trans­por­te vom Amts­haus nach Pfrün­dis­berg ma­chen muss­te. Gera­de heut abend hat­te man gar kei­ne Lust, mit die­sem Hun­ger­lott z’­brich­ten…

»Nume de Gang hin­ge­re…«, sag­te der Ural­te und: – der Weg sei nicht zu ver­feh­len.

Als Stu­der ins Freie trat, at­me­te er auf, trotz­dem die Luft schwül war. Am Ho­ri­zont kau­er­ten rie­si­ge Wol­ken, im Ze­nit hing ein win­zi­ger Mond, nicht grö­ßer als eine un­rei­fe Zitro­ne, und warf sein spär­li­ches Licht über die Land­schaft. Dann ver­schwand auch er, und in der Nähe war ein­zig hell er­leuch­tet das Erd­ge­schoss ei­nes großen Bau­es, der etwa vier­hun­dert Me­ter ent­fernt von der Wirt­schaft sich er­hob. Der Wacht­meis­ter lehn­te sich an das Ge­län­der der Lau­be und blick­te über das stil­le Land; dicht vor sei­nen Au­gen wuchs ein Ahorn – die Blät­ter des nächs­ten As­tes wa­ren so deut­lich, dass man sie ein­zeln zäh­len konn­te. Als er sich nach der Licht­quel­le um­wand­te, sah er hin­ter den Schei­ben ei­nes Fens­ters, das auf die Lau­be ging, eine Lam­pe, die einen schrei­ben­den Mann be­schi­en. Kei­ne Vor­hän­ge vor den Schei­ben… Der Mann saß an ei­nem Tisch, ein Sta­pel von fünf Wachs­tuch­hef­ten er­hob sich ne­ben sei­nem rech­ten Ell­bo­gen – der Mann war da­mit be­schäf­tigt, ein sechs­tes Heft voll­zu­schrei­ben. Son­der­bar… Wie kam ein frem­der Gast dazu, in dem Kra­chen Pfrün­dis­berg sei­ne Me­moi­ren zu schrei­ben…?

Pfrün­dis­berg: eine Ar­men­an­stalt, eine Gar­ten­bau­schu­le, zwei Bau­ern­hö­fe. Das ein­zi­ge, was dem Wei­ler Wich­tig­keit gab, war die Tat­sa­che, dass das Dorf Gamp­li­gen – zwei Ki­lo­me­ter weit ent­fernt – sei­ne To­ten in Pfrün­dis­berg be­grub…

Dies al­les ging Stu­der durch den Kopf, wäh­rend er vor dem Fens­ter stand und dem ein­sa­men Man­ne zu­sah, der un­er­müd­lich in sein Wachs­tuch­heft schrieb. Ein wei­ßer Schnurr­bart be­deck­te sei­ne Mund­win­kel, die Ba­cken­kno­chen spran­gen vor und die Au­gen sa­hen aus wie ge­schlitzt. Be­vor er noch ein Wort mit dem Frem­den ge­spro­chen hat­te, nann­te ihn Stu­der bei sich: den ›Chi­ne­sen‹.

Und wahr­schein­lich hät­te der Wacht­meis­ter an die­sem Abend des 18. Juli gar nicht die Be­kannt­schaft des Man­nes ge­macht, wenn ihm nicht ein klei­nes Miss­ge­schick pas­siert wäre. War es der Staub der Land­stra­ße, war es eine be­gin­nen­de Er­käl­tung? Kurz, Stu­der muss­te nie­sen.

Die Re­ak­ti­on des Frem­den auf die­ses un­schul­di­ge Geräusch war merk­wür­dig: Der Mann sprang auf, so ei­lig, dass sein Stuhl um­fiel, sei­ne rech­te Hand fuhr in die Sei­ten­ta­sche der Haus­jop­pe aus Ka­mel­haar. In zwei seit­li­chen Sprün­gen war er am Fens­ter und such­te dort De­ckung in der Mau­er­ni­sche. Sei­ne Lin­ke griff nach dem Fens­ter­rie­gel, riss die Flü­gel auf… Kur­zes Schwei­gen; dann frag­te der Mann: »Wer ist da?«

Stu­der war hell be­leuch­tet und sei­ne mas­si­ge Ge­stalt warf einen brei­ten Schat­ten auf die Lau­ben­brüs­tung.

»Ich«, sag­te er.

»Ant­wor­ten Sie nicht so dumm«, schnauz­te der Frem­de. »ich will wis­sen, wer Sie sind.«

Der Mann sprach das Deut­sche mit eng­li­schem Ak­zent. Eng­lisch? Merk­wür­dig war nur, dass un­ter die­ser fremd­län­di­schen Auss­pra­che et­was Hei­mat­li­ches her­vor­lug­te, das nicht ge­nau zu be­stim­men war. Vi­el­leicht lag es an der Be­to­nung des Wor­tes »will«, das der Mann wie »wiu« aus­sprach.

»Kan­tons­po­li­zei Bern«, sag­te Stu­der ge­müt­lich.

»Le­gi­ti­ma­ti­on.«

Stu­der zeig­te sie schwe­ren Her­zens, denn die Fo­to­gra­fie, die auf die­sem Aus­weis kleb­te, hat­te ihm im­mer Kum­mer be­rei­tet. Er fand, er sehe aus auf ihr wie ein See­lö­we, der an Lie­bes­gram lei­det.

Der Frem­de gab den Aus­weis zu­rück. Die Si­tua­ti­on war im­mer noch un­an­ge­nehm, denn der Wacht­meis­ter wuss­te ge­nau, dass der Frem­de in der Sei­ten­ta­sche sei­ner Jop­pe1 einen Re­vol­ver trug; und es war un­an­ge­nehm zu den­ken, dass ein Bauch­schuss droh­te. Wie eine läs­ti­ge Mücke hör­te der Wacht­meis­ter das Wort »La­paro­to­mie« in sei­nem Kop­fe sur­ren und er at­me­te auf, als der Frem­de end­lich sei­ne Rech­te aus der Kut­ten­ta­sche zog.

Nun frag­te Stu­der be­schei­den und über­trie­ben höf­lich, in sau­bers­tem Hoch­deutsch:

»Darf ich mir jetzt er­lau­ben, Ihre Pa­pie­re zu ver­lan­gen?«

»Su­re­ly… si­cher…«

Der Frem­de trat an den Tisch, zog eine Schub­la­de auf und kam mit ei­nem Pass zu­rück.

Ein Schwei­zer Pass!… Aus­ge­stellt für Farny Ja­mes, hei­mat­be­rech­tigt in Gamp­li­gen, Kan­ton Bern; ge­bo­ren am 13. März 1878, aus­ge­stellt in To­ron­to, er­neu­ert 1903 in Schang­hai, er­neu­ert in Syd­ney, er­neu­ert in To­kio, er­neu­er­t… er­neu­er­t… er­neu­er­t… er­neu­ert 1928 in Chi­ca­go, U.S.A.,… Grenz­über­tritt am 18. Fe­bru­ar 1931 in Gen­f…

»Seit fünf Mo­na­ten sind Sie wie­der in der Schweiz, Herr Farny?« frag­te Stu­der.

»Su­re­ly, fünf Mo­na­te. Habe die Hei­mat wie­der se­hen wol­len…« Da war er wie­der, der Laut! Der ›Chi­ne­se‹ sag­te: ›He-imat‹ mit scharf ge­trenn­tem ›e-i‹, wäh­rend ein Eng­län­der das ›ai‹ si­cher über­trie­ben hät­te. »Sie sin­d… wie sagt man?… ein hö­he­rer Po­li­zei­be­am­ter? Ein… wie sagt man… In­spek­tor, nicht nur ein Po­li­ce­man?«

»Wacht­meis­ter«, sag­te Stu­der ge­müt­lich.

»Dann wer­den Sie zu­ge­zo­gen, wenn pas­siert zum Bei­spiel ein Mord?« – Stu­der nick­te.

»Es kann näm­lich mög­lich sein, dass ich er­mor­det wer­de«, sag­te der ›Chi­ne­se‹. »Vi­el­leicht heu­te, viel­leicht mor­gen, viel­leicht in ei­nem Mo­nat – und viel­leicht geht es auch län­ger… Sie trin­ken?«

ein­fa­che Ja­cke oder auch Haus­ja­cke für Män­ner  <<<

Das Gewitter

Stil­le… Nun kau­er­ten die Wol­ken nicht mehr am Ho­ri­zont. Sie wa­ren hö­her ge­stie­gen und be­deck­ten den Him­mel. Ein Blitz zer­schnitt die Nacht, der Schlag, der folg­te, war hef­tig und ging dann über in ein Pol­tern und Grol­len, das sich hin­ter den Hü­geln ver­lor. Aber of­fen­bar hat­te es Kurz­schluss in der Lei­tung ge­ge­ben. Die Lam­pe im Zim­mer des ›Chi­ne­sen‹ er­losch, doch auch ge­gen der­ar­ti­ge Stö­run­gen war Herr Farny ge­wapp­net, denn es ver­gin­gen kaum fünf Se­kun­den, bis der Licht­ke­gel ei­ner Ta­schen­lam­pe die Lau­be be­strich. Und Stu­der stell­te fest, dass der frem­de Gast die Lam­pe mit der lin­ken Hand hielt, wäh­rend sei­ne Rech­te den Kol­ben ei­nes Mi­nia­tur­ma­schi­nen­ge­weh­res um­spann­te. Noch ein Blitz – und dann, wie Beil­schlä­ge auf einen Bu­chen­klotz, fie­len die Trop­fen auf die Blät­ter des Ahorns – zu zäh­len wa­ren sie: fünf, sechs, sie­ben – wie­der Stil­le – und end­lich rausch­te der Re­gen, auf stieg zur Lau­be der Ge­ruch nas­sen Stau­bes und feuch­ten Hol­zes; dann duf­te­ten Blu­men.

Das Licht flamm­te auf; der ›Chi­ne­se‹ ver­sorg­te sei­ne Waf­fe in der Schub­la­de des Ti­sches, spül­te das Glas, das auf sei­nem Wasch­tisch stand und füll­te es mit ei­ner gel­ben, schar­frie­chen­den Flüs­sig­keit. Auf der Eti­ket­te der Fla­sche hat­te sich ein wei­ßes Pferd ab­ge­bil­det. »Trin­ken Sie«, sag­te der ›Chi­ne­se‹. »Gu­ter Whis­ky! Sie kön­nen Ver­trau­en zu ihm ha­ben.« Stu­der leer­te das Glas zur Hälf­te, dann muss­te er hus­ten, was den ›Chi­ne­sen‹ zum La­chen brach­te. »Stark? Nicht wahr? Un­ge­wohnt? Aber doch bes­ser als… wie sa­gen Sie… Bät­zi­was­ser?« Er nahm Stu­der das halb­vol­le Glas aus der Hand, trank es aus und mein­te dann: »Jetzt, wir ha­ben ge­trun­ken Bru­der­schaft. ›Bru­der-Stu­der‹ klingt ganz gut, nicht wahr? Du wirst mich rä­chen, wenn ich ei­nem Mör­der zum Op­fer fal­le.«

Der Ber­ner Wacht­meis­ter dach­te, dass die­ser Herr Farny ein we­nig lätz ge­wi­ckelt sei. Der Kin­der­reim: ›Bru­der-Stu­der‹ ging ihm auf die Ner­ven. Au­ßer­dem war es un­mög­lich, sich von ei­nem Un­be­kann­ten du­zen zu las­sen. Wie wür­de er da­ste­hen, er, der Wacht­meis­ter Stu­der von der kan­to­na­len Fahn­dungs­po­li­zei, wenn sich die­ser Farny Ja­mes als ein Hoch­stap­ler ent­pupp­te? Dann muss­te er ihn ver­haf­ten, na­tür­lich, und der ›Chi­ne­se‹ wür­de nichts Ei­li­ge­res zu tun ha­ben, als dem Un­ter­su­chungs­rich­ter mit­zu­tei­len, er stün­de mit dem Po­li­zis­ten, der ihn ge­schnappt habe, auf Du und Du. Als dar­um der Frem­de das Was­ser­glas von neu­em mit Whis­ky füll­te und es dem Wacht­meis­ter zum Trun­ke an­bot, dank­te Stu­der für die Ehre. Der ›Chi­ne­se‹ je­doch ließ sich durch die­se Wi­der­bors­tig­keit nicht stö­ren, son­dern mein­te tro­cken:

»Du willst nicht trin­ken? Bru­der-Stu­der? Dann trin­ke ich al­lein.« Und er leer­te das Glas. »Aber«, fuhr der ›Chi­ne­se‹ fort, »ich will dich doch mit all je­nen Men­schen be­kannt ma­chen, die als mei­ne Mör­der in Fra­ge kom­men.«

Ei­nen Au­gen­blick dach­te Stu­der dar­an, an die Waldau zu te­le­fo­nie­ren, denn die­ser Herr Farny litt of­fen­bar an Ver­fol­gungs­wahn. Dann ließ er das Pro­jekt je­doch fal­len und er­klär­te sich be­reit, dem ›Chi­ne­sen‹ zu fol­gen. Die­ser nahm nicht den na­tür­li­chen Weg durch die Zim­mer­tür, son­dern turn­te durch das Fens­ter auf die Lau­be hin­aus, pack­te den Wacht­meis­ter beim Arm und zog ihn mit sich. Und Stu­der stell­te er­staunt fest, dass sein Beglei­ter auf­ge­regt war; sehr deut­lich fühl­te er, dass die Fin­ger sei­nes Beglei­ters zit­ter­ten; sie trom­mel­ten lei­se auf dem Le­der sei­ner Jop­pe.

Krach

Herr Ja­mes Farny führ­te den Wacht­meis­ter in einen an­de­ren, ziem­lich be­setz­ten Raum. Das Zim­mer mit dem sil­bern schim­mern­den Alu­mi­ni­u­mö­fe­li war wohl der Pri­vat­sa­lon des Wir­tes ge­we­sen. In der Gast­stu­be, wel­che die bei­den jetzt be­tra­ten, sa­ßen vier Män­ner, alt, in schmie­ri­gen blau­en Über­klei­dern, in der Nähe der Tür um einen Tisch, auf dem eine Zwei­de­zi­gut­te­re, ge­füllt mit ei­ner hell­gel­ben Flüs­sig­keit, stand. Beim Fens­ter hock­ten fünf an­de­re Ge­stal­ten, gleich ge­klei­det, in ver­schmier­te blaue Over­alls, und auch vor die­sen Män­nern stan­den nie­de­re, dick­wan­di­ge Gläs­chen…

»Bät­zi­was­ser«, sag­te Herr Farny ver­ächt­lich.

Um einen run­den Tisch, in der Mit­te des Rau­mes, sa­ßen fünf jun­ge Bur­schen in städ­ti­scher Klei­dung mit un­wahr­schein­lich bun­ten Kra­wat­ten un­ter schief­sit­zen­den Um­le­ge­kra­gen. Ei­ner war un­ter ih­nen, der Stu­der von An­be­ginn an auf­fiel. Er sah äl­ter aus als sei­ne Ge­nos­sen. Aus ei­nem ma­gern Ge­sicht rag­te eine spit­ze Nase, die so lang war, dass sie wie ver­zeich­net aus­sah. Die fünf Bur­schen tran­ken Bier. Hin­ter dem Schank­tisch hock­te die Ser­vier­toch­ter und lis­me­te. Zwei di­cke brau­ne Zöp­fe la­gen um ih­ren Kopf wie ein merk­wür­di­ger Kranz. Herr Farny steu­er­te auf den Tisch zu, der ne­ben dem der jun­gen Bur­schen stand. Dort trank ein al­ter Bau­er ge­müt­lich ein Zwei­er­li Wein.

»Und, Schranz? Wie geht’s?« frag­te der ›Chi­ne­se‹ den Al­ten.

»Mhm!« brumm­te der Alte.

»Was macht Brön­ni­mann?«

»Jas­se…« Herr Farny nahm Platz und auch Stu­der setz­te sich. Es war durch­aus un­ge­müt­lich in dem Raum. Eine Span­nung herrsch­te, de­ren Ur­sprung man nicht recht fest­stel­len konn­te. Die vier Blau­ge­klei­de­ten an der Tür, die fünf in den schmie­ri­gen Über­klei­dern am Fens­ter blick­ten auf die zwei neu Ein­ge­tre­te­nen, und ihre Mün­der wa­ren mit Hohn ver­schmiert.

Nicht das Ge­wit­ter ver­ur­sach­te die Span­nung, auch nicht die ele­gan­te Klei­dung des Herrn Farny. – Deut­lich hör­te Stu­der das Wort ›Schro­te­rei‹, aber er wuss­te nicht, an wel­chem Tisch es aus­ge­spro­chen wor­den war.

Üb­ri­gens, wo­her hat­ten die Leu­te schon er­fah­ren, dass ein Po­li­zist un­ter ih­nen war? Na­tür­lich! Das Po­li­zei­schild am Töff. Aber… Wa­rum fürch­te­ten die Ar­men­häus­ler die Po­li­zei? Und warum die städ­tisch ge­klei­de­ten Jüng­lin­ge mit den schie­fen Um­le­ge­kra­gen, die si­cher der Gar­ten­bau­schu­le an­ge­hör­ten?

»Ko­gnak!« rief Herr Farny. »Hul­di, zwei Ko­gnak! Aber vom Gu­ten!« Die Saal­toch­ter kam schüch­tern nä­her. Auf­fal­lend war die Far­be ih­rer Ge­sichts­haut. Es sah aus, als sei die Haut mit Schim­mel über­zo­gen.

»G’wüss, Herr Farny!« und »Gärn!« sag­te die Toch­ter.

Aber es ge­lang ihr nicht, die Be­stel­lung aus­zu­füh­ren, denn plötz­lich be­gan­nen die vier am Tisch bei der Tür nach der Me­lo­die: »Wir wol­len kei­ne Schwa­ben in der Schweiz!« zu gröh­len: »Wir wol­len kei­ne Tschu­cker uff em Bärg, Tschu­cker uff em Bärg, Tschu­cker uff em Bärg!« Sie stan­den auf. Der eine nahm die Zwei­de­zi­gut­te­re, die an­de­ren be­waff­ne­ten sich mit den dick­wan­di­gen Schnaps­gläs­lein – und so, von zwei Sei­ten, rück­ten sie ge­gen den Tisch des Wacht­meis­ters vor und san­gen dazu ihr blö­des Lied.

Der ›Chi­ne­se‹ ba­lan­cier­te auf den Hin­ter­bei­nen sei­nes Stuh­les und sei­ne ro­ten Le­der­pan­tof­feln bau­mel­ten auf den Ze­hen. Ihm schi­en die gan­ze Sa­che großen Spaß zu ma­chen.

»Angst, In­spek­teur?« frag­te er und strei­chel­te die wei­che Sei­den­sträh­ne, die sei­nen Mund­win­kel ver­deck­te.

Stu­der hob sei­ne mäch­ti­gen Ach­seln. Als aber auch die Gar­ten­bau­schü­ler sich am Krach be­tei­li­gen woll­ten, als der Bur­sche mit der ver­zeich­ne­ten Nase eine Bier­fla­sche pack­te, um sich den Ar­men­häus­lern an­zu­schlie­ßen, sag­te Ja­mes Farny, be­feh­lend, wie man zu ei­nem Hun­de spricht:

»Kusch, Äbi!« Der Bur­sche setz­te sich wie­der. Stu­der hock­te auf sei­nem Stuhl, die Bei­ne ge­spreizt, die Ell­bo­gen auf den Schen­keln, die Hän­de ge­fal­tet; sein Rücken war rund. Und in Wirk­lich­keit hat­te er auch nichts zu fürch­ten, denn plötz­lich ging die Tür zum Ne­ben­zim­mer auf und die vier Jas­ser er­schie­nen.

Es war merk­wür­dig, sie – einen nach dem an­de­ren – ein­ge­rahmt von der Türe zu se­hen: Je­der wirk­te wie ein Bild für sich.

Herr Hun­ger­lott er­schi­en zu­erst und zö­ger­te, be­vor er die Schwel­le über­schritt; der Bocks­bart am Kinn mach­te sein Ge­sicht spitz.

»Was ist das für ein Krach! Schon wie­der schnap­sen! Und ich hab’s doch streng ver­bo­ten!«

Die al­ten Män­ner mit den schmie­ri­gen Über­klei­dern drück­ten sich ge­gen die Türe – nun stand Herr Hun­ger­lott im Schein der Lam­pe:

»Ah! Der Herr Wacht­meis­ter!? Wie geht’s, wie geht’s?«

Stu­der mur­mel­te et­was Un­ver­ständ­li­ches.

Eine zwei­te Ge­stalt, mas­sig, mit auf­ge­krem­pel­ten Hemds­är­meln über blond­be­haar­ten Ar­men, stand im Rah­men der Tür und kol­der­te los:

»Wie oft habe ich schon ge­sagt, Ihr sollt am Abend nicht in die Wirt­schaft kom­men? Hä? Könnt Ihr nicht fol­gen? So, aber jetzt heim! Marsch-marsch!« Das muss­te der Di­rek­tor der Gar­ten­bau­schu­le sein. Ein drei­fa­ches Kinn si­cker­te über sein roh­sei­de­nes Hemd, auf sei­nem ge­wölb­ten Bäuch­lein bau­mel­te eine Ket­te aus Weiß­gold und in den Ring­fin­ger der Rech­ten war der Ehe­ring tief ein­ge­gra­ben.

Die Schü­ler ver­schwan­den…

Und nun erst er­schi­en der Ural­te, ge­beugt und keu­chend. Er krächz­te:

»Was hat es ge­ge­ben, Hul­di? Hast mich nicht ru­fen kön­nen?« Dann mach­te ein Hus­ten­an­fall sei­nen Fra­gen ein Ende. Ihm auf dem Fuße folg­te sein Part­ner beim Jas­sen, der Bau­er Ger­ber, und so un­schein­bar war die­ses Männ­lein, dass nie­mand ihm Be­ach­tung schenk­te.

In dem fast lee­ren Rau­me schweb­te als ein­zi­ge Erin­ne­rung an die Ar­men­häus­ler der Ge­ruch von Bät­zi­was­ser und schlech­tem Ta­bak. Aber auch die­ser schwand, als die Ser­vier­toch­ter auf den Be­fehl des Di­rek­tors ein Fens­ter öff­ne­te: Die vom Ge­wit­ter­re­gen ge­rei­nig­te Luft ström­te ins Zim­mer…

Und dann ge­sch­ah ein Wun­der. Plötz­lich stan­den auf dem Mit­tel­tisch sechs Glä­ser aus Kris­tall­glas (Kris­tall­glas in ei­ner klei­nen Bei­ze!). Herr Farny schenk­te ein und, mit ei­nem Au­gen­zwin­kern zum Wacht­meis­ter, stell­te er vor:

»Herrn Hun­ger­lott, den Haus­va­ter der Ar­men­an­stalt, ken­nen Sie schon, Herr In­spek­tor… aber hier, darf ich Ih­nen vor­stel­len: Herr Ernst Sack-Am­herd, Di­rek­tor der Gar­ten­bau­schu­le Pfrün­dis­berg. Wei­ter: Herr Al­fred Schranz, Land­wirt; Herr Al­bert Ger­ber, Land­wirt; die Ser­vier­toch­ter Hul­da Nüsch. Und als letz­ter: un­ser all­ver­ehr­ter Ru­dolf Brön­ni­mann, Wirt des Gast­ho­fes ›zur Son­ne‹… – Und hier un­ser In­spek­tor Ja­kob Stu­der… Wir wol­len an­sto­ßen!«

Stu­der er­in­ner­te sich, da­mals ge­dacht zu ha­ben, die­ser Herr Farny müs­se ein aus­ge­zeich­ne­tes Na­mens­ge­dächt­nis ha­ben, denn: er hat­te des Wacht­meis­ters Le­gi­ti­ma­ti­on nur kurz ge­se­hen und nicht nur an sei­nen Fa­mi­li­enna­men er­in­ner­te er sich, son­dern auch an sei­nen Vor­na­men. Doch sei­nen Reim: ›Bru­der-Stu­der‹ hat­te er ver­ges­sen, denn er duz­te sei­nen Gast nicht mehr…

»Es ist ein Elend«, sprach der Haus­va­ter Hun­ger­lott, »man kann den Leu­ten das Schnap­sen nicht ab­ge­wöh­nen. Ich möch­te Euch bit­ten, Wacht­meis­ter, das, was Ihr hier ge­se­hen habt, in Bern nicht wei­ter zu er­zäh­len… Schließ­lich und end­lich, die Leu­te ar­bei­ten die gan­ze Wo­che, am Sams­tag be­kommt je­der ein Fränk­li und ein Päck­li Ta­bak. Das muss für die nächst­fol­gen­den acht Tage lan­gen. Was tun die Leu­te, um ihr Elend zu ver­ges­sen?… Ko­gnak ist ih­nen zu teu­er, dar­um sau­fen sie Bät­zi­was­ser. Der Pau­pe­ris­mus, Herr Wacht­meis­ter, ist der Aus­satz un­se­rer Ge­sell­schaft. Muss ich Ih­nen das Wort ›Pau­pe­ris­mus‹ er­klä­ren?«

Stu­der blick­te vor sich auf den Tisch. Er hat­te einen nichts­sa­gen­den Ge­sichts­aus­druck auf­ge­setzt, der wie eine Mas­ke wirk­te. Jetzt hob er die Au­gen und sein Blick war leer.

»Pau­per«, do­zier­te der Haus­va­ter, »heißt ›ar­m‹ auf la­tei­nisch. Der Pau­pe­ris­mus be­schäf­tigt sich mit dem Pro­ble­me der Ar­mut. Bei uns kommt na­tür­lich noch die gan­ze Fra­ge des Für­sor­ge­we­sens hin­zu, die eben­so kom­pli­ziert ist wie…«

»Aber du hescht d’Stöck nid gschry­be, im letsch­te Gang!« un­ter­brach hier der Land­wirt Ger­ber. Brön­ni­mann be­gehr­te auf: Woll, er habe sie ge­schrie­ben, das sei eine ver­damm­te Lü­ge… Und Stu­der sag­te, dass er schon lan­ge eine Kan­ne Ben­zin ver­langt habe, ob es nicht mög­lich sei, sie end­lich zu be­kom­men?

– Ex­akt! Der Mann habe Ben­zin ver­langt, un­ter­stütz­te Ger­ber des Wacht­meis­ters Re­kla­ma­ti­on.

Ei­nen Au­gen­blick herrsch­te Schwei­gen. Dann sag­te der Di­rek­tor der Gar­ten­bau­schu­le, Herr Sack-Am­herd: – Ja, es sei auch nicht im­mer ein­fach mit den an­ge­hen­den Gärt­nern… meis­tens hät­ten die Bur­schen schon selbst­stän­dig ge­ar­bei­tet und kei­nen Sinn für Dis­zi­plin.

»Was soll ich aber dann sa­gen?« misch­te der Haus­va­ter Hun­ger­lott sich wie­der in das Ge­spräch. »Al­les wird mir zu­ge­wie­sen, was man nicht gut nach Witz­wil, nach Thor­berg oder nach Han­sen schi­cken kann. Leu­te sind dar­un­ter, die min­des­tens zehn Jah­re Ge­fäng­nis auf dem Bu­ckel ha­ben, be­schäf­ti­gen muss ich sie, aber Sie soll­ten die Re­kla­ma­tio­nen hö­ren, Herr Wacht­meis­ter! – Für nüt müss­ten sie ar­bei­ten; durch ihre Ar­beit könn­ten die großen Her­ren ein schö­nes Le­ben füh­ren – und da­bei, ich will ganz of­fen zu Ih­nen sein, ge­lingt es uns nicht ein­mal, die Un­kos­ten her­aus­zu­wirt­schaf­ten. Jähr­lich muss der Staat zum min­des­ten – ich sage zum min­des­ten! – zwan­zig­tau­send Fran­ken drauf­zah­len, sonst wür­de es mit un­se­rer Abrech­nung bös ha­pern. Ich kom­me mir bald vor wie ein Rei­sen­der, so­gar ein Auto habe ich mir an­ge­schafft und muss nun die Kund­schaft ab­klop­fen. Die Kon­kur­renz der an­de­ren staat­li­chen An­stal­ten! Das ist das Übel! Die Ir­ren­an­stal­ten, die Straf­an­stal­ten, sie alle lie­fern Heim­ar­beit – und so kom­men wir zu dem blö­den Zu­stand, dass eine An­stalt der an­de­ren ver­sucht, die Kun­den weg­zu…«

»Er hed es Ches­se­li Ben­zin wel­le«, un­ter­brach der Bau­er Ger­ber. – Er gehe ja schon, er gehe ja schon! keif­te der Wirt Brön­ni­mann und hum­pel­te zum Saal hin­aus.

Die Zu­rück­blei­ben­den stie­ßen mit­ein­an­der an, tran­ken, schwie­gen; dann be­gann der Di­rek­tor der Gar­ten­bau­schu­le, Herr Sack-Am­herd, eben­falls bit­ter über die Re­gie­rung zu kla­gen: – Frü­her, ja frü­her hät­ten die Bau­ern re­vo­lu­tio­niert, weil man ih­nen den Zehn­ten ab­ver­langt habe. Und heut­zu­ta­ge? Da re­kla­mie­re nie­mand, wenn man zwölf bis vier­zehn Pro­zent Ein­kom­men­steu­er ab­la­den müs­se. Ja: zwölf bis vier­zehn Pro­zent! Das sei nach sei­ner be­schei­de­nen An­sicht mehr als der Zehn­te! Aber wer wage ge­gen die Über­grif­fe – die Finanz­über­grif­fe – zu re­kla­mie­ren? – Nie­mand! Und warum…?

In der Tür er­schi­en der Wirt Brön­ni­mann. – Er habe no-n-es Ches­se­li Ben­zin uf­trie­be chön­ne. Der Wacht­meis­ter sol­le cho lüge, aber e chli pres­sie­re…!

Zu­gleich mit Stu­der er­hob sich Herr Farny. Er wol­le den Gast noch hin­aus­be­glei­ten, sag­te er. All­ge­mei­nes Ver­ab­schie­den… Der Hän­de­druck des Haus­va­ters Hun­ger­lott war reich­lich kleb­rig. Es war, als kön­ne er sei­ne Fin­ger gar nicht mehr von Stu­ders Hand lö­sen. Herr Sack-Am­herd ver­ab­schie­de­te sich merk­lich kür­zer und die bei­den Bau­ern, Ger­ber und Schranz, lie­ßen nur ein un­deut­li­ches Mur­meln hö­ren. Dann stand Stu­der un­ten an den aus­ge­tre­te­nen Stu­fen. Der Wirt Brön­ni­mann ver­schwand in ei­nem Schopf, um, wie er sag­te, dort Ben­zin zu ho­len – und ne­ben dem Wacht­meis­ter blieb al­lein der ›Chi­ne­se‹ zu­rück.

»Sie ha­ben sie nun alle ge­se­hen, In­spek­tor«, sag­te Herr Farny. »Fast al­le. Denn so­viel ich heu­te er­fah­ren habe, ist noch ein Bur­sche im Haus, den ich Ih­nen nicht habe vor­stel­len kön­nen. Er fürch­tet sich vor der Po­li­zei, ver­ste­hen Sie? Aber sonst… Wie ge­sagt: Es wa­ren fast alle an­we­send.«

Herr Farny schwieg einen Au­gen­blick, dann hob er mit ei­nem Ruck den Kopf und blick­te dem Wacht­meis­ter in die Au­gen. Die Lam­pe, die über der Ein­gang­stü­re zur Wirt­schaft hing – und über ihr bau­mel­te und glänz­te das Schild, das mit fei­nen sträh­ni­gen Strah­len die Son­ne dar­stel­len soll­te –, be­schi­en die Ge­sich­ter der bei­den von oben und warf schwar­ze Flä­chen auf sie. Der ›Chi­ne­se‹ leg­te sei­ne leich­te Grei­sen­hand auf die mäch­ti­ge Schul­ter des Wacht­meis­ters und sag­te:

»Sie wer­den mich also rä­chen.«

Schwei­gen…! Der Blick des Frem­den senk­te sich nicht.

»Rä­chen!« wie­der­hol­te Herr Farny. »Sie wer­den mei­nen, In­spek­tor, das sei kin­disch. Vi­el­leicht, Sie ha­ben recht! Aber ich will nicht, dass er hat den Tri­umph.«

»Er?« wie­der­hol­te der Wacht­meis­ter fra­gend. »Wel­cher er?«