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Ein neues Abenteuer mit dem unorthodoxen Alpen-Columbo. Ein Kaff: Pfründisberg. Zwei Tote. Eine - vielleicht - mit Arsen vergiftete Frau und ein Chinese mit durchlöchertem Herzen. Und dann ist da noch das Armenhaus, in dem die Armen bei Wasser und Brot sitzen, während der Betreiber es sich gutgehen lässt. Wachtmeister Studer nimmt die Fährte auf, "Hier wird ein ebenso gebildeter wie scharfsinniger Schriftsteller sichtbar, der seine Texte in Frage stellte, immer wieder überarbeitete, weiterentwickelte und variierte, dem vor allem das Handwerk des Schreibens ein vorrangiges Anliegen war und der schon während seiner Gymnasialzeit nichts anderes als Schriftsteller sein wollte." Spiegel Spezial Null Papier Verlag
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Seitenzahl: 248
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Friedrich Glauser
Der Chinese
Ein Wachtmeister Studer Kriminalroman
Friedrich Glauser
Der Chinese
Ein Wachtmeister Studer Kriminalroman
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 EV: Morgarten, Zürich, 1938 3. Auflage, ISBN 978-3-954182-76-3
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Inhaltsverzeichnis
Ein Toter auf einem Grab und zwei streitende Herren
Erinnerungen
Das Gewitter
Krach
Die drei Atmosphären
Angst
Finger ab de Röschti!
Blinder Passagier
Die Geschichte von der Barbara
»Pauperismus«
Fortsetzung eines Vortrages
Atmosphäre Nr. 3
’s Trili-Mütti
In der Bundesstadt
Zwei Mütter
Jaßpartie mit einem neuen Partner
Im Gewächshaus
Schüler bei Nacht
Funde in der Heizung
Notar Münch macht einen nächtlichen Besuch
Lehrer Wottli will verreisen
Ein leerer Tag
Beginn des Endes
Unterbruch eines Mittagessens…
… und seine Fortsetzung
Ein Notar erscheint
Die Mutter
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Die Romane mit Wachtmeister Studer bei Null Papier
Wachtmeister Studer
Matto regiert
Die Fieberkurve
Der Chinese
Krock & Co
Andere Kriminalromane von Friedrich C. Glauser
Der Tee der drei alten Damen – Eine Kriminalgeschichte
Friedrich Charles Glauser (✳ 4. Februar 1896 in Wien; † 8. Dezember 1938 in Nervi bei Genua) war ein Schweizer Schriftsteller. Er gilt als einer der ersten deutschsprachigen Krimiautoren.
Schriftsteller zu sein, hieß für Friedrich Glauser zunächst, Gedichte zu schreiben. In der lyrischen Form glaubte er, sein inneres Erleben ausdrücken zu können. Vorbilder waren für ihn Stéphane Mallarmé und Georg Trakl; der Ton entspricht dem expressionistischen Tenor der Zeit am Ende des Ersten Weltkrieges. Doch keiner dieser Texte wurde gedruckt. Für die Sammlung seiner Gedichte, die Glauser 1920 zusammenstellte, fand sich kein Verleger. Seine Gedichte wurden daher erst posthum veröffentlicht.
In den letzten drei Lebensjahren schrieb Glauser fünf Kriminalromane, in deren Mittelpunkt Wachtmeister Studer steht, ein eigensinniger Kriminalpolizist mit Verständnis für die Gefallenen der Gesellschaft.
Der Kriminalroman »Matto regiert« spielt in einer psychiatrischen Klinik und man merkt ihm genauso wie den anderen Romanen an, dass der Autor eigene Erlebnisse verarbeitet hat. Mit eindringlichen Milieustudien und packenden Schilderungen der sozialpolitischen Situation gelingt es ihm, den Leser in seinen Bann zu schlagen.
Glauser ist nach der Auffassung von Erhard Jöst »einer der wichtigsten Wegbereiter des modernen Kriminalromans«. Seine Romane und drei weitere Bände mit Prosatexten wurden zwischen 1936 und 1945 veröffentlicht.
Glausers Nachlass befindet sich im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern.
Bei einer Umfrage im Jahr 1990 unter 37 Krimifachleuten nach dem »besten Kriminalroman aller Zeiten« landete Wachtmeister Studer als bester deutschsprachiger Krimi auf Platz 4.
Studer stellte das Gas ab, stieg von seinem Motorrad und wunderte sich über die plötzliche Stille, die von allen Seiten auf ihn eindrang. Aus dem Nebel, der filzig und gelb und fett war wie ungewaschene Wolle, tauchten Mauern auf, die roten Ziegel eines Hausdaches leuchteten. Dann stach durch den Dunst ein Sonnenstrahl und traf ein rundes Schild – es glühte auf wie Gold – nein, es war kein Gold, sondern irgendein anderes, viel unedleres Metall – zwei Augen, eine Nase, ein Mund waren auf die Platte gezeichnet; von seinem Rande gingen steife Haarsträhnen aus. Unter diesem Schild baumelte eine Inschrift: ›Wirtschaft zur Sonne‹; ausgetretene Steintreppen führten zu einer Tür, in deren Rahmen ein uraltes Mannli stand, das dem Wachtmeister bekannt vorkam. Doch dieser Alte schien Studer nicht kennen zu wollen, denn er wandte sich ab und verschwand im Innern des Hauses. Ein Luftzug brachte den Nebel wieder in Wallung – Haus, Tür und Wirtschaftsschild verschwanden.
Und wieder durchbrach die Sonne das Grau, ein Mäuerlein rechts von der Straße tauchte auf, Glasperlen glänzten auf Kränzen, goldene Buchstaben auf Grabmälern und Buchsblätter funkelten wie Smaragde.
Aber um ein Grab standen drei Gestalten: ihm zu Häupten ein Landjäger in Uniform, rechts ein elegant gekleideter Glattrasierter, der jung schien, links ein älterer Herr, dessen ungepflegter Bart gelblichweiß war. Bis auf die Straße war das erbitterte Gezänke dieser beiden zu hören.
Studer zuckte die Achseln, rollte sein Rad zu der Treppe mit den ausgetretenen Stufen, schob den Ständer unter das Hinterrad, betrat dann den Friedhof und ging auf das Grab zu, über dem zwei Lebende stritten, während ein Dritter es schweigend bewachte.
Und Wachtmeister Studer von der Berner Kantonspolizei seufzte während des Gehens einige Male sehr bekümmert, weil er dachte, er habe es nicht leicht im Leben…
Heute Morgen hatte der Statthalter von Roggwil ins Amtshaus telefoniert: – Auf dem Friedhof des Dorfes Pfründisberg sei die Leiche eines gewissen Farny gefunden worden, der seit neun Monaten in der Wirtschaft ›zur Sonne‹ gewohnt habe. Vom Wirte Brönnimann sei der Tote gefunden und der Landjäger Merz benachrichtigt worden; dieser habe dann gemeldet, die Ursache des Hinschiedes sei ein Herzschuss. »Eine Untersuchung habe ich bis jetzt nicht führen können, doch kommt mir der Fall verdächtig vor. Der Arzt behauptet, es handle sich um einen Selbstmord. Ich bin nicht dieser Meinung! Um Sicherheit zu haben, scheint es mir wichtig, dass ein geschulter Fahnder zugegen ist. Der Friedhof liegt gerade der Wirtschaft gegenüber…«
»Das weiß ich«, hatte Studer unterbrochen, und ein unangenehmes Frösteln war ihm über den Rücken gelaufen. Eine Julinacht war nämlich in seiner Erinnerung auf gestiegen; ein Fremder hatte ihm damals diesen Mord prophezeit…
»Ah, das wissen Sie? Wer spricht eigentlich dort?«
»Wachtmeister Studer. Der Hauptmann ist beschäftigt.«
»Gut, gut! Der Studer! Ausgezeichnet! Kommen Sie sofort! Ich erwarte Sie auf dem Kirchhof…«
Studer seufzte zum vierten Male, hob seine mächtigen Schultern, kratzte seine dünne, spitze Nase und fluchte innerlich. Natürlich würde es diesmal gehen, wie all die anderen Male. Man war kein berühmter Kriminalist, obwohl man immerhin in früheren Zeiten viel studiert hatte. Wegen einer Intrigenaffäre verlor man die Stelle eines Kommissars an der Stadtpolizei, fing an der Kantonspolizei wieder an – und stieg in kurzer Zeit zum Wachtmeister auf. Obwohl man abgebaut worden war, obwohl man Feinde genug hatte, musste man stets einspringen, wenn es einen komplizierten Fall gab. So auch diesmal. Nach dem Telefongespräch hatte Studer dem Hauptmann Rapport erstattet und den Vorfall jener Julinacht erwähnt… »Geh nur, Studer! Aber komm erst zurück, wenn du etwas Sicheres weißt – wenn der Fall aufgeklärt ist. Verstanden?« – »Mira… Aaadiö!« Studer hatte sein Töff bestiegen, war losgefahren. Die Julinacht vor haargenau vier Monaten! In ihr hatte er jenen Fremden kennengelernt, der den Schweizer Namen Farny trug – und dieser Fremde war nun also tot…
»Sie können dem Himmel danken! Ja! Dem Himmel können Sie danken, Herr Statthalter Ochsenbein, dass ich meine Praxis nun bald aufgebe! Denn sonst müssten Sie mir Red’ und Antwort stehen! Lachen Sie nur… Sprengt man für einen offensichtlichen Selbstmord – ähämhäm –, alarmiert man für einen Selbstmord jawohl! die gesamte Kantonspolizei?«
Also sprach der ältere Herr (gelblichweiße Barthaare wucherten um seinen großen Mund); der elegante Glattrasierte hob abwehrend seine Hände, die in braunen Glacéhandschuhen steckten.
»Herr Doktor Buff, mäßigen Sie Ihre Rede! Schließlich bin ich Amtsperson…«
»Amtsperson!… Hahaha!… Da muss ja ein Ross lachen!« Warum sprechen die beiden eigentlich Schriftdeutsch? fragte sich Studer. »Sie halten sich für eine Amtsperson? Eine Amtsperson sieht auf den ersten Blick, dass es sich hier um einen Selbstmord handelt*, um einen Selbstmord*, Herr Statthalter Ochsenbein!«
»Um einen Mord! Jawohl, um einen Mord, Herr Doktor Buff! Wenn Sie in Ihrem Alter nicht einmal einen Mord von einem Selbstmord unterscheiden können…«
»In meinem Alter! In meinem Alter! Will so ein junges Mondkalb… Ja! Ein Mondkalb, ich beharre auf diesem Wort… mir altem Arzte erklären, wo es sich um einen Mord handelt und wo…«
»In meinen behördlichen Vorschriften steht, dass ich in Zweifelsfällen stets eine kriminalistisch geschulte Autorität…«
Studer hörte nicht mehr zu. Durch seinen Sinn spazierte ein Verslein:
Dinge gehen vor im Mond, Die das Mondkalb nicht gewohnt, Tulemond und Mondamin Liegen heulend auf den Knien…
Aber er rief sich selbst zur Ordnung, denn es schickte sich nicht, vor einer Leiche an lustige Gedichtlein zu denken.
Die Leiche: Das Gesicht war alt, ein weißer Schnurrbart fiel über die Mundwinkel, weich, wie eine jener Seidensträhnen, die Frauen zu feinen Handarbeiten gebrauchen. Die Augen geschlitzt… Es war der Mann, den Studer vor vier Monaten in einer Julinacht kennengelernt und den er vom ersten Augenblick an den ›Chinesen‹ genannt hatte.
Während der alte Landarzt, der in seinem abgetragenen Havelock einen arg verwahrlosten Eindruck machte, mit dem eleganten Statthalter weiter diskutierte, dachte der Wachtmeister zum dritten Male an diesem Morgen an jene Julinacht. Und wenn die Erinnerung an dieses merkwürdige Erlebnis die beiden anderen Male noch dunkel gewesen war, so wurde es jetzt klar, farbig, und auch die Worte, die damals gesprochen worden waren, begannen in Studers Ohren zu klingen…
Er fragte – und wie die Stimme eines Friedensengels klang die seine, als sie die schriftdeutsche Diskussion zweier Berner unterbrach: »Wer liegt hier begraben?«
Dr. Buff antwortete:
»Der Hausvater der Armenanstalt hat vor zehn Tagen seine Frau verloren…«
»Der Hausvater Hungerlott?«
Der Arzt nickte. Im Nacken und über den Ohren waren seine Haare allzulang.
»Wie wollen Sie erklären, Herr Doktor Buff«, sagte der Statthalter, »dass ein Selbstmörder sich ins Herz schießt, während die Kugel weder seinen Mantel noch seine Kutte, nicht einmal Hemd und Weste durchlöchert hat?… Ist das ein Selbstmord, Wachtmeister? Sie sehen es ja selbst. Die Kleider sind zugeknöpft. So haben wir die Leiche gefunden. Aber der Herzschuss ist da.«
Studer nickte verträumt.
»Und der Revolver?« krächzte Dr. Buff. »Liegt der Revolver nicht neben der rechten Hand des Toten? Ist das nicht ein Selbstmord?«
Studer sah die große Repetierpistole – und erkannte ihn wieder, diesen Colt. Er nickte, nickte –, und dann schwieg er fünf Minuten, weil die Nacht des 18. Juli wie ein Film durch seinen Sinn flimmerte…
Es war ein Zufall, dass Studer an jenem Abend in Pfründisberg abgestiegen war. In Olten hatte er vergessen zu tanken. Deshalb war er damals in der Wirtschaft ›zur Sonne‹ eingekehrt…
Er trat ein. An der Tür, die ins Nebenzimmer führte, stand ein Eisenofen, der silbern schimmerte, weil er mit Aluminiumfarbe bestrichen war. Vier Männer saßen um einen Tisch und jaßten. Studer schüttelte sich wie ein großer Neufundländer, denn auf seiner Lederjoppe lag viel Staub. Er nahm Platz in einer Ecke… Niemand kümmerte sich um ihn. Nach einer Weile fragte er, ob man hier eine Kanne Benzin haben könne. Einer der Jasser, ein uraltes Mannli in einer Weste mit angesetzten Leinenärmeln, sagte zu seinem Partner:
»Er wott es Chesseli Benzin…«
»Mhm… Er wott es Chesseli Benzin…«
Schweigen… Die Luft hockte dumpf und stickig im Raum, weil die Fenster geschlossen waren; durch die Scheiben sah man das grüngestrichene Holz der Läden. Studer wunderte sich, weil keine Serviertochter erschien, um nach seinen Wünschen zu fragen. Der Partner des Alten meinte:
»Du hescht d’Stöck nid g’schrybe.«
Der Wachtmeister stand auf und erkundigte sich, wo es hier auf die Laube gehe, denn in dem Zimmer war es erstens heiß und zweitens saß an dem Tische, wo gejaßt wurde, ein magerer Spitzbart, den Studer kannte: der Hausvater der Armenanstalt Pfründisberg, Hungerlott mit Namen… Ein unsympathischer Mensch, den man kennengelernt hatte, früher, als man noch Gefreiter an der Kantonspolizei war und Transporte vom Amtshaus nach Pfründisberg machen musste. Gerade heut abend hatte man gar keine Lust, mit diesem Hungerlott z’brichten…
»Nume de Gang hingere…«, sagte der Uralte und: – der Weg sei nicht zu verfehlen.
Als Studer ins Freie trat, atmete er auf, trotzdem die Luft schwül war. Am Horizont kauerten riesige Wolken, im Zenit hing ein winziger Mond, nicht größer als eine unreife Zitrone, und warf sein spärliches Licht über die Landschaft. Dann verschwand auch er, und in der Nähe war einzig hell erleuchtet das Erdgeschoss eines großen Baues, der etwa vierhundert Meter entfernt von der Wirtschaft sich erhob. Der Wachtmeister lehnte sich an das Geländer der Laube und blickte über das stille Land; dicht vor seinen Augen wuchs ein Ahorn – die Blätter des nächsten Astes waren so deutlich, dass man sie einzeln zählen konnte. Als er sich nach der Lichtquelle umwandte, sah er hinter den Scheiben eines Fensters, das auf die Laube ging, eine Lampe, die einen schreibenden Mann beschien. Keine Vorhänge vor den Scheiben… Der Mann saß an einem Tisch, ein Stapel von fünf Wachstuchheften erhob sich neben seinem rechten Ellbogen – der Mann war damit beschäftigt, ein sechstes Heft vollzuschreiben. Sonderbar… Wie kam ein fremder Gast dazu, in dem Krachen Pfründisberg seine Memoiren zu schreiben…?
Pfründisberg: eine Armenanstalt, eine Gartenbauschule, zwei Bauernhöfe. Das einzige, was dem Weiler Wichtigkeit gab, war die Tatsache, dass das Dorf Gampligen – zwei Kilometer weit entfernt – seine Toten in Pfründisberg begrub…
Dies alles ging Studer durch den Kopf, während er vor dem Fenster stand und dem einsamen Manne zusah, der unermüdlich in sein Wachstuchheft schrieb. Ein weißer Schnurrbart bedeckte seine Mundwinkel, die Backenknochen sprangen vor und die Augen sahen aus wie geschlitzt. Bevor er noch ein Wort mit dem Fremden gesprochen hatte, nannte ihn Studer bei sich: den ›Chinesen‹.
Und wahrscheinlich hätte der Wachtmeister an diesem Abend des 18. Juli gar nicht die Bekanntschaft des Mannes gemacht, wenn ihm nicht ein kleines Missgeschick passiert wäre. War es der Staub der Landstraße, war es eine beginnende Erkältung? Kurz, Studer musste niesen.
Die Reaktion des Fremden auf dieses unschuldige Geräusch war merkwürdig: Der Mann sprang auf, so eilig, dass sein Stuhl umfiel, seine rechte Hand fuhr in die Seitentasche der Hausjoppe aus Kamelhaar. In zwei seitlichen Sprüngen war er am Fenster und suchte dort Deckung in der Mauernische. Seine Linke griff nach dem Fensterriegel, riss die Flügel auf… Kurzes Schweigen; dann fragte der Mann: »Wer ist da?«
Studer war hell beleuchtet und seine massige Gestalt warf einen breiten Schatten auf die Laubenbrüstung.
»Ich«, sagte er.
»Antworten Sie nicht so dumm«, schnauzte der Fremde. »ich will wissen, wer Sie sind.«
Der Mann sprach das Deutsche mit englischem Akzent. Englisch? Merkwürdig war nur, dass unter dieser fremdländischen Aussprache etwas Heimatliches hervorlugte, das nicht genau zu bestimmen war. Vielleicht lag es an der Betonung des Wortes »will«, das der Mann wie »wiu« aussprach.
»Kantonspolizei Bern«, sagte Studer gemütlich.
»Legitimation.«
Studer zeigte sie schweren Herzens, denn die Fotografie, die auf diesem Ausweis klebte, hatte ihm immer Kummer bereitet. Er fand, er sehe aus auf ihr wie ein Seelöwe, der an Liebesgram leidet.
Der Fremde gab den Ausweis zurück. Die Situation war immer noch unangenehm, denn der Wachtmeister wusste genau, dass der Fremde in der Seitentasche seiner Joppe1 einen Revolver trug; und es war unangenehm zu denken, dass ein Bauchschuss drohte. Wie eine lästige Mücke hörte der Wachtmeister das Wort »Laparotomie« in seinem Kopfe surren und er atmete auf, als der Fremde endlich seine Rechte aus der Kuttentasche zog.
Nun fragte Studer bescheiden und übertrieben höflich, in sauberstem Hochdeutsch:
»Darf ich mir jetzt erlauben, Ihre Papiere zu verlangen?«
»Surely… sicher…«
Der Fremde trat an den Tisch, zog eine Schublade auf und kam mit einem Pass zurück.
Ein Schweizer Pass!… Ausgestellt für Farny James, heimatberechtigt in Gampligen, Kanton Bern; geboren am 13. März 1878, ausgestellt in Toronto, erneuert 1903 in Schanghai, erneuert in Sydney, erneuert in Tokio, erneuert… erneuert… erneuert… erneuert 1928 in Chicago, U.S.A.,… Grenzübertritt am 18. Februar 1931 in Genf…
»Seit fünf Monaten sind Sie wieder in der Schweiz, Herr Farny?« fragte Studer.
»Surely, fünf Monate. Habe die Heimat wieder sehen wollen…« Da war er wieder, der Laut! Der ›Chinese‹ sagte: ›He-imat‹ mit scharf getrenntem ›e-i‹, während ein Engländer das ›ai‹ sicher übertrieben hätte. »Sie sind… wie sagt man?… ein höherer Polizeibeamter? Ein… wie sagt man… Inspektor, nicht nur ein Policeman?«
»Wachtmeister«, sagte Studer gemütlich.
»Dann werden Sie zugezogen, wenn passiert zum Beispiel ein Mord?« – Studer nickte.
»Es kann nämlich möglich sein, dass ich ermordet werde«, sagte der ›Chinese‹. »Vielleicht heute, vielleicht morgen, vielleicht in einem Monat – und vielleicht geht es auch länger… Sie trinken?«
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Stille… Nun kauerten die Wolken nicht mehr am Horizont. Sie waren höher gestiegen und bedeckten den Himmel. Ein Blitz zerschnitt die Nacht, der Schlag, der folgte, war heftig und ging dann über in ein Poltern und Grollen, das sich hinter den Hügeln verlor. Aber offenbar hatte es Kurzschluss in der Leitung gegeben. Die Lampe im Zimmer des ›Chinesen‹ erlosch, doch auch gegen derartige Störungen war Herr Farny gewappnet, denn es vergingen kaum fünf Sekunden, bis der Lichtkegel einer Taschenlampe die Laube bestrich. Und Studer stellte fest, dass der fremde Gast die Lampe mit der linken Hand hielt, während seine Rechte den Kolben eines Miniaturmaschinengewehres umspannte. Noch ein Blitz – und dann, wie Beilschläge auf einen Buchenklotz, fielen die Tropfen auf die Blätter des Ahorns – zu zählen waren sie: fünf, sechs, sieben – wieder Stille – und endlich rauschte der Regen, auf stieg zur Laube der Geruch nassen Staubes und feuchten Holzes; dann dufteten Blumen.
Das Licht flammte auf; der ›Chinese‹ versorgte seine Waffe in der Schublade des Tisches, spülte das Glas, das auf seinem Waschtisch stand und füllte es mit einer gelben, scharfriechenden Flüssigkeit. Auf der Etikette der Flasche hatte sich ein weißes Pferd abgebildet. »Trinken Sie«, sagte der ›Chinese‹. »Guter Whisky! Sie können Vertrauen zu ihm haben.« Studer leerte das Glas zur Hälfte, dann musste er husten, was den ›Chinesen‹ zum Lachen brachte. »Stark? Nicht wahr? Ungewohnt? Aber doch besser als… wie sagen Sie… Bätziwasser?« Er nahm Studer das halbvolle Glas aus der Hand, trank es aus und meinte dann: »Jetzt, wir haben getrunken Bruderschaft. ›Bruder-Studer‹ klingt ganz gut, nicht wahr? Du wirst mich rächen, wenn ich einem Mörder zum Opfer falle.«
Der Berner Wachtmeister dachte, dass dieser Herr Farny ein wenig lätz gewickelt sei. Der Kinderreim: ›Bruder-Studer‹ ging ihm auf die Nerven. Außerdem war es unmöglich, sich von einem Unbekannten duzen zu lassen. Wie würde er dastehen, er, der Wachtmeister Studer von der kantonalen Fahndungspolizei, wenn sich dieser Farny James als ein Hochstapler entpuppte? Dann musste er ihn verhaften, natürlich, und der ›Chinese‹ würde nichts Eiligeres zu tun haben, als dem Untersuchungsrichter mitzuteilen, er stünde mit dem Polizisten, der ihn geschnappt habe, auf Du und Du. Als darum der Fremde das Wasserglas von neuem mit Whisky füllte und es dem Wachtmeister zum Trunke anbot, dankte Studer für die Ehre. Der ›Chinese‹ jedoch ließ sich durch diese Widerborstigkeit nicht stören, sondern meinte trocken:
»Du willst nicht trinken? Bruder-Studer? Dann trinke ich allein.« Und er leerte das Glas. »Aber«, fuhr der ›Chinese‹ fort, »ich will dich doch mit all jenen Menschen bekannt machen, die als meine Mörder in Frage kommen.«
Einen Augenblick dachte Studer daran, an die Waldau zu telefonieren, denn dieser Herr Farny litt offenbar an Verfolgungswahn. Dann ließ er das Projekt jedoch fallen und erklärte sich bereit, dem ›Chinesen‹ zu folgen. Dieser nahm nicht den natürlichen Weg durch die Zimmertür, sondern turnte durch das Fenster auf die Laube hinaus, packte den Wachtmeister beim Arm und zog ihn mit sich. Und Studer stellte erstaunt fest, dass sein Begleiter aufgeregt war; sehr deutlich fühlte er, dass die Finger seines Begleiters zitterten; sie trommelten leise auf dem Leder seiner Joppe.
Herr James Farny führte den Wachtmeister in einen anderen, ziemlich besetzten Raum. Das Zimmer mit dem silbern schimmernden Aluminiumöfeli war wohl der Privatsalon des Wirtes gewesen. In der Gaststube, welche die beiden jetzt betraten, saßen vier Männer, alt, in schmierigen blauen Überkleidern, in der Nähe der Tür um einen Tisch, auf dem eine Zweideziguttere, gefüllt mit einer hellgelben Flüssigkeit, stand. Beim Fenster hockten fünf andere Gestalten, gleich gekleidet, in verschmierte blaue Overalls, und auch vor diesen Männern standen niedere, dickwandige Gläschen…
»Bätziwasser«, sagte Herr Farny verächtlich.
Um einen runden Tisch, in der Mitte des Raumes, saßen fünf junge Burschen in städtischer Kleidung mit unwahrscheinlich bunten Krawatten unter schiefsitzenden Umlegekragen. Einer war unter ihnen, der Studer von Anbeginn an auffiel. Er sah älter aus als seine Genossen. Aus einem magern Gesicht ragte eine spitze Nase, die so lang war, dass sie wie verzeichnet aussah. Die fünf Burschen tranken Bier. Hinter dem Schanktisch hockte die Serviertochter und lismete. Zwei dicke braune Zöpfe lagen um ihren Kopf wie ein merkwürdiger Kranz. Herr Farny steuerte auf den Tisch zu, der neben dem der jungen Burschen stand. Dort trank ein alter Bauer gemütlich ein Zweierli Wein.
»Und, Schranz? Wie geht’s?« fragte der ›Chinese‹ den Alten.
»Mhm!« brummte der Alte.
»Was macht Brönnimann?«
»Jasse…« Herr Farny nahm Platz und auch Studer setzte sich. Es war durchaus ungemütlich in dem Raum. Eine Spannung herrschte, deren Ursprung man nicht recht feststellen konnte. Die vier Blaugekleideten an der Tür, die fünf in den schmierigen Überkleidern am Fenster blickten auf die zwei neu Eingetretenen, und ihre Münder waren mit Hohn verschmiert.
Nicht das Gewitter verursachte die Spannung, auch nicht die elegante Kleidung des Herrn Farny. – Deutlich hörte Studer das Wort ›Schroterei‹, aber er wusste nicht, an welchem Tisch es ausgesprochen worden war.
Übrigens, woher hatten die Leute schon erfahren, dass ein Polizist unter ihnen war? Natürlich! Das Polizeischild am Töff. Aber… Warum fürchteten die Armenhäusler die Polizei? Und warum die städtisch gekleideten Jünglinge mit den schiefen Umlegekragen, die sicher der Gartenbauschule angehörten?
»Kognak!« rief Herr Farny. »Huldi, zwei Kognak! Aber vom Guten!« Die Saaltochter kam schüchtern näher. Auffallend war die Farbe ihrer Gesichtshaut. Es sah aus, als sei die Haut mit Schimmel überzogen.
»G’wüss, Herr Farny!« und »Gärn!« sagte die Tochter.
Aber es gelang ihr nicht, die Bestellung auszuführen, denn plötzlich begannen die vier am Tisch bei der Tür nach der Melodie: »Wir wollen keine Schwaben in der Schweiz!« zu gröhlen: »Wir wollen keine Tschucker uff em Bärg, Tschucker uff em Bärg, Tschucker uff em Bärg!« Sie standen auf. Der eine nahm die Zweideziguttere, die anderen bewaffneten sich mit den dickwandigen Schnapsgläslein – und so, von zwei Seiten, rückten sie gegen den Tisch des Wachtmeisters vor und sangen dazu ihr blödes Lied.
Der ›Chinese‹ balancierte auf den Hinterbeinen seines Stuhles und seine roten Lederpantoffeln baumelten auf den Zehen. Ihm schien die ganze Sache großen Spaß zu machen.
»Angst, Inspekteur?« fragte er und streichelte die weiche Seidensträhne, die seinen Mundwinkel verdeckte.
Studer hob seine mächtigen Achseln. Als aber auch die Gartenbauschüler sich am Krach beteiligen wollten, als der Bursche mit der verzeichneten Nase eine Bierflasche packte, um sich den Armenhäuslern anzuschließen, sagte James Farny, befehlend, wie man zu einem Hunde spricht:
»Kusch, Äbi!« Der Bursche setzte sich wieder. Studer hockte auf seinem Stuhl, die Beine gespreizt, die Ellbogen auf den Schenkeln, die Hände gefaltet; sein Rücken war rund. Und in Wirklichkeit hatte er auch nichts zu fürchten, denn plötzlich ging die Tür zum Nebenzimmer auf und die vier Jasser erschienen.
Es war merkwürdig, sie – einen nach dem anderen – eingerahmt von der Türe zu sehen: Jeder wirkte wie ein Bild für sich.
Herr Hungerlott erschien zuerst und zögerte, bevor er die Schwelle überschritt; der Bocksbart am Kinn machte sein Gesicht spitz.
»Was ist das für ein Krach! Schon wieder schnapsen! Und ich hab’s doch streng verboten!«
Die alten Männer mit den schmierigen Überkleidern drückten sich gegen die Türe – nun stand Herr Hungerlott im Schein der Lampe:
»Ah! Der Herr Wachtmeister!? Wie geht’s, wie geht’s?«
Studer murmelte etwas Unverständliches.
Eine zweite Gestalt, massig, mit aufgekrempelten Hemdsärmeln über blondbehaarten Armen, stand im Rahmen der Tür und kolderte los:
»Wie oft habe ich schon gesagt, Ihr sollt am Abend nicht in die Wirtschaft kommen? Hä? Könnt Ihr nicht folgen? So, aber jetzt heim! Marsch-marsch!« Das musste der Direktor der Gartenbauschule sein. Ein dreifaches Kinn sickerte über sein rohseidenes Hemd, auf seinem gewölbten Bäuchlein baumelte eine Kette aus Weißgold und in den Ringfinger der Rechten war der Ehering tief eingegraben.
Die Schüler verschwanden…
Und nun erst erschien der Uralte, gebeugt und keuchend. Er krächzte:
»Was hat es gegeben, Huldi? Hast mich nicht rufen können?« Dann machte ein Hustenanfall seinen Fragen ein Ende. Ihm auf dem Fuße folgte sein Partner beim Jassen, der Bauer Gerber, und so unscheinbar war dieses Männlein, dass niemand ihm Beachtung schenkte.
In dem fast leeren Raume schwebte als einzige Erinnerung an die Armenhäusler der Geruch von Bätziwasser und schlechtem Tabak. Aber auch dieser schwand, als die Serviertochter auf den Befehl des Direktors ein Fenster öffnete: Die vom Gewitterregen gereinigte Luft strömte ins Zimmer…
Und dann geschah ein Wunder. Plötzlich standen auf dem Mitteltisch sechs Gläser aus Kristallglas (Kristallglas in einer kleinen Beize!). Herr Farny schenkte ein und, mit einem Augenzwinkern zum Wachtmeister, stellte er vor:
»Herrn Hungerlott, den Hausvater der Armenanstalt, kennen Sie schon, Herr Inspektor… aber hier, darf ich Ihnen vorstellen: Herr Ernst Sack-Amherd, Direktor der Gartenbauschule Pfründisberg. Weiter: Herr Alfred Schranz, Landwirt; Herr Albert Gerber, Landwirt; die Serviertochter Hulda Nüsch. Und als letzter: unser allverehrter Rudolf Brönnimann, Wirt des Gasthofes ›zur Sonne‹… – Und hier unser Inspektor Jakob Studer… Wir wollen anstoßen!«
Studer erinnerte sich, damals gedacht zu haben, dieser Herr Farny müsse ein ausgezeichnetes Namensgedächtnis haben, denn: er hatte des Wachtmeisters Legitimation nur kurz gesehen und nicht nur an seinen Familiennamen erinnerte er sich, sondern auch an seinen Vornamen. Doch seinen Reim: ›Bruder-Studer‹ hatte er vergessen, denn er duzte seinen Gast nicht mehr…
»Es ist ein Elend«, sprach der Hausvater Hungerlott, »man kann den Leuten das Schnapsen nicht abgewöhnen. Ich möchte Euch bitten, Wachtmeister, das, was Ihr hier gesehen habt, in Bern nicht weiter zu erzählen… Schließlich und endlich, die Leute arbeiten die ganze Woche, am Samstag bekommt jeder ein Fränkli und ein Päckli Tabak. Das muss für die nächstfolgenden acht Tage langen. Was tun die Leute, um ihr Elend zu vergessen?… Kognak ist ihnen zu teuer, darum saufen sie Bätziwasser. Der Pauperismus, Herr Wachtmeister, ist der Aussatz unserer Gesellschaft. Muss ich Ihnen das Wort ›Pauperismus‹ erklären?«
Studer blickte vor sich auf den Tisch. Er hatte einen nichtssagenden Gesichtsausdruck aufgesetzt, der wie eine Maske wirkte. Jetzt hob er die Augen und sein Blick war leer.
»Pauper«, dozierte der Hausvater, »heißt ›arm‹ auf lateinisch. Der Pauperismus beschäftigt sich mit dem Probleme der Armut. Bei uns kommt natürlich noch die ganze Frage des Fürsorgewesens hinzu, die ebenso kompliziert ist wie…«
»Aber du hescht d’Stöck nid gschrybe, im letschte Gang!« unterbrach hier der Landwirt Gerber. Brönnimann begehrte auf: Woll, er habe sie geschrieben, das sei eine verdammte Lüge… Und Studer sagte, dass er schon lange eine Kanne Benzin verlangt habe, ob es nicht möglich sei, sie endlich zu bekommen?
– Exakt! Der Mann habe Benzin verlangt, unterstützte Gerber des Wachtmeisters Reklamation.
Einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann sagte der Direktor der Gartenbauschule, Herr Sack-Amherd: – Ja, es sei auch nicht immer einfach mit den angehenden Gärtnern… meistens hätten die Burschen schon selbstständig gearbeitet und keinen Sinn für Disziplin.
»Was soll ich aber dann sagen?« mischte der Hausvater Hungerlott sich wieder in das Gespräch. »Alles wird mir zugewiesen, was man nicht gut nach Witzwil, nach Thorberg oder nach Hansen schicken kann. Leute sind darunter, die mindestens zehn Jahre Gefängnis auf dem Buckel haben, beschäftigen muss ich sie, aber Sie sollten die Reklamationen hören, Herr Wachtmeister! – Für nüt müssten sie arbeiten; durch ihre Arbeit könnten die großen Herren ein schönes Leben führen – und dabei, ich will ganz offen zu Ihnen sein, gelingt es uns nicht einmal, die Unkosten herauszuwirtschaften. Jährlich muss der Staat zum mindesten – ich sage zum mindesten! – zwanzigtausend Franken draufzahlen, sonst würde es mit unserer Abrechnung bös hapern. Ich komme mir bald vor wie ein Reisender, sogar ein Auto habe ich mir angeschafft und muss nun die Kundschaft abklopfen. Die Konkurrenz der anderen staatlichen Anstalten! Das ist das Übel! Die Irrenanstalten, die Strafanstalten, sie alle liefern Heimarbeit – und so kommen wir zu dem blöden Zustand, dass eine Anstalt der anderen versucht, die Kunden wegzu…«
»Er hed es Chesseli Benzin welle«, unterbrach der Bauer Gerber. – Er gehe ja schon, er gehe ja schon! keifte der Wirt Brönnimann und humpelte zum Saal hinaus.
Die Zurückbleibenden stießen miteinander an, tranken, schwiegen; dann begann der Direktor der Gartenbauschule, Herr Sack-Amherd, ebenfalls bitter über die Regierung zu klagen: – Früher, ja früher hätten die Bauern revolutioniert, weil man ihnen den Zehnten abverlangt habe. Und heutzutage? Da reklamiere niemand, wenn man zwölf bis vierzehn Prozent Einkommensteuer abladen müsse. Ja: zwölf bis vierzehn Prozent! Das sei nach seiner bescheidenen Ansicht mehr als der Zehnte! Aber wer wage gegen die Übergriffe – die Finanzübergriffe – zu reklamieren? – Niemand! Und warum…?
In der Tür erschien der Wirt Brönnimann. – Er habe no-n-es Chesseli Benzin uftriebe chönne. Der Wachtmeister solle cho lüge, aber e chli pressiere…!
Zugleich mit Studer erhob sich Herr Farny. Er wolle den Gast noch hinausbegleiten, sagte er. Allgemeines Verabschieden… Der Händedruck des Hausvaters Hungerlott war reichlich klebrig. Es war, als könne er seine Finger gar nicht mehr von Studers Hand lösen. Herr Sack-Amherd verabschiedete sich merklich kürzer und die beiden Bauern, Gerber und Schranz, ließen nur ein undeutliches Murmeln hören. Dann stand Studer unten an den ausgetretenen Stufen. Der Wirt Brönnimann verschwand in einem Schopf, um, wie er sagte, dort Benzin zu holen – und neben dem Wachtmeister blieb allein der ›Chinese‹ zurück.
»Sie haben sie nun alle gesehen, Inspektor«, sagte Herr Farny. »Fast alle. Denn soviel ich heute erfahren habe, ist noch ein Bursche im Haus, den ich Ihnen nicht habe vorstellen können. Er fürchtet sich vor der Polizei, verstehen Sie? Aber sonst… Wie gesagt: Es waren fast alle anwesend.«
Herr Farny schwieg einen Augenblick, dann hob er mit einem Ruck den Kopf und blickte dem Wachtmeister in die Augen. Die Lampe, die über der Eingangstüre zur Wirtschaft hing – und über ihr baumelte und glänzte das Schild, das mit feinen strähnigen Strahlen die Sonne darstellen sollte –, beschien die Gesichter der beiden von oben und warf schwarze Flächen auf sie. Der ›Chinese‹ legte seine leichte Greisenhand auf die mächtige Schulter des Wachtmeisters und sagte:
»Sie werden mich also rächen.«
Schweigen…! Der Blick des Fremden senkte sich nicht.
»Rächen!« wiederholte Herr Farny. »Sie werden meinen, Inspektor, das sei kindisch. Vielleicht, Sie haben recht! Aber ich will nicht, dass er hat den Triumph.«
»Er?« wiederholte der Wachtmeister fragend. »Welcher er?«