Friedrich Glauser – Wachtmeister Studer - Friedrich C. Glauser - E-Book

Friedrich Glauser – Wachtmeister Studer E-Book

Friedrich C. Glauser

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Beschreibung

Glauser ist nach der Auffassung von Erhard Jöst "einer der wichtigsten Wegbereiter des modernen Kriminalromans". Seine Haupfigur steht in einer Tradition von Dürrenmatts Bärlach. Bei einer Umfrage im Jahr 1990 unter 37 Krimifachleuten nach dem "besten Kriminalroman aller Zeiten" landete Wachtmeister Studer als bester deutschsprachiger Krimi auf Platz 4. Alle Romane mit dem unorthodoxen Alpen-Columbo. - Wachtmeister Studer Die Fieberkurve Matto regiert Der Chinese Krock & Co. Null Papier Verlag

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Friedrich Glauser

Wachtmeister Studer

Sammlung

Friedrich Glauser

Wachtmeister Studer

Sammlung

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 1. Auflage, ISBN 978-3-962816-31-5

null-papier.de/657

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Wacht­meis­ter Stu­der

Die Fie­ber­kur­ve

Mat­to re­giert

Der Chi­ne­se

Krock & Co

Li­te­ra­tur­ver­zeich­nis

In­dex

Dan­ke

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Wachtmeister Studer

Autor

Fried­rich Charles Glau­ser (✳ 4. Fe­bru­ar 1896 in Wien; † 8. De­zem­ber 1938 in Ner­vi bei Ge­nua) war ein Schwei­zer Schrift­stel­ler. Er gilt als ei­ner der ers­ten deutsch­spra­chi­gen Kri­mi­au­to­ren.

Schrift­stel­ler zu sein, hieß für Fried­rich Glau­ser zu­nächst, Ge­dich­te zu schrei­ben. In der ly­ri­schen Form glaub­te er, sein in­ne­res Er­le­ben aus­drücken zu kön­nen. Vor­bil­der wa­ren für ihn Sté­pha­ne Mall­ar­mé und Ge­org Trakl; der Ton ent­spricht dem ex­pres­sio­nis­ti­schen Te­nor der Zeit am Ende des Ers­ten Welt­krie­ges. Doch kei­ner die­ser Tex­te wur­de ge­druckt. Für die Samm­lung sei­ner Ge­dich­te, die Glau­ser 1920 zu­sam­men­stell­te, fand sich kein Ver­le­ger. Sei­ne Ge­dich­te wur­den da­her erst post­hum ver­öf­fent­licht.

In den letz­ten drei Le­bens­jah­ren schrieb Glau­ser fünf Kri­mi­nal­ro­ma­ne, in de­ren Mit­tel­punkt Wacht­meis­ter Stu­der steht, ein ei­gen­sin­ni­ger Kri­mi­nal­po­li­zist mit Ver­ständ­nis für die Ge­fal­le­nen der Ge­sell­schaft.

Der Kri­mi­nal­ro­man »Mat­to re­giert« spielt in ei­ner psych­ia­tri­schen Kli­nik und man merkt ihm ge­nau­so wie den an­de­ren Ro­ma­nen an, dass der Au­tor ei­ge­ne Er­leb­nis­se ver­ar­bei­tet hat. Mit ein­dring­li­chen Mi­lieu­stu­di­en und pa­cken­den Schil­de­run­gen der so­zi­al­po­li­ti­schen Si­tua­ti­on ge­lingt es ihm, den Le­ser in sei­nen Bann zu schla­gen.

Glau­ser ist nach der Auf­fas­sung von Er­hard Jöst »ei­ner der wich­tigs­ten Weg­be­rei­ter des mo­der­nen Kri­mi­nal­ro­mans«. Sei­ne Ro­ma­ne und drei wei­te­re Bän­de mit Pro­sa­tex­ten wur­den zwi­schen 1936 und 1945 ver­öf­fent­licht.

Glau­sers Nach­lass be­fin­det sich im Schwei­ze­ri­schen Li­te­ra­tu­rar­chiv in Bern.

Bei ei­ner Umfrage im Jahr 1990 un­ter 37 Kri­mi­fach­leu­ten nach dem »bes­ten Kri­mi­nal­ro­man al­ler Zei­ten« lan­de­te Wacht­meis­ter Stu­der als bes­ter deutsch­spra­chi­ger Kri­mi auf Platz 4.

Einer will nicht mehr mitmachen

Der Ge­fan­ge­nen­wär­ter mit dem drei­fa­chen Kinn und der ro­ten Nase brumm­te et­was von »ewi­gem G’­stürm«, – weil ihn Stu­der vom Mit­ta­ges­sen weg­hol­te. Aber Stu­der war im­mer­hin ein Fahn­der­wacht­meis­ter von der Ber­ner Kan­tons­po­li­zei, und so konn­te man ihn nicht ohne wei­te­res zum Teu­fel ja­gen.

Der Wär­ter Liech­ti stand also auf, füll­te sein Was­ser­glas mit Rot­wein, leer­te es auf einen Zug, nahm einen Schlüs­sel­bund und kam mit zum Häft­ling Schlumpf, den der Wacht­meis­ter vor knapp ei­ner Stun­de ein­ge­lie­fert hat­te.

Gän­ge… Dunkle lan­ge Gän­ge… Die Mau­ern wa­ren dick. Das Schloss Thun schi­en für Ewig­kei­ten ge­baut. Über­all hock­te noch die Käl­te des Win­ters.

Es war schwer, sich vor­zu­stel­len, dass drau­ßen ein war­mer Mai­en­tag über dem See lag, dass in der Son­ne Leu­te spa­zie­ren gin­gen, un­be­schwert, dass an­de­re in Boo­ten auf dem Was­ser schau­kel­ten und sich die Haut braun bren­nen lie­ßen.

Die Zel­len­tü­re ging auf. Stu­der blieb einen Au­gen­blick auf der Schwel­le ste­hen. Zwei waag­rech­te, zwei senk­rech­te Ei­sen­stan­gen durch­kreuz­ten das Fens­ter, das hoch oben lag. Der Dach­first ei­nes Hau­ses war zu se­hen – mit al­ten, schwar­zen Zie­geln – und über ihm weh­te als blen­dend blau­es Tuch der Him­mel. Aber an der un­te­ren Ei­sen­stan­ge hing ei­ner! Der Le­der­gür­tel war fest ver­knüpft und bil­de­te einen Kno­ten. Dun­kel hob sich ein schie­fer Kör­per von der weiß­ge­kalk­ten Wand ab. Die Füße ruh­ten merk­wür­dig ver­dreht auf dem Bett. Und im Na­cken des Er­häng­ten glänz­te die Gür­tel­schnal­le, weil ein Son­nen­strahl sie von oben traf.

»Herr­gott!« sag­te Stu­der, schoss vor, sprang aufs Bett – und der Wär­ter Liech­ti wun­der­te sich über die Be­weg­lich­keit des äl­te­ren Man­nes – pack­te den Kör­per mit dem rech­ten Arm, wäh­rend die lin­ke Hand den Kno­ten auf­knüpf­te.

Stu­der fluch­te, weil er sich einen Na­gel ab­ge­bro­chen hat­te. Dann stieg er vom Bett und leg­te den leb­lo­sen Kör­per sanft nie­der.

»Wenn Ihr nicht so ver­dammt rück­stän­dig wä­ret«, sag­te Stu­der, »und we­nigs­tens Draht­git­ter vor den Fens­tern an­brin­gen wür­det, dann könn­ten sol­che Sa­chen nicht pas­sie­ren. – So! Aber jetzt spring, Liech­ti, und hol den Dok­tor!«

»Ja, ja!« sag­te der Wär­ter ängst­lich und hum­pel­te da­von.

Zu­erst mach­te der Fahn­der­wacht­meis­ter künst­li­che At­mung. Es war wie ein Re­flex. Et­was, das aus der Zeit stamm­te, da er einen Sa­ma­ri­ter­kurs mit­ge­macht hat­te. Und erst nach fünf Mi­nu­ten fiel es Stu­der ein, das Ohr auf die Brust des Lie­gen­den zu le­gen und zu lau­schen, ob das Herz noch schla­ge. Ja, es schlug noch. Lang­sam. Es klang wie das Ti­cken ei­ner Uhr, die man ver­ges­sen hat auf­zu­zie­hen; Stu­der pump­te wei­ter mit den Ar­men des Lie­gen­den. Un­ter dem Kinn durch, von ei­nem Ohr zum an­de­ren, lief ein ro­ter Strei­fen.

»Aber Schlumpf­li!« sag­te Stu­der lei­se. Er nahm sein Nas­tuch aus der Ta­sche, wisch­te sich zu­erst selbst die Stir­ne ab, dann fuhr er mit dem Tuch über das Ge­sicht des Bur­schen. Ein Bu­ben­ge­sicht: jung, zwei di­cke Fal­ten über der Na­sen­wur­zel. Trot­zig. Und sehr bleich.

Das war also der Schlumpf Er­win, den man heut mor­gen in ei­nem Kra­chen des Obe­raar­g­aus ver­haf­tet hat­te. Schlumpf Er­win, an­ge­klagt des Mor­des an Wit­schi Wen­de­lin, Kauf­mann und Rei­sen­der in Ger­zen­stein.

Zu­fall, dass man zur rech­ten Zeit ge­kom­men war! Vor ei­ner Stun­de etwa hat­te man den Schlumpf ord­nungs­ge­mäß im Ge­fäng­nis ein­ge­lie­fert, der Wär­ter mit dem drei­fa­chen Kinn hat­te un­ter­schrie­ben – man konn­te ge­trost den Zug nach Bern neh­men und die gan­ze Sa­che ver­ges­sen. Es war nicht die ers­te Ver­haf­tung, die man vor­ge­nom­men hat­te, es wür­de auch nicht die letz­te sein. Wa­rum hat­te man das Be­dürf­nis ver­spürt den Schlumpf Er­win noch ein­mal zu be­su­chen?

Zu­fall?

Vi­el­leicht… Was ist schon Zu­fall?… Es war nicht zu leug­nen, dass man dem Schick­sal des Schlumpf Er­win teil­nahms­voll ge­gen­über­stand. Rich­ti­ger ge­sagt, dass man den Schlumpf Er­win lieb­ge­won­nen hat­te… Wa­rum?… Stu­der in der Zel­le strich sich ein paar Male mit der fla­chen Hand über den Na­cken. Wa­rum? Weil man kei­nen Sohn ge­habt hat­te? Weil der Ver­haf­te­te auf der gan­zen Rei­se sei­ne Un­schuld be­teu­ert hat­te? Nein. Un­schul­dig sind sie alle. Aber die Be­teue­run­gen des Schlumpf Er­win hat­ten ehr­lich ge­klun­gen. Ob­wohl…

Ob­wohl der Fall ei­gent­lich ganz klar lag. Den Kauf­mann und Rei­sen­den Wen­de­lin Wit­schi hat­te man am Mitt­woch­mor­gen mit ei­nem Ein­schuss hin­ter dem rech­ten Ohr, auf dem Bau­che lie­gend, in ei­nem Wal­de in der Nähe von Ger­zen­stein auf­ge­fun­den. Die Ta­schen der Lei­che wa­ren leer… Die Frau des Er­mor­de­ten hat­te be­haup­tet, ihr Mann habe drei­hun­dert Fran­ken bei sich ge­tra­gen.

Und am Mitt­wo­cha­bend hat­te Schlumpf im Gast­hof zum ›Bä­ren‹ eine Hun­der­ter­no­te ge­wech­sel­t… Am Don­ners­tag­mor­gen woll­te ihn der Land­jä­ger ver­haf­ten, aber Schlumpf war ge­flo­hen.

So war es eben ge­kom­men, dass der Po­li­zei­haupt­mann am Don­ners­tag­abend den Wacht­meis­ter Stu­der in sei­nem Büro auf­ge­sucht hat­te:

»Stu­der, du musst an die fri­sche Luft. Mor­gen früh gehst du den Schlumpf Er­win ver­haf­ten. Es wird dir gut tun. Du wirst zu dick…«

Es stimm­te, lei­der… Ge­wiss, sonst schick­te man zu sol­chen Ver­haf­tun­gen Ge­frei­te. Es hat­te den Fahn­der­wacht­meis­ter ge­trof­fen… Auch Zu­fall?… Schick­sal?… Ge­nug, man war an den Schlumpf ge­ra­ten, und man hat­te ihn lieb­ge­won­nen. Eine Tat­sa­che! Mit Tat­sa­chen, auch wenn sie nur Ge­füh­le be­tref­fen, muss man sich ab­fin­den. Der Schlumpf! Si­cher­lich kein wert­vol­ler Mensch! Man kann­te ihn auf der Kan­tons­po­li­zei. Ein Une­he­li­cher. Die Be­hör­de hat­te sich fast stän­dig mit ihm be­schäf­ti­gen müs­sen. Si­cher wo­gen die Ak­ten auf der Ar­men­di­rek­ti­on min­des­tens an­dert­halb Kilo. Le­bens­lauf? Ver­ding­bub bei ei­nem Bau­ern. Dieb­stäh­le. – Vi­el­leicht hat er Hun­ger ge­habt? Wer kann das hin­ter­drein noch fest­stel­len? – Dann ging es, wie es in sol­chen Fäl­len im­mer geht. Er­zie­hungs­an­stalt Tes­sen­berg. Aus­bruch. Dieb­stahl. Wie­der ge­fasst. Ge­prü­gelt. End­lich ent­las­sen. Ein­bruch. Witz­wil. Ent­las­sen. Ein­bruch. Thor­berg drei Jah­re. Ent­las­sen. Und dann hat­te es Ruhe ge­ge­ben – zwei vol­le Jah­re. Der Schlumpf hat­te in der Baum­schu­le El­len­ber­ger in Ger­zen­stein ge­ar­bei­tet. Sech­zig Rap­pen Stun­den­lohn. Hat­te sich in ein Mäd­chen ver­liebt. Die bei­den woll­ten hei­ra­ten. Hei­ra­ten! Stu­der schnaub­te durch die Nase. So ein Bursch und hei­ra­ten! Und dann war der Mord an dem Wen­de­lin Wit­schi pas­sier­t…

Es war ja be­kannt, dass der alte El­len­ber­ger in sei­nen Baum­schu­len mit Vor­lie­be ent­las­se­ne Sträf­lin­ge an­stell­te. Nicht nur, weil sie bil­li­ge Ar­beits­kräf­te wa­ren, nein, der El­len­ber­ger schi­en sich in ih­rer Ge­sell­schaft wohl­zu­füh­len. Nun, je­der Mensch hat sei­nen Spar­ren, und es war nicht zu leug­nen, dass die Rück­fäl­li­gen sich ganz gut hiel­ten beim al­ten El­len­ber­ger… Und nur weil der Schlumpf am Mitt­wo­cha­bend eine Hun­der­ter­no­te im Bä­ren ge­wech­selt hat­te, soll­te er den Raub­mord be­gan­gen ha­ben?… Der Bur­sche hat­te das so er­klärt: es sei er­spar­tes Geld ge­we­sen, er habe es bei sich ge­tra­gen…

Cha­bis!… Er­spart!… Bei sech­zig Rap­pen Stun­den­lohn? Das mach­te im Mo­nat rund hun­dert­fünf­zig Fran­ken… Zim­mer­mie­te drei­ßig… Es­sen? – Zwei Fran­ken fünf­zig am Tag für einen Schwer­ar­bei­ter war we­nig ge­rech­net. Fün­fund­sieb­zig und drei­ßig macht hun­dert­fünf, Wä­sche fünf – Zi­ga­ret­ten, Wirt­schaft, Tanz, Haar­schnei­den, Bad – Blie­ben im bes­ten Fal­le fünf Fran­ken im Mo­nat. Und dann soll­te er in zwei Jah­ren drei­hun­dert Fran­ken er­spart ha­ben? Un­mög­lich! Das Geld bei sich ge­tra­gen ha­ben? Psy­cho­lo­gisch un­denk­bar. Sol­che Leu­te kön­nen kein Geld in der Ta­sche tra­gen, ohne es zu ver­put­zen… Auf der Bank? Vi­el­leicht. Aber nur so in der Brief­ta­sche?…

Und doch, der Schlumpf hat­te drei­hun­dert Fran­ken bei sich ge­habt. Nicht ganz. Zwei Hun­der­ter­no­ten und etwa acht­zig Fran­ken. Stu­der sah das Ein­lie­fe­rungs­pro­to­koll, das er un­ter­zeich­net hat­te:

»Por­te­mon­naie mit In­halt: 282 Fr. 25.«

Al­so… Es stimm­te al­les! So­gar der Flucht­ver­such im Bahn­hof Bern. Ein dum­mer Flucht­ver­such! Kin­disch! Und doch so be­greif­lich! Dies­mal lang­te es ja für le­bens­läng­lich…

Stu­der schüt­tel­te den Kopf. Und doch! Und doch! Et­was stimm­te nicht an der gan­zen Sa­che. Vo­rerst war es nur ein Ein­druck, ein ge­wis­ses un­an­ge­neh­mes Ge­fühl. Und der Fahn­der­wacht­meis­ter frös­tel­te. Die­se Zel­le war kalt. Kam denn der Dok­tor nicht bald?

Woll­te der Schlumpf ei­gent­lich gar nicht auf­wa­chen?… Ein tiefer Atem­zug hob die Brust des Lie­gen­den, die ver­dreh­ten Au­gen ka­men in die rich­ti­ge Stel­lung und Schlumpf sah den Wacht­meis­ter an. Stu­der fuhr zu­rück.

Ein un­an­ge­neh­mer Blick. Und jetzt öff­ne­te Schlumpf den Mund und schrie. Ein hei­se­rer Schrei – Schre­cken, Ab­wehr, Furcht, Ent­set­zen… Viel lag in dem Schrei. Er woll­te nicht en­den.

»Still! Willst still sein!« flüs­ter­te Stu­der. Er be­kam Herz­klop­fen. Schließ­lich tat er das ein­zig mög­li­che: er leg­te sei­ne Hand auf den lau­ten Mun­d…

»Wenn du still bist«, sag­te der Wacht­meis­ter, »dann bleib ich noch eine Wei­le bei dir, und du kannst eine Zi­ga­ret­te rau­chen, wenn der Dok­tor fort ist. Hä? Ich bin doch noch zur rech­ten Zeit ge­kom­men…« und ver­such­te ein Lä­cheln.

Aber das Lä­cheln wirk­te auf den Schlumpf durch­aus nicht an­ste­ckend. Zwar sein Blick wur­de sanf­ter, aber als Stu­der sei­ne Hand vom Mun­de fort­nahm, sag­te Schlumpf lei­se:

»Wa­rum habt Ihr mich nicht hän­gen las­sen, Wacht­meis­ter?«

Schwer auf die­se Fra­ge eine rich­ti­ge Ant­wort zu fin­den! Man war doch kein Pfar­rer…

Es war still in der Zel­le. Drau­ßen tschilp­ten Spat­zen. Im Hof un­ten sang ein klei­nes Mäd­chen mit dün­ner Stim­me:

»O du liebs En­ge­li, Ros­marins­ten­ge­li, Al­li­weil, al­li­weil, blib i dir treu…«

Da sag­te Stu­der und sei­ne Stim­me klang hei­ser:

»Eh, du hast mir doch er­zählt, dass du hei­ra­ten willst? Das Meit­schi… es wird doch zu dir hal­ten, oder? Und wenn du sagst, du bist un­schul­dig, so ist’s doch gar nicht si­cher, dass du ver­ur­teilt wirst. Und du kannst dir doch den­ken, dass ein Selbst­mord­ver­such die größ­te Dumm­heit ge­we­sen ist, die du hast ma­chen kön­nen. Das wird dir als Ge­ständ­nis aus­ge­leg­t…«

»Es war doch kein Ver­such. Ich hab wirk­lich…«

Aber Stu­der brauch­te nicht zu ant­wor­ten. Es ka­men Schrit­te den Gang ent­lang, der Wär­ter Liech­ti sag­te »Da drin ist er, Herr Dok­tor.«

»Scho wie­der z’wäg?« frag­te der Dok­tor und griff nach Schlumpfs Hand­ge­lenk. »Künst­li­che At­mung? Fein!«

Stu­der stand vom Bett auf und lehn­te sich ge­gen die Wand.

»Ja, also«, sag­te der Dok­tor. »Was ma­chen wir mit ihm? Selbst­ge­fähr­lich! Sui­ci­dal! Na ja, das kennt man. Wir wer­den eine psych­ia­tri­sche Ex­per­ti­se ver­lan­gen… Nicht wahr?«

»Herr Dok­tor, ich will nicht ins Ir­ren­haus«, sag­te Schlumpf laut und deut­lich, dann hus­te­te er.

»So? Und warum nicht? Naja, dann könn­te man… Ihr habt doch si­cher eine Zwei­er­zel­le, Liech­ti, in die man den Mann le­gen könn­te, da­mit er nicht so al­lein ist… Geht das? Fein…«

Dann, lei­se, so, wie man auf dem Thea­ter flüs­tert, je­des Wort ver­ständ­lich: »Was hat er an­ge­stellt?«

»Ger­zen­stei­ner Mord!« flüs­ter­te der Wär­ter eben­so deut­lich zu­rück.

»Ah, ah«, nick­te der Dok­tor be­küm­mert – so schi­en es we­nigs­tens. Schlumpf dreh­te den Kopf, sah hin­über zum Wacht­meis­ter. Stu­der lä­chel­te, Schlumpf lä­chel­te zu­rück. Sie ver­stan­den sich.

»Und wer ist die­ser Herr da?« frag­te der Arzt. Das Lä­cheln der bei­den brach­te ihn in Ver­le­gen­heit.

Stu­der trat so hef­tig vor, dass der Dok­tor einen Schritt zu­rück­wich. Der Wacht­meis­ter stand steif da. Sein blei­ches Ge­sicht mit der merk­wür­dig schma­len Nase pass­te nicht so recht zu dem ein we­nig ver­fet­te­ten Kör­per.

»Wacht­meis­ter Stu­der von der Kan­tons­po­li­zei!« Es klang auf­rüh­re­risch und bo­ckig.

»So, so! Freut mich, freut mich! Und Sie sind mit der Un­ter­su­chung des Fal­les be­traut?« Der blon­de Arzt ver­such­te sei­ne Si­cher­heit wie­der­zu­ge­win­nen.

»Ich hab ihn ver­haf­tet«, sag­te Stu­der kurz. »Üb­ri­gens, ich will gern noch eine Wei­le bei ihm blei­ben bis er sich be­ru­higt hat. Ich hab Zeit. Der nächs­te Zug nach Bern fährt erst um halb fün­f…«

»Fein!« sag­te der Arzt. »Wun­der­bar! Tut das nur, Wacht­meis­ter. Und heut abend legt Ihr mir den Mann in eine Zwei­er­zel­le. Ver­stan­den, Liech­ti?«

»Ja­wohl, Herr Dok­tor.«

»Le­bet wohl mit­ein­an­der«, sag­te der Arzt und setz­te den Hut auf. Liech­ti frag­te ob er schlie­ßen sol­le. Stu­der wink­te ab. Ge­gen Haft­psy­cho­sen wa­ren wohl of­fe­ne Tü­ren das wirk­sams­te Ge­gen­mit­tel.

Und die Schrit­te ver­hall­ten im Gang.

Um­ständ­lich setz­te Stu­der den Stroh­halm in Brand, den er aus der Bris­sa­go ge­zo­gen hat­te, hielt die Flam­me un­ter das Ende der­sel­ben, war­te­te bis der Rauch oben her­aus­quoll und steck­te sie dann in den Mund.

Dann zog er ein gel­bes Päck­li aus der Ta­sche, sag­te: »So, nimm eine!« Schlumpf sog den ers­ten Zug der Zi­ga­ret­te tief in die Lun­gen. Sei­ne Au­gen leuch­te­ten. Stu­der setz­te sich aufs Bett.

– Der Wacht­meis­ter sei ein Gu­ter, sag­te der Schlumpf.

Und Stu­der muss­te sich zu­sam­men­neh­men, um ein merk­wür­di­ges Ge­fühl im Hal­se zu un­ter­drücken. Um es zu ver­trei­ben, gähn­te er aus­gie­big.

»So, Schlumpf­li«, sag­te er dann. »Und jetzt. Wa­rum hast du Schluss ma­chen wol­len?«

– Das kön­ne man nicht so ohne wei­te­res sa­gen, mein­te der Schlumpf. Es sei ihm al­les ver­lei­det ge­we­sen. Und er ken­ne ja den Be­trieb. Wenn man ein­mal ver­haf­tet sei, dann käme man nicht mehr los. Vor­be­straft! – Und jetzt wer­de es für le­bens­läng­lich lan­gen… Und das Meit­schi, von dem der Wacht­meis­ter ge­spro­chen habe, das wer­de ja­wohl auch nicht war­ten wol­len. Es wäre schön dumm, wenn es das täte. – Wer denn das Meit­schi sei? – Es hei­ße Son­ja und sei die Toch­ter vom er­mor­de­ten Wit­schi. – Und ob die Son­ja glau­be, dass er den Mord be­gan­gen habe? – Das wis­se er nicht. Er sei ein­fach fort, da­mals, als er ge­hört habe, man be­schul­di­ge ihn. – Wie das denn zu­ge­gan­gen sei, dass man ge­ra­de auf ihn ver­fal­len sei? – Eh, we­gen der Hun­der­ter­no­te, die er im ›Leu­en‹ ge­wech­selt habe. – Im ›Leu­en‹? Nicht im ›Bä­ren‹? – Es kön­ne auch im ›Bä­ren‹ ge­we­sen sein. Na­tür­lich im ›Bä­ren‹! Der ›Leu­en‹ sei die für­neh­me Wirt­schaft, da hät­ten sie ein­mal bei ei­nem An­lass auf­ge­spiel­t…

»Bei wel­chem An­lass? Und wer hat auf­ge­spielt?«

»Bei ei­ner Hoch­zeit. Der Bu­cheg­ger hat Kla­ri­net­te ge­spielt, der Schrei­er Kla­vier und der Ber­tel Bass­gei­ge. Und ich Hand­har­fe…«

»Schrei­er? – Bu­cheg­ger? – Die – die kenn’ ich doch!« Stu­der run­zel­te die Stirn.

»Denk wohl!« sag­te der Schlumpf, und ein klei­nes Lä­cheln ent­stand in sei­nen Mund­win­keln. »Der Bu­cheg­ger hat oft von Euch er­zählt und der Schrei­er auch. Ihr habt ihn vor drei Jah­ren ge­schnapp­t…«

Stu­der lach­te. So, so! Alte Be­kann­te! – Und die hät­ten sich also zu ei­ner Länd­ler­ka­pel­le zu­sam­men­ge­tan? »Länd­ler­ka­pel­le?« Schlumpf tat be­lei­digt. »Nein! Ein rich­ti­ger Jazz­band. Der El­len­ber­ger, un­ser Meis­ter, hat uns so­gar einen eng­li­schen Na­men ge­ge­ben: ›The Con­vict Ban­d‹! Das soll hei­ßen: Die Sträf­lings­mu­si­k…«

Der Bur­sche Schlumpf schi­en ganz zu­frie­den zu sein, von ne­ben­säch­li­chen Din­gen zu spre­chen. Aber wenn man vom Mord an­fing, ver­such­te er ab­zu­bie­gen.

Stu­der war ein­ver­stan­den. Der Schlumpf soll­te nur ab­schwei­fen, wenn er Freu­de dar­an hat­te. Nicht drän­gen! Es kommt al­les von selbst, wenn man ge­nü­gend Ge­duld hat…

»Dann habt Ihr auch in den um­lie­gen­den Dör­fern ge­spielt?«

»So­wie­so!«

»Und or­dent­lich Geld ver­dient?«

»Zünf­tig…« Zö­gern. Schwei­gen.

»Also, Schlumpf­li, ich will dir ja glau­ben, dass du den Wit­schi nicht um­ge­bracht hast – um ihm die Brief­ta­sche zu rau­ben. Drei­hun­dert Fran­ken hast du er­spart ge­habt?«

»Ja, drei­hun­dert Er­spar­tes…« Schlumpf blick­te zum Fens­ter auf, seufz­te, viel­leicht weil der Him­mel so blau war.

»Du hast also die Toch­ter vom Er­mor­de­ten hei­ra­ten wol­len? Son­ja hieß sie? Und die El­tern, die wa­ren ein­ver­stan­den?«

»Der Va­ter schon; der alte Wit­schi hat ge­sagt, ihm sei es gleich. Er war oft beim El­len­ber­ger zu Be­such und dort hat er mit mir ge­spro­chen, der Er­mor­de­te, wie Ihr sag­t… Er hat ge­meint, ich sei ein or­dent­li­cher Bursch, und wenn ich auch ein Vor­be­straf­ter sei, man sol­le nicht zu Ge­richt sit­zen, und wenn ich ein­mal die Son­ja zur Frau hät­te, dann wür­de ich kei­ne Dumm­hei­ten mehr ma­chen. Die Son­ja sei ein or­dent­li­ches Meit­schi… Und dann hat mir mein Meis­ter die Ober­gärt­ner­stel­le ver­spro­chen, weil doch der Cot­te­reau schon alt ist und ich tüch­tig bin…«

»Cot­te­reau? Hat der die Lei­che ge­fun­den?«

»Ja. Er geht je­den Mor­gen spa­zie­ren. Der Meis­ter lässt ihn ma­chen, was er will. Der Cot­te­reau stammt aus dem Jura, aber man merkt ihm das Wel­sche nicht mehr an. Am Mitt­woch­mor­gen ist er in die Baum­schu­le ge­lau­fen ge­kom­men und hat er­zählt, im Wal­de lie­ge der Wit­schi, er­schos­sen… Dann hat ihn der Meis­ter gleich auf den Land­jä­ger­pos­ten ge­schickt, um die Mel­dung zu ma­chen.«

»Und was hast du ge­macht, nach­dem du vom Cot­te­reau die Neu­ig­keit er­fah­ren hast?«

Ach, mein­te der Schlumpf, sie hät­ten alle Angst ge­habt, weil der Ver­dacht auf sie fal­len müs­se, als Vor­be­straf­te. Aber den gan­zen Tag sei es ru­hig ge­we­sen, nie­mand sei in die Baum­schu­le ge­kom­men. Nur der Cot­te­reau habe sich nicht be­ru­hi­gen kön­nen, bis ihn der Meis­ter an­ge­schnauzt habe, er sol­le mit dem G’­stürm auf­hö­ren…

»Und am Mitt­wo­cha­bend hast du die hun­dert Fran­ken im ›Bä­ren‹ ge­wech­selt?«

»Am Mitt­wo­cha­bend, ja…«

Stil­le. Stu­der hat­te das Päck­chen Pa­ri­si­en­nes ne­ben sich lie­gen las­sen. Ohne zu fra­gen nahm Schlumpf eine Zi­ga­ret­te, der Wacht­meis­ter gab ihm die Schach­tel Zünd­höl­zer und sag­te:

»Ver­steck bei­des. Aber lass dich nicht er­wi­schen!«

Schlumpf lä­chel­te dank­bar.

»Wann habt Ihr Fei­er­abend in der Baum­schu­le?«

»Um sechs. Wir ha­ben den Zehn­stun­den­tag.« Dann füg­te Schlumpf eif­rig hin­zu: »Über­haupt, in der Gärt­ne­rei kenn ich mich aus. Der Vor­ar­bei­ter auf dem Tes­sen­berg hat im­mer ge­sagt, ich kann et­was. Und ich schaff’ gern…«

»Das ist mir gleich!« Stu­der sprach ab­sicht­lich streng. »Nach dem Fei­er­abend bist du ins Dorf, in dein Zim­mer. Wo hast du ge­wohnt?«

»Bei Hof­manns, in der Bahn­hof­stra­ße. Ihr fin­det das Haus leicht. Die Frau Hof­mann war eine Gu­te… Sie ha­ben eine Kor­be­rei.«

»Das in­ter­es­siert mich nicht! Du bist in dein Zim­mer, hast dich ge­wa­schen. Dann bist du zum Nachtes­sen ge­gan­gen? Oder?«

»Ja.«

»Also: sechs Uhr Fei­er­abend.« Stu­der zog ein No­tiz­heft aus der Ta­sche und be­gann nach­zu­schrei­ben. »Sechs Uhr Fei­er­abend, halb sie­ben – vier­tel vor sie­ben Nachtes­sen…« Auf­bli­ckend: »Hast du schnell ge­ges­sen? Lang­sam? Hast du Hun­ger ge­habt?«

»Nicht viel Hun­ger…«

»Dann hast du schnell ge­ges­sen und warst um sie­ben fer­tig…«

Stu­der schi­en in sein No­tiz­buch zu star­ren, aber sei­ne Au­gen wa­ren be­weg­lich. Er sah die Ver­än­de­rung in den Ge­sichts­zü­gen des Schlumpf und un­ter­brach die Span­nung, in­dem er harm­los frag­te:

»Wie viel hast du für das Nachtes­sen be­zahlt?«

»Eins fünf­zig. Zu Mit­tag hab ich im­mer beim El­len­ber­ger eine Sup­pe ge­ges­sen und Brot und Käs mit­ge­bracht. Der El­len­ber­ger hat nur fünf­zig Rap­pen für den Tel­ler Sup­pe ver­langt, und z’Im­mis hat er um­sonst ge­ge­ben, denn der El­len­ber­ger war im­mer an­stän­dig mit uns, wir ha­ben ihn gern ge­habt, er hat so koh­lig da­her­ge­re­det, er sieht aus, wie ein ur­al­ter Mann, hat kei­ne Zäh­ne mehr, aber…« dies al­les in ei­nem Atem­zug, als ob der Re­den­de vor ei­ner Un­ter­bre­chung Angst hät­te. Doch Stu­der woll­te dies­mal auf das Ge­schwätz nicht ein­ge­hen.

»Was hast du am Mitt­wo­cha­bend zwi­schen sie­ben und acht Uhr ge­macht?« frag­te er streng. Er hielt den Blei­stift zwi­schen den ma­ge­ren Fin­gern und blick­te nicht auf.

»Zwi­schen sechs und sie­ben?« Schlumpf at­me­te schwer.

»Nein, zwi­schen sie­ben und acht. Um sie­ben warst du mit dem Nachtes­sen fer­tig, um acht hast du im ›Bä­ren‹ eine Hun­der­ter­no­te ge­wech­selt. Wer hat dir die drei­hun­dert Fran­ken ge­ge­ben?«

Und Stu­der blick­te den Bur­schen fest an. Schlumpf dreh­te den Kopf zur Sei­te, plötz­lich warf er sich her­um, drück­te die Au­gen in die Ell­bo­gen­beu­ge. Sein Kör­per zit­ter­te.

Stu­der war­te­te. Er war nicht un­zu­frie­den. Mit klei­nen Buch­sta­ben schrieb er in sein No­tiz­buch: ›Son­ja Wit­schi‹ und mal­te hin­ter die Wor­te ein großes Fra­ge­zei­chen. Dann wur­de sei­ne Stim­me weich, als er sag­te:

»Schlumpf­li, wir wer­den die Sa­che schon ein­ren­ken. Ich hab’ dich ex­tra nicht ge­fragt, was du am Diens­tag­abend, also am Abend vor dem Mord, ge­tan hast. Da hät­test du mich doch nur an­ge­lo­gen. Und dann steht es si­cher in den Ak­ten, und ich kann auch dei­ne Wir­tin fra­gen… Aber sag mir noch: Was ist die Son­ja für ein Meit­schi? Ist sie das ein­zi­ge Kind?«

Schlumpfs Kopf fuhr in die Höhe.

»Ein Bru­der ist noch da. Der Ar­min!«

»Und den Ar­min magst du nicht?«

Dem habe er ein­mal zünf­tig auf den Gring ge­ge­ben, sag­te Schlumpf und zeig­te die Zäh­ne wie ein knur­ren­der Hund.

»Der Ar­min hat dir die Schwes­ter nicht gön­nen mö­gen?«

»Ja; und mit dem Va­ter hat er auch im­mer Krach ge­habt. Der Wit­schi hat sich oft ge­nug über ihn be­klag­t…«

»So­so… Und die Mut­ter?«

»Die Alte hat im­mer Ro­ma­ne ge­le­sen…« (›die Al­te‹, sag­te der Bur­sche re­spekt­los). »Sie ist mit dem Ge­mein­de­prä­si­den­ten Äsch­ba­cher ver­wandt und der hat ihr den Bahn­hof­ki­osk in Ger­zen­stein ver­schafft. Dort ist sie im­mer ge­hockt und hat ge­le­sen, wäh­rend der Va­ter hau­siert hat… Nicht ge­ra­de hau­siert. Er ist mit ei­nem Zehn­der­li her­um­ge­fah­ren, als Rei­sen­der für Bo­den­wich­se, Kaf­fee… Und das Zehn­der­li hat man ja auch ge­fun­den, ganz in der Nähe, es stand an der Stra­ße…«

»Und wo ist der alte Wit­schi ge­le­gen?«

»Hun­dert Me­ter da­von, im Wald, hat der Cot­te­reau er­zähl­t…«

Stu­der zeich­ne­te Männ­lein in sein No­tiz­buch. Er war plötz­lich weit weg. Er war in dem Kra­chen im Obe­raar­gau, wo er den Bur­schen ver­haf­tet hat­te. Die Mut­ter hat­te ihm auf­ge­macht. Eine merk­wür­di­ge Frau, die­se Mut­ter des Schlumpf! Sie war gar nicht er­staunt ge­we­sen. Sie hat­te nur ge­fragt: »Aber er darf noch z’Mor­gen es­sen?«.

Ein klei­nes Mäd­chen in Ger­zen­stein, eine alte Mut­ter im Obe­raar­gau… und zwi­schen bei­den der Bur­sche Schlumpf, an­ge­klagt des Mor­des…

Es kam ganz dar­auf an, was für ein Un­ter­su­chungs­rich­ter den Fall über­neh­men wür­de… Man müss­te mit dem Mann re­den kön­nen. Vi­el­leicht…

Schrit­te ka­men nä­her. Der Wär­ter Liech­ti er­schi­en in der Tür und sein ro­tes Ge­sicht glänz­te bos­haft.

»Wacht­meis­ter, der Herr Un­ter­su­chungs­rich­ter will Euch spre­chen.«

Und Liech­ti grins­te un­ver­schämt. Es war nicht schwer zu er­ra­ten, was das Grin­sen zu be­deu­ten hat­te. Ein Fahn­der hat­te sei­ne Kom­pe­ten­zen über­schrit­ten und wur­de ein­ge­la­den, den fäl­li­gen Rüf­fel in Empfang zu neh­men…

»Leb wohl, Schlumpf­li!« sag­te Stu­der. »Mach kei­ne Dumm­hei­ten mehr. Soll ich die Son­ja grü­ßen, wenn ich sie seh’? Ja? Also; ich komm dich dann viel­leicht ein­mal be­su­chen. Leb wohl!«

Und wäh­rend Stu­der durch die lan­gen Gän­ge des Schlos­ses schritt, konn­te er den Blick nicht los wer­den und den Blick nicht deu­ten, mit dem ihm Schlumpf nach­ge­blickt hat­te. Er­stau­nen lag dar­in, ja­wohl, aber hock­te nicht auch eine trost­lo­se Verzweif­lung auf dem Grun­de?

Der Fall Wendelin Witschi zum ersten

Ihr sei­d…« (Räus­pern.) »Ihr seid der Wacht­meis­ter Stu­der?«

»Ja.«

»Nehmt Platz.«

Der Un­ter­su­chungs­rich­ter war klein, ma­ger, gelb. Sein Rock war über den Ach­seln ge­pols­tert und von li­la­brau­ner Far­be. Zu ei­nem wei­ßen, sei­de­nen Hemd trug er eine korn­blu­men­blaue Kra­wat­te. In den di­cken Sie­gel­ring war ein Wap­pen ein­gra­viert – der Ring schi­en üb­ri­gens alt.

»Wacht­meis­ter Stu­der, ich möch­te Euch sehr höf­lich fra­gen, was Ihr Euch ei­gent­lich vor­stellt. Wir kommt Ihr dazu, Euch ei­gen­mäch­tig – ich wie­der­ho­le: ei­gen­mäch­tig! in einen Fall ein­zu­mi­schen, der…«

Der Un­ter­su­chungs­rich­ter stock­te und wuss­te selbst nicht wes­halb. Da saß vor ihm ein ein­fa­cher Fahn­der, ein äl­te­rer Mann, an dem nichts Auf­fäl­li­ges war: Hemd mit wei­chem Kra­gen, grau­er An­zug, der ein we­nig aus der Form ge­ra­ten war, weil der Kör­per, der dar­in steck­te, dick war. Der Mann hat­te ein blei­ches, ma­ge­res Ge­sicht, der Schnurr­bart be­deck­te den Mund, so­dass man nicht recht wuss­te, lä­chel­te der Mann oder war er ernst. Die­ser Fahn­der also hock­te auf sei­nem Stuhl, die Schen­kel ge­spreizt, die Un­ter­ar­me auf den Schen­keln und die Hän­de ge­fal­tet… Der Un­ter­su­chungs­rich­ter wuss­te selbst nicht, warum er plötz­lich vom ›Ihr‹ zum ›Sie‹ über­ging.

»Sie müs­sen be­grei­fen, Wacht­meis­ter, es scheint mir, als hät­ten Sie Ihre Kom­pe­ten­zen über­schrit­ten…« Stu­der nick­te und nick­te: na­tür­lich, die Kom­pe­ten­zen!… »Was hat­ten Sie für einen Grund, den Ein­ge­lie­fer­ten, den ord­nungs­mä­ßig ein­ge­lie­fer­ten Schlumpf Er­win noch ein­mal zu be­su­chen? Ich will ja ger­ne zu­ge­ben, dass Ihr Be­such höchst op­por­tun ge­we­sen ist – das will aber noch nicht sa­gen, dass er sich mit dem Kom­pe­tenz­be­reich der Fahn­dungs­po­li­zei ge­deckt hat. Denn, Herr Wacht­meis­ter, Sie sind schon lan­ge ge­nug im Diens­te, um zu wis­sen, dass ein frucht­ba­res Zu­sam­men­ar­bei­ten der di­ver­sen In­stan­zen nur dann mög­lich ist, wenn jede dar­auf sieht, dass sie sich streng in den Gren­zen ih­res Kom­pe­tenz­be­rei­ches häl­t…«

Nicht ein­mal, nein, drei­mal das Wort Kom­pe­tenz… Stu­der war im Bild. Das trifft sich güns­tig, dach­te er, das sind die Bö­ses­ten nicht, die im­mer mit der Kom­pe­tenz auf­rücken. Man muss nur freund­lich zu ih­nen sein und sie recht ernst neh­men, dann fres­sen sie ei­nem aus der Han­d…

»Na­tür­lich, Herr Un­ter­su­chungs­rich­ter«, sag­te Stu­der und sei­ne Stim­me drück­te Sanft­mut und Re­spekt aus, »ich bin mir be­wusst, dass ich wahr- und wahr­haf­tig mei­ne Kom­pe­ten­zen über­schrit­ten habe. Sie stell­ten ganz rich­tig fest, dass ich es bei der Ein­lie­fe­rung des Häft­lings Schlumpf Er­win hät­te be­wen­den las­sen sol­len. Und dann – ja, Herr Un­ter­su­chungs­rich­ter, der Mensch ist schwach – dann dach­te ich, dass der Fall viel­leicht doch nicht so klar lie­ge, wie ich es an­fangs an­ge­nom­men hat­te. Es könn­te mög­lich sein, dach­te ich, dass eine wei­te­re Un­ter­su­chung des Fal­les sich als nö­tig er­wei­sen wür­de und dass ich viel­leicht mit de­ren Ver­fol­gung be­traut wer­den könn­te, und da woll­te ich im Bil­de sein…«

Der Un­ter­su­chungs­rich­ter war sicht­lich schon ver­söhnt.

»Aber, Wacht­meis­ter«, sag­te er, »der Fall ist doch ganz klar. Und schließ­lich, wenn die­ser Schlumpf sich auch er­hängt hät­te, das Mal­heur wäre nicht groß ge­we­sen – ich wäre eine un­an­ge­neh­me Sa­che los ge­wor­den und der Staat hät­te kei­ne Ge­richts­kos­ten zu tra­gen brau­chen…«

»Ge­wiss, Herr Un­ter­su­chungs­rich­ter. Aber wäre mit dem Tode des Schlumpf wirk­lich der gan­ze Fall er­le­digt ge­we­sen? Denn dass der Schlumpf un­schul­dig ist, wer­den auch Sie bald her­aus­fin­den.«

Ei­gent­lich war eine der­ar­ti­ge Be­haup­tung eine Frech­heit. Aber so ehr­er­bie­tig war Stu­ders Stim­me, so zwin­gend heisch­te sie Be­ja­hung, dass dem Herrn mit dem wap­pen­ge­schmück­ten Sie­gel­ring nichts an­de­res üb­rig blieb, als zu­stim­mend zu ni­cken.

Mit brau­nem Holz wa­ren die Wän­de des Rau­mes ge­tä­felt, und da die Lä­den vor den Fens­tern ge­schlos­sen wa­ren, schim­mer­te die Luft wie dunkles Gold.

»Die Ak­ten des Fal­les«, sag­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter ein we­nig un­si­cher. »Die Ak­ten des Fal­les… Ich habe noch nicht recht Zeit ge­habt, mich mit ih­nen zu be­schäf­ti­gen… War­ten Sie…«

Rechts von ihm wa­ren fünf Ak­ten­bün­del über­ein­an­der ge­schich­tet. Das un­ters­te, das dünns­te, war das rich­ti­ge. Auf dem blau­en Kar­ton­de­ckel stand:

SCHLUMPF ERWIN MORD

»Lei­der«, sag­te Stu­der und mach­te ein un­schul­di­ges Ge­sicht. »Lei­der hat man in letz­ter Zeit ziem­lich viel von man­gel­haft ge­führ­ten Un­ter­su­chun­gen ge­hört. Und da wäre es viel­leicht bes­ser, wenn man sich auch bei ei­nem so kla­ren Fall mit den not­wen­di­gen Kau­te­len um­ge­ben wür­de…«

In­ner­lich grins­te er: Kommst du mir mit Kom­pe­tenz, komm ich dir mit Kau­te­len.

Der Un­ter­su­chungs­rich­ter nick­te. Er hat­te eine Horn­bril­le aus ei­nem Fut­te­ral ge­zo­gen, sie auf die Nase ge­setzt. Jetzt sah er aus wie ein trau­ri­ger Film­ko­mi­ker.

»Ge­wiss, ge­wiss, Wacht­meis­ter. Sie müs­sen nur be­den­ken, es ist mei­ne ers­te schwe­re Un­ter­su­chung, und da wird mir na­tür­lich Ihre Kom­pe­tenz in die­sen An­ge­le­gen­hei­ten…«

Wei­ter kam er nicht. Stu­der hob ab­weh­rend die Hand.

Aber der Un­ter­su­chungs­rich­ter be­ach­te­te die Be­we­gung nicht. Er hat­te zwei Fo­to­gra­fi­en in der Hand und reich­te sie über den Tisch:

»Auf­nah­men des Ta­tor­tes…«, sag­te er.

Stu­der be­trach­te­te die Bil­der. Sie wa­ren nicht schlecht, ob­wohl sie von kei­nem kri­mi­no­lo­gisch ge­schul­ten Fach­mann auf­ge­nom­men wor­den wa­ren. Auf bei­den sah man das Un­ter­holz ei­nes Tan­nen­wal­des und auf dem Bo­den, der mit dür­ren Na­deln über­sät war – die Bil­der wa­ren sehr scharf –, lag eine dunkle Ge­stalt auf dem Bauch. Rechts am kah­len Hin­ter­kopf, schät­zungs­wei­se drei Fin­ger breit von der Ohr­mu­schel, ge­ra­de über ei­nem dün­nen Haar­kranz, der zum Teil den Rock­kra­gen be­deck­te, war ein dunkles Loch zu se­hen. Es sah ziem­lich ab­sto­ßend aus. Aber Stu­der war an sol­che Bil­der ge­wöhnt. Er frag­te nur:

»Ta­schen leer?«

»War­ten Sie, ich habe hier den Rap­port vom Land­jä­ger­kor­po­ral Mur­mann…«

»Ah«, un­ter­brach Stu­der, »der Mur­mann ist in Ger­zen­stein. So, so!«

»Ken­nen Sie ihn?«

»Doch, doch. Ein Kol­le­ge. Hab ihn aber schon vie­le Jah­re nicht ge­se­hen. Was schreibt der Mur­mann?«

Der Un­ter­su­chungs­rich­ter dreh­te das Blatt um, dann mur­mel­te er hal­be Sät­ze vor sich hin. Stu­der ver­stand:

»… männ­li­che Lei­che auf dem Bau­che lie­gen­d… Ein­schuss hin­ter dem rech­ten Ohr… Ku­gel im Kopf ste­cken ge­blie­ben… wahr­schein­lich aus ei­nem 6,5 Brow­ning…«

»In Waf­fen kennt er sich aus, der Mur­mann!« be­merk­te Stu­der.

»… Ta­schen leer…«, sag­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter.

»Was?« ganz scharf die Fra­ge. »Ha­ben Sie zu­fäl­lig eine Lupe?« Alle Höf­lich­keit war aus Stu­ders Stim­me ver­schwun­den.

»Eine Lupe? Ja. War­ten Sie. Hier…«

Ein paar Au­gen­bli­cke war es still. Durch einen Spalt der Fens­ter­lä­den fiel ein Son­nen­strahl ge­ra­de auf Stu­ders Haar. Schwei­gend be­trach­te­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter den Mann, der da vor ihm hock­te, den brei­ten, run­den Rücken und die grau­en Haa­re, die glänz­ten, wie das Fell ei­nes Ap­fel­schim­mels.

»Das ist lus­tig«, sag­te Wacht­meis­ter Stu­der mit lei­ser Stim­me. (Was, zum Teu­fel, ist an der Fo­to­gra­fie ei­nes Er­mor­de­ten lus­tig! dach­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter.) »Der Rock ist ja ganz sau­ber auf dem Rücken…«

»Sau­ber auf dem Rücken? Ja, und?«

»Und die Ta­schen sind leer«, sag­te Stu­der kurz, als sei da­mit al­les er­klärt.

»Ich ver­steh’ nicht…« Der Un­ter­su­chungs­rich­ter nahm die Bril­le ab und putz­te die Glä­ser mit sei­nem Ta­schen­tuch.

»Wenn…«, sag­te Stu­der und tipp­te mit der Lupe auf die Auf­nah­me. »Wenn Sie sich vor­stel­len, dass der Mann hier im Wal­de meuch­lings über­fal­len wor­den ist, dass ihn ei­ner von hin­ten nie­der­ge­schos­sen hat, so geht aus der Lage der Lei­che her­vor, dass der Mann vorn­über aufs Ge­sicht ge­fal­len ist. Nicht wahr? Er liegt also auf dem Bauch, rührt sich nicht mehr. Aber sei­ne Ta­schen sind leer. Wann hat man die Ta­schen ge­leert?«

»Der An­grei­fer hät­te den Wit­schi zwin­gen kön­nen, die Brief­ta­sche aus­zu­lie­fern…«

»Nicht sehr wahr­schein­lich… Was sagt das Sek­ti­ons­pro­to­koll, wann der Tod mut­maß­lich ein­ge­tre­ten ist?«

Der Un­ter­su­chungs­rich­ter blät­ter­te in den Ak­ten, eif­rig, wie ein Schü­ler, der ger­ne vom Leh­rer eine gute Note be­kom­men möch­te. Merk­wür­dig, wie schnell die Rol­len sich ver­tauscht hat­ten. Stu­der hock­te im­mer noch auf dem un­be­que­men Stuhl, der si­cher­lich sonst für die vor­ge­führ­ten Häft­lin­ge be­stimmt war, und doch sah es so aus, als ob er die gan­ze An­ge­le­gen­heit in die Hand ge­nom­men hät­te…

»Das Sek­ti­ons­pro­to­koll«, sag­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter jetzt, räus­per­te sich tro­cken, rück­te an sei­ner Bril­le und las: »Zer­trüm­me­rung des Oc­ci­pi­tal­kno­chens… Me­sence­pha­lum… ste­cken­ge­blie­ben in der Ge­gend des lin­ken… Aber das wol­len Sie ja al­les nicht wis­sen… Hier… Tod ap­pro­xi­ma­tiv zehn Stun­den vor Auf­fin­dung der Lei­che ein­ge­tre­ten… Das woll­ten Sie wis­sen, Wacht­meis­ter? Auf­ge­fun­den ist die Lei­che zwi­schen halb acht und vier­tel vor acht Uhr mor­gens von Jean Cot­te­reau, Ober­gärt­ner in den Baum­schu­len El­len­ber­ger… Der Mord wäre also un­ge­fähr um zehn Uhr abends ver­übt wor­den.«

»Zehn Uhr? Gut. Wie stel­len Sie sich die Sze­ne vor? Der alte Wit­schi kommt von ei­ner Tour zu­rück, er fährt mit sei­nem Zehn­der ru­hig nach Hau­se. Plötz­lich wird er an­ge­hal­ten… Schon da ist vie­les nicht klar. Wa­rum steigt er ab? Hat er Angst?… Neh­men wir an, er sei an­ge­hal­ten wor­den. Gut, er wird ge­zwun­gen, sei­nen Kar­ren an einen Baum zu leh­nen, man treibt ihn in den Wald… Wa­rum nimmt ihm der An­grei­fer nicht auf der Stra­ße die Brief­ta­sche fort und drückt sich?… Nein! Er zwingt den Wit­schi, mit ihm hun­dert Me­ter – es wa­ren doch hun­dert Me­ter? – in den Wald zu ge­hen. Schießt ihn von hin­ten nie­der. Der Mann fällt auf den Bauch… Wol­len Sie mir sa­gen, Herr Un­ter­su­chungs­rich­ter, wann ihm die Brief­ta­sche mit den ver­schwun­de­nen drei­hun­dert Fran­ken aus der Ta­sche ge­nom­men wor­den ist?«

»Brief­ta­sche? Drei­hun­dert Fran­ken? War­ten Sie, Wacht­meis­ter. Ich muss mich zu­erst ori­en­tie­ren…«

Stil­le. Eine Flie­ge summ­te dröh­nend. Stu­der hat­te sich kaum be­wegt, sein Kopf blieb ge­senkt.

»Sie ha­ben recht… Frau Wit­schi gibt an, ihr Mann habe am Mor­gen zu ihr ge­sagt, er wer­de wahr­schein­lich am Abend hun­dert­fünf­zig Fran­ken mit­brin­gen. Es sei­en Rech­nun­gen fäl­lig. Hun­dert­fünf­zig Fran­ken habe er noch be­ses­sen… Te­le­fo­ni­sche Er­kun­di­gun­gen ha­ben er­ge­ben, dass wirk­lich zwei Kun­den des Wit­schi ihre Rech­nun­gen be­zahlt ha­ben. Die eine Rech­nung be­trug hun­dert Fran­ken, die an­de­re fünf­zig…«

»Die eine hun­dert und die an­de­re fünf­zig? Merk­wür­dig…«

»Wa­rum merk­wür­dig?«

»Weil der Schlumpf drei Hun­der­ter­no­ten in sei­nem Be­sitz ge­habt hat. Eine, die er im ›Bä­ren‹ ge­wech­selt hat, und zwei, die ich ihm ab­ge­nom­men habe. Wo ist die Brief­ta­sche hin­ge­kom­men?«

»Sie ha­ben recht, Wacht­meis­ter. Der Fall hat ei­ni­ge dunkle Punk­te…«

»Dunkle Punk­te!« Stu­der zuck­te die Ach­seln.

Ein un­ge­müt­li­cher Mann, dach­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter. Er war ner­vös wie sei­ner­zeit beim Staats­ex­amen. Vi­el­leicht war die­ser Wacht­meis­ter für Schmei­che­lei emp­fäng­lich… Da­rum sag­te er: »Ich sehe, Wacht­meis­ter, dass Ihre prak­ti­sche kri­mi­no­lo­gi­sche Schu­lung der mei­ni­gen über­le­gen ist…«

Stu­der brumm­te ir­gend et­was.

»Was woll­ten Sie sa­gen?« Der Un­ter­su­chungs­rich­ter leg­te die Hand ans Ohr, als wol­le er kein Wort sei­nes Ge­gen­übers ver­lie­ren.

Aber Stu­der schi­en auf ein­mal ver­ges­sen zu ha­ben, wo er sich be­fand. Denn er zün­de­te um­ständ­lich eine Bris­sa­go an.

»Rau­chen Sie nicht lie­ber eine Zi­ga­ret­te?« wag­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter schüch­tern zu fra­gen, denn er hass­te den Bris­sa­go­rauch. Er reich­te dem Wacht­meis­ter ein ge­öff­ne­tes Etui über den Tisch. Stu­der schüt­tel­te ab­leh­nend den Kopf. Ihm, dem Wacht­meis­ter Stu­der, Zi­ga­ret­ten mit Gold­mund­stück!…

Der Un­ter­su­chungs­rich­ter frag­te in die Stil­le:

»Wo ha­ben Sie sich Ihre prak­ti­schen Kennt­nis­se an­ge­eig­net, Herr Stu­der?« Aber nicht ein­mal der Wech­sel in der An­re­de­form – Herr Stu­der statt Wacht­meis­ter – ver­moch­te den schwei­gen­den Mann aus sei­nem Grü­beln zu we­cken.

»Wie kommt es, dass Sie es mit Ihren Kennt­nis­sen nicht we­nigs­tens zum Po­li­zei­leut­nant ge­bracht ha­ben?«

Stu­der fuhr auf:

»Was?… Wie mei­nen Sie?… Ha­ben Sie einen Aschen­be­cher?«

Der Un­ter­su­chungs­rich­ter lä­chel­te und schob eine Mes­sing­scha­le über den Tisch.

»Ich hab sei­ner­zeit beim Pro­fes­sor Groß in Graz ge­ar­bei­tet. Und warum ich es nicht wei­ter ge­bracht habe? Wis­sen Sie, ich hab’ mir ein­mal die Fin­ger ver­brannt an ei­ner Ban­kaf­fä­re. Da­mals war ich Kom­mis­sär bei der Stadt­po­li­zei… ja, und wäh­rend des Krie­ge­s… Nach der Ban­kaf­fä­re bin ich in Un­gna­de ge­fal­len und hab’ wie­der von un­ten an­fan­gen müs­sen… Das gibt es… Aber was ich sa­gen woll­te: wie ge­den­ken Sie die An­ge­le­gen­heit zu be­han­deln? Was für Schrit­te wer­den Sie un­ter­neh­men?«

Zu­erst woll­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter den Mann an sei­nen Platz ver­wei­sen, ihm klar­ma­chen, hier habe er zu be­feh­len, er tra­ge schließ­lich die Verant­wor­tung für die Un­ter­su­chung… Aber dann ver­warf er die­se Auf­wal­lung. Der Blick Stu­ders hat­te et­was so Er­war­tungs­voll-Ängst­li­ches… Da­rum sag­te er ziem­lich ver­söhn­lich: »Nun, wie ge­wohnt, denk ich. Die Fa­mi­lie Wit­schi vor­la­den, den Meis­ter des… des… An­ge­klag­ten…«

»Schlumpf Er­win«, un­ter­brach Stu­der, »vor­be­straft we­gen Ein­bruch, Dieb­stahl und an­de­rer klei­ne­rer De­lik­te…«

»Ganz rich­tig. Im Grun­de also eine Per­sön­lich­keit, der man das Ver­bre­chen gut zu­trau­en könn­te, nicht wahr?«

»Schon… mög­lich…« Pau­se. »Aber auch ein Vor­be­straf­ter kann nicht zau­bern… Und der Schlumpf wird nicht das Maul auf­tun… Sie wer­den lan­ge fra­gen kön­nen. Der lässt sich le­bens­läng­lich nach Thor­berg schi­cken– und wenn er ein­mal dort ist, hängt er sich wie­der auf. Im Grund ist es scha­d’ um den Bur­schen… ja, es ist scha­d’ um ihn…«

»Ihre Men­sch­lich­keit in Ehren, Herr Stu­der, aber… Wir ha­ben eine Un­ter­su­chung zu füh­ren, oder?«

»Ja, ja… üb­ri­gens ist die Lei­che noch in Ger­zen­stein?«

Wie­der blät­ter­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter in den Ak­ten.

»Sie ist am Mitt­wo­cha­bend ins Ge­richts­me­di­zi­ni­sche In­sti­tut über­führt wor­den. Der Re­gie­rungs­statt­hal­ter von Rogg­wil hat das an­ge­ord­net…«

Stu­der zähl­te an den Fin­gern ab:

»Am Mitt­woch, dem drit­ten Mai um halb acht Uhr mor­gens wird die Lei­che ge­fun­den. Ge­gen Mit­tag die ers­te Ob­duk­ti­on von Dok­tor… Dok­tor… Wie heißt er schon?«

»Dr. Neu­en­schwan­der«

»Neu­en­schwan­der. Gut. Mitt­wo­cha­bend wech­selt Schlumpf die Hun­der­ter­no­te im ›Bä­ren‹. Don­ners­tag Flucht. Heu­te, Frei­tag, ver­haf­te ich ihn bei sei­ner Mut­ter. Wann ist die Lei­che ins Ge­richts­me­di­zi­ni­sche In­sti­tut ge­bracht wor­den?«

»Mitt­wo­cha­ben­d…«

»Wann glau­ben Sie, kön­nen wir den Rap­port vom In­sti­tut ha­ben?«

»Ich habe ge­dacht, wir könn­ten den An­ge­klag­ten mit der Lei­che kon­fron­tie­ren. Was mei­nen Sie dazu?« Die Fra­ge war höf­lich, aber der Un­ter­su­chungs­rich­ter dach­te da­bei: Wenn der Kerl nur bald ab­schie­ben wür­de, die Bris­sa­go stinkt, er ist auf­dring­lich, ich wer­de mich bei der Be­hör­de be­schwe­ren, aber was nützt mir das? Des­we­gen werd’ ich ihn doch nicht so bald los. Also sei­en wir freund­lich…

»Kon­fron­tie­ren?« wie­der­hol­te Stu­der. »Da­mit er wie­der einen Flucht­ver­such macht?«

»Was? Er hat Ih­nen durch­bren­nen wol­len? Und Sie ha­ben mir nichts da­von ge­sagt?«

Stu­der sah den Un­ter­su­chungs­rich­ter mit sei­nen ru­hi­gen Au­gen an. Er zuck­te die Ach­seln. Was soll­te man auf sol­che Fra­gen ant­wor­ten?

»Ich will ganz of­fen mit Ih­nen sein, Herr Un­ter­su­chungs­rich­ter«, sag­te Stu­der plötz­lich, und sei­ne Stim­me klang merk­wür­dig dumpf und er­regt. »Wir ha­ben lan­ge ge­nug her­um­ge­re­det. Sie den­ken bei sich: Die­ser alte, ab­ge­säg­te Fahn­der, der knapp vor der Pen­sio­nie­rung steht, will sich wich­tig ma­chen. Er drängt sich auf. Ich werd ihm aber schon aufs Dach ge­ben las­sen. Heut am Abend noch, so­bald er fort ist, te­le­fo­nie­re ich an die Po­li­zei­di­rek­ti­on und be­schwe­re mich…«

Schwei­gen. Der Un­ter­su­chungs­rich­ter hat­te einen Blei­stift in der Hand und zeich­ne­te Krei­se aufs Lösch­blatt. Stu­der stand auf, pack­te die Leh­ne des Stuh­les, schwang den Stuhl her­um, bis er vor ihm stand, stütz­te sich auf die Leh­ne – und die Bris­sa­go qualm­te, die zwi­schen zwei Fin­gern stak – und dann sag­te er:

»Ich will Ih­nen et­was sa­gen, Herr Un­ter­su­chungs­rich­ter. Ich rei­che gern mei­ne De­mis­si­on ein, wenn der Fall nicht so un­ter­sucht wird, wie ich es wün­sche. Aber wenn ich dann de­mis­sio­niert habe, dann kann ich ma­chen, was ich will. Es wird lus­tig wer­den. Ich hab’ dem Schlumpf ver­spro­chen, sei­ne Sa­che in die Hand zu neh­men…«

»Sind Sie Für­sprech ge­wor­den, Wacht­meis­ter?« warf der Un­ter­su­chungs­rich­ter spöt­tisch ein.

»Nein. Aber ich kann ja einen neh­men. Ei­nen, der die gan­ze An­kla­ge über den Hau­fen wirft – wäh­rend der Schwur­ge­richts­ver­hand­lung. Wenn Sie das lie­ber wol­len? Aber Sie müs­sen sich das recht leb­haft vor­stel­len! Sie wer­den als Zeu­ge von der Ver­tei­di­gung vor­ge­la­den wer­den, und dann wird man Ih­nen alle Feh­ler der Vor­un­ter­su­chung vor­hal­ten… Wird Ih­nen das ge­fal­len?«

Der Kerl ist ja ganz ver­rückt! dach­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter. Der rich­ti­ge Que­ru­lant! Wa­rum hat man ge­ra­de die­sen Stu­der zur Ver­haf­tung ab­kom­man­diert! Ein Ge­rech­tig­keits­fa­na­ti­ker! Dass es so et­was noch gibt! Ich habe die gan­ze Zeit ein­ge­lenk­t… Kann der Mann denn Ge­dan­ken le­sen? Dum­me Ge­schich­te! Und wenn die­ser Schlumpf un­schul­dig ist, dann gibt es wo­mög­lich einen Skan­dal, Leu­te ge­ra­ten in Ver­dacht. Es wird doch bes­ser sein, ich ar­bei­te mit dem Ker­l… Laut sag­te er:

»Das hat ja al­les kei­nen Sinn, Wacht­meis­ter. Ich weiß nur we­nig von der Sa­che. Und dro­hen? Wa­rum fah­ren Sie gleich so schwe­res Ge­schütz auf? Hab’ ich mich ge­wei­gert, Sie an­zu­hö­ren? Sie sind un­ge­dul­dig, Herr Stu­der. Wir kön­nen doch ganz ru­hig die Sa­che be­spre­chen. Sie sind sehr emp­find­lich, Wacht­meis­ter, scheint mir, aber Sie müs­sen den­ken, dass an­de­re Leu­te manch­mal auch Ner­ven ha­ben…«

Der Un­ter­su­chungs­rich­ter war­te­te, und wäh­rend des War­tens starr­te er auf die qual­men­de Bris­sa­go in Stu­ders Han­d…

»Ach so!« sag­te Stu­der plötz­lich. »Das al­so…« Er ging zum Fens­ter, stieß die Lä­den auf und warf die Bris­sa­go hin­aus. »Ich hät­t’ dar­an den­ken sol­len. Leu­te wie Sie… War das der Grund? Ich hab’s ge­spürt, dass Sie et­was ge­gen mich ha­ben, und ge­dacht, es sei we­gen dem Schlumpf… Und dann war’s nur die Bris­sa­go?« Stu­der lach­te.

Ko­mi­scher Mensch! dach­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter. Ver­steht doch al­ler­hand!… Der Bris­sa­go­rauch! Kann so et­was eine feind­li­che Stim­mung aus­lö­sen?… In die­se Ge­dan­ken hin­ein sag­te Stu­der:

»Merk­wür­dig. Manch­mal ist es nur eine un­be­deu­ten­de An­ge­wohn­heit, die uns bei ei­nem Men­schen auf die Ner­ven fällt: das Rau­chen ei­ner schlech­ten Zi­gar­re zum Bei­spiel. Bei mir sin­d’s die teu­ren Zi­ga­ret­ten mit Gold­mund­stück…« Und setz­te sich wie­der:

»So, so«, sag­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter nur. Aber in­ner­lich fühl­te er al­ler­hand Hochach­tung für den Ge­dan­ken­le­ser Stu­der. Und dann mein­te er:

»Ich möch­te jetzt den Schlumpf, Ihren Schütz­ling, vor­füh­ren las­sen. Wol­len Sie da­bei sein?«

»Doch. Gern. Aber viel­leicht sind Sie so gut…«

»Ja, ja«, der Un­ter­su­chungs­rich­ter lä­chel­te, »ich werd’ ihn schon so be­han­deln, dass er sich nicht wie­der auf­hängt, we­nigs­tens vor­läu­fig… Ich kann näm­lich auch an­der­s… Und ich will mit dem Staats­an­walt re­den. Wenn eine wei­te­re Un­ter­su­chung nö­tig sein soll­te, for­dern wir Sie an…«

Billard und alkoholismus chronicus

Stu­der stieß zu. Die wei­ße Ku­gel roll­te über das grü­ne Tuch, klick­te an die rote, traf die Ban­de und saus­te haar­scharf an der zwei­ten wei­ßen Ku­gel vor­bei.

Stu­der stell­te die Queue auf den Bo­den, blin­zel­te und sag­te är­ger­lich:

»Bitz­li z’we­nig Ef­fet.«

Und ge­ra­de in die­sem Au­gen­bli­cke hör­te er zum ers­ten Male die dröh­nen­de Stim­me, die er noch oft hö­ren soll­te.

Die Stim­me sag­te:

»Und glaub mir, in der Af­fä­re Wit­schi ist auch nicht al­les Bock; glaub mir nur, da stimmt et­was nicht… und das weißt du ja auch. Dass sie den Schlumpf ge­schnappt ha­ben…« Mehr konn­te Stu­der nicht ver­ste­hen. Die Stil­le, die einen Au­gen­blick über dem Raum ge­schwebt hat­te, zer­sprang, der Lärm der Ge­sprä­che setz­te wie­der ein. Stu­der dreh­te sich um und sah sich an dem Mann mit der merk­wür­dig dröh­nen­den Stim­me fest.

Der war hoch­ge­wach­sen, mit ei­nem ma­ge­ren, zer­furch­ten Ge­sicht. Er saß in ei­ner Ecke des Cafés an ei­nem Tisch­chen zu­sam­men mit ei­nem klei­nen Di­cken. Der Di­cke nick­te, nick­te un­un­ter­bro­chen, wäh­rend der ma­ge­re Alte den Ell­bo­gen auf­ge­stützt hat­te und mit auf­ge­r­eck­tem Zei­ge­fin­ger wei­ter­sprach. Die Lip­pen wa­ren fast un­sicht­bar – dem Mann muss­ten alle Zäh­ne feh­len. Jetzt senk­te der Alte die Hand, hob das Glas zer­streut zum Mund, merk­te plötz­lich, dass es leer war: da zer­brach ein sehr sanf­tes Lä­cheln den har­ten Mund, so, wie ei­ner lä­chelt, der sich selbst nicht ganz ernst nimmt.

»Rösi«, sag­te er zur Kell­ne­rin, die ge­ra­de vor­bei­kam, »Rösi, noch zwei Be­cher.«

»Ja, Herr El­len­ber­ger.« Die rot­haa­ri­ge Kell­ne­rin ließ sich die Hand tät­scheln. Sie sah aus wie eine Kat­ze, die ger­ne schnur­ren möch­te, aber auf der Su­che nach ei­nem ru­hi­gen Platz ist, wo sie dies un­ge­stört tun kann.

»Du kommst…«, sag­te Stu­ders Spiel­part­ner, der No­tar Münch, der einen ho­hen stei­fen Kra­gen um sei­nen di­cken Hals trug. Und wäh­rend Stu­der mit ver­knif­fe­nen Au­gen die Stel­lung der Ku­geln prüf­te, dach­te er im­mer­fort: El­len­ber­ger? El­len­ber­ger? Und re­det von der Af­fä­re Wit­schi? Und wäh­rend er wei­ter dach­te, ob es wohl die­ser El­len­ber­ger sei, Baum­schu­len­be­sit­zer in Ger­zen­stein, Meis­ter des Schlumpf, ver­fehl­te er na­tür­lich sei­nen Stoß. Er hat­te nicht rich­tig ein­ge­krei­det, die Spit­ze der Queue sprang mit ei­nem un­an­ge­nehm ho­hen Gix von der Ku­gel ab.

Das Bil­lard­tuch, mit der sehr hel­len, nach un­ten ab­ge­blen­de­ten Lam­pe dar­über, warf einen grü­nen Schein in die Luft und gab dem Rauch, der lei­se durch die Luft wog­te, eine ku­rio­se Far­be. Ein La­chen, das wie ein Kräch­zen klang, kam vom Tisch des al­ten El­len­ber­ger, aber nicht der Alte hat­te ge­lacht, son­dern sein Beglei­ter, der klei­ne Di­cke. Und in die Stil­le, die dem La­chen folg­te, hör­te Stu­der den al­ten El­len­ber­ger sa­gen:

»Ja, der Wit­schi, der war nicht dumm. Aber der Äsch­ba­cher. Ein zwei­tä­gi­ges Kalb ist min­der…«

»Was ist los, Stu­der?« frag­te der No­tar Münch. Kei­ne Ant­wort.

Die Af­fä­re Wit­schi schi­en wirk­lich ver­hext zu sein.

Jetzt hat­te Stu­der ge­meint, sie die­sen Abend we­nigs­tens ver­ges­sen zu kön­nen.

Aber na­tür­lich: da kam man ins Café zum Bil­lard­spie­len und aus­ge­rech­net muss­te die­ser El­len­ber­ger auch hier hocken und laut über die Af­fä­re Wit­schi re­den. Dann war es na­tür­lich mit der Ruhe vor­bei…

Der Rücken des Er­mor­de­ten auf der Fo­to­gra­fie… Der Rücken, auf dem k­ei­ne Tan­nen­na­deln haf­te­ten… Die Wun­de im Hin­ter­kopf… Die ku­rio­sen Vor­na­men der Fa­mi­li­en­mit­glie­der… Wen­de­lin hieß der Va­ter, die Toch­ter Son­ja, der Sohn Ar­min. Vi­el­leicht hieß die Mut­ter Ana­sta­sia?… Wa­rum nicht?

Wit­schi… der Name klang wie Spat­zen­get­schilp. Der Wen­de­lin Wit­schi, der auf ei­nem Zehn­der den Com­mis­voya­geur1 mach­te und in ei­nem Wald er­schos­sen auf­ge­fun­den wur­de… Die Frau Wit­schi, die im Bahn­hof­ki­osk hock­te und Ro­ma­ne las…

Und wäh­rend Stu­der auf sei­ne Bil­lard­queue ge­stützt, dem Spie­le des No­tars zu­sah, der heu­te Abend in Form zu sein schi­en, hör­te er wie­der die an­ge­nehm dröh­nen­de Stim­me sa­gen:

»Was macht wohl un­ser Schlumpf? Was meinst, Cot­te­reau? Ha­ben sie ihn wohl ge­schnappt, die Tschu­cker?«

Das Wort ›T­schucker‹ gab Stu­der einen Ruck. Er war ab­ge­brüht ge­gen den Spott, dem man als Fahn­der aus­ge­setzt war. Ein­zig die­ses ver­fluch­te Wort mit dem un­an­ge­neh­men ›U‹ mach­te ihn wild. Es klin­ge so voll­ge­fres­sen, hat­te er ein­mal zu sei­ner Frau ge­äu­ßert. Und als er es jetzt aus des al­ten El­len­ber­gers Mun­de hör­te, riss es ihn her­um, und er starr­te auf den Mann.

Er be­geg­ne­te dem Blick ei­nes Au­gen­paa­res, und die­ser Blick war un­ge­müt­lich. Stu­der hielt ihn nicht lan­ge aus. Merk­wür­di­ge Au­gen hat­te der El­len­ber­ger: kalt wirk­ten sie, die Pu­pil­len wa­ren fast schlitz­för­mig, wie bei ei­ner Kat­ze. Und die Iris blau­grün, sehr hell.

»Re­van­che?« frag­te der No­tar Münch. Er hat­te still­schwei­gend eine Se­rie ge­macht und war jetzt fer­tig.

Stu­der schüt­tel­te den Kopf.

»Kennst du den dort drü­ben?« frag­te er und deu­te­te mit dem Dau­men über die Schul­ter. Der No­tar Münch schraub­te sei­nen Kopf aus dem ho­hen Kra­gen. »Den Al­ten dort? Den, der mit dem Di­cken zu­sam­men­hockt? Denk wohl!… Das ist der El­len­ber­ger. Er war heut’ bei mir. We­gen ei­nem ge­wis­sen Wit­schi… Eh, du hast doch von den Leu­ten ge­hört. Der Wit­schi, der vor ein paar Ta­gen um­ge­bracht wor­den ist. Der war dem El­len­ber­ger Geld schul­dig… Den Wit­schi hab’ ich auch ein­mal ge­se­hen…«

Der No­tar Münch schwieg und mach­te mit sei­ner rech­ten Hand, die wie eine Flos­se aus­sah, be­schwich­ti­gen­de Be­we­gun­gen. Und als Stu­der sich um­wand­te, ge­wahr­te er den al­ten El­len­ber­ger, der dem No­tar wink­te, nä­her­zu­kom­men.

Münch ging quer durch den Raum. Drü­ben, am run­den Tisch­chen, schüt­tel­te er dem al­ten El­len­ber­ger die Hand und wink­te dann Stu­der nä­her­zu­kom­men. Der Wacht­meis­ter wur­de vor­ge­stellt, es er­wies sich, dass El­len­ber­ger und Stu­der sich vom Hö­ren­sa­gen kann­ten. Üb­ri­gens war El­len­ber­gers Hand mit Tup­fen über­sät, die in der Far­be an dür­res Bu­chen­laub er­in­ner­ten.

»Hat es Euch be­lei­digt, Wacht­meis­ter Stu­der, dass ich vor­hin ›T­schucker‹ ge­sagt habe? Ich hab ge­se­hen, wie Ihr ge­zuckt habt wie ein jun­ges Ross, wenn es die Gei­ßel kle­pfen hört.«

Das sei so ähn­lich, mein­te Stu­der, wie bei den Gärt­nern, die hät­ten es auch nicht gern, wenn man sie ›Krau­te­rer‹ nen­ne. Oder nicht?

Der El­len­ber­ger lach­te ein tie­fes Bass­la­chen, zwin­ker­te mit den fal­ti­gen Li­dern, saug­te die Lip­pen zwi­schen die Bil­ge­ren und schwieg. Sein Ge­sicht blieb eine lan­ge Wei­le starr; es wirk­te ur­alt und gro­tesk.

Sie sa­ßen um den klei­nen Tisch und hat­ten nicht rich­tig Platz. Ne­ben ih­nen stand ein Fens­ter of­fen, es war schwül, ein hei­ßer Wind strich drau­ßen vor­bei, und der Him­mel war mit ei­ner gif­tig­grau­en Sal­be ver­schmiert.

Die Kell­ne­rin hat­te un­auf­ge­for­dert vier hohe Glä­ser mit Bier auf den Tisch ge­stellt.

»G’­sund­heit«, sag­te Stu­der, hob das Glas, kipp­te es in den Mund, setz­te es ab. Wei­ßer Schaum blieb an sei­nem Schnurr­bart kle­ben. »Aaah…«

Mit Dau­men und Zei­ge­fin­ger ließ der El­len­ber­ger sein Glas lang­sa­me Tän­ze auf der Kar­ton­un­ter­la­ge aus­füh­ren. Dann frag­te er plötz­lich:

»Wisst Ihr et­was vom Schlumpf?«

– Er habe ihn heut mor­gen ver­haf­tet… sag­te Stu­der lei­se. – Wo? – Bei der Mut­ter.

Schwei­gen. Der alte El­len­ber­ger schüt­tel­te den Kopf, so, als sei ihm ir­gend et­was nicht klar.

– Die Tschu… die Fahn­der hät­ten nicht im­mer eine schö­ne Büetz, mein­te er dann tro­cken. Den Sohn von der Mut­ter weg­ho­len… Er, für sein Teil, tue lie­ber Ro­sen oku­lie­ren2 oder al­len­falls im Win­ter ri­go­len.

Der No­tar Münch trom­mel­te ver­le­gen auf der Mar­mor­plat­te und schraub­te an sei­nem Hals. Der klei­ne Di­cke, der Cot­te­reau hieß und also je­ner Ober­gärt­ner war, der die Lei­che ge­fun­den hat­te, schneuz­te sich in ein großes ro­tes Ta­schen­tuch.

Stu­der ließ das Schwei­gen über dem Tisch lie­gen und blick­te am al­ten El­len­ber­ger vor­bei durchs Fens­ter.

»Und? Wie gehts dem Schlumpf?« frag­te der Alte böse.

»Oh«, sag­te Stu­der ru­hig, »er hat sich auf­ge­hängt.«

Der No­tar schmatz­te hör­bar, er blick­te sei­nen Freund Stu­der ver­blüfft an, aber der El­len­ber­ger sprang vom Stuhl auf, stütz­te die Fäus­te auf den Tisch und frag­te laut:

»Was sagst du? Was sagst du?«

»Ja«, wie­der­hol­te Stu­der fried­lich, »er hat sich auf­ge­hängt. Ihr scheint Euch sehr für den Bur­schen zu in­ter­es­sie­ren?«

»Ah bah!« wehr­te der El­len­ber­ger ab. »Ich hab ihn nicht un­gern ge­se­hen. Er hat sich gut ge­hal­ten bei mir… Und jetzt ist er tot… So, so… Der Zwei­te, den die alte Hex’ auf dem Ge­wis­sen hat, sie und ihr… und ihr…« Der El­len­ber­ger un­ter­brach sich. »Also tot ist er?« frag­te er noch ein­mal.

– Das habe er nicht ge­sagt, mein­te Stu­der und be­trach­te­te kri­tisch sei­ne Bris­sa­go. Er sei noch zur rech­ten Zeit ge­kom­men, um den Schlumpf – man kön­ne ja sa­gen: zu ret­ten, ob­wohl…

»Also ist er nicht tot? Und wo ist er jetzt, der Schlumpf?«

»In Thun«, sag­te Stu­der ge­müt­lich und ver­steck­te sei­ne Au­gen un­ter sei­nen Li­dern. »In Thun, in der Kisch­te.« Er, Stu­der, habe auch mit dem Un­ter­su­chungs­rich­ter ge­re­det, ein gä­bi­ger Mann, der Fall sei nicht hoff­nungs­los, aber dun­kel, dun­kel… Das sei das Elend.

»Und das Ge­richt will kla­re Fäl­le, das gibt schö­ne Ver­hand­lun­gen… Aber der Schlumpf leug­net al­les ab, der Fall kommt vor die As­si­sen, na­tür­lich… Und man weiß ja, wie Ge­schwo­re­ne sin­d…« Das al­les un­ter­bro­chen von lan­gen Zü­gen, ab­wech­selnd am Bier­glas und an der Bris­sa­go.

»Aber«, fuhr Stu­der fort, »Ihr habt da einen Satz nicht be­en­digt. Wen habt Ihr ge­meint mit der Hexe? Die Frau Wit­schi?«

El­len­ber­ger wich der Fra­ge aus.

»Wenn Ihr et­was wis­sen wollt, Wacht­meis­ter, müsst Ihr nach Ger­zen­stein kom­men, Euch das Kaff an­schau­en. Es lohnt sich…« Dann seuf­zend: »Ja, der Wit­schi hat’s nicht gut ge­habt. Hat mir oft ge­klagt, der alte Schnap­ser… Aber vie­le sau­fen… Hei­ra­tet nie, Wacht­meis­ter.«

– Er sei schon ver­hei­ra­tet, sag­te Stu­der, und kön­ne nicht kla­gen. – So, ge­schnapst habe der Wit­schi? – Ja, mein­te der El­len­ber­ger, so arg, dass der Äsch­ba­cher, der Ge­mein­de­prä­si­dent – der Mann schaue aus wie eine Sau, die den Rot­lauf habe – den Wit­schi habe nach Han­sen ver­sen­ken wol­len… (Han­sen nennt man im Kan­ton Bern die Ar­beits­an­stalt St. Jo­hann­sen).

Nach ei­ner Wei­le frag­te der El­len­ber­ger:

»Hat er von mir ge­spro­chen, der Er­win?«

Stu­der be­jah­te. Der Schlumpf habe sei­nen Meis­ter ge­rühmt. Seit wann denn der El­len­ber­ger der Für­sor­ge für ent­las­se­ne Sträf­lin­ge bei­ge­tre­ten sei?

»Für­sor­ge?« Die Für­sor­ge kön­ne ihm ge­stoh­len wer­den. Er brau­che bil­li­ge Ar­beits­kräf­te, voilá tout. Und dass er die Bur­schen an­stän­dig be­hand­le, das ge­hö­re zum Ge­schäft, sonst wür­den sie ihm wie­der draus­lau­fen. Er, der El­len­ber­ger, sei zu viel in der Welt her­um­ge­kom­men, die bra­ven Leu­te bräch­ten ihn zum Kot­zen, aber die schwar­zen Scha­fe, wie man so schön sage, die sorg­ten für Ab­wechs­lung. Von ei­nem Tag auf den an­de­ren kön­ne man in der schöns­ten Kri­mi­nal­ge­schich­te drin­nen ste­cken, an ei­nem Mord­fall be­tei­ligt sein, par ex­em­ple, und dann wer­de es spa­ßig.

Der alte El­len­ber­ger stand auf:

»Ich muss heim, Wacht­meis­ter, komm, Cot­te­reau… Ich denk, wir wer­den uns noch ein­mal se­hen… Be­su­chet mich dann, wenn Ihr nach Ger­zen­stein komm­t… Lä­bet wohl…«

Der alte El­len­ber­ger wink­te der Kell­ne­rin, sag­te: »Al­les«, gab ein zünf­ti­ges Trink­geld. Dann schritt er zur Tür. Das letz­te, das Wacht­meis­ter Stu­der an dem Al­ten fest­stell­te, war si­cher merk­wür­dig ge­nug: Der El­len­ber­ger trug zu ei­nem schlechts­it­zen­den An­zug aus Halb­lei­nen ein Paar brau­ne, mo­der­ne Halb­schu­he. Die schwar­zen So­cken, die un­ter den zu kur­z­en Ho­sen her­vor­lug­ten, wa­ren aus schwar­zer Sei­de…

Am nächs­ten Mor­gen schrieb Wacht­meis­ter Stu­der sei­nen Rap­port. Das Büro roch nach Staub, Bo­den­öl und kal­tem Zi­gar­ren­rauch. Die Fens­ter wa­ren ge­schlos­sen. Drau­ßen reg­ne­te es, die paar war­men Tage wa­ren eine Täu­schung ge­we­sen, ein sau­rer Wind blies durch die Stra­ßen und Stu­der war schlech­ter Lau­ne. Wie soll­te man die­sen Rap­port schrei­ben? Viel­mehr, was schrei­ben, was aus­las­sen?

Da rief eine Stim­me von der Türe her sei­nen Na­men.

»Wa isch los?«

»Der Un­ter­su­chungs­rich­ter von Thun hat te­le­fo­niert. Du sollst nach Ger­zen­stein fah­ren… Du hast doch ges­tern den Schlumpf ver­haf­tet! Wie ist’s ge­gan­gen?«

– Der Schlumpf habe ihm durch­bren­nen wol­len auf dem Bahn­hof, sag­te Stu­der, aber es habe nicht ge­langt. Da­bei blieb er sit­zen und schau­te von un­ten her auf den Po­li­zei­haupt­mann.

»Eh«, sag­te der Haupt­mann, »dann lass den Rap­port sein. Kannst ihn spä­ter schrei­ben. Fahr jetzt ab. Am bes­ten wär’s, du wür­dest noch ins Ge­richts­me­di­zi­ni­sche ge­hen. Vi­el­leicht er­fährst du et­was.«

Das habe er so­wie­so ma­chen wol­len, sag­te Stu­der brum­mig, stand auf, nahm sei­nen Re­gen­man­tel, trat vor einen klei­nen Spie­gel und bürs­te­te sei­nen Schnurr­bart. Dann fuhr er zum In­sel­spi­tal.

Der As­sis­tent, der ihn emp­fing, trug eine wun­der­bar rot und schwarz ge­wür­fel­te Kra­wat­te, die un­ter dem stei­fen Um­leg­kra­gen zu ei­nem win­zi­gen Knöt­chen zu­sam­men­ge­zo­gen war. Wenn er sprach, leg­te er die Fin­ger der einen Hand flach auf den Bal­len der an­de­ren und mus­ter­te mit kri­ti­scher, leicht an­ge­ekel­ter Mie­ne sei­ne Fin­ger­nä­gel.

»Wit­schi?« frag­te der As­sis­tent. »Wann ist er ge­kom­men?«

»Mitt­woch, Mitt­wo­cha­bend, Herr Dok­tor«, ant­wor­te­te Stu­der und ge­brauch­te sein schöns­tes Schrift­deutsch.

»Mitt­woch? War­ten Sie, Mitt­woch sa­gen Sie? Ach, ich weiß jetzt, die Al­ko­hol­lei­che…«

»Al­ko­hol­lei­che?« frag­te Stu­der.

»Ja, den­ken Sie, 2,1 pro Mil­le Al­ko­hol­kon­zen­tra­ti­on im Blut. Der Mann muss ge­sof­fen ha­ben, be­vor er er­schos­sen wur­de… Na, ich sage Ih­nen, Herr Kom­mis­sär…«

»Wacht­meis­ter«, stell­te Stu­der tro­cken fest.

»Wir sa­gen bei uns Kom­mis­sär, es klingt bes­ser. Ver­ste­hen Sie, bit­te, nicht nur die Al­ko­hol­kon­zen­tra­ti­on, aber der Zu­stand der Or­ga­ne, ich sage Ih­nen, Herr Kom­mis­sär, so eine schö­ne Le­ber­cir­rho­se habe ich noch nie ge­se­hen. Fa­bel­haft, sage ich Ih­nen. War der Mann nie in ei­ner Ir­ren­an­stalt? Nicht? Nie wei­ße Mäu­se ge­se­hen oder Ki­ne­ma­to­graf an der Wand? Klei­ne Män­ner, die tan­zen, wis­sen Sie? So einen schö­nen, rich­tig­ge­hen­den De­li­ri­um tre­mens? Nie ge­habt? Ah, Sie wis­sen nicht. Scha­de. Und ist er­schos­sen wor­den! Schät­zungs­wei­se eine Me­ter Di­stanz, kei­ne Pul­ver­spu­ren auf der Haut, dar­um ich sage eine Me­ter. Sie ver­ste­hen?«

Stu­der grü­bel­te wäh­rend des Wort­schwal­les über eine ganz ne­ben­säch­li­che Fra­ge nach: wel­cher Na­tio­na­li­tät der jun­ge Mann mit dem klei­nen Kra­wat­ten­knöt­chen an­ge­hö­ren kön­ne… End­lich, auf das letz­te: ›Sie ver­ste­hen?‹ war er im Bil­de.

»Par­la ita­lia­no?« frag­te er freund­lich.

»Ma si­cu­ro!« Der Freu­den­aus­bruch des an­de­ren war nicht mehr zu brem­sen und Stu­der ließ ihn lä­chelnd vor­bei­rau­schen.

Der As­sis­tent war so be­geis­tert, dass er Stu­ders Arm zärt­lich un­ter den sei­nen nahm und ihn in das In­ne­re führ­te. Der Pro­fes­sor sei noch nicht da, aber er, der As­sis­tent, sei ge­nau so auf dem lau­fen­den wie der Pro­fes­sor. Er habe selbst die Sek­ti­on ge­macht. Stu­der frag­te, ob er Wit­schi noch se­hen kön­ne. Das war mög­lich. Wit­schi war kon­ser­viert wor­den. Und bald stand Stu­der vor der Lei­che.

Dies also war der Wit­schi Wen­de­lin, ge­bo­ren 1882, so­mit fünf­zig Jah­re alt: eine rie­si­ge Glat­ze, gelb wie al­tes El­fen­bein; ein arm­se­li­ger Schnurr­bart, hän­gend, spär­lich; ein wei­ches, schwam­mi­ges Dop­pel­kinn… Am merk­wür­digs­ten aber wirk­te der ru­hi­ge Aus­druck des Ge­sich­tes.

Ru­hig, ja. Jetzt, im Tode. Aber es wa­ren doch viel Run­zeln in dem Ge­sicht… Gut, dass der Mann Wit­schi sei­ne Sor­gen los war…

Auf alle Fäl­le war es aber kein Säu­fer­ge­sicht und dar­um sag­te Stu­der auch:

»Er sieht ei­gent­lich nicht aus wie ein Wald- und Wie­senal­ko­ho­li­ker…«

»Wald und Wie­senal­ko­ho­li­ker!« Wun­der­ba­rer Aus­druck!

Die bei­den be­gan­nen zu fach­sim­peln. Zwi­schen ih­nen lag noch im­mer der Kör­per des to­ten Wit­schi. So wie er da lag, war die Wun­de hin­ter dem Ohr nicht zu se­hen. Und wäh­rend Stu­der mit dem Ita­lie­ner über einen Fall von Ver­si­che­rungs­be­trug dis­ku­tier­te, der in der Fachli­te­ra­tur Auf­se­hen er­regt hat­te (ein Mann hat­te sich er­schos­sen und den Selbst­mord als Mord ka­mou­fliert), frag­te Stu­der plötz­lich:

»So et­was wäre hier nicht mög­lich, nicht wahr?« und er deu­te­te mit dem Zei­ge­fin­ger auf die Lei­che.

»Aus­ge­schlos­sen«, sag­te der Ita­lie­ner, der sich in­zwi­schen als Dr. Mala­pel­le aus Mai­land vor­ge­stellt hat­te.

»Ganz ab­so­lut un­mög­lich. Um die Wun­de her­vor­zu­brin­gen, müss­te er ge­hal­ten ha­ben sei­nen Arm so:…« Und er de­mons­trier­te die Be­we­gung mit ganz zum Schul­ter­blatt hin ver­dreh­tem Ell­bo­gen. Statt des Re­vol­vers hielt er sei­nen Füll­fe­der­hal­ter in der Hand. Die Spit­ze des Füll­fe­der­hal­ters war nur etwa zehn Zen­ti­me­ter von der Stel­le hin­ter dem rech­ten Ohr ent­fernt, an der an der Lei­che die Ein­schuss­öff­nung zu se­hen war.

»Aus­ge­schlos­sen«, wie­der­hol­te er. »Es hät­te Pul­ver­spu­ren ge­ge­ben. Und ge­ra­de weil es kei­ne sol­chen hat ge­ge­ben, ha­ben wir ge­schlos­sen, die Di­stanz hat sein müs­sen mehr als ein Me­ter.«

»Hm«, mein­te Stu­der. Er war nicht ganz über­zeugt. Er schlug das Tuch zu­rück, das über dem To­ten lag. Merk­wür­dig lan­ge Arme hat­te der Wit­schi…

»Er­ge­ben­heit!« sag­te Stu­der laut, so, als habe er end­lich ein lang ge­such­tes Wort ge­fun­den. Es be­zog sich auf den Ge­sichts­aus­druck des To­ten.

»Fa­ta­lis­mo! Ganz rich­tig! Er hat ge­wusst, es ist al­les aus. Aber ich weiß nicht, ob er hat ge­wusst, er muss ster­ben…«

»Ja«, gab Stu­der zu, »es kann sein, dass er et­was an­de­res er­war­tet hat. Aber et­was, ge­gen das man nicht an­kämp­fen kann…«

Felicitas Rose und Parker Duofold

Das Mäd­chen las einen Ro­man von Fe­li­ci­tas Rose. Ein­mal hielt sie das Buch hoch, so­dass Stu­der den Um­schlag se­hen konn­te: ein Herr in Reit­ho­sen und blan­ken Stie­feln lehn­te an ei­ner Ba­lus­tra­de, im Hin­ter­grun­de schwam­men Schwä­ne auf ei­nem Schloss­teich und ein Fräu­lein in Weiß spiel­te ver­schämt mit ih­rem Son­nen­schirm.

»Wa­rum le­sen Sie ei­gent­lich sol­chen Mist?« frag­te Stu­der. – Es gibt ge­wis­se Leu­te, die über­emp­find­lich auf Jod und Brom sind, Idio­syn­kra­sie nennt man dies… Stu­ders Idio­syn­kra­sie be­zog sich auf Fe­li­ci­tas Rose und Courths-Mah­ler. Vi­el­leicht, weil sei­ne Frau frü­her sol­che Ge­schich­ten ger­ne ge­le­sen hat­te – näch­te­lang – dann war am Mor­gen der Kaf­fee dünn und lau ge­we­sen und die Frau schmach­tend. Und schmach­ten­de Frau­en am Mor­gen…

Das Mäd­chen sah bei der Fra­ge auf, wur­de rot und sag­te böse: »Das geht Euch nichts an!« ver­such­te wei­ter zu le­sen, aber dann schi­en es ihr doch zu ver­lei­den, sie klapp­te das Buch zu und steck­te es in eine Ak­ten­map­pe, in der, wie Stu­der fest­stell­te, noch zwei schmut­zi­ge Ta­schen­tü­cher, ein Füll­fe­der­hal­ter von im­po­san­ter Di­cke und eine Hand­ta­sche ver­staut wa­ren. Dann blick­te das Mäd­chen zum Fens­ter hin­aus.

Stu­der lä­chel­te freund­lich und be­trach­te­te es auf­merk­sam. Er hat­te Zeit…

Der Zug kroch durch eine graue Land­schaft. Re­gen­trop­fen zo­gen punk­tier­te Li­ni­en aufs Glas, dann flos­sen sie, un­ten am Fens­ter, zu klei­nen trü­ben See­lein zu­sam­men. Und an­de­re Re­gen­trop­fen punk­tier­ten aufs neue die Schei­be… Hü­gel stie­gen auf, ein Wald ver­barg sich im Ne­bel…

Das Kinn des Mäd­chens war spitz. Laub­fle­cken auf dem Na­sen­sat­tel und an den sehr wei­ßen Schlä­fen… Die ho­hen Ab­sät­ze an den Schu­hen wa­ren an der In­nen­sei­te schief ge­tre­ten. So­bald sich der Schuh ver­schob, ließ er ein Loch im dunklen Strumpf se­hen, hin­ten, über der Fer­se.

Das Mäd­chen hat­te ein Abon­ne­ment ge­zeigt. Es muss­te die Stre­cke oft fah­ren. Wo­hin fuhr sie? Etwa auch nach Ger­zen­stein? Sie trug ein klei­nes Knöt­chen im Na­cken, eine Bas­ken­müt­ze über das rech­te Ohr ge­zo­gen. Das blaue Béret war stau­big.

Stu­der lä­chel­te vä­ter­lich mil­de, als ihn ein Blick des Mäd­chens streif­te. Aber das Vä­ter­lich-Mil­de zog nicht. Das Mäd­chen starr­te zum Fens­ter hin­aus.

Un­ru­hig zuck­ten die Hän­de. Die kurz­ge­schnit­te­nen Nä­gel hat­ten einen Trau­er­rand. Auf der In­nen­sei­te des rech­ten Zei­ge­fin­gers war ein Tin­ten­fleck.

Noch ein­mal öff­ne­te das Mäd­chen die Map­pe, kram­te dar­in, fand schließ­lich das Ge­such­te.

Es war ein di­cker, ech­ter Par­ker Duo­fold, ein aus­ge­spro­chen männ­li­cher Füll­fe­der­hal­ter von brau­ner Far­be.

Das Mäd­chen schraub­te die Hül­se ab, pro­bier­te die Fe­der auf dem Dau­men­na­gel, hol­te sich noch ein­mal Fe­li­ci­tas Rose aus der Map­pe, aber nicht, um dar­in zu le­sen: die letz­te Sei­te soll­te als Übungs­feld die­nen. Sie krit­zel­te. Stu­der starr­te auf die Buch­sta­ben, die ent­stan­den:

»Son­ja…« stand da. Und dann form­te die Fe­der an­de­re Buch­sta­ben:

»Dei­ne Dich ewig lie­ben­de Son­ja…«

Stu­der wand­te den Blick ab. Wenn das Mäd­chen jetzt auf­sah, dann wur­de es si­cher ver­le­gen oder böse. Man soll Leu­te nicht nutz­los böse oder ver­le­gen ma­chen. Man muss es oh­ne­hin nur all­zu oft tun, wenn man den Be­ruf ei­nes Fahn­ders aus­üb­t…

Der Zug­füh­rer ging durch den Wa­gen. An der Tür, die zum nächs­ten Ab­teil führ­te, wand­te sich der Mann um:

»Ger­zen­stein«, sag­te er laut.

Das Mäd­chen be­hielt den Füll­fe­der­hal­ter in der Hand, ließ Fe­li­ci­tas Rose mit dem schö­nen Gra­fen in ge­wichs­ten Reit­s­tie­feln in der Map­pe ver­schwin­den und stand auf.

Ein Trans­for­ma­to­ren­häus­chen. Vie­le Ein­fa­mi­li­en­häu­ser. Dann ein grö­ße­res Haus. Ein Schild dar­auf: ›Ger­zen­stei­ner An­zei­ger. Dru­cke­rei Emil Äsch­ba­cher‹. Da­ne­ben, im Gar­ten, ein Kä­fig aus Draht­ge­flecht. Klei­ne bun­te Sit­ti­che hock­ten ver­fro­ren auf Stan­gen. Die Brem­sen schri­en. Stu­der stand auf, pack­te sei­nen Kof­fer am Griff und schritt zur Tür. Sei­ne Ge­stalt im blau­en Re­gen­man­tel füll­te den Gang aus.

Es tröp­fel­te noch im­mer. Der Sta­ti­ons­vor­stand hat­te einen di­cken Man­tel an­ge­zo­gen, sei­ne rote Müt­ze war das ein­zig Far­bi­ge in all dem Grau. Stu­der trat auf ihn zu und frag­te ihn, wo hier der Gast­hof zum ›Bä­ren‹ sei.

»Die Bahn­hof­stra­ße hin­auf, dann links, das ers­te große Haus mit ei­nem Wirts­gar­ten da­ne­ben…« Der Sta­ti­ons­vor­stand ließ Stu­der ste­hen.

Wo war das Mäd­chen ge­blie­ben? Das Mäd­chen, das auf die letz­te Sei­te ei­nes bro­schier­ten Ro­mans mit klei­ner, et­was zitt­ri­ger Schrift ge­schrie­ben hat­te: »Dei­ne Dich ewig lie­ben­de Son­ja…« Son­ja? Es hie­ßen nicht vie­le Mäd­chen Son­ja…

Dort stand das Mäd­chen, vor dem Kiosk, des­sen Fens­ter mit far­bi­gen Ein­bän­den ta­pe­ziert war. Es beug­te sich zum klei­nen Schieb­fens­ter und Stu­der hör­te es sa­gen:

»Ich geh jetzt heim, Mut­ter. Wann kommst du?«

Ein Ge­mur­mel war die Ant­wort.