Der Tee der drei alten Damen - Friedrich C. Glauser - E-Book

Der Tee der drei alten Damen E-Book

Friedrich C. Glauser

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Beschreibung

Ein junger Mann wird nachts in Genf aufgefunden, scheinbar vergiftet. Er stirbt im Krankenhaus. Nur wenige Tage danach erleidet ein Apotheker ein ähnlich tödliches Schicksal. Ein bekannter, morphiumsüchtiger Professor wird verdächtigt. Simpson O'Key - was für ein Name! - Agent der britischen Krone, macht sich auf die Jagd. Mit Hilfe der Polizei versucht er das Geheimnis um drei alte Damen zu enthüllen, die angeblich alleinstehende Männer zum Tee einladen. Die Geschichte, wie immer mit viel Liebe zum Detail aber auch zum Spott aufgezeichnet vom großartigen Schweizer Chronisten des beginnenden 20 Jahrhunderts, Friedrich Glauser, ist inspiriert von der in Genf stattgefunden Gründung des Völkerbundes, des Vorläufers der UNO, und den auftauchenden fremdländischen Personen: Spionen, Gauklern, Betrügern, Staatsoberhäuptern und sonstigem zwielichtigen Gesindel. Spionage, Gegenspionage, Hokuspokus, Gier und Neid sind Thema in dieser Krimisatire. Und wenn rätselhafte Ölfunde in noch rätselhafteren Ministaaten erwähnt werden, so erscheint die Geschichte bemerkenswert hellsichtig. Glaser, selbst lange Jahre Insasse verschiedener Irrenanstalten, hoffnungslos morphiumsüchtig und immer am Rande zum Wahnsinn - wer will das schon definieren? - hinterließ in seiner viel zu kurzem Schaffenszeit ein Panoptikum skurrilster Figuren; am bekanntesten der grantelnde Alpen-Ermittler Wachtmeister Studer, der vielleicht erste deutschsprachige Ermittler in der Literaturszene überhaupt. Null Papier Verlag

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Friedrich Glauser

Der Tee der drei alten Damen

Eine Kriminalgeschichte

Friedrich Glauser

Der Tee der drei alten Damen

Eine Kriminalgeschichte

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] EV: Morgarten, Zürich, 1940 3. Auflage, ISBN 978-3-954182-86-2

null-papier.de/neu

Inhaltsverzeichnis

Das Buch

Der Au­tor

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Dan­ke

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Ihr Jür­gen Schul­ze

99 Welt-Klas­si­ker

Der Tee der drei al­ten Da­men

Arme Leu­te und Der Dop­pel­gän­ger

Der Vam­pir

Der selt­sa­me Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Der Idi­ot

Jane Eyre

Effi Briest

Ma­da­me Bo­va­ry

Ili­as & Odys­see

Ge­schich­te des Gil Blas von San­til­la­na

und wei­te­re …

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Das Buch

Ein jun­ger Mann wird nachts in Genf auf­ge­fun­den, schein­bar ver­gif­tet. Er stirbt im Kran­ken­haus. Nur we­ni­ge Tage da­nach er­lei­det ein Apo­the­ker ein ähn­lich töd­li­ches Schick­sal. Ein be­kann­ter, mor­phi­um­süch­ti­ger Pro­fes­sor wird ver­däch­tigt. Simp­son O’Key -- was für ein Name! -- Agent der bri­ti­schen Kro­ne, macht sich auf die Jagd. Mit Hil­fe der Po­li­zei ver­sucht er das Ge­heim­nis um drei alte Da­men zu ent­hül­len, die an­geb­lich ger­ne al­lein­ste­hen­de Män­ner zum Tee ein­la­den.

Der Autor

Fried­rich Charles Glau­ser (* 4. Fe­bru­ar 1896 in Wien; † 8. De­zem­ber 1938 in Ner­vi bei Ge­nua) war ein Schwei­zer Schrift­stel­ler. Er gilt als ei­ner der ers­ten deutsch­spra­chi­gen Kri­mi­au­to­ren.

Schrift­stel­ler zu sein, hieß für Fried­rich Glau­ser zu­nächst, Ge­dich­te zu schrei­ben. In der ly­ri­schen Form glaub­te er, sein in­ne­res Er­le­ben aus­drücken zu kön­nen. Vor­bil­der wa­ren für ihn Sté­pha­ne Mall­ar­mé und Ge­org Trakl; der Ton ent­spricht dem ex­pres­sio­nis­ti­schen Te­nor der Zeit am Ende des Ers­ten Welt­krie­ges. Doch kei­ner die­ser Tex­te wur­de ge­druckt. Für die Samm­lung sei­ner Ge­dich­te, die Glau­ser 1920 zu­sam­men­stell­te, fand sich kein Ver­le­ger. Sei­ne Ge­dich­te wur­den da­her erst post­hum ver­öf­fent­licht.

In den letz­ten drei Le­bens­jah­ren schrieb Glau­ser fünf Kri­mi­nal­ro­ma­ne, in de­ren Mit­tel­punkt Wacht­meis­ter Stu­der steht, ein ei­gen­sin­ni­ger Kri­mi­nal­po­li­zist mit Ver­ständ­nis für die Ge­fal­le­nen der Ge­sell­schaft.

Der Kri­mi­nal­ro­man »Mat­to re­giert« spielt in ei­ner psych­ia­tri­schen Kli­nik und man merkt ihm ge­nau­so wie den an­de­ren Ro­ma­nen an, dass der Au­tor ei­ge­ne Er­leb­nis­se ver­ar­bei­tet hat. Mit ein­dring­li­chen Mi­lieu­stu­di­en und pa­cken­den Schil­de­run­gen der so­zi­al­po­li­ti­schen Si­tua­ti­on ge­lingt es ihm, den Le­ser in sei­nen Bann zu schla­gen.

Glau­ser ist nach der Auf­fas­sung von Er­hard Jöst »ei­ner der wich­tigs­ten Weg­be­rei­ter des mo­der­nen Kri­mi­nal­ro­mans«. Sei­ne Ro­ma­ne und drei wei­te­re Bän­de mit Pro­sa­tex­ten wur­den zwi­schen 1936 und 1945 ver­öf­fent­licht.

Glau­sers Nach­lass be­fin­det sich im Schwei­ze­ri­schen Li­te­ra­tu­rar­chiv in Bern.

Bei ei­ner Umfrage im Jahr 1990 un­ter 37 Kri­mi­fach­leu­ten nach dem »bes­ten Kri­mi­nal­ro­man al­ler Zei­ten« lan­de­te Wacht­meis­ter Stu­der als bes­ter deutsch­spra­chi­ger Kri­mi auf Platz 4.

Erstes Kapitel

1

Um zwei Uhr nachts ist die Place du Mo­lard leer--. Eine Bo­gen­lam­pe be­scheint ein Tram­häus­chen und ei­ni­ge Bäu­me, de­ren Blät­ter la­ckiert glän­zen. Auch ist ein Po­li­zist vor­han­den, der die­se Ein­sam­keit zu be­wa­chen hat. Er lang­weilt sich, die­ser Po­li­zist, sehnt sich nach ei­nem Gla­se Wein, denn er ist Waadt­län­der und der Wein für ihn der In­be­griff der Hei­mat. Die­ser Po­li­zist heißt Malan, er trägt einen kup­fer­ro­ten Schnurr­bart und gähnt von Zeit zu Zeit.

Plötz­lich steht vor dem Tram­häus­chen ein jun­ger Mensch -- weiß Gott, von wo er plötz­lich auf­ge­taucht ist. Die­ser jun­ge Mann -- ele­gant ge­klei­det in einen grau­en An­zug, nur sei­ne Haa­re sind et­was wirr -- be­nimmt sich merk­wür­dig. Er zieht zu­erst den Rock aus, dann löst er den le­der­nen Gür­tel, tau­melt ein we­nig, steht dann in kur­z­en Un­ter­ho­sen da, sei­ne So­cken­hal­ter sind aus blau­er Sei­de. Nun nes­telt er an sei­nen Man­schet­ten­knöp­fen, der eine Knopf klirrt aufs Pflas­ter -- da rafft sich Po­li­zist Malan auf, tritt nä­her und sagt:

»Aber mein Herr, was tun Sie da?«

Der jun­ge Mann glotzt; die Pu­pil­len sei­ner Au­gen sind sehr groß, so groß, daß die Far­be der Iris gar nicht zu er­ken­nen ist. Au­ßer­dem sind die Züge des Ge­sich­tes merk­wür­dig starr und un­be­wegt. Und wäh­rend Po­li­zist Malan noch über­legt, ob der Mann ei­gent­lich be­sof­fen ist, schwankt der Hal­bent­klei­de­te stär­ker, greift mit den Hän­den in die Luft, fin­det kei­nen Halt und knallt mit dem Hin­ter­kopf aufs Pflas­ter. Dann liegt er ru­hig, nur die Gum­mi­ab­sät­ze sei­ner brau­nen Halb­schu­he trom­meln einen lei­sen Marsch auf dem As­phalt. Malan beugt sich über den jun­gen Mann und mur­melt:

»Der ist ja gar nicht be­trun­ken, er riecht nicht nach Wein, nicht nach Schnaps.«

Dann schüt­telt er den Kopf, hebt den Kör­per auf und trägt ihn auf die Bank, die den Kiosk im Halb­kreis um­gibt. Er sam­melt die ver­streu­ten Klei­dungs­stücke, fal­tet sie sorg­fäl­tig (schö­ner grau­er Fla­nell, denkt er). Er liest die Adres­se des Schnei­ders, mur­melt: »Von Lon­don! Wohl ei­ner von den frem­den Di­plo­ma­ten!« und seufzt dazu, denn der Völ­ker­bund bringt doch nur Unan­nehm­lich­kei­ten in die ru­hi­ge Stadt Genf. Und wäh­rend er noch nicht recht weiß, was in ei­nem sol­chen Fall zu tun ist, ob man zu­erst ans Spi­tal zu te­le­pho­nie­ren hat oder an den Kom­mis­sär Pil­le­vuit, kom­men Schrit­te nä­her und im Schein der Bo­gen­lam­pe taucht ein äl­te­rer Herr auf, der einen breit­ran­di­gen schwar­zen Hut trägt; dar­un­ter schim­mert ein kur­z­er wei­ßer Bart.

»Was ist los, Bri­ga­dier?« frägt der alte Herr. Er hat eine tie­fe Stim­me. »Ein Un­glücks­fall? Kann ich Ih­nen be­hilf­lich sein?«

Der alte Herr tritt zu dem Lie­gen­den, hebt mit dem Dau­men des­sen Ober­lid, und sagt:

»Merk­wür­dig!«

Dann faßt er nach dem Hand­ge­lenk, zählt laut die Puls­schlä­ge, wäh­rend er eine fla­che Uhr aus der Wes­ten­ta­sche zieht. Malan steht da­ne­ben und weiß nicht recht, wie er sich be­neh­men soll. Der Herr, -- viel­leicht ist er ein Arzt, dann ist al­les gut, -- kommt mög­li­cher­wei­se von ei­nem Kran­ken­be­such, sonst wäre sei­ne An­we­sen­heit zu so nacht­schla­fen­der Zeit im­mer­hin ver­däch­tig. Man kann ja fra­gen, denkt Malan und räus­pert sich; aber be­vor er noch ein Wort ge­sagt hat, mel­det sich der Herr: »Sie möch­ten wis­sen, wer ich bin? Da…«

Er hat eine Brief­ta­sche ge­zo­gen, ihr eine Vi­si­ten­kar­te ent­nom­men. Da­rauf steht:

Louis Do­mi­nicéPro­fes­seur de Psy­cho­lo­gieà l’U­ni­ver­sité de Genè­ve

»Mein lie­ber Bri­ga­dier, dies ist eine Ver­gif­tung. Das bes­te, Sie te­le­pho­nie­ren so­fort ans Spi­tal«, sagt der alte Herr. Er spricht die Wor­te sehr prä­zis aus und macht dazu be­leh­ren­de Hand­be­we­gun­gen. »Ha­ben Sie die Klei­der schon durch­sucht? Kei­ne Pa­pie­re?«

Malan wird ver­le­gen. Er hat sei­ne Pf­lich­ten, scheint es, ver­ges­sen. Nun be­sinnt er sich auf sie, er kehrt die Ta­schen der Ho­sen, des Rockes um; sie sind leer.

»Von wel­cher Sei­te ist der Mann ge­kom­men?« frägt der Pro­fes­sor wei­ter.

Auch die­se Fra­ge kann Malan nicht be­ant­wor­ten.

»Ich ma­che Ih­nen einen Vor­schlag«, sagt Pro­fes­sor Do­mi­nicé. »Ich wer­de an das Spi­tal te­le­pho­nie­ren, ich habe dort noch Be­kann­te, mei­nem Rufe wird man schnel­ler Fol­ge leis­ten als dem Ihren. Und wäh­rend ich te­le­pho­nie­re, kön­nen Sie die Toi­let­te un­ter­su­chen, die un­ter die­sem Kiosk liegt. Vi­el­leicht fin­den Sie dort et­was.«

Der Herr weiß mehr als ich, denkt Po­li­zist Malan, aber er wagt nicht, sei­ne Ge­dan­ken laut wer­den zu las­sen. Er ist noch nicht lan­ge bei der Po­li­zei, und au­ßer­dem im­po­niert ein Pro­fes­sor ei­nem ein­fa­chen Man­ne be­trächt­lich. Da­rum geht Malan auch ge­hor­sam um das Tram­häus­chen, steigt Trep­pen hin­ab und ge­langt in einen weiß ge­ka­chel­ten Raum.

Es ist sehr still hier, Flie­gen sum­men um eine ein­sa­me Glüh­bir­ne, die röt­lich leuch­tet. Ge­schlos­se­ne Tü­ren mit der Auf­schrift: »Öff­net sich nur nach Ein­wurf ei­nes 20-Cen­ti­mes-Stücks.« Alle Tü­ren, an de­nen Malan vor­bei­sch­rei­tet, tra­gen noch ein an­de­res be­weg­li­ches Tä­fel­chen, das an­zeigt, daß die Ka­bi­ne »frei« ist. Nur die letz­te Tür ist an­ge­lehnt, das Schild ver­scho­ben, ein Spalt klafft. Malan lauscht. Nur Flie­gen sum­men. Kein Atem­zug. Er will die Tür vor­sich­tig auf­sto­ßen, da wird sie von in­nen auf­ge­ris­sen, Malan will zu­grei­fen, ein har­ter spit­zer Schä­del bohrt sich in sei­ne Ma­gen­gru­be -- spä­ter, viel spä­ter, als im Sa­ma­ri­ter­kurs der »Ple­xus so­la­ris« durch­ge­nom­men wird, denkt er still Aha! sonst nichts -- und er setzt sich auf die Flie­sen. Sei­ne auf­ge­sperr­ten Au­gen neh­men den­noch ein Bild auf: zwei Bei­ne, die über die Stie­gen ver­schwin­den.

Sie ste­cken in wei­ßen Ten­nis­ho­sen.

Malan geht die Stu­fen hin­auf, sieht sich oben um, der Platz ist leer. Auch der Pro­fes­sor scheint ver­schwun­den zu sein. Auf der Bank liegt der jun­ge Mann, mit halb­ge­schlos­se­nen Au­gen, sein Atem geht pfei­fend.

Doch da ist der Pro­fes­sor! Deut­lich ist er in der Te­le­phon­ka­bi­ne zu se­hen, er ges­ti­ku­liert und spricht auf­ge­regt in den Trich­ter. Dann hängt er den Hö­rer an und kommt her­aus.

»Ha­ben Sie nie­man­den ge­se­hen?« frägt Malan. Der Pro­fes­sor schüt­telt den Kopf. Er hat sei­nen breit­ran­di­gen Hut auf den Hin­ter­kopf ge­scho­ben, sei­ne wei­ßen Haa­re schim­mern feucht. Die Nacht ist sehr schwül.

»Es ist mir näm­lich je­mand be­geg­net, dort un­ten«, sagt Malan. Da­bei preßt er die Fäus­te in die Ma­gen­gru­be.

»Sind Sie ver­letzt?« er­kun­digt sich der Pro­fes­sor be­sorgt.

Malan schüt­telt den Kopf. Dann öff­net er die ge­ball­ten Fäus­te. Aus der Rech­ten fällt et­was zu Bo­den, das im Lich­te me­tal­lisch schim­mert. Malan bückt sich, er er­in­nert sich, daß er beim Hin­fal­len et­was un­ter sei­ner Hand­flä­che ge­spürt hat, -- und sei­ne Fin­ger ha­ben sich un­be­wußt um die­ses Ding ge­schlos­sen. Nun be­trach­tet er es und ist er­staunt, denn et­was Ähn­li­ches hat er noch nie ge­se­hen. Es sind, ge­bün­delt, etwa 20 sehr fei­ne Dräh­te, die nicht län­ger sind als ein klei­ner Fin­ger. Hilf­los streckt er das Bün­del dem Pro­fes­sor hin. Pro­fes­sor Do­mi­nicé nickt.

»Kenn ich«, sagt er tro­cken. Er zieht einen der fei­nen Dräh­te aus dem Bün­del, hält ihn hoch und er­klärt:

»Den braucht man, um jene Hohl­na­deln zu rei­ni­gen, so­fern sie näm­lich ver­stopft sind, de­ren sich Mor­phi­nis­ten be­die­nen, um sich ver­mit­telst ei­ner so­ge­nann­ten Pra­vaz­schen Sprit­ze das auf­ge­lös­te Gift in den Kör­per ein­zu­ver­lei­ben.«

Der Po­li­zist Malan ist doch nicht ganz dumm. Die ge­schraub­te, si­cher ver­le­ge­ne Aus­drucks­wei­se des Pro­fes­sors scheint ihm ir­gend­wie be­denk­lich. Aber was soll man ma­chen? Man ist schwer­fäl­lig. Wie soll man sei­nen Ver­dacht äu­ßern, den Ver­dacht näm­lich, daß mit die­sem al­ten Herrn et­was nicht stimmt? Üb­ri­gens läßt Do­mi­nicé auch kei­ne Fra­ge auf­kom­men.

»Das Sa­ni­täts­au­to«, sagt er, »wird in kür­zes­ter Frist den Pa­ti­en­ten ab­ho­len. Ich bin müde. Sie wis­sen ja, wo ich zu fin­den bin. Falls man mich braucht, wer­de ich im­mer zu er­rei­chen sein. Gute Nacht.«

Merk­wür­dig, wie die Fin­ger des Pro­fes­sors zit­tern, wäh­rend er sich aus gro­bem fran­zö­si­schem Ta­bak eine Zi­ga­ret­te dreht. Er zün­det sie an, ent­fernt sich. Hin­ter ihm bleibt der Rauch in der sti­cki­gen Luft reg­los ste­hen.

»Und ich habe den Herrn nicht ein­mal ge­fragt, ob er den Mann da kennt«, mur­melt Malan ver­drieß­lich. »Na, der Alte soll sich sel­ber um die Sa­che küm­mern!« Er sagt nicht Sa­che, son­dern ge­braucht ein grö­be­res Wort. Un­ter dem »Al­ten« aber ver­steht er den Kom­mis­sär Pil­le­vuit, einen Mann mit blon­dem Fah­nen­bart, der mit dem Po­li­zis­ten Malan im­mer­hin eine Ei­gen­schaft ge­mein­sam hat: der Kom­mis­sär liebt auch Waadt­län­der Wei­ne.

Nun ist Malan wie­der al­lein, denn der Kran­ke auf der Bank zählt nicht. Der große Platz ist trotz des schar­fen Lich­tes der Bo­gen­lam­pe un­heim­lich. Die lee­ren Fens­ter der Ge­schäfts­häu­ser glot­zen bös­ar­tig und Malan räus­pert sich, um sich die­ses furchter­re­gen­de Ge­ba­ren zu ver­bie­ten. Aber die Häu­ser glot­zen wei­ter. End­lich kommt ein Sur­ren nä­her, ein Auto hält mit ei­nem Ruck. Es ist ein grü­ner ge­schlos­se­ner Kas­ten mit spär­li­chen Milchglas­schei­ben. Ein Mann steigt aus, der Chauf­feur springt von sei­nem Sitz.

Eine Bah­re glei­tet aus dem Kas­ten, der Kran­ke wird dar­auf ge­packt, eine Tür knallt zu, der Chauf­feur sitzt schon wie­der auf sei­nem Platz, ein bö­ses Sur­ren des An­las­sers, und Malan kommt sich ver­höhnt vor von dem ro­ten Auge des Schluß­lichts.

2

De­li­riert er viel?« frag­te Dr. Thé­ve­noz. Er zog zwei Hart­gum­mipfrop­fen aus den Ohren, die durch rote, zu­sam­men­lau­fen­de Kaut­schuk­schläu­che mit ei­nem schwar­zen Zy­lin­der ver­bun­den wa­ren, der auf der nack­ten Brust des Pa­ti­en­ten lag.

Schwes­ter An­net­te schüt­tel­te den Kopf.

»Ei­gent­lich nicht«, sag­te sie. »Er mur­melt nur von Zeit zu Zeit un­ver­ständ­li­che Wor­te. Ich glau­be fast, es ist eng­lisch.«

»So, eng­lisch…«

Dr. Thé­ve­noz, ein etwa 35­jäh­ri­ger Mann, mit spär­li­chem blon­dem Haar, blick­te zum Fens­ter hin­aus. Das ging auf grü­ne Laub­bäu­me. Im Zim­mer stand nur ein Bett. An der Wand war ein wei­ßes Be­cken an­ge­bracht, mit zwei wei­ßen Häh­nen dar­über.

Der Pa­ti­ent warf sich un­ru­hig in sei­nem Bett her­um.

»Don’t sting«, stöhn­te er. »Go to hell…«

»Hal­lo, Ro­sen­stock, spra­chen­kun­di­ger Ahas­ver, was heißt ›s­ting‹?«

Dok­tor Wla­di­mir Ro­sen­stock, As­sis­tenz­arzt, klein, leicht ver­fet­tet trotz sei­nes ju­gend­li­chen Aus­se­hens, schi­en sich beim Ge­hen im­mer im Schlitt­schuh­lauf zu üben. So glitt er ins Zim­mer.

»Sting?« wie­der­hol­te Ro­sen­stock fra­gend, »ein un­ge­bräuch­li­ches Wort, heißt ste­chen, wenn es sich um eine Bie­ne han­delt, oder um eine We­s­pe, oder sonst um ein In­sekt.«

»Hal­lo!« Dr. Thé­ve­noz schnalz­te mit den Fin­gern. »Stimmt auf­fal­lend. Se­hen Sie sich die­sen Arm an. Nun? Der Fle­cken da am Ell­bo­gen­ge­lenk?… Sieht der nicht wie eine In­jek­ti­on aus? Eine in­tra­ve­nö­se Ein­sprit­zung?… Ver­gif­tet? Aber wel­ches Gift? Was mein­ten Sie, mein blon­der En­gel?« Die letz­ten Wor­te gal­ten Schwes­ter An­net­te, die sich Mühe gab, zu er­rö­ten.

»Ro­sen­stock, ge­lieb­tes­ter mei­ner Schü­ler, wel­che Dia­gno­se wird Ihrem Hirn ent­stei­gen, weis­heits­ge­pan­zert, wie sei­ner­zeit eine grie­chi­sche Göt­tin dem Schä­del ih­res Va­ters -- was üb­ri­gens eine merk­wür­di­ge Art ve­ge­ta­ti­ver Ver­meh­rung war, ver­zei­hen Sie den schlech­ten Witz! --. Woran krankt der jun­ge Mann? Wel­ches Gift tobt in sei­nen Adern, um mich je­ner Aus­drucks­wei­se zu be­die­nen, die geld­ver­die­nen­den Schrei­bern ei­gen ist? Re­den Sie, Ro­sen­stock! Ver­ges­sen Sie Ihre Ab­stam­mung! Ver­ges­sen Sie das Sprich­wort, wel­ches das Schwei­gen mit dem Gold­stan­dard in Ver­bin­dung bringt. Be­keh­ren Sie sich zum Bi­me­tal­lis­mus, las­sen Sie das Sil­ber Ih­rer Rede er­klin­gen, ich lau­sche.«

Schwes­ter An­net­te ki­cher­te ein Back­fischla­chen, auch Ro­sen­stock lä­chel­te, er lieb­te es, ge­hän­selt zu wer­den. Doch als er ant­wor­ten woll­te, un­ter­brach ihn Dok­tor Thé­ve­noz wie­der.

»Wie, Ro­sen­stock, Sie wol­len ein Gut­ach­ten ab­ge­ben? Ohne den Pa­ti­en­ten un­ter­sucht zu ha­ben? Sie wol­len spre­chen und noch wis­sen Sie nichts von der Ana­mne­se des Fal­les? Ro­sen­stöck­lein, be­den­ken Sie, Sie sind noch kein Pro­fes­sor, der mit nacht­wand­le­ri­scher Si­cher­heit Kohl ver­zap­fen darf -- in­tui­tiv -- ver­ste­hen Sie? Sie sind erst As­sis­tent, und als sol­cher zu höchs­ter, zu strengs­ter Ge­wis­sen­haf­tig­keit ver­pflich­tet. Ich will Ih­nen hel­fen. Der jun­ge Mann hier -- ru­hig, jun­ger Mann! Ich bin dar­an, Ihren Fall zu ex­pli­zie­ren, ich muß Sie drin­gendst bit­ten, mich nicht zu un­ter­bre­chen« -- der Pa­ti­ent stöhn­te näm­lich lei­se, warf sich her­um, mur­mel­te auch: »was sa­gen Sie, jun­ger Mann?«

»Er hat Durst«, be­merk­te Ro­sen­stock.

»Glaub’ ich, wir könn­ten ihm viel­leicht…«

Schwes­ter An­net­te hat­te schon ein Glas in der Hand und stütz­te den Pa­ti­en­ten, um ihm das Trin­ken zu er­leich­tern.

Dok­tor Thé­ve­noz seufz­te tief:

»Ich möch­te auch ein­mal krank sein und mich von Ih­nen pfle­gen las­sen, Sie sind so sanft, mein blon­der En­gel, und ich muß mich die gan­ze Zeit mit ei­ner ener­gi­schen Frau her­um­schla­gen, die gar kein Ge­fühl hat für mei­ne Zart­heit.«

Es war be­kannt im Spi­tal, daß Dr. Thé­ve­noz mit ei­ner Kol­le­gin ver­lobt war, die in der Ir­ren­an­stalt Bel-Air als As­sis­ten­tin Dienst tat. Und auch an die Kla­gen des Arz­tes war man ge­wöhnt; die Dame -- sie hieß Mad­ge Le­moy­ne, war in Ame­ri­ka ge­bo­ren und auch dort auf­ge­wach­sen -- muß­te sehr ener­gisch sein.

»Ja, Ro­sen­stock, das Le­ben ist schwer. Den­ken Sie, Mad­ge hat mir heu­te mor­gen an­ge­läu­tet, sie müs­se mich un­be­dingt spre­chen. Da­bei ha­ben wir uns ges­tern abend noch ge­zankt. Was will sie nur?«

Thé­ve­noz ver­sank in Nach­den­ken, wäh­rend Ro­sen­stock den Kör­per des Pa­ti­en­ten ab­klopf­te. Es war ein sau­be­rer Kör­per, braun ge­brannt, seh­nig, die Haut roch schwach nach La­ven­del. Stö­rend war ein­zig der große rote Fleck in der Ell­bo­gen­beu­ge, der aus­sah, wie ein be­gin­nen­der Aus­schlag.

Dr. Thé­ve­noz war ans Fens­ter ge­tre­ten, um sei­nem As­sis­ten­ten Platz zu ma­chen. Von dort­her kam sei­ne Stim­me, sach­lich re­fe­rie­rend: »Heu­te nacht hat­te ich Dienst. Um 2:15 wur­de ich an­ge­ru­fen. Pro­fes­sor Do­mi­nicé, ei­ner mei­ner Leh­rer, teil­te mir mit, er habe an der Place du Mo­lard einen jun­gen Mann ge­fun­den, der of­fen­bar an ei­ner Ver­gif­tung er­krankt sei. Er bat mich, das Sa­ni­täts­au­to zu schi­cken, der Fall schei­ne schwer, es wäre gut, wenn der Pa­ti­ent bald in fach­ge­mä­ße Be­hand­lung käme. Auf mei­ne Fra­ge, ob er den Pa­ti­en­ten ken­ne, häng­te der Pro­fes­sor ab. Er sprach son­der­bar un­frei am Te­le­phon, er wie­der­hol­te sich oft. Ich hat­te Mühe, ihn zu ver­ste­hen. Nun, hier ist der jun­ge Mann, was ha­ben Sie ge­fun­den?«

»Ja«, sag­te Ro­sen­stock und schwieg.

»Nun, los, los, Ro­sen­stock! Sie wer­den mich doch nicht bla­mie­ren wol­len!«

»Also, mir scheint«, be­gann Ro­sen­stock, »es könn­te sein, daß der Ein­stich in der Ell­bo­gen­beu­ge in ur­säch­li­chem Zu­sam­men­hang mit der Ver­gif­tung stün­de.«

Er schwieg wie­der und kratz­te an sei­ner Nase, die dick war und knol­lig.

»Ein merk­wür­di­ger Ein­stich!«

Er tipp­te mit dem Fin­ger, der die Nase ver­las­sen hat­te, auf die ent­zün­de­te Stel­le.

»Es sieht aus, als hät­te eine un­ge­schick­te Hand eine in­tra­ve­nö­se In­jek­ti­on ver­sucht. Und zwar scheint ein be­trächt­li­ches Quan­tum Gift ein­ge­spritzt wor­den zu sein. Die­ses Gift… -- Nun, die Al­ka­loi­de des Opi­ums, als da sind He­ro­in, Co­de­in, Mor­phin, schal­ten aus. Von we­gen den ver­grö­ßer­ten Pu­pil­len. Es käme nur die Grup­pe der Tro­peï­ne in Be­tracht, und wir ha­ben die Aus­wahl zwi­schen Atro­pin, Sco­po­la­min und Hyos­cya­min. Hyos­cya­min!« wie­der­hol­te Ro­sen­stock und kos­te­te das Wort aus wie einen Lecker­bis­sen, »es klingt wie ein Frau­en­na­me aus ei­nem Mae­ter­linck­schen Stück. Das ak­ti­ve Prin­zip von Hyos­cya­mus ni­ger, dem Bil­sen­kraut, ei­nem Nacht­schat­ten­ge­wächs. Bil­sen­kraut! -- Das hat­te eine große Be­liebt­heit bei den He­xen des Mit­tel­al­ters, ihre Flug­träu­me hin­gen mit den Wir­kun­gen die­ser Pflan­ze zu­sam­men. Sie nah­men das Zeug äu­ßer­lich, die He­xen, als Sal­be, so­viel ich mich er­in­ne­re. Ha­ben Sie die Fra­ge ein­mal stu­diert, Dr. Thé­ve­noz? Sehr in­ter­essant! Wir sind hoff­nungs­los phan­ta­sie­arm ge­wor­den, fin­den Sie nicht auch? Ich emp­feh­le Ih­nen, den He­xen­ham­mer zu le­sen, un­glaub­li­che Ge­schich­ten wer­den Sie dar­in fin­den. Din­ge, die auch Fräu­lein Dr. Le­moy­ne in­ter­es­sie­ren dürf­ten, da sie doch zur See­len­kun­de über­ge­gan­gen ist.«

»Hö­ren Sie auf, hö­ren Sie auf! Schwät­zer! Man merkt, daß Sie von Tal­mu­dis­ten ab­stam­men. Ich bin ja ein­ver­stan­den mit Ih­nen. Hyos­cya­min na­tür­lich. Wird schwer nach­zu­wei­sen sein. Iso­mer und sol­che Ge­schich­ten… Wenn wir nur end­lich ein­mal wüß­ten, wer…«

Da ging die Türe auf. Eine Frau, trotz der som­mer­li­chen Hit­ze in dunkles Blau ge­klei­det, be­trat das Zim­mer. Sie schritt zum Bett, sah lan­ge auf den Kran­ken und leg­te ihm die Hand auf die Stirn.

»Ar­mer Jun­ge!…« sag­te sie.

»Wer sind Sie? Wie kom­men Sie her­ein? Was fällt Ih­nen ein?« Dok­tor Thé­ve­noz über­stürz­te sei­ne Fra­gen. Die Frau sah ihn einen Au­gen­blick an, dann wand­te sie sich zur Tür.

»Ich habe nur ge­hört von dem Un­glück. Und ich woll­te se­hen«, sag­te sie still. Und dann fiel die Tür hin­ter ihr zu. Thé­ve­noz woll­te ihr nach­lau­fen, aber in der Tür stieß er mit ei­ner Schwes­ter zu­sam­men.

»Es will Sie je­mand am Te­le­phon spre­chen«, sag­te die Schwes­ter.

»Mann oder Frau?« frag­te Thé­ve­noz wild.

»Es war eine Män­ner­stim­me«, ant­wor­te­te die Schwes­ter, und lä­chel­te dazu ein we­nig im­per­ti­nent.

»Gut«, nick­te Thé­ve­noz. Er hat­te den ge­heim­nis­vol­len Be­such schein­bar ver­ges­sen, denn er ver­schwand.

3

Also, jetzt er­zäh­len Sie ein­mal klar und deut­lich, mein lie­ber Malan; aus Ihrem Rap­port wird ja nie­mand klug.«

Kom­mis­sär Pil­le­vuit ließ die Hand über sei­nen lan­gen gel­ben Bart glei­ten und lehn­te sich in sei­nem Stuhl zu­rück. Po­li­zist Malan stot­ter­te…

»Nein, so geht das nicht. War­ten Sie!«

Kom­mis­sär Pil­le­vuit hol­te eine Fla­sche aus ei­nem Fach sei­nes Schreib­ti­sches, füll­te ein Glas mit ei­ner was­ser­kla­ren Flüs­sig­keit -- sie roch be­denk­lich nach Al­ko­hol --. Malan trank, räus­per­te sich… und dann konn­te er plötz­lich re­den.

»Also, ich will ein­mal re­sü­mie­ren«, sag­te Kom­mis­sär Pil­le­vuit. »In der Toi­let­te war ein Mann ver­steckt, der wei­ße Ten­nis­ho­sen trug. Groß? Klein? Das wis­sen Sie nicht?… Au­ßer­dem ha­ben Sie Dräh­te auf­ge­le­sen, von de­nen je­ner Pro­fes­sor be­haup­tet, sie sei­en zum Put­zen von Hohl­na­deln be­stimmt. Wo sind die­se Dräh­te?… Die hat der Pro­fes­sor mit­ge­nom­men! So, so… Wer­den ihn spä­ter an­läu­ten. -- Und Sie fin­den, die­ser Pro­fes­sor habe sich son­der­bar be­nom­men? In­wie­fern son­der­bar?… So, als ob er mit der Ge­schich­te et­was zu tun ge­habt hät­te?… nicht?… aha, so, als ob er den jun­gen Mann ken­nen wür­de. Ich ver­ste­he. Und Sie ha­ben den Pro­fes­sor ans Spi­tal te­le­pho­nie­ren las­sen, der jun­ge Mann ist ab­ge­holt wor­den… war­ten Sie, ich will schnell das Spi­tal an­ru­fen… Ja, hier Stadt­po­li­zei. Ein jun­ger Mann ist ein­ge­lie­fert wor­den die­se Nacht. Ich brau­che ei­ni­ge An­ga­ben, wer be­han­delt ihn? So, wol­len Sie ihn ans Te­le­phon ru­fen? Dan­ke… Gu­ten Tag Dok­tor, wir ken­nen uns ja… Ja, ja… Hö­ren Sie, was hat der jun­ge Mann, den Sie da be­han­deln?… Mys­te­ri­öse An­ge­le­gen­heit? Wie­so mys­te­ri­ös? Es gibt nichts Mys­te­ri­öses. Was Sie nicht sa­gen!… Ver­gif­tung?… Wie sa­gen Sie?… ver­teu­fel­ter Name! Wer­de ich mir nie mer­ken kön­nen. Hab’ nie von die­sem Gift ge­hör­t… Ah? Nicht mög­lich? Raf­fi­nier­ter Mord­ver­such?… Ja, ich sag’ es ja im­mer, seit die­ser ver­damm­te Völ­ker­bund un­se­re Stadt un­si­cher macht, hat man nur Sche­re­rei­en… Von ei­ner frem­den De­le­ga­ti­on? Na­tür­lich! Was hab’ ich Ih­nen ge­sagt?… Sie glau­ben, Sie kön­nen ihn durch­brin­gen?… De­sto bes­ser. Kei­ne An­halts­punk­te? Ich mei­ne, was sei­ne Per­so­na­li­en be­trifft? Gar nichts?… Ja, Pro­fes­sor Do­mi­nicé, ich weiß. Ich wer­de mich bei ihm er­kun­di­gen. Dan­ke, Dok­tor, le­ben Sie wohl… Mor­gen viel­leicht?… Gut, gut!«

Nach die­sem Ge­spräch schwitz­te Kom­mis­sär Pil­le­vuit au­ßer­or­dent­lich. Er be­durf­te ei­ner Er­qui­ckung. Also entließ er den Po­li­zis­ten Malan und ging in eine klei­ne, nahe ge­le­ge­ne Wein­stu­be, wo er die ver­lo­re­ne Flüs­sig­keit mit Hil­fe von Waadt­län­der Wein er­setz­te.

4

Sei­ne Ex­zel­lenz Sir Avin­dra­nath Eric Bose hat­te die Ge­sichts­far­be je­ner al­ten Her­ren, die den Win­ter hin­durch in Da­vos oder St. Mo­ritz Cur­ling ge­spielt ha­ben und ge­wohnt sind, sich von den An­stren­gun­gen die­ses sanf­ten Spie­les bei ei­nem Whis­ky Soda oder ei­nem hei­ßen Gin zu er­ho­len. Üb­ri­gens war Sir Eric Baro­net des Kö­nig­reichs Groß­bri­tan­ni­en, be­voll­mäch­tig­ter De­le­gier­ter ei­nes in­di­schen Rand­staa­tes, ei­nes klei­nen Staa­tes, der sei­nen ein­ge­bo­re­nen Fürs­ten ver­trie­ben und Sir Eric zum Land­pfle­ger er­ko­ren hat­te. Ei­gent­lich nur um sei­nen Un­ter­ta­nen zu schmei­cheln, hat­te Sei­ne Ex­zel­lenz den merk­wür­di­gen Na­men »Avin­dra­nath« an­ge­nom­men. Er stamm­te näm­lich aus Sus­sex und hat­te Na­tio­nal­öko­no­mie stu­diert. Das war schon lan­ge her. Er lang­weil­te sich oft in sei­nem Rand­staat, dar­um war ihm der Völ­ker­bund ein will­kom­me­ner Vor­wand zu ei­ner Eu­ro­parei­se; die Schweiz ge­fiel ihm aus­neh­mend.

Es war tiefer Nach­mit­tag. Sei­ne Ex­zel­lenz war spät auf­ge­stan­den, noch un­ra­siert, und die­sen Man­gel be­hob so­eben sein Kam­mer­die­ner Charles. Wäh­rend die­ser den Pin­sel sanft über die ro­ten Wan­gen sei­nes Herrn führ­te, er­kun­dig­te sich Sir Eric:

»Charles, noch im­mer kei­ne Nach­richt von Craw­ley?«

Charles stell­te den Pin­sel ab, zog ein Mes­ser aus sei­ner obe­ren Rock­ta­sche und be­gann es ab­zu­zie­hen. Erst dann ant­wor­te­te er:

»Nein, Sir.« Und er ver­neig­te sich dazu.

Sir Eric woll­te et­was be­mer­ken, aber da das Mes­ser so­eben über sei­ner Ober­lip­pe schweb­te, ver­schluck­te er die Be­mer­kung.

»Schmerzt es, Sir?« er­kun­dig­te sich Charles, und sei­ne Ex­zel­lenz ver­nein­te mit ei­nem Grun­zen.

Klop­fen an der Türe.

»Ge­stat­ten Sie, Sir, daß ich mich er­kun­di­ge, was los ist?« frag­te Charles, klapp­te das Mes­ser zu und ließ Sir Eric mit ei­ner halb ra­sier­ten Ge­sichts­hälf­te sit­zen. An der Türe führ­te der Die­ner ein lei­ses Ge­spräch, kehr­te zu­rück, um Sei­ner Ex­zel­lenz mit­zu­tei­len, es sei­en zwei Ärz­te drau­ßen, die Sei­ne Ex­zel­lenz zu spre­chen wünsch­ten.

»Bin nicht krank«, be­merk­te Sir Eric mür­risch.

»Sie wün­schen eine pri­va­te Un­ter­re­dung«, sag­te Charles mit neu­tra­ler Stim­me.

»Sie sol­len war­ten«, be­stimm­te Sir Eric.

»Ich habe mir er­laubt, die­se Wei­sung zu ge­ben.«

»Wa­rum fra­gen Sie mich dann?« Sei­ne Ex­zel­lenz war un­gnä­dig. Sie fuhr mit der Hand durch ihr spär­li­ches wei­ßes Haar, so, als lei­de sie an ei­ner un­er­träg­li­chen Mi­grä­ne.

Im Empfangs­sa­lon des Hôtel de Rus­sie -- Empfangs­sa­lon: hoff­nungs­lo­ser Lu­xus, Be­schrei­bung un­nö­tig, Sie ken­nen das schon aus ver­schie­de­nen Fil­men -- stritt sich Dr. Thé­ve­noz mit sei­ner Braut, Frl. Dr. Mad­ge Le­moy­ne. Die­se Mad­ge Le­moy­ne hat­te ein Ge­sicht wie eine ex­pres­sio­nis­ti­sche Ma­don­na, trug ihre Haa­re un­ge­wöhn­lich kurz, Her­ren­fri­sur, Schei­tel auf der Sei­te. Zu be­mer­ken wäre noch, daß sie sehr ge­schmack­voll ge­klei­det war, ro­ter är­mel­lo­ser Jum­per, kur­z­er Rock, von ei­nem raf­fi­nier­ten Braun, das ihre sonn­ver­brann­te Haut­far­be gut zur Gel­tung brach­te. Ihr Kör­per wirk­te sehr weich; viel­leicht war dies der Grund, daß sie es stets lieb­te, eine ge­wis­se Här­te in ih­rem Ver­hal­ten her­vor­zu­keh­ren.

»Jon­ny«, sag­te sie -- sie nann­te ih­ren Freund, den Dr. Thé­ve­noz, stets Jon­ny, ob­wohl er Jean hieß, und schon die­ser Name brach­te den Arzt in Har­nisch -- »wird uns der alte Herr noch lan­ge war­ten las­sen? Ich bin si­cher, daß Ron­ny sich un­ten lang­weilt.«

Ron­ny war Mad­ges Ai­re­da­le­hund, und Ron­ny war­te­te un­ten im klei­nen Amil­car-Zwei­sit­zer, der Mad­ge und ih­ren Freund -- ver­mei­den wir lie­ber das Wort »Ver­lob­ter« oder »Bräu­ti­gam«, denn Mad­ge haß­te die­se Wor­te -- vom Spi­tal zum Hôtel de Rus­sie ge­führt hat­te.

»Nenn mich bloß nicht Jon­ny«, klag­te Dr. Thé­ve­noz, »ich will nichts mit Eng­land zu tun ha­ben. Ich bin Gen­fer, ich bin Schwei­zer, du sollst mich Jean nen­nen, ver­stehst du?« Mad­ge grins­te wie ein Schul­mä­del. Sie hat­te brei­te Zäh­ne, was nach dem Ur­teil ei­nes Frau­en­ken­ners ein Zei­chen von In­tel­li­genz sein soll. Ich kann dar­über nicht ur­tei­len.

Sir Eric er­schi­en. Er duf­te­te nach Köl­nisch Was­ser und die Röte sei­nes Ge­sich­tes war mit Pu­der tem­pe­riert. Er war wirk­lich ein wohl­ge­pfleg­ter, al­ter Herr, noch nicht ver­fet­tet, sein glat­tes Ge­sicht lag in höf­li­chen Fal­ten, und er ver­neig­te sich mit Wür­de. So­gar das Er­stau­nen über die An­we­sen­heit ei­ner Dame (war nicht von zwei Ärz­ten die Rede ge­we­sen?) hielt sich durch­aus in den Gren­zen des An­stands.

»Dr. Thé­ve­noz«, stell­te sich der Arzt vor, und »eine Kol­le­gin, Dr. Mad­ge Le­moy­ne.« Mad­ge neig­te den Kopf, Sei­ne Ex­zel­lenz beug­te sich nie­der zum Hand­kuß. Sir Eric hat­te eine Schwä­che für mo­der­ne Frau­en, die sich gut an­zo­gen.

Mad­ge über­schüt­te­te Sei­ne Ex­zel­lenz mit ei­ner Sturz­flut eng­li­scher Er­klä­run­gen. Dr. Thé­ve­noz stand ein we­nig dumm da­ne­ben. Sir Eric hör­te in­ter­es­siert zu, dann wand­te er sich an Thé­ve­noz:

»Ihre Kol­le­gin er­klärt mir so­eben«, -- Sir Erics Fran­zö­sisch war ein we­nig müh­sam -- »daß mein Se­kre­tär Craw­ley als Pa­ti­ent in Ih­rer Be­hand­lung steht. Er wur­de ges­tern, so sagt Ma­da­me, auf der Place du Mo­lard ge­fun­den, un­ter… un­ter mys­te­ri­ösen Um­stän­den. Ver­gif­tung, wie? Und nur ei­nem Zu­fall ha­ben wir es zu ver­dan­ken, daß er er­kannt wor­den ist. Das heißt noch nicht de­fi­ni­tiv er­kannt…«

»Die Sa­che ist fol­gen­de, Ex­zel­lenz«, sag­te Dr. Thé­ve­noz, und man sah ihm die Er­leich­te­rung an, daß er end­lich spre­chen durf­te. »Frl. Le­moy­ne be­sucht Prof. Do­mi­nicé sehr oft, er war auch mein Leh­rer, aber wir se­hen uns nur sel­ten, ich bin sehr be­schäf­tigt. Spi­tal­dienst ist an­stren­gen­der als Psych­ia­trie.«

Thé­ve­noz freu­te sich er­sicht­lich über sei­ne Bos­heit, aber sie ver­puff­te wir­kungs­los. »Nun, Prof. Do­mi­nicé hat sich heu­te mor­gen er­in­nert, daß er je­nen jun­gen Mann, den er mir zur Be­hand­lung über­wie­sen hat, ei­gent­lich doch er­kannt habe. Es sei der Se­kre­tär Eu­rer Ex­zel­lenz, Craw­ley, der, wie mir Dr. Le­moy­ne mit­teil­te, häu­fig als Be­such im Hau­se des Pro­fes­sors ge­we­sen ist. Da sich nun der Pro­fes­sor nicht ganz wohl fühlt, hat er Frl. Le­moy­ne ge­be­ten, Eure Ex­zel­lenz auf­zu­su­chen und Sie zu bit­ten, mit uns ins Spi­tal zu kom­men.«

»Ich kom­me, na­tür­lich kom­me ich so­fort.« Sir Eric tat sehr auf­ge­regt. Er lief im Sa­lon hin und her und ließ ein horn­ge­faß­tes Mo­no­kel an ei­nem brei­ten, schwar­zen Sei­den­band um sei­nen Zeig­fin­ger ro­tie­ren.

»Charles«, rief er plötz­lich. Ein zwei­ter Ruf war un­nö­tig. Schon stand der Kam­mer­die­ner in der Türe, ver­neig­te sich und frag­te:

»Sir Eric?«

»Sa­gen Sie, Charles, hat Craw­ley nicht ges­tern abend je­nen… Ver­trag­s­ent­wurf mit­ge­nom­men… zum Ab­schrei­ben, wie er sag­te. Sie, Charles, die­ser Ent­wurf ist wich­tig, un­end­lich wich­tig, wenn der in… in… -- doch das in­ter­es­siert Sie nicht, hat er ihn mit­ge­nom­men?«

»Herr Craw­ley trug eine Ak­ten­map­pe, ja­wohl, Sir. Er sag­te, er wol­le noch je­man­dem dik­tie­ren, es kön­ne län­ger dau­ern. Ich hat­te ges­tern abend zu tun, sonst wäre ich ihm ge­folgt. Soll ich mich er­kun­di­gen?«

»Nein, las­sen Sie nur, ich wer­de se­hen.«

Sir Eric Bose war un­di­plo­ma­tisch auf­ge­regt. Mad­ge und Thé­ve­noz be­trach­te­ten ihn ver­wun­dert.

»Das Auto, Charles, ich muß ins Spi­tal! Craw­ley ist, scheint es, dort ein­ge­lie­fert wor­den. Ich muß mich um ihn küm­mern, wäre mir leid, wenn dem Jun­gen et­was pas­siert wäre. Auf was war­ten Sie, Charles? Ge­hen Sie!«

Charles war nicht aus der Ruhe zu brin­gen.

»Pa­na­ma oder Filz­hut, Sir? Ich wür­de zu Pa­na­ma ra­ten. Es ist heiß.«

»Brin­gen Sie, was Sie wol­len, aber schnell, schnell…«

5

Der jun­ge Mann, der nach dem Ur­teil zwei­er Ärz­te an ei­ner Hyos­cya­min-Ver­gif­tung litt, lag noch im­mer im wei­ßen Iso­lier­zim­mer un­ter der Ob­hut von Schwes­ter An­net­te. Sir Eric be­trat als ers­ter das Zim­mer, ge­folgt von Dr. Thé­ve­noz. Mad­ge er­schi­en ein we­nig spä­ter, ihr Zwei­sit­zer war un­ter­wegs auf­ge­hal­ten wor­den.

»Hal­lo, Boy«, sag­te er, »What’s the mat­ter with you?«

Aber der »Boy« ant­wor­te­te nichts. Er ver­dreh­te nur die Au­gen.

»Ja, es ist mein Se­kre­tär«, sag­te Sei­ne Ex­zel­lenz und blick­te hilf­los um­her.

»Name, Vor­na­me, Ge­burts­ort, Jahr­gang?« frag­te Thé­ve­noz streng und ach­te­te nicht auf Mad­ges vor­wurfs­vol­le Bli­cke. Fräu­lein Le­moy­ne be­müh­te sich dann, die­se ab­rup­te Fra­ge­stel­lung bei Sei­ner Ex­zel­lenz zu ent­schul­di­gen. Aber Sir Eric setz­te ein nach­sich­ti­ges Lä­cheln auf und ant­wor­te­te be­reit­wil­ligst:

»Der jun­ge Mann heißt Wal­ter Craw­ley, ist in Bom­bay am 5 März 1902 ge­bo­ren, stammt von eng­li­schen El­tern, kam spä­ter nach Eng­land, stu­dier­te dort. Sei­ne El­tern sind schon früh ge­stor­ben. Freun­de von die­sen ha­ben mir Craw­ley emp­foh­len. Er war mir sehr nütz­lich, denn er war ein ver­läß­li­cher Bur­sche, bis in die letz­te Zeit. Ich weiß nicht, was da plötz­lich mit ihm los war. Er war zer­streut, be­drückt; ich habe im­mer ge­dacht, das wür­de vor­über­ge­hen. Wenn Sie mei­ne An­ga­ben der Po­li­zei mit­tei­len wol­len -- bit­te sehr. Üb­ri­gens ste­he auch ich im­mer ger­ne zur Ver­fü­gung…«

Thé­ve­noz nick­te und ver­ließ das Zim­mer, die Zu­rück­ge­blie­be­nen schwie­gen. Nur Craw­ley in sei­nem Bett mur­mel­te von Zeit zu Zeit, aber man schenk­te die­sem Mur­meln kei­ne Be­ach­tung. Manch­mal klang es nach »old man«, auch »pro­fes­seur« war zu ver­ste­hen. Dann schi­en sich der Kran­ke ge­gen et­was zu weh­ren, sprach von »fly«, wor­über Sei­ne Ex­zel­lenz den Kopf schüt­tel­te.

»Der Jun­ge war nie von Ae­ro­pla­nen be­geis­tert, ein sel­te­ner Fall, bei un­se­rer heu­ti­gen Ju­gend, er be­haup­te­te im­mer, er wer­de see­krank, wenn wir aus­nahms­wei­se das Flug­zeug be­nüt­zen muß­ten.«

Sei­ne Ex­zel­lenz schlug nun vor, die Klei­der des Kran­ken ein­ge­hend zu un­ter­su­chen. Aber Schwes­ter An­net­te wehr­te sich ge­gen die­sen Vor­schlag. Man sol­le die Rück­kunft des Arz­tes ab­war­ten, mein­te sie. Als Dr. Thé­ve­noz bald dar­auf wie­der ein­trat, wur­den die Klei­der Craw­leys ge­bracht. Aber die Ta­schen wa­ren leer. Sir Eric end­lich fand, als er durch ein Loch im Rock­fut­ter griff, eine Vi­si­ten­kar­te. Sie glich der von Pro­fes­sor Do­mi­nicé am Mor­gen ge­gen zwei Uhr dem Po­li­zis­ten Malan über­reich­ten. Es wa­ren dar­auf noch Schrift­zei­chen zu le­sen, win­zi­ge Buch­sta­ben. Mad­ge Le­moy­ne konn­te fol­gen­des ent­zif­fern:

»Lie­ber Craw­ley, es wird mich freu­en, Sie heu­te abend ge­gen acht Uhr bei mir zu se­hen. Freund­schaft­lich Ihr D.«

»Höchst… höchst be­denk­lich«, äu­ßer­te sich Sir Eric. Er hielt das Mo­no­kel vors Auge, wie eine Lupe, und las die Mit­tei­lung zum zwei­ten­mal.

»Wie­so be­denk­lich?« woll­te Thé­ve­noz wis­sen. »Die Er­klä­rung, die der Pro­fes­sor wird ge­ben kön­nen, wird si­cher höchst ein­fach sein.«

»Wir wer­den se­hen«, sag­te Sir Eric und steck­te die Kar­te ein. »Ich wer­de sie sel­ber der Po­li­zei über­ge­ben.«

Zu­erst woll­te Thé­ve­noz ge­gen die Mit­nah­me der Kar­te pro­tes­tie­ren, aber das Ge­ba­ren des ver­nach­läs­sig­ten Pa­ti­en­ten stör­te ihn. Wal­ter Craw­ley be­nahm sich reich­lich son­der­bar. Er ließ rö­cheln­de Atem­zü­ge laut wer­den, sei­ne Ge­sichts­far­be wur­de fahl und grau, auf der Stirn bil­de­ten sich Schweiß­trop­fen. Wla­di­mir Ro­sen­stock, der As­sis­tenz­arzt, der vor kur­z­em ein­ge­tre­ten war, be­schäf­tig­te sich mit ihm.

»Hopp, hopp, Schwes­ter!« flüs­ter­te er er­regt. Dr. Thé­ve­noz war auch ans Bett ge­tre­ten. Flüs­ternd gab er der Schwes­ter Be­feh­le. Die­se rann­te aus dem Zim­mer, kehr­te mit ei­ner Sprit­ze zu­rück.

Aber da spann­te sich Craw­leys Kör­per so, daß er einen Bo­gen bil­de­te: nur Fer­sen und Hin­ter­kopf la­gen auf. Dann war ein Knacken zu hö­ren, wie von bre­chen­dem Holz, und Wal­ter Craw­ley, von Bom­bay (In­di­en), Se­kre­tär Sei­ner Ex­zel­lenz Sir Avin­dra­nath Eric Bose, blieb ent­spannt lie­gen und hat­te das At­men ver­ges­sen. Um sei­nen Mund ent­stand lang­sam ein nie­der­träch­tig-höh­ni­sches Lä­cheln, so, als wol­le er sa­gen: »Ge­wiß, ich bin nun tot, aber da­mit ist mei­ne An­ge­le­gen­heit noch lan­ge nicht er­le­digt. Ihr alle wer­det euch über mei­nen Ab­gang noch den Kopf zer­bre­chen.« Dies soll­te auch tat­säch­lich ge­sche­hen. Vo­rerst aber schi­en Thé­ve­noz nur er­staunt, schüt­tel­te den Kopf, jag­te die An­we­sen­den aus dem Zim­mer und blieb mit dem To­ten al­lein.

6

Es gibt Leu­te, die ein Reiz­mit­tel ei­nem Nah­rungs­mit­tel vor­zie­hen; wenn sie hung­rig sind und kein Geld ha­ben, zie­hen sie eine Zi­ga­ret­te ei­nem Stück Brot vor. Dr. Thé­ve­noz war ähn­lich ver­an­lagt. Nach dem Ur­teil sei­ner Be­kann­ten wäre er mit ei­ner ein­fa­chen Frau, ei­ner je­ner be­sorg­ten, müt­ter­li­chen Na­tu­ren, durch­aus glück­lich ge­wor­den. Er zog aber dem Rog­gen­brot, wie ge­sagt, die Zi­ga­ret­te vor und ver­lieb­te sich in Fräu­lein Dr. Mad­ge Le­moy­ne. Der Ver­kehr mit Mad­ge war so an­stren­gend, daß er fünf Kilo Kör­per­ge­wicht ver­lo­ren hat­te, und die­sen Ver­lust hat­te er bis jetzt nicht wie­der zu er­set­zen ver­mocht.

Ja, ein Zu­sam­men­sein mit Mad­ge zerr­te an den Ner­ven. Eine schot­ti­sche Du­sche -- hei­ßer Was­ser­strahl, gleich dar­auf eis­kal­ter -- kann, spar­sam ge­braucht, eine an­ge­neh­me Ent­span­nung er­zeu­gen. Wird sie aber zu oft wie­der­holt, so kann sie zur Tor­tur wer­den. Mad­ge konn­te zärt­lich sein, plötz­lich, nach ei­nem Wort, das ihr nicht paß­te, wur­de sie aus­fal­lend und spiel­te die Ge­kränk­te -- um eben­so un­be­grün­det wie­der ein­zu­len­ken. Merk­wür­dig war, daß sie sich nur mit Thé­ve­noz so be­nahm. An­de­re Leu­te rühm­ten ihre Gut­mü­tig­keit, ihr aus­ge­gli­che­nes We­sen. Manch­mal schi­en es, als sei sie noch auf der Su­che nach dem pas­sen­den Part­ner und habe Thé­ve­noz nur so zum Zeit­ver­treib ge­nom­men, aus Furcht viel­leicht vor je­ner Ein­sam­keit, vor je­nem Sich-nutz­los-füh­len, das vie­le be­rufs­tä­ti­ge Frau­en wie eine Art schlech­ten Ge­wis­sens mit sich her­um­schlep­pen.

Wal­ter Craw­ley war um halb fünf ge­stor­ben. Thé­ve­noz hat­te den Abend frei und so bat er Mad­ge, mit ihm zu­sam­men zu Nacht zu es­sen. Aber Fräu­lein Dr. Le­moy­ne wünsch­te, nach­her noch tan­zen zu ge­hen.

Thé­ve­noz, der über einen nicht sehr be­weg­li­chen Kör­per ver­füg­te, seufz­te, als vom Tan­zen die Rede war, aber er er­gab sich in sein Schick­sal. Er ver­such­te ge­walt­sam, lus­tig zu sein, und ver­mied es, von Craw­leys Ab­le­ben zu spre­chen. Erst, als er im Auto saß (zu­erst hat­te er noch einen klei­nen Kampf mit Mad­ges Ai­re­da­ler Ron­ny zu be­ste­hen, der nur sehr wi­der­wil­lig sei­nen Platz dem un­sym­pa­thi­schen Ein­dring­ling -- der Hund war oben­drein noch ei­fer­süch­tig -- ein­räum­te), erst im Auto, nach ei­nem lan­gen, drücken­den Schwei­gen, sag­te Thé­ve­noz:

»Was nur der Meis­ter mit die­ser gan­zen Ge­schich­te zu tun hat!«

Mad­ge hak­te so­fort ein: »Ers­tens ver­ste­he ich nicht, warum du Do­mi­nicé im­mer den Meis­ter nennst. Ob­wohl… Und dann: Was soll der alte Mann mit die­ser Ver­gif­tungs­ge­schich­te zu tun ha­ben? Ich bit­te dich! Ich weiß, daß Craw­ley sei­ne Kur­se be­sucht hat. Auch sonst war er manch­mal beim Pro­fes­sor. Aber daß der alte Herr mit der Er­mor­dung des Se­kre­tärs et­was zu tun ha­ben soll, das ist doch lä­cher­lich.«

»Und die Kar­te? Ges­tern war Craw­ley also doch beim Meis­ter. Beim Meis­ter! Ich nen­ne ihn so! Du hast kein Ge­fühl für die Be­deu­tung die­ses Man­nes. Weißt du denn über­haupt, daß er un­se­re ein­zi­ge Gen­fer Berühmt­heit ist? In ok­kul­ten Fra­gen? Ich hab’ dir doch sein Buch zum Le­sen ge­ge­ben.«

»Ja«, sag­te Mad­ge ver­söhn­lich, »sein Buch ist gut; aber es ist alt. Wann hat er es ge­schrie­ben? Vor zwan­zig Jah­ren? In­zwi­schen ist doch viel Was­ser durch den Gen­fer­see ge­flos­sen und viel Blut in der Erde ver­si­ckert.«

»Alt? Sein Buch? Des­soir zi­tiert es, Sch­renck-Not­zing, Ös­ter­rei­cher. So­gar Flam­ma­ri­on. Und da be­haup­test du, daß es ver­al­tet ist?«

Mad­ge war über die­se Rede so er­staunt, daß der Wa­gen einen Zick­zack­kurs ein­schlug. Sie blick­te kurz auf ih­ren Freund.

»Seit wann be­schäf­tigst du dich mit die­sen Fra­gen? Ich habe ge­glaubt, du in­ter­es­siert dich über­haupt nur für Blut­sen­kun­gen und Harn­ana­ly­sen? Seit wann liest du Séan­cen­pro­to­kol­le?«

Thé­ve­noz er­rö­te­te wie ein er­tapp­ter Schul­bu­be. Aber er zog sich ge­schickt aus der Si­tua­ti­on:

»Seit ich eine Freun­din habe, die sich mit See­len­kun­de be­faßt.«

Da­rauf schwieg Mad­ge. Nach ei­ner klei­nen Pau­se frag­te sie:

»Wer ist die­se furcht­ba­re Frau, die beim ›Meis­ter‹ -- wie du sagst -- als Haus­häl­te­rin dient?«

»Ah, du meinst Jane Pochon? Wa­rum furcht­bar? Sie sieht nicht schön aus, die Jane, alt ist sie auch. Ja, das ist ein ehe­ma­li­ges Me­di­um. Die­se Jane spielt die Haup­trol­le in sei­nem Buch. Der Meis­ter hat sie in ei­nem spi­ri­tis­ti­schen Zir­kel ken­nen­ge­lernt, hat dann mit ihr al­lein Sit­zun­gen ab­ge­hal­ten. Spä­ter hat sie sich ver­hei­ra­tet, ihr Mann war ein Trin­ker, er ist ge­stor­ben und hat sie mit ei­nem Bu­ben al­lein ge­las­sen. Da hat sie der Pro­fes­sor bei sich auf­ge­nom­men, zu­erst wohn­te sie bei ihm, jetzt hat sie sich, glaub’ ich, eine klei­ne Woh­nung ein­ge­rich­tet und ver­mie­tet Zim­mer. Aber wie ich ge­hört habe, hat sie kein Glück da­mit. Ihr letz­ter Mie­ter war ein Bank­be­am­ter, den mußt du ken­nen, der ist ja jetzt bei euch oben, in Bel-Air, plötz­lich ver­rückt ge­wor­den, er­zähl­te die Frau, wart ein­mal, hieß er nicht Crot­taz, Cros­sat oder so ähn­lich?«

»Cor­baz meinst du. Ja, jetzt er­in­ne­re ich mich. Die­se Jane Pochon hat ihn da­mals ge­bracht, da hab’ ich sie auch zu­erst ge­se­hen, wir glaub­ten an ein Al­ko­hol­de­lir, aber dann war es nur eine sim­ple Schi­zo­phre­nie. Ver­fol­gungs­ide­en, Stim­men, üb­ri­gens, er sprach auch im­mer von ›ste­chen‹, wie Craw­ley; jetzt hat er sich be­ru­higt und ar­bei­tet im Gar­ten.«

»So, ste­chen hat er ge­sagt«, stell­te Thé­ve­noz fest. Und dann schwieg er, bis sie vor dem klei­nen Dorf­wirts­haus in Jus­sy hiel­ten, wo sie zu Nacht es­sen woll­ten. Wäh­rend der Mahl­zeit war Thé­ve­noz son­der­bar auf­ge­regt, er strei­chel­te von Zeit zu Zeit Mad­ges Hand, die auf dem Tisch lag, er, der Kor­rek­te, der es sonst pein­lich ver­mied, in der Öf­fent­lich­keit Zärt­lich­keit zu zei­gen. Mad­ge ließ es ge­sche­hen, nur Ron­ny ge­fie­len die­se De­mons­tra­tio­nen nicht. Er bell­te, ließ sich aber dann durch einen Brot­bro­cken, der in aus­ge­las­se­ne But­ter ge­taucht wor­den war, be­ru­hi­gen.

7

Die La­tham-Bar in der Rue du Rhô­ne ist je­den Abend ge­füllt. Sie be­sitzt einen gu­ten Mi­xer, der die Ame­ri­ka­ner an­zieht, eine gute Ka­pel­le, die manch­mal auch Klas­si­sches spielt, was die Eng­län­der schät­zen; die deut­schen Di­plo­ma­ten kom­men we­gen der fran­zö­si­schen Lie­der, weil sie bei die­sen durch ein lau­tes La­chen be­wei­sen kön­nen, daß sie die Poin­ten und Zwei­deu­tig­kei­ten ver­ste­hen, und also auf fran­zö­si­schen Esprit ge­eicht sind. Im gan­zen ver­kehrt dort ein in­ter­na­tio­na­les Pub­li­kum, in dem selbst Rus­sen und Ita­lie­ner nicht feh­len.

Thé­ve­noz tanz­te nicht gut. Ers­tens war der Platz, der in­mit­ten der vie­len Stüh­le für die Paa­re frei war, viel zu klein. Man muß­te sich an den an­dern vor­bei­schie­ben, gab man nicht acht, so stieß man sich schmerz­haft an spit­zen El­len­bo­gen oder be­kam einen Ab­satz auf den Fuß­spann, was un­an­ge­nehm war, be­son­ders, wenn man Halb­schu­he trug. Und dann war es ent­setz­lich heiß. Mad­ge är­ger­te sich, weil ihr Freund feuch­te Hän­de hat­te und Thé­ve­noz muß­te sich nach je­dem Tanz die Hän­de wa­schen. Die Stim­mung an ih­rem klei­nen Tisch war un­ge­müt­lich, Mad­ge de­ser­tier­te und tanz­te oft mit ei­nem jun­gen Mann, ir­gend­ei­nem Bal­ka­ner mit Haa­ren wie ge­schmol­ze­ner Teer und ei­ner Ge­sichts­haut, die in der Far­be an Til­si­ter Käse er­in­ner­te.

Wäh­rend Thé­ve­noz über sei­ne Ent­täu­schung grü­bel­te -- er hat­te sich wirk­lich auf das Zu­sam­men­sein mit Mad­ge ge­freut und nun kam es ganz an­ders -- wäh­rend er ver­ge­bens ver­such­te, sich mit Ron­ny an­zu­freun­den, der un­ter dem Tisch lag und, Kopf auf den Pfo­ten, un­gnä­dig schiel­te, leg­te sich eine Hand auf sei­ne Schul­ter.

»Darf ich mich set­zen?« frag­te Pro­fes­sor Do­mi­nicé. Er hat­te viel Ähn­lich­keit mit dem Apos­tel Pe­trus, wahr­schein­lich war es auch der Ha­ve­lock aus dün­nem grau­em Tuch, der an die Ge­wan­dung bib­li­scher Fi­gu­ren er­in­ner­te.

Thé­ve­noz sprang auf. »Meis­ter«, sag­te er, »Meis­ter, welch gu­ter Geist führt Sie her?«

»Kein gu­ter Geist, der Geist der Un­ru­he und der Angst ist es…« Der Pro­fes­sor sprach so dröh­nend, daß die Leu­te an den an­dern Ti­schen auf­merk­sam wur­den. Thé­ve­noz war be­drückt -- plötz­lich sah er mit quä­len­der Deut­lich­keit den nack­ten Kör­per Craw­leys, des Se­kre­tärs, vor sich und den ent­zün­de­ten Hof rings um den Stich in der Ell­bo­gen­beu­ge -- war es ein Ein­stich?

»Set­zen Sie sich, Meis­ter, le­gen Sie den Man­tel ab, es ist warm hier, ich muß Sie ein paar Sa­chen fra­gen. Was trin­ken Sie?«

»Mich friert«, sag­te der Pro­fes­sor, dann rief er laut durch den Lärm: »Ca­si­mir!«

Ein Kell­ner in weißem Jäck­chen ar­bei­te­te sich schwim­mend durch die zähe Mas­se der Tan­zen­den. Der Pro­fes­sor schüt­tel­te ihm schwei­gend die Hand. »Mich friert, Ca­si­mir«, wie­der­hol­te er, »einen Mok­ka dou­ble oder tri­ple, bes­ser noch tri­ple, ich brau­che An­re­gung.«

»Mit Kirsch, Pro­fes­sor?« frag­te Ca­si­mir, ka­me­rad­schaft­lich, wie zu ei­nem Gleich­ge­stell­ten. Der Pro­fes­sor schüt­tel­te den Kopf.

»Nein, nur stark, sehr stark!«

Dann ver­sank Do­mi­nicé in ein Schwei­gen, das et­was un­heim­lich wirk­te, und Thé­ve­noz stör­te es nicht. Satz­fä­den durch­zo­gen die Luft, die grau war vom Ta­ba­krauch, sie wirk­ten ein bun­tes wir­res Netz, das die bei­den ein­spann. Dann kam Mad­ge und zer­riß das Netz.

Pro­fes­sor Do­mi­nicé stand auf, sei­ne Höf­lich­keit wirk­te weh­mü­tig, wie ein Ro­ko­ko­stuhl in­mit­ten von Stahl­mö­beln.

»Lie­bes Kind«, sag­te er, »wie freue ich mich, Sie zu se­hen. Sie sind er­hitzt, aber trotz­dem ist Ihre Hand kühl ge­blie­ben. Das dünkt mich an­ge­nehm.«

Der Kell­ner brach­te den Kaf­fee. Mit ei­nem Seuf­zer zog der Pro­fes­sor sei­nen Ha­ve­lock aus, leg­te ihn über einen Stuhl. Er trug einen lan­gen grau­en Geh­rock, im Wes­ten­aus­schnitt war eine graus­ei­de­ne Pla­stron­kra­wat­te zu se­hen.

»Ich habe mich ein­sam ge­fühlt, heu­te abend, es be­schäf­tigt mich gar viel die­se Tage«, er setz­te sich um­ständ­lich, hob die Schö­ße sei­nes Gehrocks, um un­er­wünsch­te Fal­tun­gen zu ver­mei­den.

Mad­ge hat­te die Hän­de ge­fal­tet auf den Tisch ge­legt, es wa­ren klei­ne Mäd­chen­hän­de mit stump­fen Fin­gern, die Nä­gel kurz­ge­schnit­ten und nicht sehr ge­pflegt.

Thé­ve­noz nahm einen An­lauf. »Was ist das für eine Ge­schich­te mit die­sem Craw­ley, ha­ben Sie ihn wirk­lich nicht er­kannt, Meis­ter?«

Do­mi­nicé un­ter­brach ein Gäh­nen, das er sich nicht die Mühe ge­nom­men hat­te, hin­ter der Hand zu ver­ber­gen, sei­ne Ge­sichts­far­be war von ei­nem un­ge­sun­den Grau, er nipp­te an dem hei­ßen Kaf­fee. Sei­ne Au­gen wa­ren müde und aus­drucks­los, ohne Glanz.

»Ent­schul­digt mich einen Au­gen­blick«, sag­te er, stand auf, tas­te­te sei­ne Ta­schen ab, so, als wol­le er sich ver­ge­wis­sern, daß er ein not­wen­di­ges Re­qui­sit bei sich habe, dann ging er mit schlep­pen­den Schrit­ten über den in die­sem Au­gen­blick lee­ren Tanz­platz. Nach ei­ni­gen Mi­nu­ten kam er wie­der, die Schrit­te, die Be­we­gun­gen des Kör­pers schie­nen die nie­der­drücken­de Mü­dig­keit wie ein stau­big­schwe­res Kleid ab­ge­streift zu ha­ben.

»Ja, die Ge­schich­te mit Craw­ley«, sag­te er, »ist merk­wür­dig. Merk­wür­dig für Lai­en, aber nicht für mich. Un­ser Per­zep­ti­ons­ver­mö­gen«, und er be­gann eine lan­ge psy­cho­lo­gi­sche Er­klä­rung, die mit vie­len Fremd­wör­tern be­wei­sen soll­te, daß das Nicht-Er­ken­nen ei­nes sonst be­kann­ten Men­schen eine all­täg­li­che An­ge­le­gen­heit sei.

So ver­tieft war der Pro­fes­sor in sei­ne Er­klä­rung, daß er ein we­nig er­schrak, als ein Vor­über­ge­hen­der ihn streif­te. Ein Mann mit Wulstlip­pen war dies, die Po­ren der Ge­sichts­haut wa­ren auf­fal­lend groß. Er ent­schul­dig­te sich wort­reich. Ne­ben ihm ging eine Frau, bei de­ren An­blick Thé­ve­noz er­regt auf­sprin­gen woll­te. Wäh­rend der Mann eif­rig auf den Pro­fes­sor ein­sprach und da­bei Mad­ge an­starr­te, flüs­ter­te Thé­ve­noz sei­ner Freun­din zu:

»Das ist die Frau, die heu­te mor­gen Craw­ley be­sucht hat. Ich muß sie spre­chen. Ich muß ih­ren Na­men wis­sen --, sie soll mir sa­gen, was sie ge­wollt hat.«

Aber Mad­ge hielt ihn zu­rück. Sie tat ei­fer­süch­tig -- ob sie es in Wirk­lich­keit war, konn­te nicht fest­ge­stellt wer­den --, ge­nug, sie pack­te Thé­ve­no­z’ Hand:

»Du wirst sit­zen blei­ben«, und ihre Stim­me klang so dro­hend, daß Thé­ve­noz ge­horch­te, denn eine Sze­ne in ei­nem öf­fent­li­chen Lo­kal war nicht nach sei­nem Ge­schmack.

Der Mann mit der groß­po­ri­gen Ge­sichts­haut hat­te sein Ge­spräch mit dem Pro­fes­sor be­en­det, er ver­beug­te sich vor Mad­ge und stell­te sich vor: »Ba­ra­noff« (auf der zwei­ten Sil­be be­tont). Dann ent­fern­te er sich mit der hoch­ge­wach­se­nen Frau, die Thé­ve­no­z’ In­ter­es­se er­regt hat­te.

»Wer war das?« frag­te Mad­ge. Der Pro­fes­sor seufz­te laut und gründ­lich. Sein Ge­sicht war noch grau­er als sonst und ängst­lich ver­zo­gen.

»Eine dunkle Per­sön­lich­keit«, sag­te er, »ein Rus­se, Ba­ra­noff heißt er, der, wie ich glau­be, in ir­gend­ei­ner Be­zie­hung zu der So­wjet­ge­sandt­schaft steht, aber of­fi­zi­ell will die De­le­ga­ti­on nichts mit ihm zu tun ha­ben. Die Re­gie­run­gen brau­chen heut­zu­ta­ge, scheint es, der­ar­ti­ge Sub­jek­te«, Do­mi­nicé ball­te die Fäus­te auf dem Tisch, wie in hilflo­ser Wut, »um ihre dre­cki­gen Ge­schäf­te er­le­di­gen zu las­sen. Geht et­was schief, so läßt man sie fal­len und wäscht sei­ne Hän­de in Un­schuld. Wir le­ben in ei­ner schmut­zi­gen Zeit.«

»Und die Frau, die bei ihm war?« frag­te Mad­ge. »Thé­ve­noz in­ter­es­siert sich für sie, er woll­te sie an­spre­chen, aber das dul­de ich nicht.«

»Die Frau? Sei­ne Se­kre­tä­rin. Eine schö­ne Frau. Ich bin ihr ein­mal vor­ge­stellt wor­den. Sie schi­en Mit­leid mit mir zu ha­ben. Na­tal­ja Iva­nov­na Ku­li­gi­na heißt sie.«

»Sie kann­te Craw­ley, den Se­kre­tär«, platz­te Thé­ve­noz her­aus. »Sie hat ihn heu­te mor­gen be­sucht, sie nann­te ihn ar­mer Jun­ge. Mit­lei­dig scheint sie zu sein. Ich woll­te sie fra­gen, was sie ei­gent­lich im Spi­tal woll­te, aber wenn Mad­ge ih­ren Rap­pel hat…«

»Aber Jon­ny«, sag­te Mad­ge ge­fühl­voll. »Du soll­test doch stolz sein, daß ich ei­fer­süch­tig bin.« Und sie leg­te ihre Hand auf Thé­ve­no­z’ Schul­ter, den die un­er­war­te­te Zärt­lich­keit er­staun­te.

»Sie kann­te Craw­ley«, sag­te der Pro­fes­sor und stütz­te den Kopf in die Hand. »Ich glau­be wohl, daß sie Craw­ley kann­te.«

Aber als Thé­ve­noz und Mad­ge in ihn dran­gen, sich ein we­nig kla­rer aus­zu­drücken, schüt­tel­te Do­mi­nicé nur den Kopf. So lie­ßen sie ihn schließ­lich al­lein sit­zen.

Zweites Kapitel

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