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Friedrich C. Glauser

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Beschreibung

Wachtmeister Studer verheiratet seine Tochter in die Ostschweiz. Doch während die fröhliche Gesellschaft zu Abend isst, geschieht vor der Gaststube ein Mord, der den Fahnder in die fremden Verhältnisse eines Appenzeller Dorfes hineinzieht. Die Polizei vor Ort hat schnell einen vermeintlichen Täter verhaftet, doch Studer wittert komplexere Zusammenhänge und unternimmt seine eigenen Nachforschungen. Plötzlich nimmt die provinziell scheinende Angelegenheit internationale Züge an. Pressestimmen "Wird Glauser auch genug gelesen? Wir fürchten, nein - sonst ließe sich nicht überall so viel inhaltsleeres Zeug als Krimi verkaufen." [T. Klingenmaier Stuttgarter Zeitung] "Glauser ist ein genauer Beobachter. Glauser beherrscht sein Handwerk. Er ist ein Schriftsteller, den es zu entdecken gilt. Wir empfehlen." [HK Blitz! Leipzig] "Für Glauser war die Form des Kriminalromans ein Mittel, sich für die verschiedensten Themen einzusetzen. Es waren und es sind Themen, die ihm von eigenen Erfahrungen aufgedrängt wurden: Strafvollzug, Rauschgiftsüchtigkeit, Bedrängnis im Außenseitertum." [Tages-Anzeiger] Null Papier Verlag

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Friedrich Glauser

Krock & Co

Ein Wachtmeister Studer Kriminalroman

Friedrich Glauser

Krock & Co

Ein Wachtmeister Studer Kriminalroman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 EV: Morgarten, Zürich, 1939 3. Auflage, ISBN 978-3-954182-84-8

www.null-papier.de/studer

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

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Die Ro­ma­ne mit Wacht­meis­ter Stu­der bei Null Pa­pier

Wacht­meis­ter Stu­der

Mat­to re­giert

Die Fie­ber­kur­ve

Der Chi­ne­se

Krock & Co

An­de­re Kri­mi­nal­ro­ma­ne von Fried­rich C. Glau­ser

Der Tee der drei al­ten Da­men - Eine Kri­mi­nal­ge­schich­te

Autor

Fried­rich Charles Glau­ser (✳ 4. Fe­bru­ar 1896 in Wien; † 8. De­zem­ber 1938 in Ner­vi bei Ge­nua) war ein Schwei­zer Schrift­stel­ler. Er gilt als ei­ner der ers­ten deutsch­spra­chi­gen Kri­mi­au­to­ren.

Schrift­stel­ler zu sein, hieß für Fried­rich Glau­ser zu­nächst, Ge­dich­te zu schrei­ben. In der ly­ri­schen Form glaub­te er, sein in­ne­res Er­le­ben aus­drücken zu kön­nen. Vor­bil­der wa­ren für ihn Sté­pha­ne Mall­ar­mé und Ge­org Trakl; der Ton ent­spricht dem ex­pres­sio­nis­ti­schen Te­nor der Zeit am Ende des Ers­ten Welt­krie­ges. Doch kei­ner die­ser Tex­te wur­de ge­druckt. Für die Samm­lung sei­ner Ge­dich­te, die Glau­ser 1920 zu­sam­men­stell­te, fand sich kein Ver­le­ger. Sei­ne Ge­dich­te wur­den da­her erst post­hum ver­öf­fent­licht.

In den letz­ten drei Le­bens­jah­ren schrieb Glau­ser fünf Kri­mi­nal­ro­ma­ne, in de­ren Mit­tel­punkt Wacht­meis­ter Stu­der steht, ein ei­gen­sin­ni­ger Kri­mi­nal­po­li­zist mit Ver­ständ­nis für die Ge­fal­le­nen der Ge­sell­schaft.

Der Kri­mi­nal­ro­man »Mat­to re­giert« spielt in ei­ner psych­ia­tri­schen Kli­nik und man merkt ihm ge­nau­so wie den an­de­ren Ro­ma­nen an, dass der Au­tor ei­ge­ne Er­leb­nis­se ver­ar­bei­tet hat. Mit ein­dring­li­chen Mi­lieu­stu­di­en und pa­cken­den Schil­de­run­gen der so­zi­al­po­li­ti­schen Si­tua­ti­on ge­lingt es ihm, den Le­ser in sei­nen Bann zu schla­gen.

Glau­ser ist nach der Auf­fas­sung von Er­hard Jöst »ei­ner der wich­tigs­ten Weg­be­rei­ter des mo­der­nen Kri­mi­nal­ro­mans«. Sei­ne Ro­ma­ne und drei wei­te­re Bän­de mit Pro­sa­tex­ten wur­den zwi­schen 1936 und 1945 ver­öf­fent­licht.

Glau­sers Nach­lass be­fin­det sich im Schwei­ze­ri­schen Li­te­ra­tu­rar­chiv in Bern.

Bei ei­ner Umfrage im Jahr 1990 un­ter 37 Kri­mi­fach­leu­ten nach dem »bes­ten Kri­mi­nal­ro­man al­ler Zei­ten« lan­de­te Wacht­meis­ter Stu­der als bes­ter deutsch­spra­chi­ger Kri­mi auf Platz 4.

1.

WARUM WAR man nach­gie­big ge­we­sen? Wa­rum hat­te man Frau und Toch­ter den Wil­len ge­las­sen? Jetzt stand man da und soll­te wo­mög­lich die Verant­wor­tung auf sich neh­men, weil man ei­gen­mäch­tig ge­han­delt hat­te und die Lei­che nicht im Gärt­lein ge­blie­ben war, hin­term Haus, dort, wo sie auf­ge­fun­den wor­den war…

Der Tote lag auf dem weiß­ge­scheu­er­ten Tisch im Vor­kel­ler des Ho­tels zum Hir­schen, und über das hel­le Holz schlän­gel­te sich ein schma­ler Strei­fen Blut. Lang­sam fie­len die Trop­fen auf den Ze­ment­bo­den – es klang wie das Ti­cken ei­ner al­ters­mü­den Wand­uhr.

Der Tote: Ein jun­ger Mann, sehr groß, sehr schlank, be­klei­det mit ei­nem dun­kelblau­en Po­lo­hemd, aus des­sen kur­z­en Är­meln die Arme rag­ten, lang und blond be­haart, wäh­rend die Bei­ne in hell­grau­en Fla­nell­ho­sen steck­ten.

Und ne­ben sei­nem Kop­fe lag das Mord­in­stru­ment. Kein Mes­ser, kein Re­vol­ver… Eine un­ge­wöhn­li­che, eine noch nie ge­se­he­ne Waf­fe: die Spei­che ei­nes Ve­lo­ra­des, an ei­nem Ende spitz zu­ge­feilt. Sie war nicht leicht zu ent­de­cken ge­we­sen, denn sie hat­te im Kör­per des To­ten ge­steckt und kaum aus der Haut her­aus­ge­ragt. Erst als Stu­der mit der fla­chen Hand über den Rücken der Lei­che ge­fah­ren war, hat­te er sie füh­len kön­nen. Fast senk­recht war sie in den Kör­per ge­sto­ßen wor­den, dicht un­ter dem lin­ken Schul­ter­blatt, und nir­gends her­aus­ge­kom­men – we­der an der Brust noch am Bauch. Wie vie­le le­bens­wich­ti­ge Or­ga­ne die­ser Spieß durch­bohrt hat­te, wür­de der Arzt erst bei der Lei­chen­öff­nung fest­stel­len kön­nen…

So we­nig rag­te das stump­fe Ende aus dem Rücken her­aus, dass es eine Zan­ge ge­braucht hat­te, um die Mord­waf­fe aus der Wun­de zu zie­hen.

Doch – um eine ers­te Fra­ge auf­zu­wer­fen – wie war der Mör­der mit die­sem Spieß um­ge­gan­gen? Es muss­te doch ein Griff vor­han­den ge­we­sen sein – im Au­gen­blick, da der Stich aus­ge­führt wor­den war. Hat­te man ihn ab­ge­schraubt? Nach­her? Es schi­en fast so, denn eine kaum sicht­ba­re, spi­ra­lig ver­lau­fen­de Li­nie war in den stump­fen Teil ein­ge­schnit­ten… Mecha­ni­ker­ar­beit, ohne Zwei­fel!

Wacht­meis­ter Stu­der, von der Ber­ner Fahn­dungs­po­li­zei, hät­te ums Le­ben ger­ne eine Bris­sa­go an­ge­zün­det, aber das ging nicht an, hier, ge­ra­de ne­ben dem To­ten. So blieb nichts an­de­res üb­rig, als hin und her zu lau­fen im schma­len und kur­z­en Raum, den eine Bir­ne, bau­melnd an ei­nem stau­bi­gen Draht, mit ei­nem grau­sam hel­len Licht über­schüt­te­te. Und dazu dem Al­bert Vor­trä­ge zu hal­ten…

Je­des die­ser Selbst­ge­sprä­che be­gann mit der Fest­stel­lung:

»Lü Bär­tu! Worum, zum Tüü­fu, hei mr uff d’Wy­ber­völ­cher g’lost!«

Al­bert Guhl, ein kräf­ti­ger, breit­schult­ri­ger Bur­sche, sie­ben­und­zwan­zig­jäh­rig, Kor­po­ral an der Thur­gau­er Kan­tons­po­li­zei und in Ar­bon sta­tio­niert, hat­te heu­te Stu­ders Toch­ter ge­hei­ra­tet.

– Hät­te man, fuhr der Ber­ner Wacht­meis­ter zu fra­gen fort, die Hoch­zeit nicht ge­ra­de so gut in Bern fei­ern kön­nen? Nein, es hat­te müs­sen durch­ge­s­tiert wer­den, dass sie in Ar­bon statt­fand. »Weil dei­ne Mut­ter eine alte Frau ist und sich vor dem Rei­sen fürch­tet? Gut, das ist ein Grund! Ein stich­hal­ti­ger?«

Al­bert Guhl schwieg. Und Stu­der hob sei­ne mäch­ti­gen Schul­tern – die Hän­de mach­ten die Be­we­gung mit und fie­len dann klat­schend ge­gen sei­ne Ober­schen­kel…

»Und jetz?« frag­te er wei­ter. Lang­sam nä­her­te er sich dem Tisch, bück­te sich und sah dem To­ten ins Ge­sicht…

Ein un­an­ge­neh­mes Ge­sicht! Die Nase lang und ge­bo­gen, wie ein Gei­er­schna­bel, zwei Fur­chen gru­ben sich ein von den Na­sen­flü­geln bis zu den Mund­win­keln, die flei­schi­gen Lip­pen wa­ren ge­schürzt, ent­blö­ßten die Zäh­ne – und es sah aus, als lächle der Tote mit all sei­nen Gold­plom­ben. Und der Blick, be­vor dem To­ten die Au­gen zu­ge­drückt wor­den wa­ren! Stu­der er­in­ner­te sich an ihn: ge­la­den mit Hohn, im Tode noch!

Sah es nicht aus, als wol­le sich der Er­mor­de­te lus­tig ma­chen über die Über­le­ben­den? Kaum hat­te der Wacht­meis­ter die­se Fra­ge ge­dacht, stell­te er sie laut. Und Al­bert, der Schwie­ger­sohn, nick­te, nick­te – aber er tat den Mund nicht auf.

Ob er das Re­den ver­lernt habe, woll­te Stu­der wis­sen.

Al­bert sah auf, schüt­tel­te den Kopf und dann sag­te er, be­schei­den, ohne jeg­li­chen Vor­wurf:

»Wir hät­ten ihn lie­gen­las­sen sol­len, Vat­ter.«

»Lie­gen­las­sen!… Lie­gen­las­sen!…« Stu­der ahm­te ge­häs­sig den Ton­fall des Jun­gen nach. »Lie­gen­las­sen! Da­mit die Bau­ern vom Dorf den Bo­den ver­tram­peln? Hä? Da­mit man gar kei­ne Spu­ren mehr fin­det? Hä?«

»Spu­ren!« mein­te Al­bert lei­se, mit viel ver­söhn­li­chem Re­spekt, der dem Wacht­meis­ter wohl­tat. »Ich glaub, Vat­ter, dass man auf dem Bo­den nicht viel Spu­ren ent­de­cken kann…«

– Weil er tro­cken sei wie–n–es Chä­fer­füd­le? Hä? Das wol­le der Jun­ge wohl sa­gen? Dann sol­le er sich mer­ken, dass ihm, dem Wacht­meis­ter Stu­der (»mir, nur ein Wach­me­isch­ter Stu­der«, be­ton­te er) die Auf­klä­rung ei­nes ähn­li­chen Fal­les ge­lun­gen war: da sei der Tote auf ei­nem eben­so tro­ckenen Bo­den ge­le­gen – auf ei­nem Wald­bo­den! (Doch ei­gent­lich war al­ler ech­te Är­ger aus Stu­ders Stim­me ver­schwun­den. – Der Wacht­meis­ter tat nur so. Und Al­bert merk­te dies ganz gut – er lä­chel­te…) – Ganz recht! Auf ei­nem Wald­bo­den! Mit Tan­nen­na­deln drauf! wie­der­hol­te Stu­der und stieß sei­ne Fäus­te so tief in die Ho­sen­ta­schen, dass in der plötz­li­chen Stil­le deut­lich das Geräusch zer­rei­ßen­den Stof­fes zu hö­ren war…

»Saue­rei!« mur­mel­te der Wacht­meis­ter. – Nun wer­de er sein Por­te­mon­naie ver­lie­ren… Und warum, seufz­te er wei­ter, um der Tu­u­sigs­gotts­wil­le warum hat­te man den Aus­flug aus­ge­rech­net nach die­sem Schwar­zen­stein ma­chen müs­sen?

»Aber Vat­ter!« sag­te Al­bert. »Ihr habt doch sel­ber den Hir­schen zu Schwar­zen­stein vor­ge­schla­gen!«

Stu­der brumm­te. Es stimm­te, lei­der! Er hat­te das Ho­tel vor­ge­schla­gen. An der Mit­tags­ta­fel in Ar­bon war von dem al­ten Brauch die Rede ge­we­sen; am Hoch­zeits­tag, hieß es, sei es Sit­te, mit Kut­schen ir­gend­ein Dörf­lein im Ap­pen­zel­ler­land auf­zu­su­chen… Und da war dem Wacht­meis­ter ein­ge­fal­len, dass in Schwar­zen­stein ein Schul­schatz von ihm wir­te­te. Alte Lie­be ros­tet nicht, sagt man, und so­mit wa­ren nicht nur zwei Frau­en (Stu­ders Gat­tin und Toch­ter) am trau­ri­gen Aus­gang des Fes­tes schuld, son­dern drei. Denn das Ibach Anni (jetzt hieß es üb­ri­gens Frau Anna Rech­stei­ner) muss­te man dazu zäh­len, das vor… – vier­zig? – achtund­drei­ßig? – kurz, vor vie­len Jah­ren mit dem Stu­der Köbu in ei­nem Dor­fe des Em­men­tals zur Schu­le ge­gan­gen war…

Das arme Anni! Vor zehn Jah­ren hat­te es den Karl Rech­stei­ner in St. Gal­len zum Mann ge­nom­men, und das Ehe­paar hat­te dann das Ho­tel in Schwar­zen­stein ge­kauft, denn vie­le Fe­ri­en­gäs­te ka­men im Som­mer hier her­auf. Zu­erst war al­les gut ge­gan­gen. Aber dann war der Mann krank ge­wor­den vor drei Jah­ren, und zwi­schen­drin hat­te er ins Süd­ti­rol fah­ren müs­sen – zur Kur.

»Aus­zeh­rung«, sag­te Dr. Sal­vis­berg, der den Kran­ken be­han­del­te.

Und wirk­lich, der Rech­stei­ner sah schlecht aus. Stu­der hat­te ihm, be­glei­tet vom Anni, am Nach­mit­tag einen Be­such ab­ge­stat­tet, und seit­her wur­de er das Bild des Man­nes nicht los. Das Ge­sicht vor al­lem: glatt, spitz, die lin­ke Hälf­te klei­ner als die rech­te –, die Haut­far­be… wie Lät­t…

Ja, das Anni hat­te es nicht leicht. Es hieß freund­lich sein mit den Fe­ri­en­gäs­ten, den kost­ba­ren, da­mit sie übers Jahr nicht aus­blie­ben! Denn sie brach­ten Geld ins Haus – und der kran­ke Rech­stei­ner brauch­te viel! Für Arzt, Apo­the­ke, Ku­ren.

Und nun die­ser Mord! Er konn­te die Fe­ri­en­gäs­te ver­trei­ben – wer wohnt gern in ei­nem Ho­tel, in dem ein Mord pas­siert ist? Ein solch ge­heim­nis­vol­ler noch? Für die Zei­tun­gen war solch ein ›sen­sa­tio­nel­les‹ Ver­bre­chen ein ge­fun­de­nes Fres­sen! Und so hat­te denn das Anni den Wacht­meis­ter um Bei­stand ge­be­ten. Konn­te man solch eine Bit­te ab­schla­gen? Be­son­ders noch, wenn sie von ei­nem Schul­schatz kam?

Ja, das Anni! Schon in der Schu­le hat­te das Meit­schi viel Mut und Tap­fer­keit ge­zeigt. Und wa­cker war es ge­blie­ben. Kei­ne Kla­ge, nur eine schüch­ter­ne Bit­te, nicht ein­mal das – eine Be­haup­tung eher: Der Ja­kob wer­de schon al­les rich­tig ma­chen…

Wie­der stand Stu­der ne­ben dem Tisch und be­trach­te­te den To­ten… Kopf­schüt­telnd nahm er die son­der­ba­re Waf­fe in die Hand, trat un­ter die Lam­pe und un­ter­such­te sie dort ein­ge­hend.

Und plötz­lich mach­te er sei­ne ers­te Ent­de­ckung.

»Bär­tu!« rief er lei­se. Als der Schwie­ger­sohn ne­ben ihm stand, hielt Stu­der zwi­schen Dau­men und Zei­ge­fin­ger ein stei­fes grau­es Haar. »Lüg ei­nisch!«

»Hm!« mein­te Al­bert.

– Was er mit sei­nem ›Hm‹ sa­gen wol­le, er­kun­dig­te sich Stu­der ge­reizt. Ob die Thur­gau­er alle es ver­nälts Muul hät­ten? Was sei das für ein Haar?

»Kein Men­schen­haar«, sag­te der Al­bert vor­sich­tig.

Der Wacht­meis­ter schnauf­te ver­ächt­lich.

– Dass es kein Men­schen­haar sei, kön­ne ein zwei­jäh­ri­ges Büe­b­li se­hen. Aber von was für ei­nem Tier denn? Geiß? Lamm? Kün­gel? Pferd? Kuh?

Das Haar, das der Wacht­meis­ter noch im­mer zwi­schen Dau­men und Zei­ge­fin­ger dreh­te, war dünn, steif und glän­zend. Lang wie Stu­ders Zei­ge­fin­ger.

Al­bert mein­te schüch­tern, es sehe aus wie ein Hun­de­haar – wor­auf er zur Ant­wort er­hielt, ein Po­li­zist habe nicht zu ra­ten, son­dern er müs­se sei­ne Be­haup­tun­gen auch be­wei­sen kön­nen. Wie er auf den Ge­dan­ken ge­kom­men sei, es kön­ne ein Hun­de­haar sein?

– Weil bei der An­kunft der Ge­sell­schaft ein lang­haa­ri­ger Hund um die Bei­ne der Pfer­de ge­sprun­gen sei, des­sen Fell ex­akt die­se Far­be ge­habt habe. Ja, auch die Län­ge des Haa­res stim­me…

Stu­der nick­te, klopf­te sei­nem Schwie­ger­sohn auf die Schul­ter und mein­te: – Vi­el­leicht wer­de doch noch et­was Rech­tes aus ihm. Dann ging er zur Türe der Kel­ler­kam­mer, riss sie auf, und der Zu­rück­blei­ben­de hör­te Schrit­te, die eine Trep­pe hin­an­stie­gen.

Nach fünf Mi­nu­ten etwa war der Wacht­meis­ter zu­rück. Er schob vor sich her ein klei­nes Männ­chen mit ei­ner ro­ten Knol­len­na­se, de­ren Ge­wicht den Kopf des Man­nes nach vor­ne zog.

»Hocked ab«, sag­te Stu­der und stell­te einen Stuhl in die Mit­te des Rau­mes, so zwar, dass der Sit­zen­de den To­ten nicht se­hen konn­te.

Und Wacht­meis­ter Stu­der von der Ber­ner Kan­tons­po­li­zei be­gann wie­der ein­mal je­nes Spiel, von dem er in schwa­chen Stun­den be­haup­te­te, es ver­der­be den Cha­rak­ter – doch war es ihm der­ma­ßen in Fleisch und Blut über­ge­gan­gen, dass er die Pen­sio­nie­rung viel­leicht nur des­halb ab­ge­lehnt hat­te, weil er es nicht miss­en konn­te… Ers­tens gab es ihm Macht über sei­ne Mit­menschen und zwei­tens kann­te er des­sen Re­geln bes­ser als man­cher Un­ter­su­chungs­rich­ter.

Das Spiel be­gann mit den üb­li­chen Fra­gen.

»Name?« – »Küng Jo­han­nes.« – »Al­ter?« – »Neun­und­fünf­zig.« – »Be­ruf?« – »Stall­knecht.« – Also er habe die Lei­che ge­fun­den? – Ja. – Wo? – Im Gar­ten hin­term Haus. – »Um wel­che Zeit?«

Das Männ­lein schwieg. Es rieb mit ei­nem schwar­zen Zei­ge­fin­ger an sei­ner di­cken Nase, stell­te dann die­se Be­schäf­ti­gung ein, um eine rie­si­ge sil­ber­ne Zwie­bel mit viel Mühe – der grü­ne Schurz war ihm da­bei im Weg – aus dem Gi­let­täsch­li zu zie­hen; die Uhr wur­de lan­ge an­ge­st­arrt und dann mit lei­ser Stim­me geant­wor­tet: »Vier­tel vor zeh­ni!« Hier­auf ver­schwand die Zwie­bel.

»Si­cher?« frag­te Stu­der. »Wills Gott!« ant­wor­te­te das Mann­li. –Wa­rum es dann bis Vier­tel ab zehn ge­dau­ert habe, bis die Wir­tin be­nach­rich­tigt wor­den sei? – Er habe, er­klär­te Küng, zu­erst den Pfer­den noch Ha­ber ge­ben müs­sen, denn die Gäs­te hät­ten doch um halb elf ab­fah­ren wol­len.

– Und da sei der Tote ein­fach im Gärt­li lie­gen­ge­blie­ben? – Ni­cken, lan­ges, schweig­sa­mes Ni­cken.

»Gut… Und habt Ihr den To­ten er­kannt?«

Wie­der das schwei­gen­de Ni­cken, das den Wacht­meis­ter lang­sam un­ge­dul­dig mach­te.

»So red doch, Küng!« sag­te er är­ger­lich. »Wer war’s?«

»Stie­ger hat er ge­hei­ßen. Er ist je­man­den be­su­chen kom­men. Über den Sonn­tag. Der Stie­ger hat in St. Gal­len ge­ar­bei­tet. – Und die an­de­re auch. Ich glaub«, Küng kratz­te an sei­ner Nase, »ich glaub, sie ar­bei­ten bei­de auf dem glei­chen Büro.«

»Die an­de­re?« frag­te Stu­der. »Wie heißt sie?«

»Loppa­cher! Mar­tha Loppa­cher. Sie hat Fe­ri­en, Er­ho­lungs­fe­ri­en hat sie ge­macht – weil sie krank war… Vier Wo­chen ist sie schon hier.«

Schwei­gen. Stu­der hat­te sein No­tiz­buch ge­zo­gen und schrieb die Na­men ein mit sei­ner win­zi­gen Schrift.

›Stie­ger‹, schrieb er, mal­te ein Kreuz hin­ter den Na­men und ›Loppa­cher Mar­tha‹. Dann wur­de ihm plötz­lich be­wusst, dass al­les bis jetzt wirk­lich nur ein Spiel ge­we­sen war, denn was er da ge­fragt hat­te, wuss­te er schon. Aber es war so viel an­de­res da­zu­ge­kom­men: Auf­re­gung, das Schrei­en der Frau­en, der Trans­port der Lei­che. So fühl­te der Wacht­meis­ter das Be­dürf­nis, Ord­nung in sei­ne ver­wirr­ten Ge­dan­ken zu brin­gen.

»Vier Wo­chen?« frag­te er ge­dan­ken­voll. »Und was hat sie in der Zeit ge­trie­ben?«

»Hä… Spa­zier­gäng g’­macht, g’le­se… ond off de Wees g’schlo­fe… Ond ka­ri­sier­t…«

Stu­der blick­te zu sei­nem Schwie­ger­sohn hin­über, aber dem schi­en nichts auf­ge­fal­len zu sein. So muss­te sich denn der Wacht­meis­ter ganz al­lein an der Aus­drucks­wei­se des Küng Jo­han­nes er­göt­zen.

»Kares­siert?« wie­der­hol­te er. »Wie mei­net Ihr das?«

»Eh de Nar­re g’­macht mit de Manns­bil­der.«

»Mit wem? Mit al­len? Oder nur mit ei­nem?«

»B’­son­ders mit­’s Gro­fe-n-Ernst. Isch gar en su­u­be­re Fe­ger, de Gro­fe-n-Ernst…«

– Wie hei­ße der Mann? Graf Ernst? Und was trei­be er? – Er sei Ve­lo­händ­ler… – Was sei er? Ve­lo­händ­ler? – Ja, Ve­lo­händ­ler. – Und habe der Graf Ernst etwa einen Hund? – »Seb glob i!« – Was für einen Hund? – Die Her­ren hät­ten ihn si­cher ge­se­hen. Bei der An­kunft sei er um die Bei­ne der Ros­se ge­sprun­gen…

Stu­der sah den Hund deut­lich vor sich: Eine Art Spitz, kein rein­ras­si­ges Tier, mit ei­nem grau­en Fell; dicht stan­den die star­ren Haa­re.

Ve­lo­händ­ler? – Die Waf­fe war die Spei­che ei­nes Fahr­ra­des! Und die­ser Ve­lo­händ­ler hat­te auch noch einen Hund?… Halt! Ein Hun­de­haar und eine Spei­che wa­ren noch kei­ne Be­wei­se?… Nein! Es ge­hör­te noch mehr da­zu…

Vor al­lem muss­te man die­sen Graf Ernst ken­nen­ler­nen. Was hat­te der Küng be­haup­tet? Der Mann sei ein… ein… rich­tig! »En su­u­be­re Fe­ger.« Dar­un­ter stell­te sich Wacht­meis­ter Stu­der einen Dorf­gückel vor, einen hüb­schen, nicht sehr ge­schei­ten Bur­schen, der es ver­stand, den Frau­en­zim­mern schön zu tun. Umso er­staun­ter war er, als er auf sei­ne Fra­ge nach dem Al­ter des Graf Ernst die Ant­wort er­hielt, der Mann sei über fünf­zig.

»Über fünf­zig?« wie­der­hol­te Stu­der er­staunt. Ob das nicht ein we­nig alt sei für »en su­u­be­re Fe­ger«? Da platz­te das Mann­li mit der ro­ten Kar­tof­fel­na­se los, es lach­te und lach­te. Dies La­chen aber mach­te den Wacht­meis­ter wild, denn Stu­der ver­stand, dass man ihn ver­spot­ten woll­te… Es war die Stra­fe da­für, dass er sich, als Ber­ner Fahn­der, in ei­nem frem­den Kan­ton mit ei­nem Mord­fall be­schäf­tig­te. Aber, weiß Gott, er hat­te es ja nur ge­tan, um dem Anni Ibach, dem Schul­schatz aus ver­gan­ge­nen Zei­ten, zu hel­fen!

Die­ser Küng Jo­han­nes war das ers­te spür­ba­re Hin­der­nis. Wäre es nicht ge­schei­ter, den Schwie­ger­sohn vor­zu­schi­cken? Der stamm­te aus der Nähe und kann­te die Ge­bräu­che bes­ser, auch die Spra­che… Nein! Gera­de dem Schwie­ger­sohn muss­te man zei­gen, dass man noch nicht zum al­ten Ei­sen ge­hör­te, dass die ›Gäng-gäng‹, wie sie in der Ost­schweiz die Ber­ner nann­ten, kei­ne Du­bel wa­ren…

2.

Die Hit­ze im Vor­kel­ler war schier un­er­träg­lich. Flie­gen summ­ten um die Lam­pe, setz­ten sich auf das Ge­sicht des To­ten, lie­fen über sei­ne nack­ten Arme.

Dem Wacht­meis­ter war das Spiel plötz­lich ver­lei­det. Stu­der hät­te kei­nen Grund für sei­ne plötz­li­che Mü­dig­keit an­ge­ben kön­nen. Er hat­te den Ver­lei­der! Bas­ta! Mor­gen kam der Ver­hör­rich­ter mit sei­nem Ak­tu­ar und dem Chef der Ap­pen­zel­ler Kan­tons­po­li­zei. Moch­ten die Her­ren sich dann wei­ter um den Fall küm­mern. Das ein­zig Lang­wei­li­ge an der Sa­che war, dass nie­mand das Ho­tel ver­las­sen durf­te und die Hoch­zeits­ge­sell­schaft des­halb hier über­nach­ten muss­te… Ein teu­rer Aus­flug wür­de das wer­den! Drei Kut­scher, sechs Pfer­de… und die Hoch­zeits­ge­sell­schaft: die Mut­ter des Al­bert, zwei On­kel, drei Tan­ten… Aus Bern wa­ren nur die El­tern der jun­gen Frau mit­ge­kom­men. Stu­der nahm sich vor, mit der Mut­ter sei­nes Schwie­ger­soh­nes die Kos­ten des Aus­flu­ges zu tei­len.

Er warf noch einen Blick auf den To­ten und jag­te den Al­bert und den Küng zur Tür hin­aus; dann ver­lang­te er von der Wir­tin ein Lein­tuch, um die Lei­che zu­zu­de­cken. Lan­ge, sehr lan­ge starr­te er in das Ge­sicht des To­ten. »Ge­mein!« flüs­ter­te er. »Ge­mein­heit… Das ist das rich­ti­ge Wort!« Und be­deck­te das Ant­litz end­lich…

Dann lösch­te er end­gül­tig das Licht, ver­sperr­te die Tür und be­gab sich in den ers­ten Stock. Sei­ne Frau lag schon im Bett; dar­um trat er auf den Bal­kon hin­aus, zün­de­te eine Bris­sa­go an und blick­te über das stil­le Land.

Die Stra­ße war ein lan­ges wei­ßes Band, das sich rechts und links in der Dun­kel­heit ver­lor. Ein Bach plät­scher­te… Die Ju­ni­nacht roch nach ge­mäh­ten Wie­sen, Blu­men und ver­zet­tel­tem Mist. Noch ein an­de­rer Ge­ruch dräng­te sich auf, den Stu­der zu­erst nicht kann­te. Aber dann wuss­te er plötz­lich, was es war: Es roch deut­lich nach ros­ti­gem, al­tem Ei­sen, das die Son­ne er­hitzt hat und nun die tags­über auf­ge­spei­cher­te Wär­me aus­at­met. Der Wacht­meis­ter beug­te sich vor und sah rechts von der Wirt­schaft, am Stra­ßen­rand, einen bau­fäl­li­gen Schup­pen. Und nun – ein Wol­ken­vor­hang zer­riss plötz­lich, der Mond, nicht grö­ßer als ein Zitro­nen­schnitz, streu­te sein Licht über die Land­schaft – war rund um den Schup­pen ein Ge­wirr zu se­hen: Alte Rä­der, viel Draht, ros­ti­ge Fass­rei­fen… Auf der Schup­pen­wand aber schim­mer­te ein wei­ßes Schild, auf dem mit dunklen Buch­sta­ben stand:

Ernst Graf, Ve­lo­händ­ler

Soso! »De Gro­fe-n-Ernst« – wohn­te ge­ra­de ne­ben dem Ho­tel ›zum Hir­schen‹.

Im Schlaf­zim­mer mein­te eine ver­schla­fe­ne Stim­me, der Va­ter sol­le doch ins Bett kom­men. Mor­gen sei auch noch ein Tag. Da warf Wacht­meis­ter Stu­der von der Ber­ner Kan­tons­po­li­zei seuf­zend die nur halb ge­rauch­te Bris­sa­go fort, so­dass sie auf der Stra­ße un­ten wie ein miss­ra­te­nes Feu­er­werk ein paar Fun­ken von sich gab.

– Hof­fent­lich, mein­te das Hedy noch, brin­ge die­se Mord­ge­schich­te den Kin­dern kein Un­glück.

»Cha­bis!« sag­te Stu­der, der nur im ge­hei­men ein we­nig aber­gläu­bisch war. Dann leg­te er den Kopf auf die ge­fal­te­ten Hän­de und starr­te in die Dun­kel­heit. Der Mond wan­der­te – nun schi­en er ins Zim­mer und der Wacht­meis­ter fand, er glei­che je­man­dem… Er grü­bel­te, grü­bel­te. Und plötz­lich wuss­te er es: Der Rech­stei­ner, der kran­ke Wirt des Ho­tels ›zum Hir­schen‹ hat­te ein un­re­gel­mä­ßi­ges Ge­sicht, wie der Mond, der am Ab­neh­men war.

3.

Stu­der er­wach­te um halb vier. Drau­ßen war es schon hell. Er stand lei­se auf, um sei­ne Frau nicht zu we­cken, nahm dann sei­ne schwar­zen Schnür­schu­he in die Hand, schlich hin­aus und über den Gang die Trep­pen hin­ab. An der Tür des Vor­kel­lers blieb er eine Wei­le ste­hen, lausch­te… Im gan­zen Hau­se herrsch­te die glei­che Stil­le wie hin­ter der Tür. Sach­te schloss Stu­der auf, trat in den Vor­kel­ler und blieb vor dem Tisch ste­hen. Er wuss­te selbst nicht, was er hier woll­te. Aber plötz­lich kam ihm in den Sinn, dass er am Abend vor­her die Klei­der der Lei­che nicht un­ter­sucht hat­te. Er schlug das wei­ße Lein­tuch zu­rück – das Ta­schen­durch­su­chen wür­de nicht schwie­rig sein. Es ka­men ja nur die Ho­sen in Fra­ge…

Ein Por­te­mon­nai­e… Vier Zwan­zi­ger­no­ten, drei Fünfli­ber, Münz… Ein Nas­tuch. Ein Sack­mes­ser an ei­ner Ket­te… In der hin­te­ren Ta­sche ein dickes Por­te­feuil­le.

Brie­fe, Brie­fe, Brie­fe… »Herrn Jean Stie­ger, Se­kre­tär, Bahn­hof­stra­ße 25, St. Gal­len…«

Hm. Der Herr Stie­ger konn­te sich nicht Jo­hann oder Hans nen­nen wie ein ge­wöhn­li­cher St. Gal­ler. Son­dern ›Jean‹! Er hat­te sich wohl ein­ge­bil­det, es sei vor­neh­mer.

Auf al­len Brief­um­schlä­gen die glei­che Schrift. Zwan­zig Um­schlä­ge – aber alle leer!