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Ein neuer Fall für Wachtmeister Studer. Eine Irrenanstalt im Kanton Bern in den zwanziger Jahren: Der Direktor ist verschwunden, der Patient Pieterlen, ein Kindsmörder, ausgebrochen. Wachtmeister Studer blickt hinter die Kulissen psychiatrischer Theorien und Therapien. Er versucht nicht nur, einem Verbrecher auf die Spur zu kommen, sondern tritt auch eine Reise in die Grenzregionen von Vernunft und Irrationalität an, die keineswegs immer so klar voneinander zu trennen sind - Matto, der Geist des Wahnsinns, regiert überall und spinnt seine silbernen Fäden ... "Der Kriminalroman lässt den Regeln des Genres zum Trotz vieles offen. Wachtmeister Studer ist ein ungewöhnlicher Berner Kantonspolizist: phantasievoll und instinktiv, aber auch bieder und begriffstutzig." Die Tiroler Straßenzeitung 01.04.2002 "Warum nicht wieder einmal einen Klassiker lesen? In seiner lakonischen eindringlichen Sprache ist der Roman ein zeitloser Genuss." Neue Luzerner Zeitung 05.02.2005 "Dies ist Glausers persönlichstes und meines Erachtens auch reifstes Werk. Immerhin hat Glauser einen stattlichen Teil seines Lebens in der stationären Psychiatrie, etwas unfeiner gesprochen in der Irrenanstalt, verbracht. Gute zwei Jahrzehnte benötigte der Roman denn auch zu seiner endgültigen Fassung. In diesen Jahren hat Glauser nicht nur heftige Schicksalsschläge er- und durchlitten, er entwickelte auch seine schriftstellerische Fertigkeit mit einer enormen Kraftanstrengung." Null Papier Verlag
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Friedrich Glauser
Matto regiert
Ein Wachtmeister Studer Kriminalroman
Friedrich Glauser
Matto regiert
Ein Wachtmeister Studer Kriminalroman
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 EV: Jean Christophe Verlag, Zürich, 1937 3. Auflage, ISBN 978-3-954181-56-8
www.null-papier.de/studer
null-papier.de/katalog
Inhaltsverzeichnis
Notwendige Vorrede
Verwahrloste Jugend
Brot und Salz
Der Tatort und der Festsaal
Die weiße Eminenz
Wachsaal B
Matto und der rothaarige Gilgen
Ein Mittagessen
Direktor Ulrich Borstli selig
Kurzes Zwischenspiel in drei Teilen
1.
2.
3.
Das Demonstrationsobjekt Pieterlen
Überlegungen
Ein Gespräch mit dem Nachtwärter Bohnenblust
Studers erster psychotherapeutischer Versuch
Die Brieftasche
Zwei kleine Belastungsproben
Studers Gewissenskonflikt
Lieb und gut
Einbruch
Kollegen
Matto erscheint
Sonntägliches Schattenspiel
Mattos Puppentheater
Ein chinesisches Sprichwort
Sieben Minuten
Fünfundvierzig Minuten
Das Lied von der Einsamkeit
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Die Romane mit Wachtmeister Studer bei Null Papier
Wachtmeister Studer
Matto regiert
Die Fieberkurve
Der Chinese
Krock & Co
Andere Kriminalromane von Friedrich C. Glauser
Der Tee der drei alten Damen - Eine Kriminalgeschichte
Friedrich Charles Glauser (✳ 4. Februar 1896 in Wien; † 8. Dezember 1938 in Nervi bei Genua) war ein Schweizer Schriftsteller. Er gilt als einer der ersten deutschsprachigen Krimiautoren.
Schriftsteller zu sein, hieß für Friedrich Glauser zunächst, Gedichte zu schreiben. In der lyrischen Form glaubte er, sein inneres Erleben ausdrücken zu können. Vorbilder waren für ihn Stéphane Mallarmé und Georg Trakl; der Ton entspricht dem expressionistischen Tenor der Zeit am Ende des Ersten Weltkrieges. Doch keiner dieser Texte wurde gedruckt. Für die Sammlung seiner Gedichte, die Glauser 1920 zusammenstellte, fand sich kein Verleger. Seine Gedichte wurden daher erst posthum veröffentlicht.
In den letzten drei Lebensjahren schrieb Glauser fünf Kriminalromane, in deren Mittelpunkt Wachtmeister Studer steht, ein eigensinniger Kriminalpolizist mit Verständnis für die Gefallenen der Gesellschaft.
Der Kriminalroman »Matto regiert« spielt in einer psychiatrischen Klinik und man merkt ihm genauso wie den anderen Romanen an, dass der Autor eigene Erlebnisse verarbeitet hat. Mit eindringlichen Milieustudien und packenden Schilderungen der sozialpolitischen Situation gelingt es ihm, den Leser in seinen Bann zu schlagen.
Glauser ist nach der Auffassung von Erhard Jöst »einer der wichtigsten Wegbereiter des modernen Kriminalromans«. Seine Romane und drei weitere Bände mit Prosatexten wurden zwischen 1936 und 1945 veröffentlicht.
Glausers Nachlass befindet sich im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern.
Bei einer Umfrage im Jahr 1990 unter 37 Krimifachleuten nach dem »besten Kriminalroman aller Zeiten« landete Wachtmeister Studer als bester deutschsprachiger Krimi auf Platz 4.
Eine Geschichte zu erzählen, die in Berlin, London, Paris oder New York spielt, ist ungefährlich. Eine Geschichte zu erzählen, die in einer Schweizer Stadt spielt, ist hingegen gefährlich. Es ist mir passiert, dass der Fußballklub Winterthur sich gegen eine meiner Erzählungen verwahrt hat, weil darin ein Back vorkam. Ich musste dann den Boys und anderen Fellows bestätigen, dass sie nicht gemeint waren.
Noch gefährlicher ist das Unterfangen, eine Geschichte zu erzählen, die in einer bernischen Heil- und Pflegeanstalt spielt. Ich sehe Proteste regnen. Darum möchte ich folgendes von Anfang an festlegen:
Es gibt drei Anstalten im Kanton Bern. – Waldau, Münsingen, Bellelay. – Meine Anstalt Randlingen ist weder Münsingen, noch die Waldau, noch Bellelay. Die Personen, die auftreten, sind frei erfunden. Mein Roman ist kein Schlüsselroman.
Eine Geschichte muss irgendwo spielen. Die meine spielt im Kanton Bern, in einer Irrenanstalt. Was weiter?… man wird wohl noch Geschichten erzählen dürfen?
Da wurde man am Morgen, um fünf Uhr, zu nachtschlafender Zeit also, durch das Schrillen des Telefons geweckt. Der kantonale Polizeidirektor war am Apparat, und pflichtgemäß meldete man sich: Wachtmeister Studer. Man lag noch im Bett, selbstverständlich, man hatte noch mindestens zwei Stunden Schlaf zugut. Aber da wurde einem eine Geschichte mitgeteilt, die nur schwer mit einem halbwachen Gehirn verstanden werden konnte. So kam es, dass man die Erzählung des hohen Vorgesetzten von Zeit zu Zeit unterbrechen musste mit Wie? Und mit Was? – und dass man schließlich zu hören bekam, man sei ein Tubel und man solle besser lose!… Das war nicht allzu schlimm. Der kantonale Polizeidirektor liebte kräftige Ausdrücke und schließlich: Tubel… B’hüetis!… Schlimmer war schon, dass man gar nicht recht nachkam, was man nun eigentlich machen sollte. In einer halben Stunde werde man von einem gewissen Dr. Ernst Laduner abgeholt; so hatte es geheißen, der einen in die Heil- und Pflegeanstalt Randlingen führen werde, wo ein Patient namens Pieterlen – ja: P wie Peter, I wie Ida, E wie Erich… – kurz ein Patient Pieterlen ausgebrochen war…
Das kam vor… Und zu gleicher Zeit, das heißt in der gleichen Nacht, sei auch der Direktor der Spinnwinde – so drückte sich der hohe Vorgesetzte aus, der nicht gut auf die Psychiater zu sprechen war – verschwunden. Alles Nähere werde man von Dr. Laduner erfahren, der gedeckt sein wolle, gedeckt von der Behörde. Und über das Wort ›gedeckt‹ hatte der kantonale Polizeidirektor noch einen Witz gemacht, der ziemlich faul war und nach Kuhstall roch… Laduner? Ernst Laduner? Ein Psychiater? Studer hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt und starrte zur Decke. Man kannte doch einen Dr. Laduner, aber wo und bei welcher Gelegenheit hatte man die Bekanntschaft dieses Herrn gemacht? Denn – und das war das Merkwürdigste an der Sache – der Herr Dr. Laduner hatte nach dem Wachtmeister Jakob Studer gefragt, wenigstens hatte der Polizeidirektor dies behauptet. Und am Telefon hatte der Polizeidirektor nach dieser Mitteilung natürlich erklärt, er begreife das gut, Studer sei dafür bekannt, dass er ein wenig spinne, kein Wunder, dass ein Psychiater gerade ihn wolle… Das konnte man als Schmeichelei auffassen. Studer stand auf, schlurfte ins Badezimmer und begann sich zu rasieren. Wie hieß nur schon der Direktor von Randlingen? Würschtli? Nein… Aber ähnlich, es war ein I am Ende… – Die Klinge schnitt nicht recht, langweilig, denn Studer hatte einen starken Bart –… Bürschtli?… Nein… Ah ja! Borstli! Ulrich Borstli… Ein alter Herr, der knapp vor der Pensionierung stand…
Einerseits der Patient Pieterlen, der entwichen war… Anderseits der Direktor Ulrich Borstli… Und zwischen beiden der Dr. Laduner, den man kennen sollte, und der behördlich gedeckt sein wollte. Warum wollte er behördlich gedeckt sein und ausgerechnet durch den Wachtmeister Studer von der kantonalen Fahndungspolizei?… Immer musste man dem Studer derartig angenehme Aufträge geben. Wie verhielt man sich in einer Irrenanstalt? Was konnte man da machen, wenn die Leute hinter den Gittern hockten und sponnen? Eine Untersuchung führen?… Der Polizeidirektor hatte gut telefonieren und Aufträge geben, spaßig war das Ganze sicher nicht…
Inzwischen war Frau Studer aufgestanden, ihr Mann merkte es, weil der Geruch von frischem Kaffee die Wohnung durchdrang.
»Grüeß Gott, Studer«, sagte Dr. Laduner. Er war barhaupt, sein Haar zurückgeschnitten, vom Hinterkopf stand eine Strähne ab wie die Feder bei einem Reiher. »Wir kennen uns doch, wissen Sie, von Wien her…«
Studer erinnerte sich immer noch nicht. Die familiäre Anrede erstaunte ihn nicht übermäßig, er war sie gewohnt, und er bat den Herrn Doktor sehr höflich und ein wenig umständlich, näher zu treten und abzulegen. Aber Dr. Laduner hatte nichts abzulegen. Darum ging er auch gleich ins Esszimmer, begrüßte die Frau des Wachtmeisters, setzte sich – all dies mit einer Selbstverständlichkeit und Sicherheit, über die sich Studer wunderte.
Dr. Laduner trug einen hellen Flanellanzug, und zwischen den Kragenspitzen seines weißen Hemdes leuchtete der dick und lasch gebundene Knoten der Krawatte kornblumenblau. Er müsse leider den Herrn Gemahl nun entführen, sagte Dr. Laduner, Frau Studer möge das nicht übelnehmen, er wolle ihn wohlbehalten wieder abliefern. Es sei da eine Sache passiert, kompliziert und unangenehm. Übrigens kenne er den Wachtmeister schon lange und gut – Studer runzelte verlegen die Stirne –, er, Dr. Laduner, habe beschlossen, den Wachtmeister als lieben Gast zu behandeln – übrigens werde es nicht so schlimm werden…
Dr. Laduners Lieblingswort schien »übrigens« zu sein. Auch sprach er ein merkwürdiges Schweizerdeutsch – Ostschweizerisch, dazwischen schriftdeutsche Worte. Seine Sprache war gar nicht urchig. Ein wenig befremdend war sein Lächeln, das an eine Maske erinnerte. Es bedeckte den untern Teil des Gesichtes bis zu den Wangenknochen. Dieser Teil war starr – und nur die Augen und die sehr hohe und sehr breite Stirne schienen zu leben…
Danke, nein, er wolle nichts nehmen, fuhr der Arzt fort, seine Frau warte daheim mit dem Frühstück auf ihn, aber jetzt müssten sie pressieren, um acht Uhr sei Rapport, heute Morgen müsse er auf die »große Visite«, das Verschwinden des Herrn Direktor ändere nichts an der Sache, Dienst sei Dienst und Pflicht sei Pflicht… Dr. Laduner machte mit seiner linken, behandschuhten Hand kleine Bewegungen, stand dann auf, packte Studer sanft am Arm und zog ihn mit sich fort. Auf Wiedersehen…
Der Septembermorgen war kühl. Die Bäume zu beiden Seiten der Thunstraße trugen vereinzelte gelbe Blätter. Dr. Laduners niederer Viersitzer benahm sich gesittet, fuhr ohne Geräusch an; durch die offenen Scheiben drang eine Luft, die leicht nach Nebel schmeckte, und Studer lehnte sich bequem zurück. Seine hohen schwarzen Schnürstiefel sahen ein wenig sonderbar aus neben den eleganten braunen Halbschuhen des Dr. Laduner.
Zuerst herrschte ein abwartendes Schweigen, und während dieses Schweigens dachte der Wachtmeister angestrengt über Dr. Laduner nach, den er doch kennen musste… Von Wien her? Studer war ein paarmal in Wien gewesen, in jener fernen Zeit, da er wohlbestallter Kommissar bei der Stadtpolizei gewesen war, damals, als die Geschichte noch nicht passiert war, jene Bankaffäre, die ihn den Kragen gekostet hatte, sodass er wieder von vorne hatte anfangen müssen, als einfacher Fahnder. Es war eben manchmal schwer, wenn man einen zu ausgeprägten Gerechtigkeitssinn hatte. Ein gewisser Oberst Caplaun hatte damals seine Entlassung beantragt, und dem Antrag war ›stattgegeben worden‹. Es handelte sich um jenen Oberst Caplaun, von dem der Polizeidirektor in gemütlichen Stunden manchmal sagte, er würde niemanden lieber in Thorberg wissen; unnötig, an diese alte Geschichte weitere Gedanken zu verschwenden, man war kassiert worden, gut und schön, man hatte wieder von vorne angefangen, bei der Kantonspolizei, und in sechs Jahren würde man in Pension gehen. Eigentlich war alles noch gnädig verlaufen… Aber seit jener Bankaffäre lief einem der Ruf nach, man spinne ein wenig, und so war eigentlich der Oberst Caplaun daran schuld, dass man zusammen mit einem Dr. Laduner in die Heil- und Pflegeanstalt Randlingen fuhr, um das mysteriöse Verschwinden des Herrn Direktor Borstli und das Entweichen des Patienten Pieterlen aufzuklären…
»Besinnen Sie sich wirklich nicht, Studer? Damals in Wien?« Studer schüttelte den Kopf. Wien? Er sah immer nur die Hofburg und die Favoritenstraße und das Polizeipräsidium und einen alten Hofrat, der den berühmten Professor Groß gekannt hatte, die Leuchte der Kriminalistik… Aber er sah den Dr. Laduner nicht.
Da sagte der Arzt, und seine Augen blickten angestrengt auf die Landstraße:
»An Eichhorn erinnern Sie sich nicht mehr, Studer?«
»Exakt, Herr Doktor!«, sagte Studer, und er war geradezu erleichtert. Darum legte er auch seine Hand auf den Arm seines Begleiters. »Eichhorn! Natürlich! Und Ihr seid jetzt bei der Psychiatrie? Ihr wolltet doch damals die Jugendfürsorge in der Schweiz reformieren?«
»Ach, Studer!« Dr. Laduner bremste ein wenig, denn ein Lastauto kam ihnen entgegen und hielt die Mitte der Straße. »In der Schweiz treffen sie nur Maßnahmen, und was das Traurigste ist, sie treffen sie gewöhnlich nicht einmal, sondern schießen daneben…«
Studer lachte; sein Lachen war tief. Dr. Laduner stimmte ein: das seine war ein klein wenig höher…
Eichhorn!…
Studer sah eine kleine Stube vor sich, darin acht Buben, zwölf- bis vierzehnjährig. Das Zimmer war ein Schlachtfeld. Der Tisch demoliert, die Bänke zu Brennholz zerkleinert, die Scheiben der Fenster zersplittert. Er stand unter der Tür und sah, wie gerade ein Bub auf einen anderen mit dem Messer losging. »Ich mach dich hin!«, sagte der Bub. Und in einer Ecke stand Dr. Laduner und sah zu. Als er Studer in der Türe bemerkte, winkte er ganz sanft mit der Hand ab – Machen lassen! Und der Bub warf plötzlich das Messer von sich, begann zu heulen, traurig und langgezogen, wie ein geprügelter Hund, während Dr. Laduner aus seiner Ecke hervorkam und mit ruhiger, sachlicher Stimme sagte: »Bis morgen ist dann das Zimmer in Ordnung und die Scheibe eingesetzt… Ja?« Und der Knabenchor sagte: »Ja!«
Das war in der Anstalt für Schwererziehbare in Oberhollabrunn gewesen, sieben Jahre nach dem Krieg. Eine Anstalt ohne Zwangsmittel. Und ein gewisser Eichhorn, ein unscheinbarer, hagerer Mann mit braunem, schlichtem Haar hatte es sich in den Kopf gesetzt, einmal ohne Pfarrer, ohne Sentimentalität, ohne Prügel zu versuchen, ob nicht aus der sogenannten verwahrlosten Jugend etwas herauszuholen sei. Und es war ihm gelungen. Das Erziehungswesen hatte damals gerade ein Mann unter sich, der zufälligerweise Grütze im Kopf hatte. So etwas kommt vor. In diesem besondern Falle war es also ein Mann gewesen, dem die höchst einfache Idee des Herrn Eichhorn eingeleuchtet hatte. Diese Idee war folgende: Die kleinen Vaganten kennen nur einen ewigen Kreislauf: Verfehlung, Strafe, Verfehlung, Strafe. Durch Strafe wird der Protest gereizt, und der Protest macht sich Luft, indem er zu neuen ›Schandtaten‹ treibt. Wie nun aber, wenn man die Strafe ausschaltet? Muss sich da der Protest nicht einmal leerlaufen? Vielleicht kann man dann von neuem beginnen, vielleicht aufbauen, ohne moralischen Schwindel oder, wie Dr. Laduner damals gesagt hatte: ›ohne religiösen Lebertran…‹
In Fachkreisen hatte man von den Eichhornschen Versuchen viel gesprochen, und als Studer damals nach Wien gefahren war, hatte man ihm empfohlen, sich die Sache einmal anzusehen.
Er war gerade in dem Moment erschienen, als der Protest bei der bösesten Bande ›am Ablaufen war‹. Und das hatte ihm Eindruck gemacht. Am Abend war noch etwas hinzugekommen. Als Landsmann hatte ihn Dr. Laduner, der bei Eichhorn als Volontär arbeitete, zu dem Direktor mitgenommen. Man hatte gesprochen, langsam, bedächtig. Studer hatte von Tessenberg erzählt, der Erziehungsanstalt im Kanton Bern, und wie bös es eine Zeit lang dort zugegangen sei… Da war es zehn Uhr, und es läutete an der Haustür. Eichhorn ging öffnen und kam mit einem Knaben zurück, sagte zu ihm: »Setzen Sie sich. Haben Sie Hunger?«, ging dann selbst in die Küche und brachte belegte Brote. Der Knabe war ausgehungert… Bis elf Uhr war er mit den drei Männern zusammen, dann führte ihn Eichhorns Frau ins Gastzimmer. Nachher erzählte Dr. Laduner, der Junge sei schon zum dritten Male durchgebrannt. Diesmal sei er freiwillig zurückgekommen. Darum der freundliche Empfang. Und Studer hatte für die beiden Männer, den Dr. Laduner und den Herrn Eichhorn, ehrliche Hochachtung empfunden…
»Was macht der Herr Eichhorn jetzt?«, fragte Studer.
»Verschollen.«
So war das immer! Einer versuchte etwas Neues, Nützliches, etwas Vernünftiges, das ging zwei, drei Jahre… Dann war er plötzlich verschwunden, untergegangen. Nun, Dr. Laduner hatte zur Psychiatrie hinübergewechselt… Fragte sich nur, wie er mit dem alten Ulrich Borstli ausgekommen war, mit dem Direktor, der verschwunden war.
Einen Augenblick dachte Studer daran, nach den nähern Umständen des Verschwindens zu fragen, ließ es aber sein, denn das Bild des jungen Dr. Laduner in der Ecke des demolierten Zimmers vor dem Buben, der auf seinen Kameraden mit gezogenem Messer losging, wollte ihn nicht loslassen… Den psychologischen Moment erfassen, an dem eine Situation reif ist!… Er hatte damals schon allerhand verstanden, der Dr. Laduner!… Und Wachtmeister Studer fühlte sich geschmeichelt, dass er angefordert worden war, und dass er Dr. Laduners Gast sein sollte…
Eins war immerhin merkwürdig: Damals in Wien hatte der Arzt noch nicht das Maskenlächeln getragen, das Lächeln, das aussah, als sei es vor einem Spiegel aufgeklebt worden… Und dann: vielleicht war der Eindruck falsch, kontrollieren ließ er sich nicht, aber es schien doch, als hocke Angst in den Augen des Dr. Laduner.
»Da ist die Anstalt«, sagte der Arzt und zeigte mit der rechten Hand durch ein Seitenfenster. Ein roter Ziegelbau, soviel man sehen konnte in U-Form, mit vielen Türmen und Türmchen. Tannen umgaben ihn, viele dunkle Tannen… Nun war der Bau verschwunden, er tauchte wieder auf, da war das Hauptportal, und zum Eingangstor führten abgerundete Stiegen empor. Der Wagen hielt. Die beiden stiegen aus.
Auf das erste Fenster rechts vom Eingang wies Dr. Laduner und sagte:
»Das Büro des Direktors…«
Ein faustgroßes Loch in der untern Scheibe links… Glassplitter lagen auf dem Fenstersims und auf dem Beet verstreut, das die Einfahrt von der roten Mauer trennte.
»Drinnen sieht es ziemlich grausig aus. Blut am Boden, die Schreibmaschine neben dem Fenster streckt alle Tasten von sich, der Bürostuhl ist in Ohnmacht gefallen… Wir können uns die Bescherung später ansehen, es pressiert nicht, und dann können Sie ja Ihre kriminologischen Fachstudien in Ruhe betreiben…«
Warum klang nur das Witzeln so gezwungen?… Gekünstelt?… Studer blickte auf Dr. Laduner, so, als müsse er ein Bild festhalten, das im nächsten Augenblick ganz anders aussehen würde… Der graue Anzug, das leuchtende Kornblumenblau der Krawatte und die Strähne, die abstand wie der Federschmuck vom Kopfe eines Reihers… Das Lächeln – die Zähne des Oberkiefers waren breit, wohlgeformt, elfenbeingelb… Sicher rauchte Dr. Laduner viele Zigaretten…
»Kommen Sie, Studer, wir wollen nicht anwachsen. Eins will ich Ihnen sagen, bevor wir eintreten durch dieses Tor: Sie kommen zum Unbewussten zu Besuch, zum nackten Unbewussten, oder wie es mein Freund Schül poetischer ausdrückt: Sie werden eingeführt ins dunkle Reich, in welchem Matto regiert. Matto!… So hat Schül den Geist des Irrsinns getauft. Poetisch, gewiss…« – Dr. Laduner betonte das Wort auf der ersten Silbe. – »Wenn Sie aus der ganzen Sache klug werden wollen, und ich habe eine dunkle Ahnung, dass sie komplizierter ist, als wir jetzt meinen, wenn Sie klug werden wollen, so werden Sie in viele Häute schlüfen müssen…« (›schlüfen‹, sprach der Arzt wie ein schriftdeutsches Wort aus)… »in meine Haut zum Beispiel, in die vieler Pfleger, diverser Patienten… ›Patienten‹, sage ich, und nicht ›Verrückte‹… Dann dämmert Ihnen vielleicht langsam das Verständnis auf für den Konnex zwischen dem Verschwinden unseres Direktors und der Flucht des Patienten Pieterlen… Es sind da Imponderabilien…«
›Imponderabilien!‹… ›Konnex!‹… und ›ge-wiss‹, auf der ersten Silbe betont. Das alles gehörte zur Persönlichkeit, die Laduner hieß.
»Übrigens, die Diskrepanz, die zwischen der realen Welt und unserem Reich besteht«, sagte Dr. Laduner und stieg langsam die Stufen empor, die zum Eingangstor führten, »wird Sie vielleicht am Anfang unsicher machen. Sie werden sich unbehaglich fühlen, wie jeder, der zuerst eine Irrenanstalt besucht. Aber dann wird sich das legen, und sie werden keinen großen Unterschied mehr sehen zwischen einem schrulligen Schreiber Ihres Amtshauses und einem wollezupfenden Katatonen auf B.«
An der Mauer rechts vom Eingangstor hing ein Barometer, dessen Quecksilbersäule im Morgenlicht rötlich schimmerte. Eine Turmuhr schlug mit saurem Klange vier Viertel und dann, kaum süßer, die Stunde: sechs Uhr. Der letzte Schlag schepperte. Studer wandte sich noch einmal um. Der Himmel hatte die Farbe jenes Weines, den man Rosé nennt; Vögel schrien in den Tannen, die zu beiden Seiten der Auffahrt hinter eisernen Gittern wuchsen. Der schwarze Kirchturm des Dorfes Randlingen war weit weg.
Nach dem Tor, das ins Innere führte, kamen wieder Stufen. Rechts eine Art Opferstock mit einer Tafel: ›Gedenket der armen Kranken!‹ Darüber eine grüne Marmorplatte. In Goldbuchstaben waren die Donatoren der Anstalt verewigt, und man erfuhr, dass die Familie His-Iselin 5000 Franken und die Familie Bärtschl 3000 Franken gestiftet hatten. Auf der Platte war noch Platz für künftige Wohltäter.
Es roch nach Apotheke, Staub und Bodenwichse… Ein eigenartiger Geruch, der Studer tagelang verfolgen sollte.
Rechts ein Gang, links ein Gang. Beide Gänge waren an ihren Enden durch massive Holztüren verschlossen. Eine Treppe führte in die höhern Stockwerke des Mittelbaues.
»Ich gehe voraus«, sagte Laduner über die Schulter. Er nahm zwei Stufen auf einmal, und Studer folgte keuchend. Im ersten Stock hatte er Zeit, durch ein Gangfenster einen großen Hof zu überblicken, dessen Rasenflächen von Wegen gleichmäßig zerschnitten wurden. Ein niederes Gebäude kauerte in der Mitte des Hofes, und dahinter stach ein Kamin in den Himmel. Rote Backsteinmauern, die Dächer mit Schiefer gedeckt und geschmückt mit vielen Türmen und Türmchen… Da war der zweite Stock, Dr. Laduner stieß eine Glastür auf und rief: »Greti!«
Eine dunkle Stimme antwortete. Dann kam eine Frau in einem roten Schlafrock auf die beiden zu. Ihre Haare waren kurz und blond, leicht gewellt, ihr Gesicht breit, fast flach. Sie blinzelte, wie es manche Kurzsichtige tun.
»Studer, das ist meine Frau… Greti, ist der Kaffee fertig? Ich hab Hunger… Den Wachtmeister kannst du dir beim z’Morgen betrachten… Zeig ihm jetzt sein Zimmer, er wohnt bei uns, das haben wir abgemacht…« Und dann war Dr. Laduner plötzlich nicht mehr da. Eine Tür hatte ihn verschluckt.
Die Frau im roten Schlafrock hatte eine angenehm warme und weiche Hand. Sie sprach Bärndütsch, als sie Studer mit ihrer tiefen Stimme begrüßte und sich entschuldigte, dass sie nicht angezogen sei, kes Wunder by dem G’stürm, um drei sei der Mann aus dem Schlaf geschellt worden wegen der Flucht des Pieterlen; dann habe man die Blutspuren im Direktionsbüro entdeckt – und der Direktor sei nirgends zu finden gewesen – verschwunden… Es sei überhaupt eine kurze Nacht gewesen, gestern hätte man d’Sichlete g’ha (›Sichlete?‹, dachte Studer. ›Was für eine Sichlete?‹) und sei erst um halb eins ins Bett gekommen… Aber der Herr Studer werde sich gern ein wenig süübere welle, er möge so gut sein und mitkommen… Der lange Gang war mit bunten, gerillten Fliesen belegt. Hinter einer Tür schrie ein Kind, und Studer wagte schüchtern zu bemerken: ob die Frau Doktor das Kind nicht zuerst beruhigen wolle? – Das habe Zeit, und Schreien sei für Kinder eine gar gesunde Beschäftigung, es stärke die Lungen.
– Da sei das Gastzimmer. – Hier daneben das Bad. Herr Studer möge machen, nume wie daheime… Da sei Seife und ein frisches Handtuch… Sie rufe ihn dann, wenn das Morgenessen parat sei…
Studer wusch sich die Hände, ging hernach in das Gastzimmer, trat ans Fenster. Er sah auf den Hof. Männer mit weißen Schürzen trugen große Kannen, einige balancierten Tablette – wie Kellner.
Ein Ebereschenbaum an der Kante eines Rasenvierecks trug leuchtend rote Beerenbüschel und seine gefiederten Blätter waren goldgelb.
Und hinten, aus einem alleinstehenden, zweistöckigen Gebäude traten zwei Männer. Auch sie hatten weiße Schürzen vorgebunden. Sie gingen hintereinander, im Gleichschritt, und zwischen ihnen schaukelte eine schwarze Bahre, auf der ein Sarg festgebunden war. Da wandte sich Studer ab. Dunkel dachte er, wie viel Menschen wohl in solch einer Anstalt starben, und nach wie vielen Jahren und wie sie den Tod erlebten – aber da rief jene Stimme, die einen so angenehm dunklen Klang hatte:
»Herr Studer, weit’r cho z’Morge näh?«
»Ja, Frau Doktor!« – Und er komme schon.
Das Esszimmer war gefüllt mit Morgensonne. Das kühle Licht brach durch ein großes Fenster ein, das fast bis zum Boden reichte. Eine Haube, aus bunten Wollen gelismet, war über die Kaffeekanne gestülpt. Honig, Anken, Brot, unter einer Glocke ein rotrindiger Edamerkäse… Die Wände dunkelgrün. Von der Decke hing ein Lampenschirm herab, der aussah wie eine Kleinmädchenkrinoline aus Goldbrokat…
Frau Laduner trug ein helles Leinenkleid. Sie öffnete die Tür zum Nebenzimmer. »Ernscht!«, rief sie. Eine ungeduldige Stimme gab Antwort – Knarren und Zurückschieben eines Stuhles…
»So«, sagte Dr. Laduner. Er saß plötzlich am Tisch. Man konnte sein Gehen und Kommen nie recht feststellen, denn er bewegte sich rasch und lautlos. »Und, Greti, wie gefällt dir der Studer?«
– Nid übel, meinte die Frau. Er habe ein weiches Herz, er könne Kinder nicht schreien hören, und sonst sei er ein gar Stiller, man höre ihn kaum. Aber sie müsse den Herrn Wachtmeister doch etwas näher betrachten.
Sie nahm aus einem Etui, das neben ihrem Teller lag, einen Zwicker, klemmte ihn auf den Nasensattel und musterte Studer mit einem kleinen Lächeln. Ihre Stirnhaut war leicht gekräuselt.
– Ja, es sei, wie sie gedacht habe, sagte sie nach einer Weile. Der Herr Studer sehe gar nicht wie ein Schroter aus und Ernst habe ganz recht gehabt, ihn mitzubringen… Und bitte, Herr Studer, servieret euch… Eier? Brot?…
»Ge-wiss«, sagte Dr. Laduner. »Ich glaube auch, dass es sehr vernünftig von mir war, den Studer anzufordern…« und zerschlug mit einem silbernen Löffelchen die Spitze eines Eies.
Studer wurden Spiegeleier auf den Teller gelegt und braune Butter darüber gegossen. Dann geschah ein merkwürdiger Zwischenfall:
Dr. Laduner sah plötzlich auf, ergriff mit der Linken den Brotkorb, mit der Rechten das facettierte Salzfässchen, das vor seinem Teller stand, streckte beides dem Wachtmeister entgegen und sagte leise – es klang wie eine Frage:
»Brot und Salz… Wollen Sie Brot und Salz nehmen, Studer?« Dabei sah er dem Wachtmeister fest in die Augen und sein Mund hatte das Lächeln verloren.
»Ja… Gärn… Merci…« – Studer war ein wenig verwirrt. Er nahm eine der Brotschnitten, streute ein wenig Salz über die Spiegeleier auf seinem Teller… Dann nahm Dr. Laduner ein Stück Brot, ließ das weiße körnige Pulver in das aufgeschlagene Ei rinnen und murmelte dazu:
»Brot und Salz… Der Gastfreund ist unverletzlich…«
Das Maskenlächeln entstand wieder um seinen Mund, und mit veränderter Stimme sagte er:
»Ich habe Ihnen ja noch gar nichts von unserem verschwundenen Direktor erzählt. Dass er Borstli hieß, wissen Sie wohl, mit Vornamen Ulrich… Üli, ein hübscher Name, und die Damen nannten ihn auch so…«
»Aber Ernscht!«, sagte Frau Laduner vorwurfsvoll.
»Was hast du zu reklamieren, Greti? Das ist doch kein Werturteil. Eine schlichte, sachliche Feststellung… Jeden Abend, punkt sechs Uhr, ging der Direktor ins Dorf Randlingen zu seinem Freunde, dem Metzger und Bärenwirt Fehlbaum, einer Stütze der Bauernpartei. Dort trank er einen Dreier Wyßen, manchmal zwei, hin und wieder drei. Zweimal im Monat trank der Herr Direktor sich einen Rausch an, aber man merkte es nicht… Er trug eine große Lodenpelerine und einen breitrandigen, schwarzen Künstlerhut… Übrigens machte er gewöhnlich die Gutachten über die chronischen Alkoholiker. Da war er sicher kompetent… Das heißt, das stimmt auch nicht ganz. Er begann sie, die Gutachten nämlich, und dann wurde ihm die Sache zu langweilig, und ich durfte sie fertig schreiben. Ich tat es ganz gerne, denn ich kam sonst gut mit dem Herrn Direktor aus. Wenn ich die Sache nicht ganz ernst behandle, Studer, müssen Sie das entschuldigen. Der Herr Direktor hatte nämlich eine Vorliebe für hübsche Pflegerinnen, und die Meitschi waren sehr geschmeichelt, wenn der Herr Direktor ihnen sein Wohlgefallen ausdrückte, etwa mit einem kleinen Kneifen in die Wange oder mit einem sanften Tätscheln, das der Bewunderung für die Rundung ihrer Formen einen adäquaten Ausdruck verleihen sollte… Item, wie der Erzähler sagt, gestern um zehn Uhr wurde der Herr Direktor während unseres kleinen Festes ans Telefon gerufen, und seither ist er verschwunden. Ein kleiner Seitensprung? Vielleicht. Bedenklich wird die Sache eigentlich nur durch das Entweichen des Patienten Pieterlen, der sein neben dem Wachsaal B liegendes Zimmer verlassen hat unter Hinterlassung eines niedergeschlagenen Nachtwärters. Bohnenblust heißt der Nachtwärter, er hat eine eiergroße Beule an der Stirn, Folge seines Zusammenstoßes mit dem freiheitssüchtigen Pieterlen, und Sie werden ihn einem Kreuzverhör unterwerfen können… Wie gesagt, vergessen Sie eines nicht: Der Herr Direktor hat hübsche Wärterinnen gern gehabt… Aber Diskretion, wenn ich bitten darf, Anstaltsdirektoren sind tabu, außerdem kleine Päpste und als solche zur Unfehlbarkeit verurteilt…«
»Aber Ernscht!«, sagte Frau Laduner, und dann musste sie lachen. »Er redet so komisch!«, entschuldigte sie sich.
Es stimmte nicht… Dr. Laduner redete gar nicht komisch. Und auch die Bemerkung der Frau war ein Täuschungsmanöver, denn sie musste merken, dass diese witzelnde Art, zu erzählen, falsch klang. Sie war nicht dumm, die Frau Doktor, das sah man ihr an. Auch dass sie das im Dialekt sonst nicht übliche ›komisch‹ brauchte, bestätigte eigentlich den Eindruck, dass irgend etwas nicht stimmte… Was?… Es war noch zu früh, um sich auf Kombinationen einzulassen. Vielleicht war Dr. Laduners Rat, sich erst einzuleben, doch ehrlich gemeint; man konnte belanglose Fragen stellen, die aber immerhin dazu dienen mussten, die Atmosphäre, in der man sich bewegen sollte, deutlicher zu machen.
»Ihr habt von einer ›Sichlete‹ gesprochen, Herr Doktor, was war das? Ich weiß schon, was eine Sichlete ist, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass in einer Anstalt…«
»Nun, wir sorgen für die Zerstreuung der Patienten. Die Anstalt besitzt einen großen landwirtschaftlichen Betrieb, und wenn das Korn eingebracht worden ist (›Korn eingebracht!‹, dachte Studer, ›wie der redet!‹), so feiern wir das. Wir haben eine Kapelle, die sonst den sonntäglichen Predigten dient, an den Festabenden jedoch werden Tische aufgeschlagen, Hammen, wie sie hier sagen, und Härdöpfelsalat wird aufgestellt, die Musik spielt, und unsere Patienten tanzen miteinander, Männlein und Weiblein, die Pfleger und Pflegerinnen helfen mit, der Herr Direktor hält eine Rede, es gibt Tee, und erotische Spannungen werden abreagiert… Jawohl:… Gestern, am 1. September, haben wir also die Sichlete gefeiert… Wir Honoratioren – das heißt: der Direktor, der Herr Verwalter samt Frau, der Dr. Laduner samt Frau, der Ökonom ohne Frau und die anderen Ärzte, wir saßen alle auf der Bühne – denn eine Bühne hat die Kapelle auch – und sahen uns den Tanz an. Der Patient Pieterlen war auch anwesend, er sorgte für Tanzmusik, denn er versteht es, der Handharpfe Walzer und Tangos zu entlocken. Um zehn Uhr trat der Jutzeler…«
»Wer ist der Jutzeler?«, fragte Studer und zog dabei sein Notizbuch. »Ihr müsst schon entschuldigen, Herr Doktor, aber mit meinem Namensgedächtnis ist es nicht weit her, und so muss ich mir Notizen machen…«
»Ge-wiss!«, sagte Dr. Laduner, warf einen ungeduldigen Blick auf seine Armbanduhr und gähnte. Frau Laduner begann den Tisch abzuräumen.
»Wir haben also«, sagte Studer bedächtig und wusste ganz gut, dass er ein wenig Theater spielte, aber das schien ihm gerade günstig in diesem Augenblick. »Wir haben also als handelnde Personen:
Borstli Ulrich, Direktor – verschwunden. Pieterlen… Wie heißt der Pieterlen mit Vornamen?«
»Peter, oder Pierre, wenn Sie lieber wollen, er stammt ursprünglich aus Biel«, antwortete Dr. Laduner geduldig.
»Pieterlen Peter, Patient, entwichen…«, diktierte sich Studer langsam und schrieb nach.
»Laduner Ernst, Dr. med., II. Arzt, stellvertretender Direktor!«
»Den brauch ich nicht aufzuschreiben, den kenn ich«, sagte Studer trocken und ignorierte die versteckte Bosheit. »Aber dann haben wir den Nachtwärter.«
Und Studer schrieb:
»Bohnenblust Werner, Nachtwärter auf B, Wachsaal.«
»Und«, sagte Laduner, »notieren Sie noch:
›Jutzeler Max, Abteilungspfleger‹, wir sagen kurz Abteiliger, auf B.«
»Was heißt der Buchstabe B?«
»B ist die Beobachtungsabteilung. Dorthin kommen alle Aufnahmen, manche Fälle lassen wir aber auch Jahre dort. Es kommt darauf an. R ist die Abteilung für ruhige Patienten, K die Abteilung für körperlich Kranke, dann sind noch die beiden unruhigen Abteilungen da: U 1 und U 2. U 2 ist der Zellenbau. Es ist leicht zu merken… Nach den Anfangsbuchstaben… Übrigens, der Abteiliger Jutzeler wird Ihnen gefallen, einer meiner tüchtigsten Leute… Was sonst an Pflegern herumläuft… Nicht einmal anständig organisieren kann man die Bande!«
›Organisieren?‹, dachte Studer. ›Was hat der alte Direktor zum Organisieren gemeint?‹ Aber er schwieg und fragte nur, während er die Spitze seines Bleistiftes über dem Notizbuch schweben ließ:
»Und was ist eigentlich mit Pieterlen?«
»Pieterlen?«, wiederholte Dr. Laduner, und das Lächeln verschwand von seinem Mund. »Über Pieterlen will ich Ihnen heute Abend Auskunft geben. Pieterlen… Um über Pieterlen Auskunft zu geben, braucht es Zeit. Denn Pieterlen, das war kein Direktor, das war kein Pfleger, das war kein x-beliebiger Mensch. Pieterlen, das war ein Demonstrationsobjekt…«
Es fiel Studer auf, dass Dr. Laduner die Mitvergangenheit brauchte. ›Pieterlen war…‹ So, wie man sonst nur von einem Toten spricht… Aber er schwieg. Der Arzt gab sich einen Ruck, stand auf, streckte sich und wandte sich dann zu seiner Frau:
»Ist der Chaschperli schon in die Schule?«
– Ja, er sei schon fort; er habe in der Küche gegessen.
»Der Chaschperli, das ist mein siebenjähriger Sohn, wenn Sie das noch notieren wollen, Studer«, sagte Dr. Laduner mit seinem steifen Lächeln. »Übrigens muss ich jetzt zum Rapport, Sie können mit mir hinunterkommen und das Büro ansehen… Das Direktionsbüro… Den Tatort, wenn Sie lieber wollen. Obwohl wir ja überhaupt noch nicht wissen, ob eine Tat getätigt worden ist.«
An der Gangtüre gab es noch einen Zusammenstoß. Ein junger Mann stand im Stiegenhaus und wollte unbedingt mit Dr. Laduner sprechen.
»Später, Caplaun, ich habe jetzt keine Zeit. Warten Sie im Salon. Ich werde zwischen Rapport und Visite mit Ihnen sprechen…«
Und Laduner begann die Treppe hinunterzuspringen, er nahm drei Stufen auf einmal.
Aber Studer folgte nicht. Er blieb auf dem Vorplatz stehen und starrte den Mann an, den Dr. Laduner Caplaun genannt hatte. Caplaun? Caplaun hatte doch sein alter Feind geheißen, der Oberst, der an jener Schiebung in der Bankaffäre beteiligt gewesen war, jener Bankaffäre, die den damaligen Kommissar Studer von der Stadtpolizei den Kragen gekostet hatte… Es gab nicht viele Caplaune in der Schweiz, es war ein seltener Name…
Nun, der Herr Oberst war es auf alle Fälle nicht; der Mann, der in Dr. Laduners Wohnung trat und sich in ein Zimmer schlich, so, als wisse er Bescheid, war jung… Jung, mager, blond, mit einer hohlen Brust… Bleich dazu, mit weitaufgerissenen Augen. Caplaun?…
Studer holte Dr. Laduner im Parterre ein. Der Arzt lief ungeduldig hin und her.
»Herr Doktor«, sagte Studer, »ihr habt den jungen Burschen, der zu euch hineingegangen ist, Caplaun genannt; ist er verwandt…?«
»Mit dem Herrn Obersten, der Ihnen ein Bein gestellt hat, damals? Ja. Der Herr Oberst ist sein Vater. Und der junge Caplaun ist bei mir in Behandlung. Privatpatient. In der Analyse. Ein typischer Fall von Angstneurose. Kein Wunder, bei dem Vater! Und übrigens säuft der Herbert Caplaun. Ja, Herbert heißt er mit Vornamen. Sie können ihn ja noch in Ihr Büchlein notieren…«
Wieder überhörte Studer geflissentlich die Ironie. Er fragte mit seiner treuherzigsten Miene:
»Eine Angstneurose? Was ist das, Herr Doktor?«
»Herrgott! Ich kann doch hier kein Kolleg über Neurosenlehre lesen. Später will ich es Ihnen erklären… Dort ist das Direktionsbüro. Daneben das Ärztezimmer. Ich werde jetzt eine Stunde beschäftigt sein; wenn Sie etwas brauchen sollten, so wenden Sie sich an den Portier. Übrigens können Sie sich notieren, dass er Dreyer heißt.«
Und Studer hörte noch das Zuschlagen einer Türe.
Der Busch vor dem Fenster trug weiße Beeren, die an Wachskugeln erinnerten. Auf dem Fenstersims, zwischen den Glassplittern, tanzten zwei Spatzen. Sie benahmen sich wie Stehaufmännchen. In kurzen Zwischenräumen tauchten ihre Köpfe über dem untern Rand des Holzrahmens auf, verschwanden, tauchten wieder auf. Als Studer den umgefallenen Bürostuhl wieder auf die Beine stellte, flogen sie fort…
Zuerst setzte er sich, zog noch einmal sein Wachstuchbüchlein hervor und schrieb in seiner kleinen Schrift, die ein wenig an Griechisch erinnerte:
›Caplaun Herbert, Sohn des Obersten, Angstneurose, Patient des Dr. Laduner.‹
Dann lehnte er sich befriedigt zurück und betrachtete die Verwüstung.
Blut am Boden, das stimmte. Aber nur wenig: einzelne Tropfen, die auf dem glänzenden Parkett zu dunklen Plättchen eingetrocknet waren. Sie liefen in einer Linie von der zerbrochenen Fensterscheibe zur Tür. Vielleicht war einer mit der Faust durch die Scheibe gefahren und hatte sich verwundet.
Das kleine Tischchen, links neben dem Fenster, war wohl für die Schreibmaschine bestimmt, während sich der Schreibtisch, groß und breit, verschnörkelt, in der Ecke rechts vom Fenster breitmachte. Studer stand auf und hob die Schreibmaschine auf. Fingerabdrücke brauchte man hier wohl nicht zu suchen. Und vorläufig wusste man ja noch gar nicht, ob ein Mord passiert war oder ob sich der alte Direktor auf eine kleine Erholungsreise begeben hatte. In letzterem Falle hätte er zwar die Ärzteschaft avisiert, aber alte Herren haben manchmal ihre Mucken…
Über dem Schreibtisch hing ein Gruppenbild. Da stand inmitten von jungen Männern und Mädchen in Schwesterntracht ein alter Herr, der auf dem Kopfe einen breitrandigen schwarzen Hut trug. Ein lockiger, grauer Bart wucherte ihm aus Kinn und Wangen, und eine Stahlbrille saß auf seiner Nase.
In weißen Buchstaben stand unter der Fotografie: »Unserem verehrten Herrn Direktor zum Andenken an den ersten Kurs.« Ja, ja, die jungen Männer sahen alle sehr brav aus, sie trugen schwarze Anzüge und hohe steife Kragen, und ihre Krawatten saßen ein wenig schief.
»Unserem verehrten Direktor…« Kein Datum? Doch. Inder Ecke unten: 18. April 1927.
Unter dem Bild, auf einem grünen Löschblatt, lag ein in der Mitte zusammengefalteter Brief. Studer las die ersten Zeilen: »… bitten wir Sie dringlichst, die schon seit zwei Monaten fällige Expertise über den Geisteszustand des…«
Hm! Ein bequemer Herr, der Direktor Borstli mit seiner Pelerine und seinem breitrandigen Hut… Wetten, dass er einen Schwalbenschwanz trug!… Gewonnen! Auf dem Bild trug er einen – einen grauen, soviel man sehen konnte, und die Hosen waren an den Knien ausgebeult… Ein alter Mann, ein Mann der alten Schule… Wie war er mit dem betriebsamen Dr. Laduner ausgekommen? Eigentlich wusste man noch nicht viel über den Herrn Direktor Ulrich Borstli, außer dass er an hübschen Pflegerinnen Gefallen fand und sich von ihnen Üli nennen ließ. Warum sollte er auch nicht? Er war niemandem Rechenschaft schuldig, ein kleiner König in – wie hatte Dr. Laduner das gesagt? – ja, richtig: in Mattos Reich. Diesen Schül, der den Geist Matto erfunden hatte, den musste man kennenlernen. Matto! Glänzend! Matto hieß ja verrückt auf italienisch. – Matto! Das hatte Klang!
War er verheiratet gewesen, der alte Direktor? Sicher! Witwer? Wahrscheinlich…
Es war doch nichts zu holen in dem Büro. Warum war man dann von Dr. Laduner hineingeschickt worden? Der Mann tat nichts ohne Überlegung. Wovor hatte er Angst?… Man war leicht gehemmt, weil man den Dr. Laduner gern hatte, aufrichtig gern, weil man vor allem das Bild nicht vergessen konnte, das Bild aus der Anstalt in Oberhollabrunn… Und dann auch, weil er einem Brot und Salz geboten hatte… Chabis! Aber es war nun einmal so…
Wo mochte nur der alte Direktor stecken? Auf alle Fälle war es vielleicht gut, man sprach mit dem Portier. Portiers waren gewöhnlich mitteilsame Menschen, um nicht geradeheraus zu sagen: klatschsüchtige… Aber auf alle Fälle waren sie immer auf dem laufenden.
Und während aus dem Nebenraum, dem Ärztezimmer, durch die geschlossene Verbindungstür, eine eintönig referierende Stimme sickerte, drückte sich Wachtmeister Studer aus dem Direktionsbüro wie ein Schüler, der sich vor dem Lehrer drücken will. – Der Lehrer? In diesem Falle Dr. med. Ernst Laduner, zweiter Arzt und stellvertretender Direktor…
Der Portier Dreyer trug eine Weste mit angesetzten Lüsterärmeln und eine grüne Schürze vorgebunden. Er war daran, den Gang z’wüsche. Studer stellte sich breitbeinig vor ihn hin:
»Loset, Dreyer!«
Der Mann sah auf, sein Blick war leer. Die linke Hand, die auf dem Besenstiel ruhte, trug einen Verband.
»Ja, Herr Wachtmeister?« Der Mann kannte ihn also schon. Desto besser!
»Ihr seid verwundet?«
»Nüt vo Belang…«, sagte Dreyer und senkte den Blick.
Bluttropfen im Direktionsbüro… Der Portier verwundet – an der Hand!… Studer nahm sich zusammen. Nid! Nid! Keine verfrühten Hypothesen. Einfach registrieren: Portier Dreyer ist an der Hand verwundet… Weiter!
»War der Direktor verheiratet?«
Der Portier grinste. Seine Augenzähne trugen Goldplomben, das störte Studer, darum blickte er beiseite.
»Zweimal«, sagte Dreyer. »Zweimal war er verheiratet. Und beide Frauen sind tot. Die zweite war zuerst Köchin bei ihm, Haushälterin hat man das genannt. Sie war aus keiner schlechten Familie. Sie hat’s dann gut verstanden, ihre Geschwister in der Anstalt unterzubringen: den Bruder als Maschinenmeister, die Schwester als Buchhalterin in der Verwaltung – und ihr Schwager, der Mann ihrer zweiten Schwester, ist vierter Arzt.« Es war zu erwarten gewesen, und die Erwartung hatte nicht getäuscht. Portiers waren wirklich auf dem laufenden. Sie redeten weniger witzig als beispielsweise Dr. Laduner, aber sachlicher.
»Danke«, sagte Studer trocken. »Hat der Direktor gestern eine größere Geldsumme empfangen?«
»Woher wisset ihr das, Herr Wachtmeister? Vom Mai bis in den August war er krank. Er hat Ferien genommen. Aber dann war der Herr Direktor noch bei einer Krankenkasse. Gestern ist das Geld gekommen: hundert Tage zu zwölf Franken Taggeld machte gerade tausendzweihundert Franken.«
»So«, sagte Studer. »Und am Ersten hat er wohl den Lohn gezogen, das war doch auch gestern?«
»Nein, den lässt er immer auf der Verwaltung stehen, und wenn eine größere Summe beieinander ist, lässt er sie an die Bank schicken. Er hat ja fast nichts gebraucht. Wohnung frei. Eine Haushälterin hat er nicht mehr nehmen wollen. So hat man ihm das Erstklassmenü aus der Küche gebracht.«
»Wie alt war der Direktor?«
»Neunundsechzig. Nächstes Jahr hätte er seinen siebzigsten Geburtstag gefeiert…«
Dann, als sei die Sache damit erledigt, schob Dreyer den schwarzen Haarbesen vor sich her, und für einen Augenblick herrschte der Geruch von Staub über die beiden anderen: Bodenwichse und Apotheke.
»Hat er das Geld bei sich behalten? Ich meine die zwölfhundert Franken…«
Der Portier wandte sich um und gab Auskunft:
»Eine Tausendernote und zwei Hunderter. Er hat die drei Noten in seine Brieftasche gesteckt. Er hat zu mir gesagt, dass er das Geld morgen – das heißt also heute – auf die Bank tun wolle. Er fahre sowieso nach Bern…«
»Wo ist die Sichlete gefeiert worden?«
»Geht dort zur hintern Tür hinaus. Dann ist grad vor euch das Kasino. Die Tür ist offen. Ihr werdet ungestört sein…«