Der Clan der Giovese - Eva Maaser - E-Book
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Der Clan der Giovese E-Book

Eva Maaser

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Beschreibung

Es beginnt mit einem rätselhaften Mord im Museum: Der fesselnde Kriminalroman »Der Clan der Giovese« von Eva Maaser jetzt als eBook bei dotbooks. Ein spektakulärer Museumseinbruch in Berlin schockt die Öffentlichkeit: Die Büste der Nofretete ist zerschlagen worden – und diente den Einbrechern als Waffe für die Ermordung des Nachtwächters! Der erfahrene, aber auch schon etwas in die Jahre gekommene Kommissar Peter Wittich ist fest entschlossen, die Täter zu stellen. Doch sein Herz macht die Aufregung nicht mehr mit – und schon bald ist er ans Krankenbett gefesselt. Die junge Kunsthistorikerin Nilla, die ihm bisher nur beratend zur Seite stand, muss für ihn nach Rom reisen – so stößt das ungewöhnliche Team auf eine gefährliche Organisation, die Nilla schon längst im Visier hat … Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Der Clan der Giovese« von Eva Maaser, ein packender Kriminalroman mit einer ungewöhnlichen Ermittlerin. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

Als Wachmann Kress eine Nachtschicht im Berliner Museum schiebt, endet sie für ihn tödlich. Die Einbrecher können fliehen und die weltberühmte Büste der Nofrete stehlen. Kommissar Wittich vermutet einen Zusammenhang mit anderen spektakulären Kunstdiebstählen. Er beschließt, einen zwielichtigen Kunsthändler als V-Mann auf die Bande anzusetzen. Die junge Kunsthistorikerin Nilla Mellon stellt den Kontakt zu dem Mann her. Als ihre Recherche sie schließlich nach Rom führt, wird sie selbst zur Gejagten – denn die mächtige Organisation »Opus divus« beobachtet längst jeden ihrer Schritte …

Über die Autorin:

Eva Maaser, geboren 1948 in Reken (Westfalen), studierte Germanistik, Pädagogik, Theologie und Kunstgeschichte in Münster. Sie hat mehrere erfolgreiche Kinderbücher, historische Romane und Krimis veröffentlicht.

Bei dotbooks erschienen bereits Eva Maasers historische Romane Der Geliebte der Königsbraut und Der Hüter der Königin und ihre Kinderbücher Leon und der falsche Abt, Leon und die Geisel, Leon und die Teufelsschmiede und Leon und der Schatz der Ranen, Kim und die Verschwörung am Königshof, Kim und die Seefahrt ins Ungewisse und Kim und das Rätsel der fünften Tulpe.

***

Neuausgabe August 2014

Copyright © der Originalausgabe 2006 by Aufbau Taschenbuch Verlag GmbH, Berlin

Copyright © der Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Maria Seidel, atelier-seidel.de

Titelbildabbildung: © Thinkstockphoto

ISBN 978-3-95520-046-6

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Eva Maaser

Der Clan der Giovese

Kriminalroman

dotbooks.

Kapitel 1

1

Sobald Kress den Schlüssel um neunzig Grad nach rechts gedreht hatte, begann sich die Stahltür lautlos herabzusenken.

»Wie war der Geburtstag?« fragte Simons.

»Was?« fragte Kress irritiert. Die graue Stahlplatte verdeckte nun die Augen der Königin – das sehende und das blinde –, dann die feingeformte Nase. Es blieb nur noch das Lächeln übrig, das Kress auch noch sah, als die Tür längst tiefer geglitten war.

»Der Geburtstag deiner Kleinen. Wie alt ist sie geworden?«

»Fünf.« Kress beobachtete die Tür, bis sie eine etwa fünf Zentimeter tiefe Rille im Boden ausfüllte. »Sie wollte mich heute abend nicht weglassen.«

»So sind Kinder in dem Alter.«

Nach kurzem Zögern gingen die beiden durch die Rotunde zurück.

Kress seufzte.

»Ich hab's dir angeboten: Wir hätten die Schicht tauschen können«, sagte Simons und blieb in der Tür des Überwachungsraums stehen, während sich Kress auf einen Drehstuhl setzte. Im Wachraum flimmerten die Monitore. Auf einem von ihnen war die Königin zu erkennen, allerdings nur als vager Umriß, denn in ihrer Kammer herrschte beinahe vollständige Dunkelheit. Durch den Lamellenvorhang vor den Fenstern drang von draußen lediglich ein Lichtschimmer herein.

Es war jetzt das dritte Mal, daß Kress die bei den Kollegen unbeliebte Nachtschicht übernahm. Ihm machte sie wenig aus. Im Gegenteil: Zwei Abende zuvor hatte sich in dem von Besuchern geleerten, stillen Gebäude, wo jeder Schritt wie in einer Kirche hallte und jedes Husten als Echo zurückgeworfen wurde, etwas Unerwartetes ereignet: Er war dem Zauber einer dreieinhalbtausendjährigen Königin verfallen.

Simons würde seine Neigung nicht verstehen. In diesem Augenblick der Stille, wenn sich die Tür senkte, war für Kress eine Magie wirksam, die sich im Tagestrubel verflüchtigte.

»Dann hätte ich doch heute nachmittag nicht mit ihr in den Zoo gehen können.«

»Stimmt auch wieder.« Anscheinend fiel es Simons an diesem Abend schwer, sich zu verabschieden, er wollte wohl noch etwas loswerden. »Eigentlich sollten die Nachtwachen zu zweit durchgeführt werden, es ist unverantwortlich, nachts einen von uns allein Dienst schieben zu lassen.«

Kress lächelte versonnen.

»Dir steckt die Sache in Oslo in den Knochen. Der Raub der Munchs. Das ist wie nach einem Thriller im Fernsehen: Du bist drauf und dran, im Schrank oder unter dem Bett nachzusehen, ob dort jemand mit dem Fleischermesser lauert.«

»Dann laß dir mal die Zeit nicht lang werden.« Simons klang ein bißchen verschnupft.

Sofort wandte sich Kress ihm zu und grinste versöhnlich.

»Es hat keinen Zweck, sich selbst verrückt zu machen.«

Simons nickte bedächtig. »Sag ich auch immer.«

Schmunzelnd hob Kress die Hand zum Abschied, Simons war als Schwarzseher bekannt.

Der Verkehr war zu einzelnen Brummlauten abgeflaut, die stillste Stunde der Nacht brach an.

An der Längsseite des klassizistischen Gebäudes bewegten sich vor einem Fenster zwei schattenhafte Gestalten. Im diffusen Dämmerlicht der Berliner Nacht – vollständige Dunkelheit kannte die Stadt nicht – verständigten sich die beiden mit Handzeichen. Einer deutete auf die große Uhr an seinem Handgelenk und hob die Hände, alle Finger gespreizt. Noch zehn Minuten. Der andere nickte.

Erfahrungsgemäß überkam Kress um drei Uhr nachts die größte Müdigkeit. Um nicht einzuschlafen, machte er sich auf eine Runde durch das Gebäude.

Nur eine schwache Notbeleuchtung glimmte an den Treppenstufen und in der Flucht der unteren Säle. Die Gestalt von Teje ragte dunkel und massig vor ihm auf, viel imposanter als tagsüber, und je weiter er sich zwischen den stummen Gestalten vorwagte, desto mehr kam er sich wie ein Eindringling vor. Eine lächerliche Beklemmung erfaßte ihn. Er kehrte um.

In der Rotunde, vor der grauen Stahltür, hielt er kurz an, vergewisserte sich der absoluten Stille dahinter und trottete weiter, zurück in die banale Welt der Monitore. Vom Damm klang das Geknatter einer Serie von Fehlzündungen herüber.

Der eine der beiden Männer reckte den Daumen in die Höhe.

In der nächsten halben Stunde war ein gedämpftes Surren wie von einem Zahnarztbohrer zu hören oder leises Zischen, unterbrochen von Pausen, in denen die Männer lauschten. Zum Schluß setzten sie Stemmeisen am Fenster an. Vorsichtig übten sie Druck aus, das Geknatter von der nahen Straße übertönte das Knirschen.

Langsam schwang das Fenster auf. Die beiden warteten kurz, dann glitt der erste in den Raum, während der zweite einen Kasten hineinreichte. Auf der Erde lag noch ein Sack.

Kress betrachtete angestrengt den Umriß der Königin auf dem Monitor. Auch nach mehrmaligem Blinzeln schienen ihm die zarten Linien, die den Glaskasten um die Königin herum andeuteten, ein wenig schief zu verlaufen. Er neigte den Kopf, um diese Schiefe auszugleichen, und schaltete das Bild der zweiten Kamera ein. Hier verliefen die Kanten gerade.

Er schaltete zurück. Die kleine Abweichung war gering genug, um sie für eine Einbildung oder einen minimalen technischen Fehler zu halten, löste aber eine schleichende Unruhe aus. Unruhe und Zweifel. Sein Blick glitt über einen Tischkalender neben dem Monitor, blieb lange auf dem Tagesdatum haften. Der Geburtstag seiner Kleinen.

Der war gestern.

Er wandte sich wieder dem Monitor und den Linien zu, die er in Gedanken geradezurücken suchte. Langsam sah er ein, daß er sich Gewißheit verschaffen mußte.

Im Aufstehen liefen seine Finger über die Tastatur, um die Entriegelung der Stahltür vorzubereiten. Er griff nach dem Schlüssel. In der Tür sah er zurück auf den Monitor und zögerte. Aus dieser Entfernung war keine Abweichung festzustellen. Wenn er nachschaute, würde ein Protokoll fällig sein, denn jedes Öffnen der Stahltür wurde auf dem automatischen Computerbericht festgehalten.

Nachdem die beiden Männer vor den Überwachungskameras Fotos befestigt hatten, die eine Sicht in den unberührten Raum vortäuschten, mußten nur noch ein paar Alarm auslösende elektronische Impulse deaktiviert beziehungsweise umgeleitet werden.

Die Männer arbeiteten schweigend, mit kühler Konzentration. Nach einer Weile schob der eine der beiden die Strumpfmaske bis zur Stirn hinauf, weil er das Prickeln unter dem schweißfeuchten, kratzigen Strickzeug nicht mehr aushielt.

Sobald die Stahltür ohne das geringste Geräusch etwa sechzig, siebzig Zentimeter nach oben geglitten war, schlüpfte Kress durch den Spalt und richtete sich sofort auf. Hastig schaltete er seine Taschenlampe ein.

Neben der Glasvitrine stand ein Mann, der ihm aufmerksam und abschätzend entgegenstarrte. Unter dem Strickwulst auf dem Kopf des Einbrechers ringelte sich eine dunkle Haarsträhne hervor.

Ein eiskalter Hund, dachte Kress. Dann begriff er auf einmal seine Lage.

Als er sich umdrehte, hielt er den Schlüssel so, daß er ihn sofort ins Schloß stecken konnte. Noch vier Meter bis zur Tür.

Da glitt aus dem Schatten ein zweiter Mann hervor, griff mit einer Hand nach seiner Schulter, zog ihn heran und rammte ihm sehr professionell die Faust in den Solarplexus.

Kress ließ die Taschenlampe fallen.

Die Hände auf den Magen gepreßt, sackte er stöhnend auf die Knie, riß aber gleich darauf den Kopf hoch.

Der Einbrecher war aus seinem Blickfeld verschwunden, dafür schaute die Königin schräg geneigt auf ihn herab, er sah nur vage ihr Gesicht in der Düsternis des Raums schimmern.

Nofretetes Lächeln wirkte unbarmherzig.

Eine nie gekannte Angst krampfte Kress in einem wahnsinnigen Schmerz das Herz zusammen und ließ keinen Raum mehr für eine andere Empfindung.

Unbewußt streckte er abwehrend eine Hand aus.

Den Schlag spürte er noch.

Blut quoll aus der zerschmetterten Hirnschale, lief über das Gesicht, versickerte im Kragen des Uniformhemds oder rann weiter am Hals hinab auf die Bodenplatten. Neben dem toten Kress lächelte Nofretete ein unergründliches Lächeln, obwohl ihr Schwanenhals gebrochen und ihre Krone beschädigt war. Das linke Ohr, an dem schon immer etwas gefehlt hatte, war von Blut besudelt.

Warum er das gemacht habe, fragte einer der beiden Einbrecher.

Der andere deutete nur auf das entblößte Gesicht des Komplizen.

2

Nilla Mellon war froh, nicht mit dem Wagen gekommen zu sein. Wo der Parkstreifen nicht von Baufahrzeugen okkupiert wurde, reihten sich lückenlos die Autos aneinander. Abrupt blieb sie stehen. Vor dem Museum standen Polizeiwagen in einer Doppelreihe. Weißrote Bänder sperrten den Vorplatz ab. Alarmiert setzte sich Nilla wieder in Bewegung. Gleich vorn am Eingang erspähte sie einen Notarztwagen und mehrere dunkle Bullis, Fahrzeuge der Spurensicherung. Inzwischen hatte sich ihr Herzschlag beschleunigt. Wahrscheinlich war ihre Verabredung nun hinfällig, schoß es ihr durch den Kopf. Als wenn das jetzt wichtig wäre! Ohne lange zu überlegen, hob sie das Absperrband und schlüpfte darunter durch. Sie mußte wissen, was passiert war.

Ein Polizist kam ihr mit erhobener Hand entgegen. Rasch kramte sie in ihrer Umhängetasche nach ihrem Ausweis, in der Hoffnung, sich damit Zutritt verschaffen zu können. Als im Portal eine vertraute Gestalt erschien, riß sie die Hand mit dem Ausweis hoch und winkte hektisch.

»Peter!« schrie sie aus vollem Hals.

Obwohl er einmal rechts und links die Straße entlangsah, bemerkte sie der Mann nicht.

»Wer sind Sie?« fragte der Polizist nicht gerade freundlich, sobald er sie erreicht hatte.

»Dr. Melanie Mellon, ich bin mit Dr. Rückersdorf verabredet.«

Der Polizist schüttelte den Kopf. »Dr. Rückersdorf wird keine Zeit für Sie haben. Lassen Sie sich einen neuen Termin geben.« Er versperrte ihr die Sicht auf die Tür, während er sie zur Straße zurückdrängte.

»Was ist passiert?«

»Wenn Sie nicht zum Museum gehören, dann ...«

»Überlassen Sie sie mir«, mischte sich eine befehlsgewohnte Stimme ein. Peter Wittich wartete, bis sich der Polizist zurückgezogen hatte, bevor er sich Nilla zuwandte.

»Was machst du hier? Hast du die Absperrung nicht gesehen?« Der massige, bärenhafte Mann wirkte vollkommen ruhig, und doch waren die Streßsymptome unübersehbar. Eine zu harte Kinnlinie, eine angespannte Kopfhaltung, der Blick nicht ganz stetig. Das Gesicht eindeutig zu gerötet, denn er litt seit Jahren an Bluthochdruck. Nilla legte ihm die Hand auf den Arm. Wittich war ein Freund ihres inzwischen verstorbenen Vaters gewesen, und nach dessen Tod war die Verbindung nicht abgebrochen.

»Was ist passiert, Peter?« fragte sie und versuchte, an ihm vorbeizuspähen. »Einbruch?«

Auf einmal sackten seine Schultern nach vorn. »Ich glaube, ich werde zu alt für so was.« Unauffällig strich er sich über den linken Arm und verzog schmerzlich das Gesicht.

Jetzt nur nichts Falsches sagen. »Peter ...«, begann Nilla behutsam. Plötzlich flammte sein Blick auf, er zog sie von der Straße weg auf den Eingang des Museums zu.

»Was bedeutet die Nofretete für dich?«

Nilla zuckte zusammen. »Das glaube ich nicht«, flüsterte sie.

»Mit der Büste ist einer der Museumswächter erschlagen worden, er heißt Kress – er hieß Kress.«

»Kress?«

Er betrachtete sie forschend. »Komm rein!« Mit einer Kopfbewegung deutete er zur Tür.

Neben dem Wächter lagen ein paar Brocken, für die Nilla keinen Blick hatte. Nur Kress zählte, sein verrenkter Körper, das bereits getrocknete Blut an der Schläfe, die aufgerissenen, schreckgeweiteten Augen. Und die Erkenntnis, daß Mathis Kress ohne sie höchstwahrscheinlich noch am Leben wäre.

Peter Wittich hatte ihr mit einer Handbewegung zu verstehen gegeben, daß sie den Raum mit der Leiche nicht betreten durfte. Aber davor wäre sie schon wegen der Beamten, die sich mit ernsten, konzentrierten Gesichtern mit Kameras und Meßbändern um die Leiche herum zu schaffen machten, zurückgeschreckt.

»Wird man mit den Bruchstücken noch was anfangen können?« fragte Wittich sie. »Was ist mit den vielen Splittern?«

Die Bruchstücke! Zwei größere, ein kleineres und Splitter, über den halben Raum verteilt, wegen dieser Splitter gingen die Beamten auf Zehenspitzen.

Wenn sie die Augen schließen würde, könnte sie ohne Mühe das Antlitz der ägyptischen Königin heraufbeschwören, so, wie sie es unzählige Male gesehen hatte. Eine Frau von großer Schönheit, eine gar nicht mal so junge Frau von königlicher Haltung und einer Reife, die nur durch die Erfahrung von persönlichem Leid zu erreichen war. Und Nilla würde die Aura dieser Frau spüren, die über die Jahrtausende hinweg so unvergleichlich lebendig geblieben war.

Wittich tippte ihr auf die Schulter. Die Berührung brachte ihr zu Bewußtsein, worauf sie starrte: Auf ein paar bemalte Kalksteinbrocken, von denen einer mit Blut besudelt war.

»Das kriegen die Restauratoren wieder hin«, antwortete sie mit belegter Stimme. »Mach dir keine Sorgen.«

Jeder Splitter würde in jahrelanger minutiöser Arbeit wieder an seinen Platz gesetzt werden; nur das Wichtigste und Flüchtigste würde – zumindest für sie – unwiederbringlich verloren sein. Als sie sich umwandte, wäre sie beinahe mit Dr. Rückersdorf, dem Direktor des Museums, zusammengeprallt.

»Er war erst seit vier Wochen bei uns«, murmelte er bedrückt, »und er hinterläßt eine junge Frau und eine kleine Tochter.«

Nilla saß mit Wittich im Büro des Museumsdirektors, höchstens fünfzehn Meter vom toten Kress entfernt. Außer Rückersdorf war noch jemand anwesend, Dr. Samuel Perino, Direktor des MoMA in New York. Das Museum of Modern Art veranstaltete gerade eine großartige Ausstellung in Berlin. Aus einer Bemerkung Rückersdorfs schloß Nilla, daß die beiden in München und Rom ein paar Semester zusammen studiert hatten. Auch Perino wirkte betroffen, aber auf eine sachliche Art.

»Wie sind die Einbrecher hereingekommen?« fragte er Wittich. »Wissen Sie das schon?«

Wittich zögerte mit der Antwort, als ob er seine Gedanken erst sammeln müßte. Unruhig fuhr seine Hand über die Tischplatte, mit zwei Fingern ergriff er einen Stift und drehte ihn hin und her, ohne jemanden direkt anzuschauen.

»Es sieht so aus«, erklärte er schließlich, »als wäre die Aktion von langer Hand vorbereitet worden. Die Einbrecher haben den Lärm der Straßenbauarbeiten vor dem Haus ausgenutzt. In den vergangenen Tagen haben sie den Fensterrahmen an mehreren Stellen angebohrt und gestern nacht den Rest erledigt, um an die Kontakte innen zu kommen. Sie haben Sprühschaum eingesetzt und ...«

»Es gab in letzter Zeit ein paarmal Fehlalarm«, warf Rückersdorf ein, »den wir mit den Bauarbeiten in Verbindung gebracht haben.«

Peter Wittich nickte. »Nach dem dritten oder vierten Fehlalarm stumpft die Aufmerksamkeit des Wachpersonals meistens ab. Was nun die letzte Nacht betrifft: Nach den Vorarbeiten brauchten die Einbrecher nicht lange, um in das Gebäude einzudringen. Sie haben die Kontakte der Sicherungseinrichtung sehr geschickt ausgehebelt, alle, bis auf einen. Die Büste wird einem der Einbrecher, nachdem er Kress damit erschlagen hat, aus den Händen gerutscht sein. Das schwere Ding schlug auf dem Boden auf und löste den Alarm aus. Ich stelle mir vor, daß der tödliche Angriff auf den Wächter bloß eine Kurzschlußhandlung war.« Er verstummte nachdenklich.

Vor ihnen standen Tassen, in denen der Kaffee kalt wurde. Nur Perino leerte die seine und schenkte sich nach. »Der oder die Täter haben die Bruchstücke der Figur zurückgelassen, weil die Trümmer für sie wertlos waren oder sie einen Auftraggeber, hatten, dem sie schlecht eine zerbrochene Figur präsentieren konnten ...«, mutmaßte Perino. Er sprach flüssig Deutsch, wenn auch mit deutlichem Akzent.

»Nein!« Wittich winkte, verärgert über die Unterbrechung, ab, und der Blick, mit dem er Perino musterte, signalisierte, daß er erwog, ihn vor die Tür zu setzen. Der Amerikaner hätte an dieser Besprechung gar nicht teilnehmen dürfen, aber Rückersdorf hatte darum gebeten. Vielleicht hatte er sich moralische Unterstützung erhofft.

»Ich denke«, sagte Wittich, »die Einbrecher müssen über das Alarmsystem informiert gewesen sein. Dieser Einbruch ist nicht ohne Hilfe von innen vonstatten gegangen.«

»Wie in Amsterdam?« warf Perino ein. »Im Van-Gogh-Museum 1991?«

»Vielleicht wie in Amsterdam«, antwortete Wittich zögernd.

Nilla erinnerte sich, einiges über den Fall gelesen zu haben. Zwanzig Gemälde waren damals gestohlen worden. Einer der Wächter hatte mit den Dieben gemeinsame Sache gemacht, und ein weiterer Komplize hatte für den externen Sicherheitsdienst gearbeitet, zu dem die Alarmmeldungen automatisch weitergeleitet wurden. Perino wollte wohl darauf hinweisen, daß kein Museum vor so einer Unterwanderung gefeit sei.

»Was ist mit Kress?« Wittich malte mit dem Ende des Stifts unsichtbare Kringel auf die Tischplatte. »Er war noch nicht lange bei Ihnen, haben Sie erwähnt.« Er blickte auf, schaute aber nicht Rückersdorf, sondern Nilla an. Genau genommen schaute er durch sie hindurch, verschwommen, müde, als hätte er den Faden verloren. Erst vor einigen Jahren hatte er sich wegen seiner gesundheitlichen Probleme vom Drogendezernat ins Dezernat Kunstraub versetzen lassen. Kunstraub hatte zumindest in den Augen der Öffentlichkeit immer noch etwas von einem Kavaliersdelikt an sich, Gewalttaten kamen eher selten vor, bislang wenigstens.

»Es fällt mir schwer, mich über einen Mann zu äußern, der erschlagen in einem meiner Ausstellungsräume liegt«, antwortete Rückersdorf gedämpft. »Ich habe ihn nicht persönlich gekannt und kann Ihnen jetzt nur wiedergeben, was ich in seiner Akte gelesen und vor einer halben Stunde telefonisch von meinem Personalleiter erfahren habe. Kress hat sein Jurastudium kurz vor dem Examen abgebrochen, einige Jahre bei einem Sicherheitsdienst gearbeitet und diese Stelle verloren, als die Firma aufgegeben wurde. Das letzte Jahr hat er Taxi gefahren. Er wohnt gar nicht weit von hier, das erschien ihm wichtig wegen seiner kleinen Tochter.«

Sie heißt Elsa, dachte Nilla. Ein hübsches Kind, sie hatte ihr Foto gesehen.

»Vor drei Tagen erst ist er in die Nachtschicht gewechselt. In den ganzen vier Wochen, die er bei uns war, gab es anscheinend keine Klage über ihn. Er hat sich rasch eingearbeitet und gut in das Team eingefügt. Ein unauffälliger, zuverlässiger Mann ...« Rückersdorf zögerte, ehe er voller Zweifel weitersprach. »Kress als Mittäter?«

»Das kann ich mir nicht vorstellen.« Eine dumme Bemerkung, Nilla bereute sie sofort.

»Wieso? Kanntest du ihn?« Peter Wittichs Frage war eindeutig, aber Nilla scheute vor der Antwort zurück. Es gab viele Gründe, eine klare Antwort zu vermeiden, sie schüttelte nur abwehrend den Kopf, als käme ihr die Frage absurd vor.

»Entschuldige, ich denke im Augenblick nicht sehr logisch«, sagte sie leise.

»Das würde ich nicht sagen, ich schließe mich sogar Ihrer Logik an«, warf Perino ein. »Warum sollten ihn die Einbrecher erschlagen haben, wenn er ihr Mitwisser ist?«

Wittichs Blick hatte jetzt nichts Verschwommenes mehr. »So oder so werden wir uns mit Kress ausführlich beschäftigen, als Opfer wie als eventueller Beteiligter. Und da wäre zunächst einmal die Frage: Hat ihn jemand empfohlen? Oder warum wurde er eingestellt?« Jetzt endlich wandte er sich Rückersdorf zu.

Der Museumsdirektor zuckte die Schultern. »Sie werden von meinem Personalleiter alles erfragen können. Er hat heute früh einen Termin außerhalb, müßte aber gleich eintreffen. Soviel ich weiß, meldete sich Kress, als zufällig gerade ein Posten frei geworden war. Der Mann, dessen Stelle er bekommen hat, hatte zwei Tage vorher einen Unfall, der ihn zum Invaliden gemacht hat. Kress war als Aushilfe beschäftigt, über eine Festanstellung hätte noch entschieden werden müssen.«

»Komischer Zufall«, brummte Wittich.

3

Valeria di Strattesi-Giovese waren die auf- und abschwellenden Geräusche der Straße, die zwischen dem Tiber und dem Palazzo Giovese verlief, seit ihrer Kindheit vertraut. Ganz verstummten sie nie. Im Palazzo dagegen herrschte eine beklemmende Stille.

Gegen ihre übliche morgendliche Schwäche ankämpfend, legte Valeria einen venezianischen Spiegel auf die barocke Konsole, die zwischen den hohen Fenstern ihres Schlafzimmers stand. Nachdem sie einen Sessel herangerückt hatte, nahm sie ein Tütchen aus der Tasche ihres Morgenmantels und legte sorgfältig eine Linie. Mit dem silbernen Kinderschieber, mit dem sie einst den Umgang mit Eßbesteck erlernt hatte, richtete sie die Linie so exakt aus, daß nichts von dem weißen, leicht kristallin schimmernden Pulver verlorengehen konnte. Um den Schnee aufzuschnupfen, benutzte sie keinen zusammengerollten Geldschein, sondern ein mit zarten Ornamenten überzogenes Elfenbeinröhrchen, eine zweitausend Jahre alte Antiquität, die dem Ritual mehr Exklusivität, ja eigentlich erst Stil verlieh. Sofort spürte sie die wunderbar befreiende Schärfe, die ihr wie Pfeffer über die Atemwege in den Kopf schoß, das angenehme, belebende Prickeln, bevor die eigentliche Wirkung einsetzte. Noch ein paar Minuten, und sie würde die Schwermut für einige Stunden hinter sich lassen. In ihrem Sessel zurückgelehnt, schloß sie wohlig die Augen.

Als sie die Tür knarren hörte, blickte sie unwillig auf. Clodio trat herein, im unpassendsten Augenblick des Tages. Hatte er nicht einmal angeklopft? Oder war ihr Gehör mittlerweile so schlecht, daß sie das Klopfen überhört hatte? Sein Blick glitt über den Spiegel und das Röhrchen in ihrer Hand, aber das ließ sie völlig gleichgültig.

»Guten Morgen, Mamma, oder sollte ich guten Tag sagen?« bemerkte er launig. Demonstrativ blickte er auf seine Armbanduhr. »Es ist zwölf.«

»Danke, ich weiß, wie spät es ist«, gab sie scharf zurück und fuhr freundlicher fort: »Möchtest du Espresso? Moretti hat ihn vor einer Viertelstunde heraufgebracht. Bedien dich.« Sie wies auf einen runden Tisch nicht weit von ihrem Pfostenbett. Neben einem Emailtablett mit dem Espressoservice lag ein Stapel Briefe. »Das dürften die letzten Zusagen auf die Einladung sein, es sind immer dieselben, die zu spät antworten.« Die Wirkung des Kokains war nun so weit fortgeschritten, daß sie die Schmerzen in ihren Gelenken kaum noch wahrnahm und sich einigermaßen leicht aus dem Sessel erheben konnte. Es machte ihr Vergnügen, sich beweglicher zu geben als Clodio mit seinem plumpen schwerfälligen Körper. »Agostino will die Briefe sicher sehen. Warst du schon bei ihm?« fügte sie mit unmerklicher Anspannung hinzu.

»Er hat einen klaren Tag, er wird die Post lesen können.« Wieder schaute er zum Spiegel und runzelte diesmal mißbilligend die Stirn. Es kam nicht allzuoft vor, daß er sie beim Kokainschnupfen überraschte.

»Und was ist mit Giulio? Wird er kommen?« Das Zittern in ihrer Stimme verriet, wie wichtig ihr die Frage war.

Er schüttelte abwehrend den Kopf. »Mamma«, antwortete er geduldig, »niemand weiß, wo er sich derzeit aufhält. Hier in Rom jedenfalls nicht.«

»Dann gib dir Mühe, es herauszufinden«, entgegnete sie. »Und erzähl mir nicht, daß du nicht über die entsprechenden Mittel verfügst.« Clodio ließ ihre Erregung unbeeindruckt. Gelassen goß er sich einen Espresso ein und schaufelte Zucker in das Täßchen, das sich zwischen seinen dickfleischigen Händen besonders zerbrechlich ausnahm. »Agostino wünscht, daß Giulio bei seinem Fest dabei ist. Es bedeutet ihm sehr viel«, ergänzte sie.

Anscheinend wollte Clodio sie mit seiner Sturheit auf die Palme bringen, deshalb trank er, ohne zu antworten, den Espresso in kleinen Schlucken, ganz auf den Genuß konzentriert. Erst als er fertig war, wandte er sich ihr wieder zu, als hätte er sie zwischenzeitlich vollkommen vergessen, so wie ein Erwachsener ein quengeliges Kind ignoriert.

»Ich bin kein Privatdetektiv und schicke auch keinen hinter Giulio her, er würde so etwas schwer übelnehmen. Ich werde mich bei ein paar Leuten nach ihm erkundigen. Ich würde meinen Neffen nämlich auch gern wiedersehen, obwohl ich ihn für einen notorischen Unruhestifter halte.« Er stellte die Tasse auf das Tablett zurück. »Und, Mamma«, er war nun auf dem Weg zur Tür, »laß endlich die Finger von dem Zeug. Du verlierst den Sinn für die Wirklichkeit.«

»Ich habe mich schon gefragt, wie lange du es aushältst, mir keine Vorhaltungen zu machen«, meinte sie ironisch, »glaub mir: Noch habe ich die Kontrolle über meinen Konsum.«

»Das sagen alle«, murmelte er verkniffen.

4

Elsa trat mit ihrer Mutter gerade aus einem heruntergekommenen Wohngebäude. Die Renovierungswelle, die seit der Wende alle Innenstadtviertel überspülte, hatte dieses Haus noch nicht erreicht. Eigentlich war Nilla auf dem Weg zu Rückersdorf gewesen, um ihre Unterredung nachzuholen. Sie war etwas zu zeitig gekommen, hatte die Polizeifahrzeuge registriert, die auch heute, drei Tage nach dem Einbruch ins Museum, vor dem altehrwürdigen Gebäude standen, und hatte es vorgezogen, die Straße weiter hinunterzugehen, statt verfrüht bei Rückersdorf zu erscheinen. Außerdem hatte das Polizeiaufgebot unversehens die Unruhe verstärkt, die sie seit Tagen zu bekämpfen suchte. Nachts schreckte sie aus Alpträumen hoch, die sich fatal glichen. Mathis Kress redete mit ihr und umarmte sie, wobei sie selbst im Traum wußte, daß er tot war. Ein Grauen erfaßte sie, das auch im Wachzustand noch eine Weile anhielt.

Elsa trug eine Brille mit dicken Gläsern, durch die sie scheu und verschüchtert zu ihr aufschaute, so hübsch wie auf dem Foto war sie gar nicht.

Frau Kress trug Schwarz. Ehe sie sich besinnen konnte, ging Nilla auf sie zu und streckte ihr die Hand entgegen.

»Was mit Ihrem Mann geschehen ist, tut mir sehr leid. Ich bin Melanie Mellon.«

Statt die Hand zu nehmen, trat Frau Kress einen Schritt zurück und zog die Kleine an sich. »Kannten Sie meinen Mann?«

Unversehens befand sich Nilla in Erklärungsnöten. Ja, ich kannte Ihren Mann, er hat immer sehr nett von Ihnen gesprochen, wenn er Sie neben Elsa überhaupt mal erwähnt hat. So offen, wie es ihr unter den Umständen möglich war, sah sie Frau Kress in die mißtrauisch blickenden Augen.

»Ja, vom Museum. Er war immer sehr höflich und sehr korrekt. Ein guter Mitarbeiter, alle waren überaus zufrieden mit ihm. Aber das wird Ihnen Dr. Rückersdorf ja sicher schon versichert haben.«

Das Mißtrauen schwand nur unmerklich. »Das hat mir niemand gesagt. Niemand hat das für nötig befunden, ich wurde nur von der Polizei ausgefragt und mußte mir alle möglichen Verdächtigungen anhören.«

Elsas Augen glotzten riesengroß durch die dicken Gläser, das Gesicht blieb fast ohne Regung. Es war nicht gut, daß sich das Mädchen so etwas anhören mußte. Nilla fühlte sich noch unbehaglicher.

»Das wird sich alles aufklären, die Fragen gehören zur Polizeiroutine. Sie müssen Geduld haben. – Ich wünsche Ihnen alles Gute«, fügte sie unsicher hinzu, drückte die schlaffe Hand, die ihr Frau Kress jetzt, wenn auch eher widerwillig, reichte, und trat den Rückzug an, ihre eigene Dummheit verwünschend.

Drei Stunden später betrat sie das BKA-Gebäude.

Der Mann, der ihr im ersten Stock auf dem Flur entgegenkam, mußte gerade Peter Wittichs Büro verlassen haben. Ein schlampig gekleideter Kerl mittleren Alters, der sie mit einem allzu forschen, fast schon zudringlichen Blick aus dunklen Augen musterte.

»Wer war das?« fragte sie, als sie Wittichs Büro betrat, und deutete mit dem Daumen über die Schulter in Richtung Flur.

»Wer?« fragte Wittich abwesend. Auf seinem Schreibtisch lagen Papiere und vor allem Fotos verstreut, jede Menge Fotos.

Nilla versuchte es anders. »Hattest du Besuch?«

»Ich habe ständig Besuch.«

Wie zum Beweis steckte ein Mitarbeiter den Kopf zur Tür herein. »Die Obduktionsergebnisse sind da.«

Wittich winkte. »Her damit.« Er schaute nicht auf, als eine dünne Mappe zwischen den Fotos landete.

Nilla wartete, bis sich die Tür wieder geschlossen hatte. »Ein Mann in einem schlottrigen Sakko, ziemlich unscheinbar, graue fettige Haare ...«

»Carlo Meier«, brummte Wittich. Die dünne Akte in der Hand, wandte er sich Nilla zu. Sie sah lila Tränensäcke unter blutunterlaufenen Augen – Wittich schaute aus, als hätte er drei Nächte nicht geschlafen.

»Du arbeitest wieder ohne Pause, genau wie früher«, sagte Nilla scharf.

»Ach was.« Er winkte ab. »Warum bist du hier?«

»Neugier«, antwortete sie prompt. »Was gibt es Neues im Fall Kress?«

Er musterte sie abwägend. Als wäre es das Normalste von der Welt, trat sie an seinen Schreibtisch und begann, sich die Fotos anzuschauen.

»Warum der Fall Kress? Warum nicht der Fall Nofretete? Sie ist immerhin die prominentere Geschädigte«, nörgelte er. »Du bist in diese Ermittlung nicht involviert. – Also lies die Zeitung, wenn du etwas wissen willst.«

Die Fotos hatten dem Anschein nach nichts mit Mathis Kress' Tod zu tun. Die meisten der Abbildungen kannte sie. Zwei kleinformatige Gemälde van Goghs, die 2002 aus dem Van-Gogh-Museum in Amsterdam gestohlen worden waren, ein Gainsborough und ein Bellotto, die 2001 aus Russborough House in Irland in einer dramatischen, brutalen Aktion geraubt worden waren, Cellinis berühmtes goldenes Salzfaß aus Wien, Munchs »Madonna« und der »Schrei« aus Oslo, Leonardo da Vincis »Madonna mit der Spindel«, Pablo Picassos Porträt von Dora Maar, 1991 von einer saudiarabischen Jacht entwendet ... Es war eine beeindruckende, wenn auch krause Sammlung quer durch die Jahrhunderte der Kunstgeschichte. Die Objekte wiesen zwei Gemeinsamkeiten auf: Sie waren allesamt gestohlen und absolut erstklassig.

»Komm, Peter, du weißt, daß ich nichts ausplaudere.« Sie ging zu einem Seitentischchen, schraubte eine halbvolle Flasche auf und goß Wasser in ein Glas, das sie zum Schreibtisch trug und gegen eine Tasse mit einem Rest schwarzen Kaffees austauschte. Die Tasse hatte einen Namen verdeckt, der auf einem Aktendeckel stand: Meier, Carlo.

»Wer ist jetzt dieser Meier? Hat er mit Kress zu tun?«

»Nein«, sagte Wittich abweisend und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war viel zu warm im Büro, die Hitze war zusätzliches Gift für ihn, Gift wie der Kaffee. Nilla fragte sich, bei der wievielten Tasse er an diesem Tag angelangt war. Dann entschloß er sich doch zu reden.

»Ich hab Meier in einer anderen Sache befragt. Offiziell ist er Kunsthändler, so wie sein Vater Charly, aber wir wissen, daß er auch als Hehler seine Finger in dunklen Geschäften hat.«

»Vater oder Sohn?« warf Nilla ein.

»Beide. Carlo war einige Male als Vermittler bei der Wiederbeschaffung von Kunstwerken für Museen und Sammler tätig, du weißt, was das heißt oder heißen kann.«

Es konnte bedeuten, daß Carlo Meier an den Diebstählen beteiligt, daß ihm diese Mittäterschaft aber nicht zu beweisen war. Kunstwerke wurden so gut wie nie um der Kunst willen gestohlen. Es ging um Geld. Dazu paßte, daß in den letzten Jahren das sogenannte art-napping in Mode gekommen war: Kunstwerke wurden entwendet, um sie gegen Lösegeldzahlung zurückzugeben. Rechtsanwälte oder Kunsthändler wurden als Vermittler eingeschaltet, die für ihre Mühe eine Provision kassierten. Bei einem früheren Raub eines Munch-Gemäldes war der Kunsthändler Einar-Tore Ulving, der als Unterhändler fungiert hatte, schließlich als Mittäter überführt worden.

»Keine Beweise für krumme Touren?«

Wittich grinste schwach. »Es wäre ein krönender Abschluß meiner Laufbahn, wenn ich wenigsten Carlo Meier festnageln könnte. Denn sein Vater ist für die irdische Gerichtsbarkeit nicht mehr erreichbar. Er starb vor einem halben Jahr bei einem Autounfall.«

»So ein Pech. Du hast Meier junior also nicht wegen der Nofretete auf den Zahn gefühlt?«

Seit Wittich im Kunstdezernat tätig war, hatte er mit Nilla gelegentlich auch Fälle durchgesprochen, für die sie nicht offiziell als Sachverständige hinzugezogen wurde. Daher wußte sie, seine Anfälle von Zugeknöpftheit hielten meist nicht lange vor.

»Meier hat einen gewissen Ruf als Kunstexperte«, sagte er ausweichend.

»Dann ziehst du bei kniffligen Fällen jetzt lieber ihn zu Rate?« fragte sie spöttisch.

»Warum nicht? Es ist keine neue Idee, sich eine Szene sozusagen von unten anzuschauen. Wie in der Drogenfahndung.«

»Wo du ja bestens Bescheid weißt.« Vor allem auch über die Verknüpfung des Drogenhandels mit dem Kunstraub, dachte Nilla. Kunst wurde mittlerweile gern als Währung in Drogengeschäften eingesetzt, eine Tatsache, die von Bedeutung bei Wittichs Wechsel war. »Meier als Informant?« fragte sie langsam. »Geht er darauf ein?«

Wittich wies auf die Fotos. »Ich hab dir schon erklärt, was ich darüber denke.«

»Deine internationale Liga? Bist du wieder bei deiner weltweiten Verschwörung gegen die Kunst?«

Wittich stöhnte genervt auf und faßte plötzlich nach seinem linken Arm.

»Trink einen Schluck«, Nilla hielt ihm das Glas hin. Gierig trank er es auf einen Zug leer.

»Wann hast du das letzte Mal deine Tabletten genommen?« Sie beugte sich vor und langte nach der Schreibtischschublade, aber er kam ihr zuvor und warf stöhnend ein paar Medikamentenschachteln auf den Tisch. Mit zitternden Händen zog er die eingeschweißten Tabletten heraus und drückte die erste durch die Folie. Nilla holte noch einmal Wasser und sah zu, wie er seine Pillen schluckte.

»Ich denke, ich gehe jetzt besser«, sagte sie.

»Richtig, aber einen Augenblick noch. Was wolltest du neulich bei Rückersdorf?«

5

So unauffällig, wie Carlo Meier das Haus betreten hatte, schlüpfte er hinaus und verwandte die nächste halbe Stunde darauf, sich zu vergewissern, daß ihm niemand folgte. Danach kehrte er zu seinem Fahrzeug zurück. Die Sache, wegen der er nach Berlin gekommen war, konnte in ein paar Tagen beginnen. Soweit liefen die Vorbereitungen nicht schlecht.

Aber Wittich war ein schwer einzuschätzender Mann, und außerdem hatte er einen angegriffenen Eindruck gemacht. Kein gutes Vorzeichen.

Sobald Meier die Ringautobahn um Berlin verlassen hatte und nicht mehr die volle Konzentration aufs Fahren verwenden mußte, durchdachte er seinen Plan von neuem, einiges war ihm durchaus noch völlig unklar.

6

Wittich lag auf der Intensivstation und war mit zwei Monitoren verbunden, die Zackenkurven malten. Nilla legte die Tasche auf das Bettende und hockte sich behutsam auf die Kante. Als er erst ein Auge und dann das andere blinzelnd öffnete, lächelte sie mechanisch.

»Hab mich schon gefragt, wann du auftauchst«, brummte er. »Und mach nicht so ein Gesicht, als wenn ich tot wäre«, setzte er ärgerlich hinzu, »ich hab nur einen Herzinfarkt.«

»Wie fühlst du dich?« Vorsichtig nahm sie seine mit einer Kanüle gespickte Pranke in ihre Hand.

»Eingesargt.«

»Schmerzen?« fragte sie ruhig.

»Unerheblich.« Er versuchte, sich etwas aufzurichten, aber es gelang ihm nicht. »Ich wollte, ich könnte morgen wieder raus.« Sein Blick schweifte zum Nachbarbett. Der andere Patient, ebenso an Apparate angeschlossen wie er, schlief mit weit offenem Mund, ein alter Mann, dessen haarloser Kopf wie ein Totenschädel anmutete. »Schon wegen dem da. Furchtbarer Knacker. Wenn er wach ist, stöhnt er, wenn er schläft, schnarcht er, ich weiß nicht, was mir mehr auf den Senkel geht.«

Wittich wollte wohl von seinem eigenen hilflosen Zustand ablenken.

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