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Niemand weiß, was er weiß. Niemand sieht, was er sieht. Der historische Roman „Die Rückkehr des Moorkönigs“ von Eva Maaser als eBook bei dotbooks. Als an einem Baum vor dem Dorf eine Leiche mit abgeschlagenen Händen und ohne Kopf gefunden wird, sind das Entsetzen groß und die Spekulationen wild: Wer ist der Tote – der verschwundene Landrat oder der ebenfalls vermisste Bauer Bernard? Und vor allem, wer ist der Mörder? Ausgerechnet an diesem Unglückstag kehrt Jan, der geheimnisvolle Mann mit dem „Zweiten Gesicht“, in seinen Heimatort zurück und wird sofort zum Hauptverdächtigen. Gefangen zwischen feindseligen Verdächtigungen und einsamen Streifzügen durch das Moor, keimt auch in ihm ein schrecklicher Verdacht … Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Die Rückkehr des Moorkönigs“ von Eva Maaser. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 467
Über dieses Buch:
Als an einem Baum vor dem Dorf eine Leiche mit abgeschlagenen Händen und ohne Kopf gefunden wird, sind das Entsetzen groß und die Spekulationen wild: Wer ist der Tote – der verschwundene Landrat oder der ebenfalls vermisste Bauer Bernard? Und vor allem, wer ist der Mörder? Ausgerechnet an diesem Unglückstag kehrt Jan, der geheimnisvolle Mann mit dem »Zweiten Gesicht«, in seinen Heimatort zurück und wird sofort zum Hauptverdächtigen. Gefangen zwischen feindseligen Verdächtigungen und einsamen Streifzügen durch das Moor, keimt auch in ihm ein schrecklicher Verdacht …
Über die Autorin:
Eva Maaser, geboren 1948 in Reken (Westfalen), studierte Germanistik, Pädagogik, Theologie und Kunstgeschichte in Münster. Sie hat mehrere erfolgreiche Krimis, historische Romane und Kinderbücher veröffentlicht.
Bei dotbooks erschienen bereits Eva Maasers Kriminalromane »Der Clan der Giovese«, »Das Puppenkind«, »Tango Finale«, »Kleine Schwäne« und »Die Nacht des Zorns«. Kommissar Rohleffs erster Fall »Das Puppenkind« ist auch im Sammelband »Tatort: Deutschland« erhältlich.
Eva Maaser veröffentlichte bei dotbooks außerdem ihre historischen Romane »Der Geliebte der Königsbraut«, »Der Hüter der Königin«, »Der Moorkönig«, »Der Paradiesgarten« und »Die Astronomin«. Zwei ihrer historischen Romane sind auch im Doppelband unter dem Titel »Der Geliebte der Königsbraut & Der Hüter der Königin« erhältlich.
Zudem erschienen bei dotbooks Eva Maasers Kinderbuchserien um Leon und Kim: »Leon und der falsche Abt«, »Leon und die Geisel«, »Leon und die Teufelsschmiede« und »Leon und der Schatz der Ranen«, »Kim und die Verschwörung am Königshof«, »Kim und die Seefahrt ins Ungewisse« und »Kim und das Rätsel der fünften Tulpe«.
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eBook-Neuausgabe Dezember 2016
Copyright © der Originalausgabe 2010 Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung eines Gemäldes von Jacob van Ruisdael »A winter landscape with a view of the Amstel River and Amsterdam« und Jean Baptiste Greuze »Florentinus Josephus van Ertborn«
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH
ISBN 978-3-95824-764-2
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Eva Maaser
Die Rückkehr des Moorkönigs
Roman
dotbooks.
Die Rabenvögel freuten sich. Vor lauter Übermut überschlugen sie sich in der froststarren Luft und schrien: »Aas, Aas, Aas!«
Die Rufe hallten unter dem nebelgrauen Himmel, der an diesem Dezembertag schwer aufs Feld herunterdrückte. Und es war kalt – viel zu kalt. Der Winterweizen, der in den letzten Wochen im Schlamm versunken war, würde dem Frost zum Opfer fallen, wenn es nicht endlich schneite.
Das Aas hing an einem Baum auf Droste Tomberges letztem Acker direkt an der Grenze zum Venner Moor. Auf der anderen Seite des Felds verlief ein rumpeliger Weg, der eine Meile weiter nördlich auf die Straße traf, die nach Münster führte. Und aus dieser Richtung näherten sich schweigend zwei Männer, die breitrandigen Hüte tief ins Gesicht gezogen. Der eine, kleinere und offenkundig ältere, ging leicht vorgebeugt, obwohl kein Wind blies und sich die feuchte Kälte so oder so in die wärmsten Kleider stahl. Unter den Tritten der Männer brachen die spärlichen Halme des Winterweizens wie Glas.
Die Krähen mussten wissen, wer das Stück Aas einmal gewesen war. Immerhin hatten sie Zeit genug gehabt, das nackte Fleisch mit ihren Schnäbeln aufzuhacken. Überall zeigten sich kleine Wunden wie die Geißelmale am Leib des gekreuzigten Jesus, der über dem Altar der Venner Kirche hing.
Allerdings war dieser Körper hier an den Füßen aufgehängt.
Unter dem Baum glitzerte tiefrot eine große gefrorene Blutlache, und ringsum war das Feld zertrampelt. Unter den weit ausladenden Ästen der alten Buche erwartete eine schweigende Schar von Nachbarn die beiden Männer, von denen der größere jetzt ein wenig zurückblieb, als wäre er sich nicht sicher, willkommen zu sein.
Einer nach dem anderen wichen die Menschen zurück und bildeten eine Gasse, die dieser breitschultrige, hochgewachsene Fremde – oder doch nicht Fremde den sie erwartet hatten, aber nicht betrat.
Jan Droste Tomberge betrachtete erst einmal das, was da am Baum hing. Er konnte gar nicht anders, obwohl ihm unaufhaltsam ein Grauen in die Glieder kroch, das ihn in eine Art Starre versetzte.
Wie viel Mensch blieb übrig, wenn der Kopf fehlte?
Mensch?
Vom unteren Bauchansatz bis hoch über die Brust zur Halsgrube war der Körper senkrecht aufgespalten. Wie ein Schwein, das man nach dem Schlachten auseinandergespreizt auf eine Leiter vor den Schweinestall hängt.
Jan atmete ganz flach. Je länger er hinschaute, desto mehr spürte er einen herben, metallischen Geschmack im Mund. Aufgespalten wie ein Schwein! Warum hatte Anton nichts davon erzählt?
Warum hatte er ihn auf dieses Grauen nicht vorbereitet?
Eine Hand legte sich mit einem zarten, zögerlichen Druck auf seinen Arm.
»Es tut mir leid, Jan, es tut mir so leid! Aber es ist gut, dass du kommen konntest. So rasch.« Zuletzt hob sich die Stimme wie zu einer Frage.
Kurz schloss Jan die Augen. Er konnte nicht sprechen. Noch nicht. Noch drückte ihm das Grauen die Kehle zu. Aber da hatte etwas in der Stimme geklungen, etwas Unausgesprochenes, das ihn hellhörig machte. Er wischte es beiseite. Jetzt nicht. Später.
Sich zur Ruhe zwingend, wandte er den Kopf.
»Mohne Klara?«
»Aber sicher bin ich Mohne Klara, kennst du mich denn nicht mehr?«, sagte die Frau mit einem Hauch von Entrüstung, dann lächelte sie. Es war ein fadenscheiniges, geisterbleiches Lächeln, mit dem Klara Potthoff ihn begrüßte, dennoch tröstete es. Am liebsten hätte er die rundliche ältere Frau vor Dankbarkeit umarmt, aber das schickte sich nicht. Alles, was er tun konnte, war, das Lächeln zu erwidern. Auch Mohne Klara brauchte Trost, das konnte man ihr ansehen.
Ihr mehr als den anderen.
Fast alle waren sie da, die Leute von den sechs Höfen, die eine Nachbarschaft am Rand des Venner Moors zwischen Senden, Ottmarsbocholt und Münster bildeten. Die Potthoffs, die Pentrops, die Holtkamps, die Lütke Wierlings, die nur einen Heuerlingshof bewirtschafteten, der den Droste Tomberges gehörte, und die Schulze Hundrups. Natürlich waren die Schulze Hundrups da. Bestimmt einer oder zwei. Noch konnte Jan nicht alle Gesichter einem Namen zuordnen. Da waren junge, die er gar nicht kannte. Einer nach dem anderen nickte Jan zu, der eine steif, der andere wie unter dem Zwang, wenigstens der Höflichkeit Genüge zu tun. Alle neugierig, alle fragend – und voll abwartender Vorsicht. Vor Jans Blick schoben sich Erinnerungsbilder. Gesichter wurden überlagert von ihrem früheren Abbild, Gestern und Heute taumelten durcheinander. Nachbarn, Freunde, Gefährten seiner Kindheit. In diesem Augenblick merkte er, dass er sie vermisst hatte. Sie alle, selbst die, die er nicht kannte. Neun Jahre Abwesenheit, neun Jahre Stille. Eine bleierne Schwere senkte sich auf seine Brust. Wie hatte er das bloß ertragen können? Neun Jahre Einsamkeit. Nein, das stimmte so nicht. Aber hier, in diesem Moment, waren es neun lange Jahre Einsamkeit gewesen, die ihn nun hilflos und verwundbar machten.
Er ballte die Fäuste und verbarg sie in den Ärmeln seines langen Schäfermantels. Niemand sollte seine Trauer und Verwirrung bemerken.
»Ist er’s?«, fragte Anton Potthoff, Klaras Mann, der Jan hergeholt hatte, mit gedämpfter Stimme.
Ein Jammern drang in Jans Bewusstsein. Ein Jammern, das schon die ganze Zeit über zu hören gewesen war, aber nun an Intensität zunahm.
Am Fuß des Baumes kauerte eine Gestalt, die sich langsam aufrichtete. Ein aufgedunsenes bleiches Gesicht, umrahmt von dünnen Haarsträhnen, die sich aus der Flechtkrone gelöst hatten, starrte Jan mit unversöhnlichem Hass entgegen.
Jan antwortete nicht. Das Unbehagen der Umstehenden nahm zu, jetzt begannen die Leute sich zu regen und von einem Fuß auf den anderen zu treten, als hielten sie es nicht mehr aus unter dem Baum und in der Gesellschaft eines Toten, der keinen Kopf hatte und dessen Leib wie der eines geschlachteten Schweins aufgespalten war. Flüchtig kam Jan in den Sinn, dass alle, alle, die ihn hier umringten, am liebsten davongelaufen wären, bloß weg, um den Schrecken hinter sich zu lassen. Fliehen wäre eine sehr normale Reaktion gewesen.
Niemand hatte es anscheinend gewagt, den Leichnam zu berühren. Schlaff hing das Geschlecht herab, madenweiß, hässlich, der Körper wirkte obszön in seiner ungeschützten Nacktheit. Etwas Blutiges, Steifgefrorenes quoll unten aus dem stümperhaft durchtrennten Hals heraus. Bevor er sich dagegen wappnen konnte, überflutete Erbarmen Jan, zusammen mit heftiger Übelkeit, und er spürte, wie seine Augen feucht wurden.
»Er weiß es!« Die kauernde Gestalt streckte sich. »Warum sagt er es nicht?«
»Lass es gut sein, Agnes«, beschwor Anton die Frau. »Lass ihm Zeit.«
»Warum glaubt ihr mir nicht?«, schrie die Frau auf. »Schickt ihn weg. Niemand braucht ihn hier. Ich will, dass er geht.« Immer gellender klang die Stimme, ihr schrilles Schreien wurde von den Krähen aufgegriffen und in den Himmel hinauf getragen.
In Jans Schläfen begann es zu pochen. Er riss eine Hand hoch, presste sie seitlich an den Schädel. Dennoch setzte Schwindel ein. Der Baum, das Feld, die Menschen begannen ihm zu entgleiten. Er taumelte zwei Schritte zurück, wollte sich umwenden und davonstürzen. Da fing er einen Blick auf. Unversehens legte sich der Schwindel.
Jan blieb stehen und nahm langsam die Hand herunter.
Auf diesem einen, ihm zugewandten Gesicht schien sich das spärliche Licht des trostlos grauen Tages zu konzentrieren und hob es aus der dumpfen Menge der anderen heraus. Irgendetwas in dem hellen, jungen Gesicht kam ihm vertraut vor.
Das Schultertuch war nicht wie bei Klara und den übrigen Frauen über den Kopf gezogen und das üppige, blonde Haar im Nacken nachlässig zu einem Knoten geschlungen. Die junge Unbekannte wirkte bekümmert, ja entsetzt, aber dennoch nicht so niedergedrückt wie die anderen. Einen Moment war er versucht, zu ihr hinüberzugehen und sie zu fragen, wer sie sei und warum sie ihn auf diese unerschrockene Art anschaute.
»Warum habt ihr den Toten nicht längst geborgen?«, fragte er leidlich ruhig und beherrscht.
»Weil der Knecht steif und fest behauptet, es sei der Freiherr von Schonebeck. Der Landrat«, erklärte einer der Männer.
»Welcher Knecht?«
Einer der Zuschauer löste sich aus der Runde. War das der Knecht? Jan kramte in seinem Gedächtnis und fand den richtigen Namen. Der Mann war aber kein Knecht. Paul Schulze Hundrup musste jetzt der Bauer auf dem Schulzenhof sein, dem größten Hof in der Venne gleich nach dem Drostehof.
»Paul!«, begrüßte Jan den Mann mit der vierschrötigen Figur und dem Quadratschädel, ein Ebenbild des alten Heinrich Schulze Hundrup, der vielleicht gar nicht mehr lebte.
Paul schlug ihm genauso derb auf die Schulter, wie sein Vater es getan hätte. Auch die ölige, selbstherrliche Stimme war gleich.
»Gut, dass du da bist! Agnes« – er wies nickend auf die Frau, die nicht aufhörte zu jammern – »gibt keine Ruhe, sie hört nicht auf uns. Kümmere dich um deine Schwägerin, bevor sie vor Kummer den Verstand verliert. Du bist für sie verantwortlich!«
Unwillig schüttelte Jan die Hand ab und ärgerte sich gleich darauf über sich selbst. Wieso vererbten sich seit Generationen die Großmäuligkeit der einen und die Empfindlichkeit der anderen? Seit Jahrhunderten wollte die eine Familie gewitzter, reicher und angesehener als die andere sein. Ein albernes Gerangel. Jan wollte weder jetzt noch später in etwas hineingezogen werden, was ihn nichts anging. Schon längst nicht mehr.
»Zunächst einmal ist sie deine Schwester, hast du das vergessen?«, entgegnete er beherrscht.
»Seit sie deinen Bruder Bernard geheiratet hat, ist sie eine von euch«, widersprach Paul bestimmt, »das scheinst du vergessen zu haben. Du warst zu lange weg.«
»Nicht meine Schuld«, entgegnete Jan bedächtig.
Anton Potthoff zupfte ihn am Ärmel. »Hör zu! Euer Knecht, der alte Jupp, ist gestern auf der Suche nach deinem Bruder bis Senden gekommen. Dort hat ihm einer erzählt, der Schonebeck ist weg. Verschwunden. Jupp schwört Stein und Bein, dass der Tote der Landrat ist.« Anton dämpfte die Stimme. »Das könnt schon sein. Aber darüber reden wir noch. Später. Agnes bleibt dabei, dass es Bernard ist, dein Bruder. Bloß will’s keiner von uns glauben.« In seine Stimme mischte sich als Zeichen des Entsetzens, das ihn gerade wieder einholte, ein Keuchen. »Hab viel in meinem Leben gesehen und gehört. Aber sag mir mal: Wer sollte Bernard so was antun?«
Wer konnte überhaupt einem Menschen so etwas antun?
Der alte Mann, Bernards Knecht, einer der wenigen, der sich kaum verändert hatte, wie Jan nun bemerkte, kam in seinen Holzklompen schwerfällig zu ihnen herübergestapft. »Es ist der Baron«, murmelte er störrisch.
»Den du ohne Kopf erkennst, weil du ihn mal beim Pissen beobachtet hast?«, spottete Paul. Überhaupt schien er Wert darauf zu legen, allen zu zeigen, wie wenig ihn der Fund des grausig zugerichteten Leichnams aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Ihn, hieß seine Botschaft, focht so leicht nichts an. »Oder woran siehst du, dass er’s ist?«
»Hört auf!«, kreischte Agnes. »Als ob ich meinen Mann nicht kenne, der jede Nacht neben mir gelegen hat.«
»Aber lange nicht mehr auf ihr«, murmelte Jupp kaum hörbar.
»Das langt!«, rief Klara. »Habt ihr denn überhaupt keinen Anstand? Und kein Mitleid mit Agnes? Komm, Änne, hilf mir. Wir bringen sie von hier fort.« Sie winkte eine der älteren Frauen zu sich, gemeinsam fassten sie Agnes unter die Arme und stellten sie auf die Füße.
In diesem Augenblick schallte vom Weg ein Ruf herüber. Ein Reiter näherte sich in einem holprigen schwerfälligen Galopp, und dahinter kamen noch mehr, drei oder vier, und holten den ersten ein.
»Wir haben nach dem Pfarrer geschickt und nach dem Amtmann.« Josef Lütke Wierling hatte sich Jan genähert, oder vielmehr war er zu den anderen neben ihm getreten, ohne ihn direkt anzusehen oder anzusprechen, obwohl die Mitteilung offensichtlich ihm galt. Die anderen mussten doch Bescheid wissen. Josef kehrte Jan, eine Schulter vorgezogen, halb den Rücken zu. Bestürzt erkannte Jan, welch unausrottbarer Hass in Josef Lütke Wierling schwelte. Nicht nur Agnes hasste Jan noch immer. Konnten die alten Geschichten nicht endlich mal begraben sein? Armer Josef. Aber so waren die Menschen hier. Hatten sie erst einmal eine Meinung gefasst, blieben sie dabei bis in alle Ewigkeit.
Unauffällig musterte er Josef von der Seite.
Die vergangenen neun Jahre waren nicht gut mit ihm umgegangen. Er war schon immer schmächtig gewesen, nun wirkte sein gekrümmter Körper fast verwachsen. Alt war er geworden, alt und grau und halb erloschen wie Klara und Anton.
Die Neuankömmlinge legten das letzte Stück im Schritt zurück. Anton trat an das Pferd des ersten heran und hielt es am Zügel, während der Reiter bedächtig abstieg. Er schien kaum gealtert, seit Jan ihn zum letzten Mal gesehen hatte.
»Um der Barmherzigkeit Christi willen«, rief Pfarrer Niesing, »warum hängt er noch da? Schneidet ihn ab, sofort.« Dann schlug er die Hand vor den Mund. »Barmherzigkeit!«, wiederholte er stotternd und starrte von Entsetzen überwältigt den Toten an.
Aber bevor sich noch einer überwinden und mutig Hand an die Leiche legen konnte, schrie einer der anderen Reiter: »Untersteht euch!«
»Wer ist das?«, fragte Jan halblaut und merkte, dass er sich die Frage sparen konnte. Dem Mann, der sich mit einer sparsamen Bewegung aus dem Sattel schwang, war die Amtsgewalt deutlich ins Gesicht geschrieben. Das war kein Westfale, das war einer von denen, die der preußische König ins Land geschickt hatte, um in der rückständigen Provinz Westfalen für preußisches Recht und preußische Ordnung zu sorgen, auf die einzig richtige, nämlich die preußische Art. Nur konnten die Westfalen, und insbesondere die Münsterländer, selbst beinahe dreißig Jahre nach dem Tod des letzten Fürstbischofs Max Franz von Habsburg im Jahre 1801, nicht aufhören, seiner Herrschaft nachzutrauern, unter der alles gemächlich vor sich gegangen war und der allgemeine Stillstand etwas Normales und Gottgewolltes gewesen war.
Die Preußen, das war der erklärte Feind, der nun im Innern wütete. Dass der Fürstbischof der Provinz Westfalen dreieinhalb Millionen Reichstaler Schulden hinterlassen hatte, kümmerte nur die, die sich eine solch fantastische Summe vorstellen konnten. Ein Schwein kostete zwölf Gute Groschen. Zwanzig Gute Groschen machten einen Taler. Was machten dreieinhalb Millionen Reichstaler in Schweinen?
Was dagegen jeden hier empfindlich schmerzte, waren die erhöhten Steuern auf alles und jedes, mit denen die Schulden sukzessive abgetragen wurden. Und diese hartherzige preußische Genauigkeit, das Fehlen der Verbindlichkeit im Umgang miteinander oder anders ausgedrückt, der Umschweife, die die althergebrachte Höflichkeit erforderte.
Aber selbst die preußische Art, alles mit Strenge, Sachlichkeit und Effizienz anzugehen, hatte ihre Grenzen. Der Preuße stolperte zwei Schritte auf den Baum zu, blieb stehen, den Blick wie vorher der Pfarrer starr auf die Leiche gerichtet. Sein Mund klappte auf, er fuhr sich mit einer fahrigen Geste über das Gesicht und schüttelte abwehrend den Kopf.
Einer seiner Begleiter übergab sich geräuschvoll.
»Was zum Teufel…«, ächzte der Preuße.
Pfarrer Niesing hatte sich inzwischen halbwegs gefasst. Er maß den Amtmann mit einem vorwurfsvollen Blick, fiel auf die Knie und begann zu beten. Nacheinander knieten auch alle anderen nieder und stimmten in das Gebet um Gottes Erbarmen mit dem Toten ein.
Hier war ein Mensch gewaltsam zu Tode gebracht worden, gefällt und aufgehängt wie geschlachtetes Vieh. In einem Atemzug schürte Niesing das Grauen und betete dagegen an.
Der Amtmann war stehen geblieben. Niesing sprach weiter, begann das Gebet von vorn, alle fielen wieder ein, weil sie begriffen, dass es um etwas Großes ging, um ein höheres Gesetz als das des preußischen Königs.
Um Gottes Allmacht und Gerechtigkeit.
Der Amtmann stand immer noch, während seine Begleiter bereits mit verkniffenen Mienen auf der knochenharten, eisigen Erde knieten und widerborstig vor sich hinmurmelten.
Niesing gelang es, den Eindruck zu erwecken, als ginge er vollständig im Gebet auf, seine Stimme klang mit jeder Wiederholung sonorer und gottgefälliger.
Dann aber ließ sich endlich auch der Amtmann auf die Knie nieder, übertönte die anderen und stieß ein harsches Amen hervor, bevor Niesing die Litanei noch einmal beginnen konnte. Allerdings hatte der Pfarrer das gar nicht vorgehabt. Rascher als die anderen erhob er sich und wollte an die Leiche herantreten.
»Untersteht Euch!«, raunzte der Amtmann wieder. »Niemand rührt den Leichnam an! Wer hat ihn entdeckt? Und wann? Und was machen all diese Leute hier? Habt ihr nichts anderes zu tun, als zu gaffen?« Offensichtlich wollte er seinen Anflug von Schwäche angesichts des Toten wettmachen.
Augenblicklich strafften sich die Männer, die vorher verstört, verwirrt oder nur traurig und ratlos gewirkt hatten, in eindeutig feindseliger Abwehrhaltung. Keiner ging. Alle blieben, wie um zu zeigen, dass sie auf ihrem ureigenen Land standen und ein Preuße weder das Recht noch die Macht hatte, sie von dort zu vertreiben.
Jan hatte die Arme über der Brust verschränkt und wich unauffällig zurück, während er den Amtmann beobachtete, der nun Bernards Knecht Jupp verhörte, der den Toten entdeckt hatte. Die Schirmmütze in der Hand, wie es sich gegenüber einer Respektsperson geziemte, gab er Auskunft.
Je länger er lauschte, desto weniger hielt Jan von dem Preußen. Allzu planlos erschienen ihm die Fragen, unsinnig auch die Wiederholungen. Als er jedoch genauer hinhörte, erkannte er sie verblüfft als Fangfragen. So dumm war der Mann also doch nicht. Erst als der Knecht mit der Behauptung herausrückte, dass es sich bei dem Toten um den Freiherrn von Schonebeck handeln müsse, den Landrat, glitt ein Schatten von Unsicherheit über das Gesicht des Amtmanns.
»Ja, das, das ist doch …«, stammelte er. Um seine Irritation zu kaschieren, trat er an den toten Körper heran und begann ihn hier und da zu betasten, während er mit der anderen Hand einen seiner Begleiter herrisch zu sich heranwinkte und sich halblaut mit ihm unterhielt. Seiner Vermutung nach hing der Tote wenigstens seit der Nacht hier, er war vollkommen steif gefroren, was dank der eisigen Temperaturen keine Überraschung darstellte.
Inzwischen hatte sich auch Jan ein wenig gefasst. Erstaunlich, wie rasch die erste Erschütterung abklang. Dennoch glitt sein Blick immer wieder geradezu zwanghaft zu dem Toten, und jedes Mal versetzte ihm der Anblick einen bis in die Kniekehlen spürbaren Schlag.
Um sich abzulenken, betrachtete er die silbrigen Birken, die nicht weit vom Feldrand den Beginn des Moors markierten. Als Kind hatte er das Moor über alles geliebt. Kein ungefährlicher Ort, wie er nur zu gut wusste. Selbst in hellen, heißen Sommern nicht nur von Kröten, Molchen und Hütejungen bevölkert, sondern ebenso von geisternden Toten und Spukgestalten, die ihm die Seele rauben wollten. Aber das war jetzt, da er erwachsen war, wohl vorbei.
Jan riss den Kopf herum und erhaschte wieder einen Blick des Mädchens. Für einen Moment lieferte er sich ihm bereitwillig aus. Ein Strahlen ging von diesem Gesicht mit den weit auseinanderstehenden Augen aus. Um Himmels willen, wer war sie?
»Niemand außer diesem Knecht, der mir nicht ganz bei Verstand zu sein scheint, weiß, wer der Tote ist?«, fragte der Preuße mit harter, durchdringender Stimme.
Auch wenn ihn nicht alle anschauten, so spürte Jan, wie sich die Gedanken der Umstehenden unerbittlich auf ihn konzentrierten. Auf ihn allein. Daran bestand kein Zweifel. Als ob er aufgrund seiner besonderen Fähigkeiten in der Lage wäre, das Rätsel zu lösen, das ihnen allen so maßlose Furcht einflößte. Wer ist der Tote? Wer hat ihn erschlagen?
Sobald er erkannte, dass ihn die Nachbarn in eben jene Rolle hineinzwingen wollten, die ihn vor neun Jahren vertrieben hatte, überfielen ihn Wut und Panik zugleich.
»Was ist mit Ihm?«, wandte sich der Amtmann wie in einem hellseherischen Geistesblitz ausgerechnet jetzt an ihn. »Was sagt Er? Ist der Tote Sein Bruder?« Irgendeiner der Umstehenden musste dem Preußen erklärt haben, wer er war.
Mit ein paar tiefen Atemzügen rang Jan um Fassung, bevor er sich zu einer Antwort aufraffte.
»Das kann ich Euch beim besten Willen nicht sagen. Ich habe meinen Bruder seit neun Jahren nicht gesehen. Und so, wie der Tote hier hängt …« Er beendete den Satz nicht. Bernard war immer von kräftiger Statur gewesen, aber dieser schwammige Körper, an dem das schlaffe Fleisch in Wülsten herabhing, hatte nichts mit seinen Erinnerungen an ihn zu tun. Wenn das hier Bernard war, was war in den vergangenen neun Jahren mit ihm geschehen?
»Dann kommen wir doch einmal zu dem, was fehlt. Wo ist der Kopf und wo sind die Hände?«, setzte der Amtmann anklagend nach. »Von der Kleidung ganz zu schweigen.«
Die Arme hingen bis auf den Boden herab und endeten in Stümpfen. Alle hatten es gesehen, aber anscheinend niemand ganz wahrgenommen. Alle hatten nur nach dem Hals geschielt und dem klaffenden Schnitt, aus dem steif gefrorene Eingeweide hingen und graugelbes, teigig und ranzig wirkendes Fett in dicken Blasen hervorquoll.
Kopf und Hände. Warum Kopf und Hände? Jetzt kamen die entscheidenden Fragen. Mussten ja kommen.
Niemand antwortete. Mittlerweile zitterten alle vor Kälte. Klara hatte ihr Schultertuch um Agnes geschlungen und presste die leise wimmernde Frau an sich. Von ihr hatte der Amtmann genauso wenig Notiz genommen wie von einer der anderen Frauen. Aus schmalen, eisigen Augen schaute er über sie hinweg, als existierten sie nicht. Mitleid, Erbarmen oder Güte gehörten wohl nicht zu den preußischen Haupttugenden.
»Ihr alle kommt morgen in meine Amtsstube, da werden wir die Befragung fortsetzen. Und jetzt fort mit euch. Wo bleibt der Karren?«
Als Antwort war ein Rumpeln zu hören. Ein Leiterwagen bog vom Weg ab und holperte über die Saatreihen heran. Unter der Aufsicht des Amtmanns wurde der Tote vom Baum abgeschnitten und der brettsteife Körper zum Wagen getragen. Einer der Männer hatte nicht fest genug zugepackt, und so entglitt der Tote seinen Händen und plumpste würdelos in den Karren.
Das Krachen des Aufpralls holte Agnes aus der Erstarrung, in die sie gefallen war. Sie riss sich von Klara los und stürzte zum Karren.
»Das dürft ihr nicht! Wohin wollt ihr mit ihm? Das ist mein Mann, er gehört mir. Bringt ihn auf den Hof. Und will denn niemand wissen, wer ihn getötet hat? Ich weiß es.« Suchend sah sie sich um und deutete unmissverständlich auf Jan.
»Der war es! Er hat ihn immer gehasst. Ja, fragt, wen ihr wollt, Herr Amtmann, alle wissen’s. Neidisch ist er, ein Neidhammel, wie er im Buche steht. Wer soll’s denn sonst gewesen sein? Er hat meinen Mann, seinen eigenen Bruder, auf dem Gewissen.«
Verblüfft klappte der Amtmann den Mund auf, sagte aber nichts.
Jan hatte die ganze Zeit gespürt, dass Agnes nur auf diese Gelegenheit gelauert hatte. Dafür hatte sie ihre letzte Kraft aufgespart. Unversöhnlich starrte sie ihn an, klagte ihn an, und ihre monströse Anklage brachte sie nicht einmal sonderlich überspannt vor, sondern einigermaßen würdevoll forderte sie Gerechtigkeit. Wohl oder übel musste man sie ernst nehmen.
»Er will den Hof, er hat immer nur den Hof gewollt.«
Die Miene des Amtmanns blieb undurchdringlich. Knapp nickte er Jan zu. »Dann auf morgen. Ihn erwarte ich als Ersten zur Befragung. Punkt neun Uhr in meiner Amtsstube.« Brüsk wandte er sich ab, stakste vom Acker, ließ sich von einem seiner Untergebenen die Zügel seines Pferdes reichen und saß auf. Ohne sich umzublicken, führte er den kleinen Trupp an, der ihm mit dem Karren folgte.
»Mach dir nichts aus Agnes’ Gerede. Ist ja kein Wunder, dass sie wirr im Kopp ist. Sind wir alle. Aber das legt sich.« Antons flacher, ausdrucksloser Stimme fehlte die Überzeugungskraft. Jan konnte die Erschöpfung, die Schwäche des alten Mannes heraushören. Das hier war auch für einen Stärkeren zu viel.
»Der Amtmann glaubt, dass der Tote der Herr von Schönebeck ist«, sagte Jan langsam.
»Glaubst du das auch?«, fragte Anton rasch.
»Das ist der Schonebeck. Ich könnt dir zwei oder drei nennen, die sich seinen Tod gewünscht haben«, mischte sich Bernards alter Knecht ein.
Unbehaglich zog Anton die Schultern hoch.
»Ja, du auch«, fügte der Knecht hinzu und schlurfte davon.
Die Menge zerstreute sich. Jan fühlte ein letztes Mal den Blick des Mädchens auf sich ruhen, das sich Klara und Anne Holtkamp anschloss, die Agnes in die Mitte genommen hatten. Ein unverhoffter Hauch von Wärme überlief ihn.
»Hör nicht auf ihn. Er war und ist ein Faselhannes, der seine Nase zu tief in den Bierkrug steckt, verstehst du? Und überhaupt: Du wirst sehen, es steht nicht gut auf euerm Hof. Komm man zu uns, wenn du Fragen hast oder was brauchst.« Anton wandte sich nun auch zum Gehen. Jan blieb stehen.
»Was ist?«, fragte Anton verwundert. »Kommst du nicht mit?«
»Geh du nur voraus.«
»Ich dachte, ich begleite dich wenigstens bis zu euerm Hof.«
Jan schüttelte den Kopf.
»Aber du bleibst doch und kehrst nicht sofort nach Gimbte zurück?«
In der Heide bei Gimbte, etwa acht Meilen nordöstlich von Münster, befand sich die Schäferei, in der Jan seit neun Jahren hauste und in die er sich nun heftig zurücksehnte.
»Ich bleibe noch«, hörte er sich erklären.
»Du kannst auch bei uns Unterkommen«, bot Anton zögernd an.
»Danke, ich will die Gelegenheit nutzen, um zu Hause nach dem Rechten zu sehen. Jetzt, wo Bernard anscheinend nicht da ist. Ich muss es ja tun, da hat Paul schon recht.« Es war ungefähr das Letzte, was sich Jan im Augenblick wünschte. Trotz der überwältigenden Sehnsucht, an den Ort seiner Kindheit heimzukehren, die ihn vorhin noch geplagt hatte.
Anton hatte ihm erzählt, was geschehen war, nachdem er ihn auf der Straße nach Münster getroffen hatte.
Bernard war zwei Tage zuvor von einem Ritt nach Senden nicht zurückgekehrt. Nur das Pferd hatte spätabends im Hof gestanden, als hätte es allein heimgefunden. Am nächsten Morgen war die Suche nach Bernard aufgenommen worden und hatte erst nach einem weiteren Tag zu dem grausigen Fund auf dem abgelegenen Feld geführt.
»Sicherlich. Und wirst du mit Agnes …« Anton wusste nicht weiter.
»Mach dir mal um Agnes und mich keine Sorgen. Ich werde mit ihr fertig.« Langsam wurde Jan ungeduldig. Anton schien nicht zu begreifen, dass er allein sein musste. Oder wollte er ihn nur von diesem verfluchten Ort fortlocken, der als ein Ort des Schreckens und der Schuld sich auf ewig ins Gedächtnis der Nachbarschaft einbrennen würde?
Als Anton sich endlich entfernte, schaute er sich wenigstens noch dreimal um. Und selbst, als er verschwunden war, spürte Jan noch seinen Blick im Nacken oder vielleicht auch nur den Nachhall all der zudringlichen, bohrenden Gedanken, die versucht hatten, ihn in die Enge zu treiben.
Aber jetzt war er mit den kreischenden Krähen und all seinen Erinnerungen allein.
Er blieb stehen, wo er war, zwei Schritte von dem unseligen Baum entfernt, und verwuchs praktisch mit der Stelle unter seinen Füßen, wie er es vom Schafehüten gewohnt war.
Nichts durfte ihn ablenken.
Warum hatte Bernard den Baum nicht längst gefällt? In Gedanken fällte er nun den Baum, und das erfüllte ihn mit grimmiger Genugtuung. Es war ein knorriger Baum mit spiralig gedrehtem Stamm, dessen Krone sich so weit über den Feldrand neigte, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil über den Anfangsgründen des Moorgebiets hing. Es war eine Nachlässigkeit, einen solchen Baum so lange stehen zu lassen, wusste doch jeder, dass die nach links gedrehten Bäume Unglück anzogen. In Jans Hand zuckte es. Er hätte gern die Hand an den Stamm gelegt, aber er traute sich nicht.
Er dachte an Bernard, der fast schon ein Mann gewesen war, als er geboren wurde. Bernard, der Hoferbe, der sich mit geradezu lässiger Großmut um den nachgeborenen kleinen Bruder kümmerte, dieses seltsame Kerlchen, das von niemandem verstanden wurde. Der die Leute so sehr erschreckte, dass er schließlich nicht mehr hatte bleiben können.
Die Schäferei in der Gimbter Heide wurde seine Zuflucht, dort konnte er sein, der er war, denn in der Heide waren Leute wie er nichts Besonderes.
Ein Hellseher, ein Spökenkieker.
Jemand mit Aussatz war einigen hier in der Venne immer noch lieber als einer mit der Gabe, durch den Dunst der Zeiten Dinge auszumachen, die sonst jedem verborgen waren.
Oft genug hatte er in den vergangenen Jahren voller Sehnsucht und schmerzlichem Verlangen an den Hof und Bernard gedacht – sie beide waren ja die einzigen, die von einer großen Familie übriggeblieben waren –, aber nie hätte er es gewagt, ohne ausdrückliche Einladung zurückzukehren. Nichts als dummer, verdammenswerter Stolz! Warum war er nicht früher darauf gekommen?
Die Krähen wurden mutig. Die ersten ließen sich nicht weit von ihm auf das zertrampelte Feld nieder. Aufgeregt hüpften sie herum und hackten in die hier und da aufgebrochene Ackerkrume, auf der Eiskristalle glitzerten.
Ganz in Gedanken, hatte Jan nun doch die Hand an den Stamm des Hexenbaums gelegt. Sofort meldete sich erneut der Druck auf seine Schläfen, Beklemmung befiel ihn, und es war ihm, als würde seine Brust von einem eisernen Reifen zusammengepresst. Schmerz, heftiger Schmerz! Sein Bewusstsein wurde aufgesogen von etwas Fremdem, ein irrwitziger Taumel setzte ein. Gleich würde er sich selbst verlieren, aufgehen in einem …
Von einem Moment auf den anderen verschwand die Welt vor seinen Augen fast vollständig hinter blutroten Dunstschleiern. Durch das Gewaber wischte eine Bewegung, ein schwerer Schlag.
Mit einer ungeheuren Anstrengung riss er die Hand zurück, aber das Rot hielt sich. Das Rot hielt sich! Er atmete ganz flach, kniff die Augen zusammen. Durch den blutigen Dunst bemerkte er zwei Krähen, die sich um etwas zankten, das in einer Ackerfurche stecken musste.
Der Schwindel kam zurück. Jan presste die Fingernägel in die Handflächen, um das Bewusstsein wach zu halten, und taumelte durch den dicken blutroten Nebel, den Blick starr auf die beiden Rabenvögel gerichtet. Sie erhoben sich mit ungelenkem Flügelschlag, flatterten dicht über dem Boden und zankten sich weiter. Eine Wolke von Krähen flog schreiend auf. Wieder kreischten sie: »Aas, Aas!« Ein ganzer Hexenkessel von Krähen tobte irrlichternd um Jan herum, ihr Schreien stach ihm in die Ohren und hallte wie im Innern einer Riesentrommel. Sein Herz jagte und schmerzte zum Zerspringen, während er vorwärts stolperte und schließlich in die Knie ging.
Als er wütend in die Hände klatschte, fiel etwas aus dem roten Himmel klirrend zurück auf den frostharten Boden. Das Geräusch dröhnte in seinen gepeinigten Ohren. Drehschwindel. Jan schwankte haltlos auf den Knien hin und her. Immer noch die Sicht verschwommen. Durch sein Blickfeld ging wieder das unheimliche Wischen, der schwere Schlag. Ein beängstigendes Echo von Wut, von Zerstörungswillen.
Wie blind tastete Jan mit klammen Fingern auf der Erde herum. Kälte, Eis. Taubheit in den Fingerspitzen.
Endlich. Ein rundes Ding.
Eiskalt brannte es in seiner Handfläche, als er die Finger darum schloss. Erst mal zur Ruhe kommen. Nicht denken, nicht sehen.
Das Ding. Er wusste, was es war. Ein Beweis. Wohin damit? Mit weichen Knien stand er auf. Als er vom Acker taumelte, barg er das Ding in einer der Taschen, tief unter all dem anderen Zeug, das er dort verwahrte, drückte es in eine Ecke, damit es ja nicht verlorenging.
Nach drei Schritten blieb er mit pfeifendem Atem stehen. Seine Beine zitterten.
Auf einmal merkte er, dass er nicht allein war.
Jemand beobachtete ihn. War einer der Nachbarn zurückgekommen? Er musste wissen, wer. Langsam drehte er den Kopf. Blickte um sich.
Das Feld lag verlassen da, aber hinten am Weg stand einer zwischen den kahlen Hasel- und Holunderbüschen. Jan kniff die Augen zusammen. Plötzlich sah er wieder klar, der rote Dunst hatte sich verzogen. Eine Uniform, eine graue Uniform mit etwas Blau und Rot, und dann begriff er, dass der Amtmann jemanden zurückgelassen hatte, einen von seinen Leuten mit weiß Gott was für einem Auftrag. Vielleicht, die Stätte des Verbrechens im Auge zu behalten.
Jan kam sich wie ein Tölpel vor.
Langsam klopfte er sich die Knie ab, ließ noch mal den Blick schweifen und ließ ihn schließlich auf dem Pferd ruhen, das er am Ackerrand zurückgelassen hatte. Das Mietpferd, mit dem er an diesem Tag unterwegs war. Alle Nachbarn waren zu Fuß da gewesen bis auf Anton, der mit einem betagten Kabriolett über die Landstraße nach Münster gezuckelt war, um Jan abzuholen. Der Einspänner und Antons Pferd waren längst verschwunden.
Als er die ersten Schritte auf dem Weg hinter sich hatte, machte sich der Gendarm davon.
Klara trug zusammen mit der Magd und mit Marie das Abendessen auf. Ihre gewohnte Ruhe hatte sie längst noch nicht wiedererlangt. Das innerliche Zittern, das auch von der Kälte draußen kommen mochte, hielt sich.
Es würde erst Suppe und dann Schwarzbrot mit etwas Panhas geben, Wurst aus Mehl und Blut, denn sie hatten am Tag zuvor geschlachtet. Die Kälte war ideal zum Schlachten gewesen, nur dass an diesem Schlachttag statt der sonst üblichen Ausgelassenheit gedämpfte Stimmung geherrscht hatte. Zu schlecht war die letzte Ernte ausgefallen, zu große Sorgen drückten, da wirkte selbst mäßige Fröhlichkeit wie ein Frevel. Als ob man dem Schicksal nicht den nötigen Respekt zollte. Im Nachhinein schien die gedrückte Stimmung wie eine Vorahnung von größerem Unheil, und in Klaras Erinnerung mischte sich das Bild des aufgebrochenen Schweins mit dem der Leiche am Baum.
Sie würde nichts essen können an diesem Abend.
»Marie!«, schalt sie ihre Tochter, als sie bemerkte, dass das Mädchen mitten im Raum mit der dampfenden Suppenschüssel in der Hand stehen geblieben war, statt sie auf den Tisch zu stellen.
»Es ist schon so lange her. Ich hab mich gar nicht mehr an ihn erinnern können«, sagte Marie versonnen.
»An wen?«, fragte Klara, obwohl sie die Antwort ahnte.
»Habt ihr ihn wirklich den Moorkönig geheißen?«, fragte Marie mit einem wohligen Schaudern.
»Ach was!«, mischte sich Anton ein. »Ich glaube, das war Bernard gewesen, und dann haben es ihm eine Zeitlang alle nachgeplappert. Das war, bevor … da war Jan noch ein kleiner Junge.«
»Und jetzt ist er ein Mann. Er ist ein sehr … sehr …« – Marie nahm ihren Mut zusammen – »… ansehnlicher Mann«, fuhr sie entschlossen fort.
Verblüfft zuckte Klara zusammen. Jan Droste Tomberge ein schöner Mann? Ungläubig dachte sie darüber nach, sie hatte ja immer noch den kleinen Jan vor Augen, das unglückliche, verloren wirkende Kind oder den störrischen, halb verrückten Jüngling, der nie gelernt hatte, anderen offen in die Augen zu sehen. Den Sonderling mit der Sehergabe, der sich vor den Menschen versteckte, dort, wohin ihm niemand folgen mochte. Im Moor. Wie alt war er, als er die Venne verließ? Neunzehn, nein, achtzehn Jahre, rechnete sie nach. Da war Marie knapp neun gewesen.
Ja, es war erstaunlich, wie er sich zum Guten verändert hatte. Nicht die Spur mehr geduckt und verdreht. Ein stattlicher Mann, größer als die meisten, kräftiger und ansehnlicher – ja, das auch. Das dichte Haar, das unter dem breitkrempigen Hut hervorquoll, hatte nichts von seinem makellosen Blond verloren, die Züge waren immer noch feiner als die anderer Männer, die sie kannte. Das war kein breites Münsterländer Bauerngesicht mit rot gebrannter Haut. Aber die Augen waren auch noch dieselben. Wasserhelle Augen mit einem Blick, dem niemand lange standhalten konnte. Der Blick eines Sehers ließ einen frösteln und ging einem durch und durch, wenn man nicht aufpasste.
Und leider konnte man nie wissen, wann in einem Menschen mit dieser Gabe der Seher zum Vorschein kam, nicht einmal er selbst, wie ihr Jan verraten hatte.
Hatte Marie denn diese Augen nicht bemerkt? Jeder vernünftige Mensch konnte Jan nur darum bemitleiden.
»Lass dich von seinem Äußeren mal nicht blenden. Alle Schäfer sind arme Schlucker«, sagte Anton trocken. »Jan bestimmt auch.«
»Na, na«, wandte Klara ein. »Wie ein Hungerleider sieht er mir nicht aus. Und ordentlich gekleidet geht er auch. Seine Stiefel sind fast neu. Richtige Stiefel und nicht etwa Klompen mit angenageltem Lederschaft wie deine. Hast du das nicht bemerkt?« Sie hielt kurz inne. »Eins versteh ich nicht«, fuhr sie fort. »Du hast ihn auf der Straße nach Münster getroffen? Einfach so? War er schon auf dem Weg hierher? Hat er das gesagt? Ausgerechnet heute? Nach so vielen Jahren?«, fragte sie ungläubig.
Das war tatsächlich das Merkwürdige gewesen. Anton hatte Klara erzählt, dass er noch vor Münster auf Jan gestoßen war, noch vor dem letzten Schlagbaum an der Chaussee. Jan war gerade dabei gewesen, einem Bauern aus Amelsbüren zu helfen, dem ein Rad von der Deichsel gesprungen war. Ein seltsames Zusammentreffen. Fast hätte Anton seinen Einspänner vorbeigelenkt, da er es ja eilig gehabt hatte, aber dann hatte er doch angehalten, um ebenfalls zu helfen. Von Klaras Fragen angestachelt, rief er sich die Begegnung noch mal in Erinnerung.
Jan hatte eher gewusst, wen er vor sich hatte, da war er sich beinahe sicher. Aber erst, nachdem sie gemeinsam das Rad befestigt hatten, hatte er sich zu erkennen gegeben. Reichlich spät und zögernd, wenn es Anton recht bedachte.
»Scheint so«, antwortete er unbehaglich. Die Eheleute sahen sich an, beiden ging der gleiche Gedanke durch den Kopf. Natürlich, einer wie Jan wusste und sah mehr als andere. Dem musste niemand Bescheid sagen. Auch das hatte Anton seiner Frau erzählt: Jan war seltsam gefasst geblieben, als er erfuhr, warum er nach Hause kommen sollte. Unterwegs hatte er kaum Fragen gestellt, sondern auf seinem Gaul vor sich hingebrütet, während Anton neben ihm herfuhr. Anton schauderte es ein bisschen. Er mochte Jan, hatte ihn immer gemocht, aber mit seiner Sehergabe war er noch nie klargekommen. Fremd, geisterhaft und schicksalsträchtig, wie sie war. Nee, nee, dachte er traurig, die wünscht man keinem, die macht einsam oder bekloppt oder beides.
Anton saß auf seinem Stuhl am Herdfeuer und rauchte eine Feierabendpfeife. Das einzige Vergnügen, das er sich überhaupt gönnte. Noch. Nun stand er auf, löschte mit einem Stopfer die Glut, legte die Pfeife behutsam in das offene Fach in der gekachelten Herdwand und schlurfte in seinen Holzpantinen zum Tisch. Auch die anderen fanden sich ein. Der Knecht, die zwei erwachsenen Söhne und die kleine Magd, die bei ihnen war, seit sie die älteste Tochter verheiratet hatten. Den Knecht würden sie wohl Lichtmess entlassen müssen, weil sie ihn sich nicht mehr leisten konnten.
Schweigend nahmen sie Platz, murmelten ihr Tischgebet und griffen nach den Löffeln. Anton tauchte als Erster den Löffel in die Suppe aus grauen Erbsen. Eine einzige, mürbe gekochte Speckscheibe schwamm in dem dicken Brei, und nacheinander zwackte jeder mit dem Löffel ein Stückchen davon ab – nicht mehr, als ihm zustand.
Nach der Mahlzeit hatte Anton gerade wieder seine Pfeife in Brand gesetzt, da hob sich der Riegel an der Tür, die zur Tenne führte. Jemand schob die Tür ein Stück auf.
»Kiek man in«, rief Anton und war nur mäßig erstaunt, als Jan eintrat.
Auf der Tenne hatte Jan den süß-säuerlichen Geruch bemerkt, der noch nicht ganz verflogen war und ihm verriet, dass kürzlich geschlachtet worden war. Auch in der Küche roch es nach Geschlachtetem, nach fettiger Wurst, nach Pökelfleisch und nach den Wacholderbeeren, mit denen der Schinken im Wiemen über dem Herdfeuer gewürzt war. Und es roch nach dem Abendessen, das gerade vorbei war. Es erinnerte ihn an seinen leeren Magen.
»Ich hoffe, es macht nichts, dass ich mein Pferd auf eure Tenne gebracht hab«, sagte Jan zur Begrüßung und blieb abwartend stehen. War er denn wirklich willkommen?
»Woher denn auch«, antwortete Anton prompt. »Hast du es an die Futterraufe gestellt?«
»Ohne zu fragen?«, entgegnete Jan mit einem schiefen Lächeln. »Es hat seinen eigenen Hafersack. Ich hab ihm nur Wasser gegeben.«
Anton schien erleichtert. Er winkte Jan ans Feuer, und als dieser sich bescheiden einen Stuhl ganz links nehmen wollte, auf der Seite für Kinder, Mägde, Knechte und anderes niederes Volk, schüttelte Anton nachdrücklich den Kopf und wies auf den Ehrenplatz neben sich.
Aufseufzend nahm Jan Platz.
Dieselben durchgesessenen Binsenstühle wie Vorjahren rahmten die Feuerstelle ein, den Boden bedeckten noch immer die blank gescheuerten Sandsteinplatten, die Jan mit allen eingetretenen Dellen vertraut waren, und der riesige Bosen über ihm war beinahe schwarz vom Rauch. Unter der Esse roch es nach Schinken, frischen Mettwürsten und Kindheit. Zu den Potthoffs war er immer gern gekommen, denn hier hatte selbst er sich angenommen gefühlt. Von Anton in seiner geraden, bedächtigen Art und von Klara, die weniger zu Mütterlichkeit als zu handfester, praktischer Freundlichkeit neigte.
Und dann bemerkte er sie.
Das Mädchen war da. Also hierher gehörte es. Mit einem Stolpern beschleunigte sich sein Herzschlag. Dabei kannte er das junge Ding gar nicht. Sie war wirklich noch sehr jung. Siebzehn? Oder schon achtzehn? Und nun sprach sie zu ihm.
»Kennst du mich noch? Ich bin die Marie.«
Sie lächelte ihn freimütig an.
Das war also die kleine Marie, die er als spilleriges Ding in Erinnerung hatte. Klaras Jüngste. Die hatte sich aber herausgemacht! Ohne das Umschlagtuch und mit ein, zwei Schichten Kleidung weniger als draußen auf dem Feld sah man deutlich, wie gut sie gewachsen war – vor allem oben herum, wo sich das blaue Leinenmieder um recht ansprechende Rundungen spannte.
Jan konnte sie nur dümmlich anstaunen. Sie hielt eine Stuhllehne umklammert und betrachtete ihn mit viel mehr Neugier, als die Höflichkeit erlaubte.
»Marie«, mahnte Klara, »bring Jan ein Bier. Du magst doch einen Schluck?«, wandte sie sich an ihn.
Er nickte benommen, noch immer von Marie betört. Und eh er sich versah, kam sie mit dem Bierkrug. Aus nächster Nähe verlor sich ein bisschen, was er draußen auf dem Feld zu sehen gemeint hatte: das Helle, Strahlende, Eigenwillige. Gesichter wie ihres, ein wenig zu rund, zu flach, mit zu kurzer, breiter Nase gab es überall in Westfalen. Er seufzte auf, als sie ihm den Bierhumpen hinhielt und es schaffte, kurz seine Hand zu berühren. Es kitzelte. War das Absicht gewesen? Ein geheimes Zeichen? Mit jungen Frauen kannte er sich herzlich wenig aus. Verunsichert nahm er einen tiefen Schluck und wischte sich danach den bitteren braunen Schaum vom Kinn. Erst als sie sich ohne sonderliche Eile auf die Kinderseite zwischen ihre älteren Brüder Hinnerk und Johann gesetzt hatte, war er imstande zu reden.
»Ich bin wegen dieses Amtmanns hier, wie heißt der überhaupt?«, fragte er mit belegter Stimme. »Ich wüsste es gern, bevor ich morgen aufs Amt gehe. Und wohin muss ich reiten? Nach Senden oder gleich nach Groß-Schonebeck?« Groß-Schonebeck war der Amtssitz des Drosten gewesen, der im Auftrag des Domkapitels über verschiedene, weitverstreute Liegenschaften der Domherren gebot. Seit der Herrschaft der Preußen residierte hier der Landrat. Aber ob Droste oder Landrat: der Herr war derselbe geblieben, und die Befugnisse waren annähernd die gleichen. Auch die Gerichtsbarkeit für den Kreis, zu dem neben Senden und anderen Orten die kleine Bauernschaft in der Venne gehörte, lag beim Landrat.
Anton sah ihn verwundert an. »Klobbicke«, sagte er kurz angebunden. »Den kennen wir alle. Ein Preuße. Seine Amtsstube ist in Senden, du brauchst nicht bis Groß-Schonebeck. Aber ich sag dir gleich, du bist der Einzige, der hingeht. Wenn der Herr Klobbicke was von uns will, soll er herkommen.«
»Scheint nicht gerade beliebt zu sein, der Amtmann Klobbicke«, nuschelte Jan in den Bierkrug. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Marie ein Spinnrad herangezogen hatte, von dem sie Garn auf ein Weberschiffchen abhaspelte. Klara hatte sich früher ein Zubrot mit Leinen verdient, das sie aus selbstgesponnenem Garn webte, und ihre Töchter hatten ihr natürlich geholfen. Daran hatte sich anscheinend nichts geändert.
»Um den Klobbicke geht es gar nicht«, sagte Klara ruhig. »Wir haben gedacht, mit der neuen Ordnung im Land wendet sich alles zum Besseren. Stattdessen müssen wir jetzt mehr Pacht zahlen. Die Höfe sind alle fürs Kataster neu vermessen, und es heißt, wir haben mehr Morgen unterm Pflug, als in den Büchern steht. Drei mehr. Und wir können nichts dagegen machen. Nur an den Schonebeck zahlen.«
Der Freiherr Erasmus von Schonebeck war nicht nur früher Droste gewesen und jetzt Landrat, sondern vor allem einer der großen Grundbesitzer. Zu seinem Privatbesitz gehörte das Gut Klein-Schonebeck, und zu Klein-Schonebeck gehörten noch viele andere Höfe außer dem der Potthoffs.
Mit einer resignierenden Geste wandte sich Klara einem anderen Thema zu. »Jetzt erzähl mal lieber was von dir. Was macht die Schäferei? Wie geht’s denn dem Hannes Bredenbeck? Haben seit Ewigkeiten nichts von dem gehört.«
Bevor Jan antworten konnte, wandte sich Hinnerk, Antons Ältester, an ihn. »Was meinst du? Hat man ihm den Kopf mit einer Axt oder mit einem Beil abgehackt? Dem Schonebeck.«
Marie schrie auf und ließ das Schiffchen in den Schoß fallen.
Jan war zusammengezuckt und hätte Hinnerk am liebsten eine gelangt. Dabei bewies seine Frage doch nur, dass der gesichtslose Tote anwesend war, hier mitten unter ihnen. Niemand konnte sich von ihm freimachen.
Jan beugte sich vor, ergriff den Schürhaken und stocherte ein wenig in der Glut herum. Als er sich hinreichend gefasst und Anton seinen Sohn wegen der Frage zurechtgewiesen hatte, lehnte er sich zurück und merkte, wie ihn Marie wieder anstarrte.
»Marie? Was ist?«, fragte er zögernd.
»Dir fehlt ein Knopf an der Joppe. Hast du ihn noch?«, wisperte sie. »Dann hole ich rasch Nadel und Faden.« Sie schob das Spinnrad von sich. Vielleicht wollte sie nur einfach hinaus und sich ein wenig bewegen, um des Schreckens Herr zu werden.
Jan war es bei seiner Ankunft so kalt gewesen, dass er den Mantel nicht abgelegt, sondern nur aufgeknöpft hatte, und auch jetzt fror er noch. Er schielte auf die Joppe hinunter, die er unter dem Mantel trug. Tatsächlich fehlte ein Knopf. Mit einer Hand raffte er den Mantel, der über der Brust aufgeklafft war, zusammen. »Ich hab den Knopf nicht mehr«, bekannte er.
»Aber ein Silberknopf! Wie kann man den verlieren?«, entrüstete sich Marie.
Silberknöpfe waren Spargeld. In den Familien wurden sie satzweise vererbt, auch Jans Knöpfe waren keineswegs neu, sondern so alt und abgegriffen, dass vom Muster auf der Oberseite kaum mehr als ein paar unregelmäßige Erhebungen übrig waren. Der Sage nach hatte einmal ein Adler mit ausgebreiteten Schwingen die Knöpfe geziert. Maries Entrüstung hätte ihn normalerweise amüsiert. Aber es wäre ihm lieber gewesen, sie hätte den fehlenden Knopf nicht bemerkt.
»Marie, jetzt sei aber still!«, tadelte Klara. »Du bringst Jan in Verlegenheit. Geh die Hühner füttern, und wenn du fertig bist, hilf der Magd die Kühe melken.« Sie fügte noch ein paar weitere Anweisungen hinzu, bis sich das Mädchen folgsam erhob und hinausging. »Sie ist nicht wie ihre ältere Schwester. Die war nie vorlaut«, fuhr Klara fort und lächelte entschuldigend, als die Tür zur Tenne hinter Marie zuklappte.
Jan ließ sich nicht täuschen. Klara war stolz auf jedes ihrer Kinder, sie und Anton ließen auf ihre Brut nichts kommen. Überhaupt die Potthoffs. Antons Blick leuchtete unmerklich auf, sobald er auf seine Frau fiel, und Klara berührte ihren Mann gern und oft, selbst jetzt noch nach so vielen Ehejahren. Jan beneidete die beiden um die Wärme, die das ganze Leben dieser Familie durchdrang. Selbst in seinen schönsten Erinnerungen aus der Kindheit hatte es in seinem Elternhaus kaum mehr als einen Hauch davon gegeben. Und es bestand keine Hoffnung, dass es in seiner Familie jemals anders wurde.
In sein Seufzen mischte sich ein verräterisches Magenknurren.
»Hast du Hunger?«, fragte Klara erschrocken. »Mein Chott! Ich hab dir nichts angeboten. Was sind das bloß für Sitten in diesem Haus. Willst du Panhas? Es ist noch was da. Hat dir Agnes denn nichts gegeben?«
»Ich war noch gar nicht zu Hause. Ich hab mich nicht getraut«, bekannte Jan ehrlich.
»Ach herrje!« Klara sprang auf. »Aber Agnes erwartet dich doch. Anne Holtkamp und ich haben ihr gut zugeredet, nachdem wir sie heimbegleitet haben. Sie ist nun ruhiger, du brauchst dich nicht zu fürchten. Oder bleibst du doch bei uns?«, fragte sie zweifelnd. Agnes hatte getobt und lästerliches Zeug von sich gegeben und vor allem mit ungesunder Beharrlichkeit ihre Anklage gegen Jan wiederholt. Es war eine hässliche Szene gewesen, von der es Klara jetzt noch schauderte. Nein, wirklich gefasst war Agnes nicht gewesen, als sie sie endlich allein gelassen hatten. Jan würde eine böse Überraschung erleben, aber daran war nichts zu ändern.
Dankbar aß Jan seinen Teller mit Schwarzbrot und Panhas leer, und mit dem halbwegs vollen Magen kehrte ein wenig Frieden ein, ein zittriger Frieden, der nur kurze Zeit Vorhalten würde. Wenigstens dem Anschein nach stellte er sich nun bereitwillig Klaras vielen Fragen zur Schäferei in der Gimbter Heide. Wie früher wollte sie alles genau wissen, und dabei blühte sie so weit auf, dass sich der verheerende Eindruck von Alter, Erschöpfung und Bedrücktheit milderte.
Nach seiner Vertreibung vom elterlichen Hof, erzählte Jan seinen aufmerksamen Zuhörern, hatte ihn Großonkel Hannes Bredenbeck in der Schäferei willkommen geheißen. Hannes war der Bruder seiner Großmutter. Mit den Jahren hatte Jan immer mehr Arbeiten und Verantwortung übernommen, während die Kräfte des Alten langsam schwanden. Im Großen und Ganzen waren es gute Jahre gewesen.
»Du und der Hannes!«, warf Klara nachdenklich ein. »Hab manchmal an euch gedacht. Der war doch so ein Schweigsamer oder nicht?«
»Ja schon«, antwortete Jan vorsichtig.
»Hattest nicht so viel Gesellschaft an ihm, nicht wahr?«
»Welcher echte Schäfer will das schon«, entgegnete Jan mit einem Anflug von Humor. »Wir machen uns halt fidele Gedanken, wenn uns danach ist. Hindert uns ja niemand daran.« Wohin führte dieses Gespräch bloß? Jan überlegte, wie er Klara davon überzeugen konnte, dass er gern Schäfer war. Leider fiel ihm wieder ein, was ihm heute durch den Kopf geschossen war, draußen, auf dem Acker: neun Jahre Einsamkeit. Ach was!
Klaras Blick war nicht skeptisch, sondern wissend, als Jan eilig fortfuhr: »Vor zwei Jahren ist Hannes gestorben und hat mir die Schäferei hinterlassen.«
»Dass Hannes Bredenbeck tot ist, davon haben wir nichts erfahren«, mischte sich Anton vorwurfsvoll ein. »Nicht ein Wort. Wusste Bernard das?«
»Nein. Wozu auch?«, erklärte Jan knapp, immer noch ein wenig aufgewühlt von Klaras Versuch, in seiner Seele herum zu bohren. Grootohm Hannes war in aller Stille gestorben. Und vorher hatte er das Rechtliche geregelt, und so hatte Jan aus mehr als einem Grund keinen Anlass gesehen, Verwandte, die ihn nicht sehen oder sprechen wollten, von dem Trauerfall zu unterrichten.
»Das gehört sich nicht«, wandte Anton gedämpft ein.
»Er hat dir die Schäferei vermacht?«, fragte Klara, und als Jan vorsichtig nickte, bemerkte sie: »Ich hab gehört, dass viele Schafe in diesem Jahr an einer Seuche krepiert sind.«
»Es war die Feuchtigkeit, die den ganzen Sommer herrschte und die die Schafe nicht vertragen haben. Ja, ich hab einige Verluste hinnehmen müssen.«
»Verluste hinnehmen! Na so was«, wiederholte Klara versonnen. »Wo hast du bloß diese vornehme Sprache her?«, murmelte sie halb bewundernd, halb abwehrend. »Muss dir dieser Lehrer beigebracht haben. Dieser Bücherwurm. Wie hieß der bloß? Ist ja lang her, dass der weggegangen ist.«
Klara hatte es damals am meisten bedauert, dass der Lehrer nach wenigen Jahren aufgegeben hatte und in die Stadt zurückgekehrt war. Denn sie hatte sich einiges von seinem anspruchsvollen Unterricht für ihre Kinder erhofft. Ein Sohn war dann tatsächlich Apothekergehilfe in Münster geworden, entsann sich Jan. Und die eine oder andere Redewendung und ein paar Ausdrücke, die die Kinder im Unterricht auf geschnappt hatten, hatte auch Klara ihrem Wortschatz einverleibt.
Sie sah ins Feuer und fuhr lauter fort: »Was bringt die Schafhaltung denn heute überhaupt noch ein?« Klara brauchte nicht zu erwähnen, dass die englische Wolle der westfälischen heftig Konkurrenz machte. Die großen Wollwebereien in Flamen und Wallonien bevorzugten die günstigere und hochwertigere Wolle aus England, seit ihre Regierung die Einfuhrzölle den Bedürfnissen der Webereien angepasst hatte.
Jan hätte sich lieber über seine wirtschaftlichen Verhältnisse ausgeschwiegen, wollte aber in den Augen der Potthoffs nicht als armseliger Wicht dastehen, der eine Mahlzeit schnorren musste, um sich mal satt zu essen. »Hannes und ich konnten ein paar gute Kontrakte aushandeln. Vor drei Jahren hat die Regierung in Münster in der Loddenheide hundertundsieben Hektar für Waffenübungen gekauft und einen Schießplatz eingerichtet. Ich halte mit meinen Schafen die Heide frei vom Baumbewuchs. Und ebenso die in Mauritz rund um das Pulvermagazin.« Er hätte noch einiges hinzufügen können über einträgliche Abkommen mit dem Sudmühler Walkmüller, der gut damit zu tun hatte, Tuch für das preußische Militär herzustellen, und selbst über die kratzige Wolle von Jans Schafen hocherfreut war. In Münster waren das III. Armeekorps und das Generalkommando stationiert, Münster war von Militär überlaufen. Mehrere der Anfang des Jahrhunderts in der Säkularisation aufgehobenen Klöster dienten auch jetzt noch als Depots und Unterkünfte, eine Schande in den Augen aller bischofstreuen Katholiken.
An den Mienen von Klara und Anton sah Jan, dass er besser den Mund hielt.
»Du machst Geschäfte mit den Preußen?«, stieß Anton angewidert hervor. »Mit dem Militär? Weißt du denn nicht, wie das Pack in Münster haust?« Auf einmal war alle Freundlichkeit erloschen.
Das hätte sich Jan doch denken können. Anton verstand ihn nicht.
»Eine Schande ist das«, murmelte jetzt auch Hinnerk, der nicht halb so viel Hirn wie sein Vater hatte.
»Jan muss sehen, wie er zurechtkommt«, widersprach Klara leise. »Sind halt harte Zeiten. Wenn einer nach allem greift, was sich bietet, ist das bloß vernünftig«, setzte sie ohne große Überzeugung hinzu und äugte wieder zu ihm hinüber. Etwas hatte sie bestimmt noch auf dem Herzen.
»Nicht, wenn’s um Geschäfte mit den Preußen geht, wer’s mit den Saupreußen hält, ist selbst so einer«, sagte Hinnerk und funkelte ihn böse an.
Jan fühlte sich zunehmend unbehaglich. Es wurde Zeit aufzubrechen, dennoch konnte er sich nicht dazu entschließen. Was ihn auf dem elterlichen Hof erwartete, war auf alle Fälle schlimmer als die plötzlich spürbare Ablehnung Antons und seiner Söhne. Und Klara war immer freundlich zu ihm gewesen. Nur, was wollte sie jetzt von ihm? Da war doch was. Klara konnte nicht mehr still sitzen und hielt ihre Hände im Schoß fest ineinandergehakt.
»Hast du sie noch?«, fuhr sie zögernd fort.
»Was?«
»Die Sehergabe.«
Die Frage kam Jan wie ein Schlag aus dem Hinterhalt vor. Das war es also. Mohne Klara wollte, dass er seine Hellseherei nutzte. Sie wollte es nicht nur, sie würde es fordern, sie würde ihn in die Enge treiben, ihn unter Druck setzen, ihn an Christenpflicht und Verantwortung mahnen … Alles, um das Unheil, das sich mit dem grauenhaften Mord über der Venne zusammenbraute, abzuwenden. Dafür brauchte sie ihn. Als ob das jemals in seiner Macht gelegen hätte.
Unwillig erhob er sich.
Dafür also hatte sie Anton ausgeschickt, um ihn nach Hause zu holen. Ganz sicher war sie auf die Idee gekommen.
»Nein!«, antwortete er sehr bestimmt.
Erschrocken über seinen Ton fuhr Klara zusammen. »Bitte, setz dich wieder. Bitte, Jan, und nimm’s mir nicht übel, wenn ich dir zugesetzt hab. Das wollte ich nicht. Ich hab ja nur gemeint. Wir haben gehofft …«
Natürlich wollte sie. Und ob sie das wollte! Er durfte ihr keine Gelegenheit dazu einräumen.