Kim und die Seefahrt ins Ungewisse - Band 2 - Eva Maaser - E-Book

Kim und die Seefahrt ins Ungewisse - Band 2 E-Book

Eva Maaser

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Beschreibung

„Um sie herum war es abgrundtief finster. Kim hatte nur einmal kurz die Augen aufgerissen, die tintenschwarze Dunkelheit erfasst und entsetzt die Lider wieder geschlossen.“ Bei dem Versuch, die rätselhafte alte Uhr von Kims Großvater in Gang zu setzen, werden Kim, Lisa und Dennis plötzlich von einem seltsamen Wirbelsturm erfasst ... Plötzlich finden sich die drei Freunde im Jahr 1762 wieder, auf einem Segelschiff mitten im Atlantischen Ozean, das in einer besonderen Mission unterwegs ist: Es soll eine neue Methode erprobt werden, mit der man exakt den Längengrad bestimmen kann. Wer wird das Rennen machen: die Astronomen mit ihren komplizierten Berechnungen oder John Harrison mit seinem Chronometer? Als die Freunde einer Sabotage auf die Spur kommen, lässt Kim sich dazu überreden, die magische Uhr und damit ihre Rückkehr aufs Spiel zu setzen ... Fesselnd und voller Spannung erzählt Eva Maaser von einem historischen Abenteuer, das die Seefahrt im 18. Jahrhundert revolutionierte. Jetzt als eBook: „Kim und die Seefahrt ins Ungewisse“ von Eva Maaser. dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 217

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Über dieses Buch:

Bei dem Versuch, die rätselhafte alte Uhr von Kims Großvater in Gang zu setzen, werden Kim, Lisa und Dennis plötzlich von einem seltsamen Wirbelsturm erfasst ... Plötzlich finden sich die drei Freunde im Jahr 1762 wieder, auf einem Segelschiff mitten im Atlantischen Ozean, das in einer besonderen Mission unterwegs ist: Es soll eine neue Methode erprobt werden, mit der man exakt den Längengrad bestimmen kann. Wer wird das Rennen machen: die Astronomen mit ihren komplizierten Berechnungen oder John Harrison mit seinem Chronometer? Als die Freunde einer Sabotage auf die Spur kommen, lässt Kim sich dazu überreden, die magische Uhr und damit ihre Rückkehr aufs Spiel zu setzen ...

Fesselnd und voller Spannung erzählt Eva Maaser von einem historischen Abenteuer, das die Seefahrt im 18. Jahrhundert revolutionierte.

Über die Autorin:

Eva Maaser, geboren 1948 in Reken (Westfalen), studierte Germanistik, Pädagogik, Theologie und Kunstgeschichte in Münster. Sie hat mehrere erfolgreiche Kinderbücher, historische Romane und Krimis veröffentlicht.

Ebenfalls bei dotbooks erschienen Eva Maasers Kinderbücher Kim und die Verschwörung am Königshof, Kim und das Rätsel der fünften Tulpe, Leon und der falsche Abt, Leon und die Geisel, Leon und die Teufelsschmiede und Leon und der Schatz der Ranen.

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Neuausgabe Mai 2013

Copyright © der Originalausgabe 2008 Coppenrath, Münster

Copyright © der Neuausgabe 2013 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München

Titelbildabbildung: Sotheby's/akg-images; akg-images/De Agostini Pict.Lib.

ISBN 978-3-95520-267-5

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Eva Maaser

Kim und die Seefahrt ins Ungewisse

Band 2

dotbooks.

1. Ist Dennis noch zu retten?

„Das ist peinlich, wenn du den Vermittler für einen Fiesling wie Latte spielst, Dennis.“ Lisas Stimme triefte vor Verachtung. „Wo bleibt eigentlich dein Schamgefühl? Und was ist mit deinem Verstand? Ich dachte immer, du bist schlau. Und jetzt begreifst du nicht mal ...“

Dennis musste genau wissen, wie sehr Lisa Latte verabscheute, den größten Rüpel der Schule, der mit Kim und Lisa in die siebte Klasse ging. Staunend, fast schon ehrfürchtig hörte Kim zu. Er bewunderte Lisa restlos, wie sie dastand, den Kopf mit den wundervollen roten Locken hocherhoben, während sie aus ihren jadegrünen Augen ein Feuerwerk vernichtender Blicke auf den armen dicken Dennis abschoss. Lisa machte ihren kleinen Bruder gekonnt zur Schnecke. Dabei sprach sie nicht einmal besonders laut. Nur klar und deutlich genug, um auch in der Ecke des Schulhofs gehört zu werden, in der sich Latte mit seinem bulligen Kumpel Bobo aufgebaut hatte. Unverhohlen starrte er Lisa an. 

Latte hatte Dennis beauftragt, für den Nachmittag eine Einladung ins chicste Café von Münster zu übermitteln. Lisa würde sich auf seine Kosten bestellen können, was immer sie wollte: Schwarzwälder Kirschtorte, Sahnebaiser, Schokoladenkuchen, Nussecken, Milchshake, Cola ... Mit seltsamer Verzweiflung hatte Dennis alle möglichen Köstlichkeiten heruntergebetet. Dabei war schon vorher glasklar gewesen, was Lisa von diesem Angebot halten musste. Und jetzt schrumpfte Dennis sichtlich zusammen. Seine Schultern hingen herab, er wurde langsam blass und schaute immer unglücklicher und furchtsamer drein.

Wieso eigentlich furchtsam? fragte sich Kim. Dennis hatte doch sonst keine Angst vor seiner zwei Jahre älteren Schwester. Und ihr ganzes hochtrabendes Gerede bedeutete nur eins: Sie wollte nicht, fertig aus!

Dennis verhielt sich mehr als merkwürdig, denn er gab auch jetzt nicht auf und  machte sich für Latte weiter zum Affen. Kim zuckte die Schultern. Ihn ging das alles gar nichts an. Trotzdem hörte er zu und amüsierte sich über das Theater, das die Geschwister aufführten.

„Du könntest ihm wenigstens mal `ne Chance geben“, heulte Dennis auf und hielt sich krampfhaft das linke Handgelenk. Tatsächlich umklammerte er seine neue Armbanduhr, ein Geschenk zu seinem elften Geburtstag vor einer Woche. Eine protzige Taucheruhr, die er sich sehnlichst gewünscht hatte.

Dennis und tauchen? Der Junge war das unsportlichste Geschöpf, das Kim kannte. Schon beim bloßen Gedanken an Handstand oder Hürdenlauf musste bei Dennis das Herz aussetzen.

„Armleuchter!“ zischte Lisa.

Bedauernd schüttelte Kim den Kopf. Lisas Schatz an Flüchen und unflätigen Ausdrücken war nicht nur sehr beschränkt, sondern auch ausgesprochen fantasielos. Das war schade, er hatte mehr von ihr erwartet. Aber vielleicht war ja die deutsche Sprache hier etwas armselig. Die chinesische kannte etwa hunderttausend verschiedene Flüche, eine wertvolle Hilfe in allen Stresssituationen.

Kim war Halbchinese und lebte noch nicht lange in Deutschland. Vor etwas mehr als fünf Wochen hatte ihn sein Vater Lutz Reimer bei Großtante Betty in Drensteinfurt abgeliefert, einem Dorf nicht weit von Münster, wo Kim inzwischen aufs Gymnasium ging. Ein halbes Jahr zuvor war Kims chinesische Mutter gestorben, und sein Vater hatte beschlossen, China den Rücken zu kehren und wieder in Deutschland zu leben. Seit fünf Wochen nun hockte Kim in Großtante Bettys gruftartigem Haus und sehnte sich nach Shanghai zurück, nach der strahlenden Metropole am Meer.

Einen Augenblick hatte er sich in wehmütige Erinnerungen verloren.

Lisa schaute ihn an. „Was sagst du dazu? Ist das zu fassen? Ist er nicht dämlich?“

Lisa und Dennis Wagner wohnten im Nachbarhaus und waren in den vergangenen vier Wochen seine Freunde geworden.

Kim hob die Hände und klatschte bedächtig Beifall.

„Bis auf Armleuchter und Fiesling war alles großartig, was du gesagt hast. Vor allem die Art, wie du Dennis runtergeputzt hast, hatte richtig Stil. Nur diese Schimpfwörter sind einfältig. Has du nichts Besseres auf Lager? Wenn nicht: Kannst du alles heute Nachmittag wiederholen? Dann nehme ich`s auf CD auf und wir arbeiten es durch.“

Entgeistert schauten ihn Dennis und Lisa an.

„Idiot!“ zischte Lisa außer sich und ließ ihn stehen. Es hatte gerade zur ersten Stunde geschellt.

Dennis trottete hinter seiner Schwester her, nachdem er einen verwirrten, nein, einen verschreckten Blick über die Schulter zurück in die Schulhofecke geworfen hatte. Neugierig schaute sich Kim um.

Latte stand breitbeinig, massig und riesig mit in die Seiten gestemmten Händen da. Jetzt hob er drohend eine Faust und umfasste mit einer zackigen Bewegung sein Handgelenk.

Komische Geste, fand Kim und dachte an Dennis. Flüchtig überkam ihn Besorgnis, die er rasch loszuwerden trachtete, um sich auf Mathe zu konzentrieren.

In der großen Pause war Lisa im Klassenzimmer geblieben. Es war ihr, hatte sie behauptet, zu kalt auf dem Schulhof. Nieselregen hatte eingesetzt, auch so eine westfälische Eigenart, für die Kim nichts übrig hatte. Typisches Novemberwetter. Deprimierend. Fröstelnd zog er den Reißverschluss seiner Jacke zu und ließ den Blick über den Hof schweifen. Von Dennis keine Spur, wahrscheinlich hatte er keine Lust, sich durchweichen zu lassen. Auch Latte war nirgends zu sehen, obwohl er das Klassenzimmer beim Läuten sofort verlassen hatte. Kim gab es auf, sich über die beiden Gedanken zu machen und verzog sich schaudernd ins Schulgebäude.

Nach der letzten Stunde, auf dem Weg zur Schulbushaltestelle gesellte sich Dennis wieder zu ihnen und drängte sich neben Lisa.

„Weißt du, wie ich das sehe?“ fragte er forsch. Auf seiner linken Wange, dicht unter dem Auge, zeichnete sich eine dunkle Stelle ab.

„Was?“ gab Lisa knurrig zurück. Anscheinend war sie auf ihren Bruder noch schlecht zu sprechen.

Kim ahnte, worauf Dennis hinauswollte, schon bevor dieser loslegte, während er den Weg zurück spähte. Ja, tatsächlich, hinter ihnen tauchte Latte mit Bobo auf und kam unauffällig näher.

„Ich weiß ja, dass Latte ein Stinkstiefel ist“, begann Dennis hastig. „Beinahe jeder weiß das, aber das ist ja das Problem. Hast du dich mal gefragt, warum er so ist?“

„Nein!“ schnauzte Lisa. „Und ich will´s auch nicht wissen.“

„Siehst du! Er ist so, weil ihm niemand Gelegenheit gibt, sich von einer netten Seite zu zeigen. Niemand liebt ihn, selbst die, die ihn gar nicht näher kennen, meckern über ihn. Da ist doch klar, dass er ...“

„Sein Gorilla Bobo liebt ihn, er leckt ihm die Stiefel, das müsste reichen“, fiel ihm Lisa höhnisch ins Wort und strich sich eine rote Locke hinters Ohr.

„Du bist ungerecht und voreingenommen wie alle anderen“, entgegnete Dennis heftig. „Dabei hat er dir nie was getan! Du hältst doch sonst so viel von unabhängiger Meinung, jetzt beweise sie mal.“

„Wegen Latte? Ich bin doch nicht meschugge.“

„Meschugge?“ hakte Kim höflich ein.

„Halt die Klappe, ja?“ fuhr ihn Dennis an und wandte sich wieder an Lisa.  „Wenn du ihm nur eine klitzekleine Chance einräumen würdest.“

„Eine Heldentat für die ganze Schule“, murmelte Kim unterwürfig. „Im Handumdrehen würdest du aus einer Klapperschlange ein rosiges, zärtliches Kaninchen machen, das wir alle liebhaben könnten. Nie wieder würde Latte jüngeren Schülern die Zähne einschlagen.“

„Genau“, hakte Dennis verzweifelt ein. Er wollte wohl den ironischen Ton nicht hören. „Gib ihm eine halbe Stunde im Café, eine Viertelstunde, zehn Minuten ...“, bettelte er mit ersterbender Stimme.

Mittlerweile hatten sie die Bushaltestelle erreicht. Latte und Bobo waren jetzt auf Hörweite herangekommen. Sie blieben stehen, obwohl Latte nicht auf den Bus zu warten brauchte, denn er wohnte nur zwei Straßen weiter.

„Wenn ich mich mit so einem Ekelpaket an einen Tisch setze, wird mir übel. Ich müsste alles auskotzen, was ich in den letzten drei Jahren gegessen habe. Am Ende wäre ich richtig hohl innen“, sagte Lisa mit erhobener Stimme, „du kannst nicht so bekloppt sein, auch nur im entferntesten anzunehmen ...“

„Bekloppt und meschugge, ist das das gleiche?“ fragte Kim freundlich. Dennis puffte ihn in die Seite.

„Aber Latte verehrt dich, Lisa, er himmelt dich an ...“

Dennis Augen sahen entschieden klein und verquollen aus.

„Ist mir egal“, fertigte ihn Lisa ab. „Ich muss ihn schon jeden Tag in der Klasse ertragen – das reicht. Hörst du? Ein Treffen kommt nicht in Frage, nicht mal über meine Leiche oder deine.“

„Sag nicht so was“, presste Dennis hervor.

Der Bus kroch um eine Straßenbiegung. Plötzlich packte Lisa Dennis am Arm, so dass der Ärmel seines Anoraks ein Stück hinaufrutschte und sein Handgelenk freigab, ein recht schmales, nacktes Handgelenk. „Was hat Latte dir für den Versuch, mich herum zu kriegen gegeben? Wieviel? Oder gibt es nur ein Erfolgshonorar?“

Dennis winselte etwas Unverständliches.

Zufällig sah , wie Latte etwas aus der Hosentasche zog und auf das Pflaster fallen ließ. Betont langsam trat er mit seinem Stiefel darauf und drehte den Absatz ausgiebig hin und her. Unwillkürlich sträubten sich Kim für einen Moment die Nackenhaare. Aus den paar Metern Entfernung meinte er, etwas Metallisches knirschen zu hören, während Latte grimmig lächelte.

Kims Blick flog zu den Geschwistern und zu Dennis Handgelenk zurück, das jetzt noch nackter wirkte.

Der Bus hielt, die ersten Kinder drängelten hinein, um nur rasch aus dem Nieselregen zu kommen. Als Dennis an der Reihe war, wandte er Kim das Profil zu. Die dunkle Stelle auf der Wange, kurz unter dem Auge, war wohl doch ein blauer Fleck.

Durch das Rückfenster beobachtete Kim Latte, der finster dem Bus nachstarrte. Dann, im letzten Augenblick, fegte er mit einer wütenden Bewegung mit dem Stiefel etwas Blinkendes in den Rinnstein.

„Kim?“ meldete sich Dennis kläglich. „Können wir heute Nachmittag noch mal versuchen, Großvater Kaos Uhr in Gang zu setzen? Ich hab eine neue Idee.“

„Nein“, antwortete Kim rasch. Großvater Kaos Reiseuhr war allein seine Angelegenheit. Ein Abschiedsgeschenk, als er bedrückt und traurig auf dem Flughafen von Shanghai auf das Flugzeug gewartet hatte, das ihn aus seinem bisherigen, sehr glücklichen Leben entführen sollte. Wie ein zu jahrzehntelangem Exil Verurteilter war er sich vorgekommen, dabei traf ihn doch gar keine Schuld. Und da hatte Großvater Kao, der schon so viele Existenzen geführt hatte – auch eine als tibetischer Mönch tief im Himalaja – ihm einen schäbigen, achteckigen Holzkasten in die Hand gedrückt. Den Kasten mit der Reiseuhr. Eine Uhr, die man nicht einfach auf Reisen mitnahm, sondern mit deren Hilfe man reiste – wie andere mit dem Flugzeug, dem Auto, der Bahn. Oder doch nicht ganz so. Beim ersten Versuch, mit der Uhr nach Hause zu reisen, war Kim zusammen mit Dennis, Lisa und Lisas Hund Willie statt in Shanghai in Paris gelandet. Genauer gesagt im Pariser Louvre im Jahr 1617. Das war eine abenteuerliche und höchst gefährliche Geschichte gewesen, da sie sofort in eine Verschwörung gegen den französischen König verwickelt worden waren.

Um nicht noch einmal so eine Panne zu erleben, versuchte Kim seitdem mit äußerster Vorsicht, das Geheimnis der Uhr zu ergründen, beziehungsweise, wie sie funktionierte. Leider ohne Erfolg. Denn seit jener Reise in den Louvre tat sich gar nichts mehr an der Uhr. Nichts bewegte sich, als wäre der gesamte Mechanismus eingerostet. Möglicherweise war sie ja gleich beim ersten Mal beschädigt worden. Aber das konnte Kim nur vermuten. Zweimal hatte er Dennis erlaubt, sich unter seiner Aufsicht die Uhr anzusehen, sie zu fotografieren und Zeichnungen davon anzufertigen. Nur berühren hatte er sie nicht dürfen.

Alle paar Tage kam Dennis herüber und bestürmte Kim mit einer neuen waghalsigen Theorie über die Uhr. Standhaft hatte sich Kim bisher geweigert, auch nur eine davon auszuprobieren - zumindest in Gegenwart von Dennis. Viel zu gefährlich, hatte er jedesmal sorgenvoll erklärt. Tatsächlich aber hatte er sich allein daran gemacht, die Uhr in Gang zu setzen. Denn er war fest entschlossen, ohne Dennis nach Shanghai zu reisen, zu Großvater Kao in dessen Haus, das direkt aufs Meer blickte.

Gerade ratterte der Bus stadtauswärts am Aasee vorbei. Nicht mehr als eine braune Pfütze, dachte Kim verächtlich. Das Wasser sah genauso einladend wie geschmolzenes Blei aus. Dagegen dehnte sich das Meer vor Großvater Kaos Haus tiefblau und unendlich weit bis zum Horizont aus, und war mit schimmernden weißen Schaumkronen besetzt. Kim fragte sich, wie er es auch nur einen Tag ohne das Meer aushalten konnte. Ohne schwimmen, surfen oder segeln auf einer kleinen chinesischen Dschunke ...

Dennis zupfte ihn am Ärmel. „Warum nicht?“ fragte er mit erstickter Stimme.

Kim hatte keine große Lust, sich auf Mitleid einzulassen, wo er doch selbst gerade dabei war, ein bisschen Trübsal zu blasen.

„Ich dachte, du bist mein Freund“, winselte Dennis.

„Freundschaften muss man sich sehr genau überlegen“, sagte Kim abweisend.

„Da hörst du`s, du Nervensäge“, schaltete sich Lisa ein. „Hör auf, Kim zu belästigen. Außerdem hat er heute Nachmittag sowieso keine Zeit für dich. Wir müssen für die Mathearbeit morgen pauken.“

Ein kleiner Alpdruck legte sich Kim aufs Herz. Jetzt fühlte er sich annähernd so unglücklich wie der arme Dennis.

2. Dennis auf der Flucht

Seit zwei Stunden verhakelten sich in Kims Hirn algebraische Formeln, die Lisa unerbittlich für ihn zu entwirren suchte. Sie bestand darauf, ihm etwas zu erklären, was er eigentlich nicht erklärt haben wollte. Wieder einmal war er in Gedanken in Shanghai, in seiner alten Schule, in der er in keinem Fach nennenswerte Schwierigkeiten gehabt hatte. Hier, in Westfalen, hatte ihm der Nebel zwischen Drensteinfurt und Münster das Gehirn verkleistert, und er wartete nur darauf, seinem Vater klarzumachen, dass seine Zukunft nur in Shanghai liegen konnte. Jedenfalls wollte er keinesfalls als Schafskopf in Stewert, wie das Kaff für die Einheimischen hieß, enden.

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