Der Clewiston-Test - Kate Wilhelm - E-Book

Der Clewiston-Test E-Book

Kate Wilhelm

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Beschreibung

Der Preis des Fortschritts

Die junge Anna Clewiston forscht an etwas, das unsere Welt für immer verändern könnte: einem Mittel, mit dem man den Schmerz für immer besiegen könnte. Sie steht kurz vor dem Durchbruch – und ihre Ehe kurz vor dem Ende, denn die unermüdliche Forschungsarbeit stellt Anna und ihren Ehemann Clark, der ebenfalls an dem Projekt arbeitet, auf die Probe. Als mit den Schimpansen, die Anna als Labortiere benutzt, etwas nicht zu stimmen scheint, wird der Druck, unter dem die Forschergruppe steht, offenbar. Das Serum an Menschen zu testen ist nicht mehr vertretbar, doch die Firma braucht dringend einen Erfolg. Anna muss eine Entscheidung treffen, die sie am Ende nicht nur ihren Job, sondern auch ihre Ehe kosten könnte …

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Seitenzahl: 427

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KATE WILHELM

DER

CLEWISTON-TEST

Roman

Das Buch

Die junge Anna Clewiston forscht an etwas, das unsere Welt für immer verändern könnte: einem Mittel, mit dem man den Schmerz für immer besiegen könnte. Sie steht kurz vor dem Durchbruch – und ihre Ehe kurz vor dem Ende, denn die unermüdliche Forschungsarbeit stellt Anna und ihren Ehemann Clark, der ebenfalls an dem Projekt arbeitet, auf die Probe. Als mit den Schimpansen, die Anna als Labortiere benutzt, etwas nicht zu stimmen scheint, wird der Druck, unter dem die Forschergruppe steht, offenbar. Das Serum an Menschen zu testen ist nicht mehr vertretbar, doch die Firma braucht dringend einen Erfolg. Anna muss eine Entscheidung treffen, die sie am Ende nicht nur ihren Job, sondern auch ihre Ehe kosten könnte …

Der Autor

Kate Gertrude Meredith wurde am 8. Juni 1928 in Toledo, Ohio geboren. Nach ihrem Highschool-Abschluss arbeitete sie zunächst als Model, Telefonistin und Schreibkraft, ehe sie 1947 Joseph Wilhelm heiratete. Sie begann 1956 mit dem Schreiben von Science-Fiction-Kurzgeschichten; noch im selben Jahr erschien »The Pint-Size-Genie« im Magazin Fantastic

Titel der Originalausgabe

THE CLEWISTON TEST

Aus dem Amerikanischen von Sylvia Pukallus

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Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1976 by Kate Wilhelm

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

1

Der Wachmann drehte seine letzte Runde um sechs Uhr früh. Er verließ sein Wachhäuschen beim Hintereingang des Unternehmens und schritt langsam den breiten Korridor zu seinem ersten Kontrollpunkt hinab. Zu hören war lediglich das Geräusch seiner Schaumstoffsohlen, die abwechselnd auf dem gebohnerten Kunststoffboden aufsetzten und sich wieder lösten. Das Geräusch war ein schwaches, regelmäßiges Quietschen. Er machte diese Runde seit 29 Jahren und nahm seine eigenen Schritte längst nicht mehr bewusst wahr. Er brauchte nichts mehr zu überlegen; seine Füße trugen ihn, seine Hände betätigten die Stechuhren, und er vertraute darauf, dass seine Nase ihm meldete, wenn etwas nicht in Ordnung wäre, und seine Augen sich automatisch auf das Außergewöhnliche ausrichten würden. Er drehte seine Runden wie ein Schlafwandler, ohne jegliche Unbequemlichkeit, ohne besonders müde oder gar gelangweilt zu sein.

Sein erster Kontrollpunkt war die Tierabteilung. Ohne Hast wählte er den richtigen Schlüssel, schloss die Tür auf und trat ein. Der Raum war so schwach beleuchtet, dass die Wände in einige Entfernung zurückverschoben wirkten, und ohne das Personal, das sich sonst in den Gängen zwischen den Käfigen drängte, nahm der Saal Proportionen einer unmenschlichen Größenordnung an, als sei er über das Gebäude, das ihn beherbergte, hinausgewachsen.

Das Quietsch-Quietsch seiner Schuhe, wenn er zwischen den Käfigen umherging, war Teil der Routine; keines der Tiere regte sich. Er prüfte die große Doppeltür an der hinteren Wand und leuchtete dann mit seiner Taschenlampe die hohen, sinnlosen Fenster daneben ab. Dann ließ er den Lichtstrahl von der gegenüberliegenden Seite zu sich zurückgleiten und hielt auf halber Strecke inne.

Irgendetwas stimmte nicht. Im Geist ging er die Unterteilungen des Raumes durch: Die Meerschweinchen schliefen alle, zusammengekauert und für ihn weitgehend unerkennbar. Einige Katzen waren wach, dies traf jedoch immer zu, wenn er hineinsah. Die Hunde hatten sich nicht gerührt, doch er wusste, dass ihr Schlaf täuschte, dass ihre Ohren wie Richtantennen seinem Weg durch den Saal folgten. Die Schimpansen waren ruhig, jeder in seinem Einzelkäfig, und schienen zu schlafen.

Er schüttelte den Kopf, drehte sich um und ging zurück den Gang entlang, wobei er diesmal beim Vorbeigehen einen Blick auf jede Käfigreihe warf. Dann erblickte er den Schimpansen, ein großes Tier, das im schwachen Schimmer der von unten kommenden Nachtbeleuchtung riesenhaft wirkte. Der Schimpanse stand hoch aufgerichtet und umklammerte die Gitterstäbe seines Käfigs. Er verfolgte ihn mit den Augen.

Der Wachmann atmete langsam aus. Er trat ein paar Schritte auf den Käfig zu, ließ seine Lampe über das Schloss gleiten, um sich zu versichern, dass es zu war. »Blöder Kerl«, murmelte er. Das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, hielt an, als er seine Runde fortsetzte, und verflog nur allmählich.

Der Schimpanse blieb stehen, die Pfoten um die Gitterstäbe gekrallt. Nun hatte er die Lippen gefletscht und zeigte die Zähne, sein Nackenfell begann sich zu sträuben. Sein Griff um die Gitter wurde fester und prüfend, er versuchte, daran zu rütteln. Nach einigen weiteren Minuten wich er von der Käfigfront in die Dunkelheit unter dem Sitzbrett zurück und setzte sich auf seine Hinterkeulen, ohne den Blick abzuwenden. Von den anderen Schimpansen rührte sich keiner.

Einige Kilometer entfernt leuchtete ein Lichtpunkt im Erdgeschoss eines der stattlichen dreistöckigen Häuser jenseits vom Cherokee-Park auf. Vorhänge wurden aufgezogen, ein dreigeteiltes Erkerfenster, hinter dem Grün wucherte, wurde erkennbar und verströmte ein warmes Licht.

Das Zimmer hinter dem Fenster war sehr groß und bot genügend Platz für das überdimensionale Bett, zwei bequeme, mit rotem Samt bezogene Sessel, ein Sofa und einen Kartentisch mit zwei hohen Stühlen. Zur Seite geschoben, so dass zwischen ihm und dem Bett ein Durchgang von 1,20 m blieb, stand ein Heimtrainer, grüne Gummilaufrollen zwischen zwei parallelen Metallhandläufen. Das Haus war zu einer Zeit erbaut worden, da drei Meter hohe Decken noch keine unzulässige Verschwendung waren, und das Erkerfenster zur Südfront verlief in gleicher Höhe. Die Türflügel auf der Nordseite bestanden aus massivem Ahornholz, der Fußboden war mit hellem und dunklem Eichenholzparkett ausgelegt.

Die Tür zum Bad öffnete sich, Anne stieß sie vorsichtig noch weiter auf, um den Weg für den Rollstuhl freizumachen. Clark war schon dagewesen, um die Vorhänge aufzuziehen. Sie fragte sich, warum er damit jeden Morgen wartete, bis sie im Bad war. Er wusste, dass es ihr weh tat, beobachtet zu werden, wenn sie sich unbeholfen und ängstlich aus dem Stuhl hievte; mit der Grazie eines Nilpferds, dachte sie bei sich, und beäugte das Bett, das ihr manchmal als unerreichbares Ziel vorkam. Heute morgen fühlte sie sich stärker und beschloss unumstößlich, der Sache Einhalt zu gebieten; sie machte sich daran, das Hochziehen aus dem Stuhl und die Wendung zur Bettkante vorzubereiten. Sie stöhnte auf, als sie ihren Körper sinken ließ, und gebot sich streng, dass es nicht wehgetan hatte, und so tat es auch nicht weh. Es war vielmehr der Gedanke an den Schmerz, die Erinnerung daran, die ihr Angst machten. Dann lehnte sie sich in ihr Kissen zurück und entspannte sich wieder. Sie zitterte leicht.

Es war noch zu früh, um zu sagen, ob heute die Sonne scheinen würde. Die Welt jenseits des Erkerfensters wirkte dumpf und grau. Sie wollte nach einer Zigarette langen, fuhr aber zurück. Nicht vor dem Frühstück. Stattdessen besah sie das Erkerfenster. Sie stellte sich vor, sie könnte hören, wie Clark in der Küche Kaffee, Toast und Eier machte. Er vollzog seine Küchenpflichten genau wie seine Laborexperimente, präzis, nach einem inneren Zeitplan, der das Ganze mit dem geringsten Kräfteverschleiß zur Vollendung brachte. Sie wünschte, er käme bald mit dem Kaffee. Dann lenkte sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Fenster.

Jeder der drei Flügel bestand aus sechs kleinen Glasscheiben, die von kleineren, ungleichmäßigen bunten Glasstücken umrahmt waren, die kein Obst- oder Blumenmotiv ergaben, sondern einfach wahllos zu merkwürdigen geometrischen Mustern zusammengefügt waren. Die Farben waren intensiv und vielfältig, und wenn die Sonne schien, tauchten strahlende Rot-, Blau-, Grün- und Gelbtöne erst hier, dann da auf, und verwandelten – nicht immer sehr dezent – die Gegenstände, die durch sie hindurch erleuchtet wurden. Das Erkerfenster war drei Meter breit, die Holzempore darunter in einem warmen Weißton gestrichen. Sie hatten keine Gardinen aufgemacht, nur dunkle Dekorationen, die, wenn sie geschlossen waren, der Ausbuchtung des Fensters folgten und das weiße Podest freiließen. Darauf lagen Polster in strahlenden Farben, hellen Gelb-, Orange- und Rottönen – und ein Terrarium, ein 23-Liter-Ballon, der einen kleinen tropischen Urwald beherbergte – purpurne Blätter, samtiges Grün und Weiß. Die Erde in der Flasche wies zwischen ihrem Schwarz Flecken weißen Wurmbefalls auf, der wie Schnee aussah. Auf der Fensterbank hatten noch andere Pflanzen ihren Platz, doch sie waren vernachlässigt worden. Die Usambaraveilchen hatten Blätter verloren, der Philodendron braune Flecken bekommen und die Dieffenbachie war dem Licht zugewachsen, da niemand sie gedreht hatte, so dass es aussah, als wolle sie dem Zimmer den Rücken kehren, und zeigte die Rückseite der starkgeäderten Blätter – einen starken und funktionalen Pflanzenbau.

Zwei Wochen lang hatte Anne beobachtet, wie die Blätter sich täglich stärker drehten, bis sie nun fast ganz senkrecht standen und hinaussahen. Keiner sonst hatte ihnen Beachtung geschenkt. Wie seltsam musste es sein, in diesem Zeitrahmen zu leben, dachte sie, wo diese schrittweise Bewegungsart natürlich und vielleicht sogar schnell erschien. In ihrer Kindheit hatte sie einmal Bohnen in ein Glas mit Löschpapier gestreut, dessen Unterseite in Wasser getaucht war, wo die Bohnen gut sichtbar waren, so dass jede Veränderung beobachtet werden konnte. Die Veränderungen selbst ließen sich natürlich nicht beobachten, nur die Fortschritte konnten jeden Tag registriert werden.

Zu beiden Seiten des Bettes stand je ein Nachttisch, von denen einer eine Krankenhausausführung war mit einer Plastikplatte und zwei Türen, hinter denen eine Waschschüssel und eine Bettpfanne verborgen waren. Sie brauchte diese Gerätschaften nicht mehr, aber das Gestell war eben noch da, und ein Wasserkrug auf seiner Deckplatte schwitzte und hinterließ kleine Pfützen. Auf dem anderen Nachttisch waren Bücher, ein Aschenbecher, ein Notizbuch und Bleistifte aufgestapelt, Zeitschriften – wissenschaftliche Schriften und ein Schachmagazin –, ein Kalender in einem verzierten Silberrahmen, fein ziseliert, Rokokostil, ein Geschenk von Clarks Mutter. Sie zog den Kalender zu sich herüber und machte mit energischen Strichen ein rotes Kreuz durch das Datum Montag, den 6. Februar. Sie hatte im November mit dem Durchkreuzen begonnen.

»Hallo, Schatz. Hier kommt der Kaffee.« Clark kam mit einem Tablett herein und stellte es auf den Kartentisch vor dem Erkerfenster. Die ganzen vergangenen Monate hatten sie ihre Mahlzeiten an diesem Tisch in diesem Zimmer eingenommen. Er hatte ihr ein Ei gekocht, für sich ein Rührei mit Speck zubereitet und eine Kanne Kaffee gemacht. Morgens stand sie nicht auf, um sich an den Tisch zu setzen. Sie würde später, wenn Ronnie kam, wieder aufstehen. Clark ging nicht gern zur Arbeit, so lange sie nicht sicher im Bett lag. Er fürchtete, sie könnte fallen. Weil ich einmal gestürzt bin, dachte sie, und es höllisch weh getan hatte, und, was schlimmer war, sie waren beide sehr darüber erschrocken. »Der Unterschenkelknochen ist empfindlich«, hatte der Arzt gesagt. »Wir wissen selbst nicht genau, weshalb, aber es treten häufig Schwierigkeiten auf, bis er sauber verheilt. Da bist du bei weitem nicht der einzige Fall, Anne.«

Clark stützte ihr mit dem Sofakissen den Rücken und ging dann ans Fenster. Sprühregen hatte eingesetzt. Im Januar hatte ganze drei Tage lang die Sonne geschienen. Im Februar, der noch jung war und einiges erhoffen ließ, hatte es bisher einen solchen Tag gegeben. Anne stieß einen Seufzer aus und machte sich daran, ihr Ei zu essen.

»Heute kann es spät werden«, meinte Clark kauend. »Heute ist Ausschusssitzung.«

Sie nickte. Nach der Ausschusssitzung hatten die verschiedenen Abteilungen noch ihre Sitzungen. »Klugman wird die Gelegenheit finden, dich freundlich darauf hinzuweisen, dass ich immer noch auf ihrer Gehaltsliste stehe und mein Gehirn der Firma Prather gehört«, sagte sie.

Clark grinste sie an. »Dagegen habe ich auch nichts, solange der Rest mir gehört.« Er trank seinen Kaffee. Er hatte genügend Zeit. Clark wachte stets auf, ehe der Wecker rasselte; es war, als würde er mit dem Wecker einen zweiten in seinem Kopf aufziehen, der als erster ablief, geräuschlos, aber mit größerer Dringlichkeit als der mechanische. Er schenkte ihnen beiden erneut Kaffee ein.

»Und Klugman wird mich daran erinnern, dass der 30. März näherrückt. Er wird eine Zusicherung wollen, dass du dann wieder da bist, gesund, in alter Form und Frische.«

»Das werde ich aber nicht. Ich werde finster dreinblicken und aussehen wie ein verrückt gewordenes Genie«, erklärte Anne und gab eine Probe ihres finsteren Blicks.

Clark lachte, setzte sich mit der Tasse in der Hand auf die Bettkante und strich mit der anderen Hand über ihr Haar. »Du kannst gar nicht finster dreinblicken und siehst auch nicht verrückt aus oder wie irgendjemandes Klischeegenie. Du siehst verdammt sexy aus in deinem ziemlich durchsichtigen Ding, und wenn ich dich in den nächsten paar Wochen nicht regelrecht vergewaltige, bin ich reif für den Heiligenstand.« Er sprach leichthin, doch seine Hand auf ihrem Haar wurde zu reglos, und die Bewegung, mit der er sie wegzog, war zu brüsk. Er ging an den Tisch zurück und zündete sich eine Zigarette an.

Anne betrachtete ihn, sagte sich, wie massig er gebaut war. Seine kräftigen Arme und Beine, der tiefe Brustkasten. Wenn er nicht da war, stand er stets als sehr großer Mann vor ihrem geistigen Auge, doch nun war es schlicht und einfach seine massige Statur; er war gar nicht so lang. Er war drei Zentimeter größer als sie, doch er erzeugte und hinterließ den Eindruck eines sehr großen Mannes. Er mochte schon immer Sex am Morgen, wohingegen sie, wie sie ihm einmal flüsternd erklärt hatte, gern feucht zwischen den Beinen schlafen ging. Es lag wohl daran, dass er so plötzlich und vollständig erwachte. Er wachte in einem hell erstrahlten, geheizten Zimmer auf, wo alles zum Gebrauch parat stand und nur darauf wartete, dass der Benutzer es in Gang setzte, damit es anstandslos funktionierte. Ihr Zimmer dagegen war dunkel, wenn sie aufwachte; stundenlang tappte sie umher, bis sie die Lichtschalter und den Ofen gefunden hatte, um dann abzuwarten, bis die Wärme sich ausbreitete. Doch wenn es ihr auch niemals einfallen würde, morgens ein sexuelles Beisammensein anzuregen, so brauchte es doch nicht viel, sie so geil zu machen wie er war, und beim Anblick seines muskulösen Rückens wollte sie ihn so sehr wie er sie wollte und brauchte.

»Deena wird in zehn Minuten hier sein«, sagte Anne sanft.

»Hm. Ich bin gleich wieder da.« Er bewegte sich schnell, fast ruckartig. Seine Bewegungen waren eher die eines mageren, nervösen Menschen, nicht die eines Mannes, der so massig gebaut war wie er. Sogleich war er mit seinem Kordsamtjackett und den Gummischuhen zurück. Im Labor wurde keine besondere Kleidung verlangt, doch es bestand die stillschweigende Übereinkunft, dass alle Erdgeschossabteilungen der Schlips- und Jacken-Forderung entsprachen. Clark trug abgeschossene Hosen, die am Hintern leicht abgescheuert waren, und ein kurzärmeliges Hemd mit Tintenflecken an der Brusttasche. Alle seine Taschen waren ausgebeult von Zetteln und Krimskrams, den er manchmal wochenlang auszusortieren vergaß und einfach als Gesamtbündel allmorgendlich von einer Tasche in die andere stopfte. Seine muskulösen Arme waren dunkel mit Haarwuchs überzogen; sein am Hals offenstehendes Hemd entblößte dichtes Haar auf seiner Brust. Sein Bauch war behaart, sein Rücken ebenfalls; wenn er seinen Bart wachsen ließ wie einmal vor drei Jahren, so spross er buschig und sah wild aus. Ab und zu, wenn er gerade einmal daran dachte, schnitt er sich das Haar, und gewöhnlich hielt er es etwas oberhalb Kragenlänge, doch an diesem Montag früh war es lang und ringelte sich über den Ohren und dem Hemdkragen. Es war tiefschwarz und glänzte seidig.

Ein Bärenkerl, dachte Anne, als sie ihm zusah, wie er seine Taschen auf der Suche nach irgendetwas abklopfte. Er trug ein Taschenmesser, in das ein Büchsenöffner, Korkenzieher, Löffel und Schraubenzieher eingebaut waren, bei sich. Er hatte einen Fingernagelschneider und einen Kamm dabei, Zigaretten und ein Feuerzeug, das nicht funktionierte, das er jedoch unbedingt zur Reparatur wegbringen wollte, sobald er daran dachte, Kulis und Bleistifte. Schließlich zwei Notizbücher, kleine Spiralblocks mit losen, zerfledderten Blättern. Außerdem noch Streichholzheftchen, Rechnungsbelege, Rabattmarken, Geldscheine und Münzen. Einmal hatte sie seine Taschen ausgeräumt und über acht Dollar Wechselgeld gezählt. Schlüssel hatte er auch: Haus- und Wagenschlüssel, Laborschlüssel, Schlüssel zu seinem Schreibtisch und seinem Spind und zu ihrem Schreibtisch und ihrem Spind im Labor, Schlüssel zu einem Wagen, den er längst nicht mehr hatte, Schlüssel zu den Handkoffern, die im Vorratsraum des Kellers aufbewahrt wurden, und Schlüssel zur Wohnung seiner Eltern. Als sie einmal gesagt hatte, wie dumm es sei, jeden blöden Schlüssel, den er besaß, mit sich herumzutragen, hatte er ihr recht gegeben und sie in die verschiedenen Taschen zurückgestopft. Er ging nochmals hinaus, um seine Brieftasche zu holen, dann war er bereit. »Ich ruf' dich an«, sagte er, während er seine Gummischuhe überstreifte.

Sie nickte lächelnd. Er würde drei-, viermal anrufen.

Sie schüttelte den Kopf, lächelte immer noch. Er ließ den Wagen für Ronnie, die Krankenpflegerin, zu Hause, damit sie Anne zur Behandlung oder zum Einkaufen oder anderswohin fahren konnte, und es würde ihm nie einfallen, Deena zu bitten, für eine Besorgung anzuhalten.

»Na, warum lädst du Harry nicht ein, zum Essen zu bleiben. Ich werde einen Happen essen, wenn ich zurückkomme.«

Anne lachte. »Du erzählst mir immer das gleiche, weißt du das? Und ich antworte immer das gleiche. Ich werde aufbleiben. Wenn Harry bleiben kann, wird er mit mir warten. Ronnie wird uns einen Eintopf oder irgendwas machen, was man aufwärmen kann.«

Er trat wieder ans Bett und beugte sich vor, um sie flüchtig auf die Stirn zu küssen. »In Ordnung. Und frag mal deinen Arzt wegen der andern Sache, ja? Bis heute Abend.« Draußen ertönte die Hupe, er ging und winkte von der Tür aus noch einmal zurück. Nachdem die Eingangstür aufgemacht und zugeschlagen worden war, schien es sehr ruhig zu sein in der Wohnung.

Anne dachte über den Tag nach, der in seiner ganzen Länge vor ihr lag. Montags um zehn Behandlung. Erschöpft wieder zu Hause, Mittagessen, Nickerchen. Um zwei eine Viertelstunde am Heimtrainer. Sie sah dem angewidert entgegen. Die Strecke war nur viereinhalb Meter lang, doch wenn sie an einem Ende stand und den Blick auf das andere richtete, kam ihr die Entfernung unüberwindbar vor. Danach Pause. Gegen vier würde Harry, ihr Onkel, kommen, um ihr Gesellschaft zu leisten, mit ihr Schach zu spielen, von seinen Schülern erzählen. Er unterrichtete achte Klassen in Sozialkunde und Geschichte und, wie es aussah, jedes andere Fach, in dem Lehrermangel bestand. Ein Jahr lang hatte er sogar eine Mädchenklasse in Sport.

Auf den einen Ellbogen gestützt begann sie, ein dickes Notizbuch unter dem Zeitschriftenstapel hervorzuziehen. Gewöhnlich setzte der Stapel daraufhin an, unaufhaltsam zu Boden zu gleiten; sie zerrte das Notizbuch frei und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück, hielt die Kladde in der Hand und lauschte dem Aufprall der Magazine auf den Boden. Ihr Federhalter war an den Deckel des Notizbuches geklammert; augenblicklich machte sie sich an ihre Eintragungen.

Deena sprach beim Fahren untröstlich vom Wetter, und Clark hörte zu, ohne aufzupassen. Er verstand nicht, wie Leute einen Gedanken ans Wetter verschwenden konnten. Er wusste nie, ob es Schnee oder Regen geben würde, ehe der Tag vorüber war. Er trug seine Gummischuhe, wenn es regnete, und vergaß sie, wenn die Sonne schien. Nicht dass die Elemente ihn überraschten, er akzeptierte einfach, was sie brachten. Sein Blick war starr geradeaus gerichtet, doch statt der vom Regen getrübten Sicht auf den Verkehr stand das Bild von Anne vor seinem Auge, wie sie im Bett lag, ihr helles, welliges Haar, das eng ihren Kopf umschloss, ohne Make-up – in seinen Augen wunderschön. Einmal war er überrascht gewesen, als er zufällig mitangehört hatte, wie zwei ihrer Freunde kühl über sie geredet hatten. Einer hatte gesagt, dass sie nicht sehr hübsch sei, und der andere hatte dem zugestimmt, doch beide hatten ihr Attraktivität bescheinigt. Auch das war ihm unverständlich. Ihm erschien sie wunderbar. Ihr Haar war hellbraun, als Kind war sie ein Fuchsschopf gewesen, später war es nachgedunkelt; ihre Haut war warm und schimmerte makellos, ihre Augen waren tiefblau. Sie war groß und schlank, mit breiten Schultern, die für eine Frau vielleicht ein wenig zu breit waren, und hübschen, langen Beinen, die, wie sie meinte, manchmal einfach weiterliefen, ohne dass sie sie aufhalten konnte. Sie fühlte sich in tief auf ihren schlanken Hüften sitzenden Jeans wohl, doch wenn sie sich zurechtmachte und Make-up benutzte, war sie bilderbuch-schön, und er wusste, dass die meisten Männer ihn beneideten. Sie war Fremden gegenüber zurückhaltend, und wenige Leute erfuhren jemals, wie intelligent sie war. Aufgewachsen in einer Durchschnittsfamilie hatte sie sehr früh erfahren, dass ihr sprühender Geist die Ausnahme war, und sie hatte gelernt, ihre Wortspiele und Urteile unausgesprochen zu lassen, ihre Intelligenz in keiner Weise zu offenbaren.

»Ich habe gesagt, Emory möchte dich vor der Aufsichtsratssitzung sprechen«, sagte Deena. In ihrer Stimme klang ein verärgerter Ton mit, als ob sie schon eine Weile auf ihn eingeredet hätte.

»Entschuldige.« Clark schüttelte den Kopf und sah sich um, ob sie noch immer nicht da waren. Sie waren noch ein paar Blocks vom Werk entfernt. »Dann werde ich zuerst zu ihm gehen. Hat er irgendetwas Besonderes im Auge?«

»Das übliche. Wie lange müssen wir unsere Abteilung noch mit euren Affen vollstopfen? Er weiß so gut wie du und ich, dass wir sie so lange behalten, bis Anne sagt, dass sie mit ihnen fertig ist, aber er muss fragen, um seinen Senf dazuzugeben. Du weißt ja.«

»Gewiss.« Deena war Psychologin im Tierlabor. An die Vierzig, geschieden, mit einer zehnjährigen Tochter, fühlte Deena sich stets gedrängt, sich immer und immer wieder ihre eigene Intelligenz zu beweisen, dachte er. Sie hatte sich im vergangenen Jahr zur militanten Feministin entwickelt, und die meisten Leute der beiden Abteilungen gingen ihr, wenn möglich, aus dem Weg, was sie nur noch aggressiver machte. Sie machte sich keine Illusionen darüber, wessen Leistung die Clewiston-Symons-Experimente wirklich waren. Ihre wöchentlichen Berichte an Anne waren peinlich genau, und schließlich fiel sie einmal in der Woche bei Anne ein, um mit ihr über die Arbeit zu reden.

2

Gegen neun Uhr regnete es gleichmäßig, und der Regen begann auf den kalten Oberflächen – auf Leitungen, Baumstämmen und Brücken – zu gefrieren. Bob Klugman stand am Fenster von Edward Helversons Büro und sah hinaus. Hinter ihm blätterte Jack Newell den Report der Produktionsabteilung durch, murmelte ab und zu etwas vor sich hin und machte sich Notizen. Er hatte den Rechenschaftsbericht das ganze Wochenende über zu Hause gehabt, aber nicht die Zeit gefunden, ihn sich zu Gemüte zu führen. Er war furchterregend, dachte Bob Klugman, der nicht zusehen konnte, wie der junge Mann den Text fast so schnell überflog, wie er blättern konnte. Ein Erfolg des Schnelllesekurses natürlich. Er sollte auch einen solchen Kurs belegen. Er brauchte es ja gar nicht zu erwähnen, es einfach tun und die Ergebnisse für sich sprechen lassen. Er nippte schwarzen Kaffee und wusste, dass er überhaupt keinen Kurs mehr besuchen würde. Die Schiffsuhr an der Wand schlug neun, und er überprüfte seine Armbanduhr. Helverson würde innerhalb von dreißig Sekunden zur Stelle sein. Keine Verspätung über eine halbe Minute lautete sein Motto. Also bestell die anderen zehn Minuten zu früh. Bob nahm noch einen Schluck. Er hatte nicht gefrühstückt und empfand einen sauren Geschmack im Mund; der Kaffee war bitter. Ich darf keinen Zucker mehr nehmen, nicht mehr rauchen, nicht lange aufbleiben und wozu das alles, fragte er sich und beobachtete, wie das Wasser die Scheiben hinablief. Wozu, zum Teufel? Sechzig. Noch fünf Jahre, dann war es vorbei. Und wozu? Selbst in dem Bewusstsein, dass diese Gedanken nur eine Montagmorgen-Stimmung waren, konnte er sie nicht abschütteln. Es lag an dieser verdammten Blätterei von Newell, der irgendetwas Idiotisches beweisen, eine Schau abziehen wollte. Wenn er tatsächlich so penibel wäre, hätte er diese Fleißarbeit zu Hause oder in seinem eigenen Büro gemacht und nicht hier. Die Tür ging auf, und Edward Helverson trat ein. Er war 1,80 m groß, mit vorzeitig ergrautem Haar und sah aus, als sei er aus dem Stoff, aus dem man Direktoren macht. Er wirkte vertrauenswürdig und offen, verband Freundlichkeit mit Zurückhaltung, und wies die Gesundheit und schlanke Statur auf, die dem Stress, Direktor einer Gesellschaft oder zweiter Direktor eines Konzerns zu sein, standhalten konnte, mit einem Auge auf den Generaldirektorsstuhl innerhalb weiterer zehn Jahre. Mit fünfundvierzig war er auf dem Wege zum höchsten Gipfel.

Jack Newell stand abseits, während Helverson Bob Klugmans plumpe Hand ergriff und herzlich schüttelte. Jack Newell war schlank, dunkelhaarig und so unauffällig, wie ein Assistent es sein sollte. Er und Helverson reichten sich nicht die Hand. Als Helverson sich ihm zuwandte, neigte er fast unmerklich den Kopf, und Bob fühlte sich unbehaglich bei der Erkenntnis, dass eine Nachricht ausgetauscht worden war.

»Bob, wie geht's? Was gibt's Neues?«

Bob zuckte die Achseln, da er nie genau wusste, was man auf eine solche Frage antworten sollte. Wollte er wirklich wissen, was bei R & D vorging, oder machte er Konversation, um sich für den tatsächlichen Anlass dieser Vorbesprechung einzustimmen?

»Setz dich, Bob. Noch Kaffee da? Ist er noch warm?« Helverson goss sich eine Tasse dampfenden Kaffee ein und setzte sich; er ging nicht hinter seinen riesigen leeren Schreibtisch, sondern entschied sich stattdessen für einen von zwei Ledersesseln, zwischen denen ein Tischchen stand. Bob nahm in dem anderen Sessel Platz, ihm war unbehaglich, und er spürte das Verlangen nach einer Zigarette. Auf dem Tisch stand ein Aschenbecher, doch der polierte Onyx sah aus, als sei er noch nie benutzt worden.

»Wir haben Schwein gehabt, Bob«, sagte Helverson. »Einen unglaublichen Glücksfall. Wie schnell kannst du alles für die Schwangerschaftstests und die Teratologieversuche mit Clewistons Serum auf die Beine stellen?«

Bob blinzelte rasch. »Ende März haben wir eine Zusammenkunft, damit unsere Pläne sofort umgesetzt werden können, sowie der IND bestätigt ist.«

»Den IND bekommen wir diese Woche zurück, Bob«, entgegnete Helverson und lehnte sich lächelnd zurück.

»Diese Woche?« Bobs Blick wanderte verwirrt von Helverson zu Jack Newell.

»Wir stoßen vor, sowie ihr das Zeug fertig habt. Heute Nachmittag habe ich einen Termin mit Dr. Grove, wo wir alles für die Schwangerschaftstests vorbereiten wollen. Er kann seine Daten in ein, zwei Tagen erstellen, und dann halten wir eine Plenarsitzung ab.«

»Aber unser Arbeitsplan … Es bestehen noch einige Probleme mit der Computerzeit. Wir müssen Blutproben nehmen, die Analysen durchführen …«

Helverson erhob sich und streckte die Hand aus. Das Gespräch war beendet. »Ich weiß, dass du das schaffen kannst, Bob. Die Sache hat Vorrang vor allem anderen. Setzt Überstunden fest, veranlasse alles, was du brauchst. Dies geht vor. Wie es sich gehört«, sagte er nun mit einem Stirnrunzeln. »Denk an das Leiden, Bob, all das unnötige Leiden. Mein Gott, wenn wir für so einen armen Teufel da draußen eine Woche herausschlagen können; einen Tag früher, an dem das Leben für ihn wieder lebenswert wird, ist das die besondere Anstrengung, die es uns hier vielleicht kostet, nicht wert? Wir können das schaffen, Bob. Ich werde auf der Sitzung heute ankündigen, dass wir am fünfzehnten weitermachen. Und das schaffen wir, Bob! Das schaffen wir!«

Bob Klugman wurde zur Tür dirigiert. Einen Augenblick lang setzte er dem sanften Druck Widerstand entgegen. »Aber Anne Clewiston, Mrs. Symons, ist noch nicht zurück.«

»Deshalb zähle ich darauf, dass du sie über jeden Schritt auf dem laufenden hältst. Mein Gott, wenn ich an diese brillante junge Frau denke! Ein Genie, Bob! Eine von den wenigen Gottbegnadeten. Ich verharre vor ihrem Können in Ehrfurcht, Bob! Sie muss in den Aufsichtsrat, so wie es von Anfang an geplant war, und sobald es ihre Genesung gestattet, wird sie das auch.«

Bob Klugman stand schon jenseits des Türrahmens und blinzelte verständnislos. Er dachte an die Flasche in seinem Schreibtisch, zuckte die Achseln und stapfte davon. Neun Uhr, und er hatte schon wieder die Flasche im Kopf! Annie würde ihm den Hals umdrehen, sich zu Helverson durcharbeiten und dem ebenso den Hals umdrehen. Er dachte mit Bedauern an Clark, der es ihr würde beibringen müssen; wieder stand das Bild der Flasche vor ihm, und diesmal beschleunigte er seinen Schritt ein wenig.

Clark stand im offenen Türrahmen zu Emory Durands Büro und besah sich die Szenerie, während Emory von dem Mangel an Beachtung erzählte, den alle seiner Abteilung ihm gegenüber an den Tag legten.

Das Tierlaboratorium war der größte Einzelraum im Prather Pharmazie-Komplex. Größer sogar als die Produktionssäle im zweiten und dritten Stockwerk. Der Teil, in dem sie sich befanden, war den Kleintieren gewidmet, den Mäusen, Meerschweinchen, Ratten, sogar einigen Schlangen in Glasbehältern. Am anderen Ende außerhalb von Clarks Blickfeld befanden sich die Katzen- und Hundekäfige. Er hörte das aufgeregte Kläffen der Hunde, die gerade gefüttert wurden, und das gelegentliche Miauen der Katzen. Noch weiter entfernt standen die Primaten, Klammeraffen, Gibbons und Schimpansen, mit denen er und Anne gearbeitet hatten. Zu dieser Tageszeit wimmelte es im Labor von Geschäftigkeit, nun wurden die Tiere gefüttert, Stuhl- und Urinproben gesammelt, Blutproben entnommen. Tiere wurden von den Nachtkäfigen zu den Tagesbeobachtungen in verschiedene Gemeinschaftsanlagen verlegt. Gestalten in weißen Mänteln liefen zwischen den Tieren herum und schoben Wägelchen mit Futter, Untersuchungsgeräten und Transportkäfigen vor sich her. Das Labor glänzte fleckenlos und wies praktisch keinerlei Geruch auf.

Emory Durand war der Abteilungsleiter hier. Er war Tierarzt, und es kursierte das Gerücht, er habe diesen Posten nur übernommen, um nicht selbst Tiere umbringen zu müssen. Er selbst wohnte niemals einer Tötung oder Autopsie bei. Das ganze Laborpersonal hatte ihm im geheimen den Spitznamen Noah gegeben. Die Sauberkeit seines Labors spiegelte sich in seinem Büro und seiner Person wider. Er trug auf Hochglanz polierte, weiße Schuhe. Seine weißen Hosen hatten korrekte Bügelfalten. Sein Laborkittel wies kein Fleckchen auf. Man behauptete, Noah staube jedes Mal seinen Stuhl ab, ehe er Platz nahm. Er hatte dünnes, kurzgeschnittenes aschblondes Haar und bleiche, ungesund wirkende Haut; nichtsdestotrotz fehlte er keinen Tag und klagte niemals über irgendwelche Beschwerden. Er war Vegetarier und pflegte keinerlei Laster. Insgesamt ein jämmerlicher Typ, den jeder automatisch ablehnen müsste, dachte Clark. Doch niemand lehnte Emory Durand ab. Er war einer der beliebtesten Leute in der Erdgeschosssektion. Seine eigenen Leute fürchteten und achteten ihn und vertrauten ihm, wenn notwendig, ihre Schwierigkeiten an, und auch außerhalb seiner Abteilung wurde er bewundert und geschätzt. Anne hatte einmal gesagt, dies läge daran, weil er die Menschen mit der gleichen ernsten Höflichkeit behandle, die er seinen Tieren entgegenbrachte. Clark hatte es schlichter formuliert: er war vertrauenswürdig. Das sagte für ihn alles über Emory Durand. Emory hob seine Stimme ein wenig, was für Clark ein Zeichen war, dass er seine Aufmerksamkeit und seine Betroffenheit erregen wollte. Er hörte ihm zu.

»Ich rechne fest damit, dass eines Tages hier eine Elefantenherde auftauchen wird. ›Kümmern Sie sich darum!‹, wird irgendeiner sagen und verduften. Und ich frage dich, Clark, wie viele Tiere, meinen die eigentlich, kann man auf einem begrenzten Raum unterbringen? Wie viele?«

Noahs Arche war vollgepackt, gab Clark im Stillen zu. Keiner wagte ihn aufzumuntern, da sich alle in gewissem Maß mitschuldig fühlten. Emory Durand war vermutlich von allen im Werk am schlimmsten überarbeitet. »Macht dir unser Anbau nun solche Schwierigkeiten?«, fragte er.

»Der Anbau. Eure gottverdammten Affen. Und dann auch noch die Kontrollschimpansen. Können wir die nicht abschaffen?«

Clark schüttelte den Kopf. Ein Mädchen im weißen Kittel kam mit einem Wagen vorbei, auf dem ein Stapel rostfreier Stahlschüsseln, eine Waage und ein Eimer mit übelriechendem Brei, der wie Scheiße aussah, standen. Fütterungszeit für die Meerschweinchen. Clark rümpfte die Nase, trat in das Büro zurück und schloss die Tür.

»Sojabohnen und Sägemehl«, sagte Emory voller Abscheu. Die Leute von der erweiterten Abteilung arbeiteten an Sojaproteinprodukten, und ihre Angebote sahen von Tag zu Tag ekelhafter aus. Außerdem wurden die Meerschweinchen massenhaft hinweggerafft und zeigten Tendenzen, unter heftigen Zuckungen zu verenden.

»Lass uns ein paar Monate Zeit«, bat Clark, um wieder auf die Schimpansen zu sprechen zu kommen. »Vermutlich höchstens drei Monate. Der IND müsste bis dahin zurück sein, und wir werden wissen, ob sie ihn bestätigt haben.«

Emory seufzte. »Bis jetzt ist Henry Barrington der einzige, der sagt, schmeißt sie raus. Und er hat ein Dutzend weißer Mäuse im Einsatz. Ein lumpiges Dutzend weißer Mäuse. Okay, Clark. Ich habe dich fragen müssen. Nun werde ich also zum Aufsichtsrat gehen und mehr Geld, einen Anbau für mich, mehr Assistenten, mehr Geräte …« Seine Stimme hatte in seiner Resignation jeden Ton verloren. »Und sie werden mir den Kopf tätscheln und mir erzählen, was für einen tollen Job …«

Ein heiserer Aufschrei gefolgt vom Klirren zerbrechenden Glases drang in das Büro. Clark riss die Tür auf und trat aus dem Weg, als Emory hinter ihm herstürzte. Sie rannten zum gegenüberliegenden Ende des Saals.

Einer der Laborassistenten saß auf dem Fußboden und presste einen Arm gegen die Brust. Die rote Farbe von Blut auf seinem weißen Kittel sah furchterregend aus. Dann ertönte ein leises Stöhnen, wurde lauter, verklang und hob von neuem an, immer und immer wieder. Ein langhaariges Mädchen stand regungslos da und starrte die Käfigreihe hinab. Sie war bleich und würde sogleich einen hysterischen Anfall bekommen. Clark ergriff hart ihren Arm und schüttelte sie. »Was ist passiert?«

Deena tauchte auf und knöpfte sich noch ihren Laborkittel zu. Emory kniete jetzt neben dem Verletzten, andere strömten hinzu und stellten wild durcheinander Fragen. Darüber hinaus hatten nun alle Tiere begonnen, aufgeregt zu fiepen, zu schnattern und zu jaulen. Clark schüttelte noch einmal das erstarrte Mädchen. »Was ist passiert?«

»Der Affe hat ihn gebissen! Er wollte ihn umbringen! Ich hab's gesehen! Er wollte ihn umbringen.«

»Kommen Sie zu sich!«, befahl Clark, der ihren Arm immer noch viel zu fest im Griff hatte, bereit, sie nochmals zu schütteln. »Wo ist er jetzt?«

Sie wies mit dem Kopf auf die Käfigflucht, worauf er sie losließ. Sie stolperte ein paar Schritte von ihm zurück, drehte sich um und lief davon.

Clark betrachtete den Verletzten. Er schien unter Schock zu stehen. Das Wimmern hielt noch an. Emory bat jemanden, einen Arzt und eine Bahre zu holen und einen Krankenwagen zu rufen. Clark wandte sich zu der Käfigflucht um. Nicht weit entfernt erklang Deenas Stimme, ruhig, leise, besänftigend.

»Komm, Duckmore, komm her!« Sie trat zwischen zwei Käfigen hervor, den Blick zwischen den beiden gegenüberliegenden hindurchgerichtet. »Komm mit, Duckmore!«

Ein mächtiges Schimpansenmännchen tauchte auf und streckte seine Vorderpfote aus. Deena ergriff sie und trat mit ihm den Rückweg zum Schimpansenkäfig an, wobei sie ihm mit ruhiger Stimme, die den Tumult im Labor niederzuringen schien, zuredete. Clark sah zu, wie sie den Affen in den Käfig führte und die Tür verriegelte. Der Schimpanse ließ sich auf seine Hinterbacken nieder und begaffte seelenruhig die Menschentraube um den Mann, den er gerade zu töten versucht hatte.

Deena lief zu Emory hinüber und ging in die Hocke. »Kann er sprechen?«

Emory schüttelte den Kopf. Er hielt den Arm des Mannes vor dessen Brust und unterstützte ihn so. Der Assistent hatte die Augen weit aufgerissen, war jedoch blind vor Schrecken. Sogar aus seinen Lippen war alles Blut gewichen.

Deena stand wieder auf. »Hat jemand die Sache beobachtet? Was ist denn geschehen?«

Das Mädchen, das den Servierwagen mit dem Meerschweinchenfutter geschoben hatte, sagte: »Seit einer Woche hat der Schimpanse schon versucht, ihn zu erwischen. Er hat mir erzählt, der Schimpanse hasse ihn. Grundlos. Völlig grundlos. Er war immer gut zu den Tieren.«

In diesem Augenblick kam der Doktor mit dem Erste-Hilfe-Trupp an, die Umstehenden wichen zurück. Clark stand vor Deenas Büro, als nach und nach wieder Ordnung in das Tierlaboratorium zurückkehrte.

»Kannst du irgendetwas über Duckmore sagen?«, fragte Clark, als Deena erschien.

»Er ist so normal wie immer, soweit ich das sagen kann«, meinte sie.

»Hat der Bursche ihn gehänselt? Ihn über längere Zeit hinweg geärgert?«

Sie schüttelte den Kopf. »Du weißt, dass wir so etwas nicht dulden würden. Nein, Pat war nett zu ihnen, er hat Tiere gern. Und sie reagieren dementsprechend auf ihn.«

»Tja …«, sagte Clark niedergeschlagen.

»Mach dich nicht verrückt«, wollte Deena ihn beruhigen. »Wir werden Duckmore eine Weile beobachten, ein paar Tests durchführen. Vielleicht hat er gesehen, wie Pat mit einem der jungen Schimpansen geschmust hat und ist eifersüchtig geworden. Weiß Gott, was in ihren Köpfen vorgeht.«

»Tja …«, sagte Clark noch einmal. »Sag, könnt ihr vielleicht gleich ein paar Blutuntersuchungen machen? Ein EEG? Was immer du für richtig hältst?«

»Schon in die Wege geleitet«, antwortete sie knapp. »Ich schick dir die Ergebnisse rüber, sobald sie vorliegen.«

Mit finsterem Blick zu Boden ging Clark zu seinem eigenen Büro zurück. Das Tierlabor nahm den gesamten Westteil des weit ausgedehnten Gebäudekomplexes ein. Durch einen breiten Korridor davon abgetrennt lagen die Forschungslaboratorien für Petrochemie, Farben, Pharmazeutik, Lebensmittelzusätze und Granulate für die Plastikindustrie. Die Pharmaabteilung war der größte, ursprüngliche Laborraum mit breiten, hohen Fenstern, altmodischen Stahlspinden und unebenem Fußboden, dass alles, was zu Boden fiel, sich an einem Fleck unter dem Wasserbecken sammelte. In der Pharmazeutik waren die Wände im ersten Jahr gelb und grün gestrichen worden, und niemals hatte man diese Farbkombination verändert. Nach der Tierabteilung wirkte dieses Labor außergewöhnlich still. Ein Dutzend Leute arbeiteten an verschiedenen Anlagen. Die übrigen saßen in ihren Büros.

Hier war es gewesen, wo der alte Prather seine ersten Einreibemittel zusammengemischt hatte, seine ersten Kopfschmerzpulver und Hustensäfte. Er hatte Eisentabletten von Talergröße gebastelt und sich dann solange angestrengt, bis sie so klein waren, dass eine vornehme Dame sie schlucken konnte. Wenn Geister umgingen, dann musste Prather in diesem Labor umgegangen sein, wo alles noch war wie einst, mit Ausnahme der modernen Apparaturen aus rostfreiem Stahl, die ihn gewiss verwirrt hätten, und der Computerterminals, die ihn noch mehr verwirrt hätten. Was könnte er mit so winzigen Kortisondosen anfangen, die mit Stärke vermischt werden mussten, um fürs bloße Auge überhaupt erkennbar zu sein? Mit den zeitlich gestaffelten Kapseln, die automatisch die Dosen jeglicher benötigten Stoffe regulierten? Mit radioaktiven Stoffen in hübschen blauroten Kapseln, die von den Leuten, die sie abfüllten, nicht berührt werden durften, sondern hinter Bleitüren mit Waldos gehandhabt wurden?

Clark schüttelte den Kopf, um seine Gedanken wieder in die Gegenwart zurückzulenken, zurück zu dem Schimpansen, der sich in einem Amokläufer verwandelt hatte.

Er starrte die Wand hinter seinem Schreibtisch an, die so nahe war, dass er sie von seinem Sitzplatz aus fast berühren konnte, und überlegte. Duckmore war bösartig geworden, doch vielleicht hatte der Assistent ihn doch gereizt. Vielleicht hatte er einen sadistischen Zug, den er bislang hatte verbergen können, jedoch insgeheim an den Tieren ausgetobt hatte. Vielleicht hatte er Duckmore unnötigerweise den Arm verdreht, als er ihn von seinem Käfig in das Gemeinschaftsgehege geführt hatte. Vielleicht … Vielleicht brachte der pa-Faktor, den sie Duckmore vor fast einem Jahr eingegeben hatten, persönlichkeitsverändernde Erscheinungen mit sich, die jetzt erst zutage traten. Clark rieb sich die Augen, die vom Anstarren der nackten grünen Wand zu tränen begannen. Vielleicht …

3

Bob Klugman sah Clark verständnislos an und schüttelte den Kopf. »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein«, sagte er zum dritten Mal. »Wir können nicht vor sechs Monaten wieder anfangen.«

»Wir können auch nicht weitermachen«, widersprach Clark ihm ungeduldig. »Wir können nicht in zwei Wochen mit den Tests bei Menschen beginnen.«

»Deena, was macht der Affe jetzt?«, fragte Bob und drehte sich von Clark weg. Er spürte ein Rumpeln im Magen und wusste, dass nun bald Sodbrennen und Blähungen einsetzten, die ihm aufs Herz drücken und das Atmen schwer machen würden.

»Wie du weißt, ist es ein Schimpanse«, sagte Deena, die beim Sprechen über seine Schulter hinwegsah. Sie hatte beim Betreten des Büros Alkohol gerochen; ihr Mund war schmal und hart, ihr Blick wich seinem bewusst aus. »Duckmore wirkt ganz normal. Noch haben wir keine Testergebnisse.«

»Nun, widmen Sie ihm Ihre besondere Aufmerksamkeit. Schalten Sie alles andere möglichst aus und verfolgen Sie diese Sache durchgehend.« Klugman blickte auf seine Armbanduhr; die Aufsichtsratssitzung tagte seit einer halben Stunde; zu spät, um Helverson vor möglichen Schwierigkeiten zu warnen. Er wandte sich Emory Durand zu. »Wie verhalten sich die übrigen Tiere dieser Gruppe? Irgendwelche weiteren Schwierigkeiten?«

Emory schüttelte den Kopf. »Ich stimme jedoch Clark zu. Es wäre ein Fehler, diesen Vorfall zu ignorieren. Ich werde mit Pat reden, sobald er nicht mehr unter Beruhigungsmitteln steht, und werde in Erfahrung bringen, was, zum Teufel, eigentlich geschehen ist, aber selbst das wird nicht genügen. Wir benötigen zwei Wochen für genaue Beobachtung, danach eine Autopsie, Gehirnuntersuchung, Zellgewebestudien, die ganze Litanei. Es ist ein Rückschlag, Bob. Damit werden Sie sich abfinden müssen – und Helverson klarmachen, was das heißt.«

»Aber es besteht die Möglichkeit, dass es mit dem Medikament gar nichts zu tun hat. Stimmt das nicht?«

»Zum Teufel, Bob, Sie kennen die Spielregeln doch! Sie saßen zwanzig Jahre lang auf dieser Seite des Schreibtisches, verdammt noch mal. Den juckt es plötzlich weiterzumachen, dann lassen Sie ihn doch ausbrüten, was ihn antreibt. Sie und ich wissen, dass das Bundesdrogenamt uns nicht gestattet weiterzuarbeiten, solange diese Sache in der Schwebe ist. Wir müssen das nachprüfen, und das bedeutet eine Verzögerung. Selbst wenn bei der Untersuchung nichts herauskommt.« Emory sprach ruhig, doch seine Worte waren zu abgehackt, zu teilnahmslos ausgesprochen; sie straften seine Ruhe Lügen.

Einen Augenblick lang starrte Bob Klugman Emory an, dann senkte er seinen Blick und sah zu, wie seine plumpen Finger auf seiner Schreibtischplatte Kreise zogen. »Mutmaßungen«, sagte er. »Glauben Sie, dass dieser Zwischenfall etwas mit dem pa-Faktor zu tun haben könnte, Emory?«

»Das nehme ich nicht an«, antwortete Emory nach einer Pause. »Aber vergessen Sie nicht, das ist eine Annahme. Ich würde ungern auf einer solchen Basis weitermachen.«

»Deena?«

»Nein. Es ist zu lange her. Das poena albumin sinkt innerhalb von acht Stunden auf Normalwerte zurück, und so ist es seither geblieben. In den Monaten seither sind keinerlei physiologische Veränderungen aufgetreten.« Sie sah ihn nicht an; ihre Stimme klang hart, sachlich und wie aus weiter Entfernung.

»Clark?«

»Ich weiß nicht. Meinem Gefühl nach muss ich nachdrücklich nein sagen, aber ich weiß nicht.«

Bob betrachtete ihn aufmerksam. »Ich frage mich, was Anne sagen würde.« Das war keine Frage, also antwortete auch keiner. »Wie geht es Anne?«

»Sie macht gute Fortschritte.«

»Wollen Sie ihr von dem Vorfall berichten?«

Clark schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Es würde sie nur aufregen, und wir verfügen noch nicht über ausreichende Fakten. Lasst mich warten, bis wir die Laborberichte von Duckmore haben. Warten wir ab, was der Bursche über den Angriff berichtet. Vielleicht hat er den Schimpansen wirklich gereizt, vielleicht gibt er so etwas zu.« Deena schüttelte den Kopf, Emory runzelte die Stirn. Keiner von beiden glaubte, dass dem Laborassistenten irgendein Vorwurf zu machen war. Clark drehte sich wieder zu Bob Klugman um. »Ich glaube, wir sollten warten, bis Gus zurück ist, ehe wir etwas unternehmen. Er hat die Sache von Anfang an verfolgt. Warten wir ab, was er dazu sagt. Abgesehen davon hat Emory völlig recht. Der IND wird nicht bestätigt werden, ehe wir nicht alle Fragen aus diesem Unfall geklärt haben.«

»Der IND ist schon bestätigt«, erwiderte darauf Bob Klugman. »Helverson hätte mich nicht aufgefordert weiterzumachen, wüsste er nicht, dass die Genehmigung schon vorliegt. Heute trifft er Grove und am Mittwoch soll eine Besprechung stattfinden, mit der die Testphase abgeschlossen wird.«

Keiner im Büro sprach ein Wort. Clark sah zum Fenster hinüber, an dem das Wasser des anhaltenden Regens in Strömen herablief. Auf dem Land gefror der Niederschlag noch, in der Stadt jedoch war es nichts als Regen. Er überzog die Scheibe und isolierte sie so nur noch mehr von der Wirklichkeit, verwandelte die reale Welt jenseits des Fensters in eine surrealistische Plastikwelt mit verschwommenen Konturen und wabernden Oberflächen. Er begriff plötzlich: sie warteten darauf, dass er etwas sagte. Er müsste in Annes Namen protestieren, Widerspruch einlegen, explodieren, auf jeden Fall irgendwas tun. Er beobachtete weiter das Wasser, das die Scheiben hinabrann. Sie würde sich irrsinnig freuen über die Zusage des Bundesdrogenamtes nach der Überprüfung des Index Negativer Drogenversuche und wäre gleichzeitig wütend, dass man ohne sie weitermachte. Ihr gebührte ein führender Platz in dem Ausschuss, der die Versuche am Menschen überwachte; darauf hatte sie jahrelang gewartet. Manchmal wurde ihm klar, dass sie mehr von der Gesamtentwicklung verstand als er; sie verfügte über viel mehr Weitblick, als er jemals haben würde. Sie hatte bereits einige Schwierigkeiten der Humanversuche mit der ursprünglichen Konzeption des pa-Faktors zu einem Zeitpunkt vorausgesehen, als sie noch von einem auf den anderen Tag ihre Arbeitspläne festlegten.

Plötzlich ergriff Deena das Wort und machte erst gar nicht den Versuch, den Zorn in ihrer Stimme zu verbergen. »Anne hat diesen Teil der Experimente monatelang vorbereitet, und jeder weiß das. Sie hat noch zu Hause, als sie bereits flach lag, an den Plänen gearbeitet. Sie können ihr das nicht einfach wegnehmen, nur weil Helverson das Fell juckt.«

Es war nicht fair, dachte Bob Klugman, dass sie ihn so behandelten. Schließlich war er ihr Vorgesetzter. Sie sollten ihn mit der gleichen Achtung behandeln, wie er sie seinen Vorgesetzten gegenüber zeigen musste. Er erhob sich. »Wir machen weiter und geben die notwendigen Tests in Planung«, sagte er und versuchte, in seine Stimme die gleiche Entschlossenheit zu legen, die Helverson ihm gegenüber demonstriert hatte. »In der Zwischenzeit werdet ihr die Laborberichte über den Affen bekommen. Wir werden sehen, ob der IND durchkommt. Deena, Sie und Clark kennen Annes Vorstellungen von den Humantests. Ihr könnt sie vertreten.« Sie standen alle auf. Deenas Blick ruhte nun auf ihm; er wich ihm aus. Sobald sie gegangen waren, erwog er, Gus anzurufen, ihm zu sagen, dass sie einen Notfall hatten, und ihn an seinen Posten zurückzuholen. Es war unfair, dass er dies allein entscheiden sollte. Gus wusste besser als er Bescheid, was im Labor vor sich ging. Es war auf jeden Fall Gus Weinbachers Job, diese Entscheidungen zu fällen, nicht seine.

Bisweilen war sich Bob Klugman fast darüber im Klaren, dass er nicht gerne der verantwortliche Direktor der Forschungs- und Entwicklungsabteilung war. Sein Wunsch war es gewesen, Chemiker der organischen Chemie zu sein, er war ein verdammt guter Chemiker gewesen, hatte verschiedene Auszeichnungen erhalten und sein Studium summa cum laude abgeschlossen. Als er diese Beförderung erhalten hatte, hatten er und seine Frau übermütig gefeiert. Er dachte, er bekäme nun die verdiente Anerkennung, und unternahm Streifzüge durch verschiedene Buchhandlungen, nur um seinen Namen im Who's Who und regionalen Biographien zu bewundern. Und was ist daraus geworden, fragte er sich ab und zu, gewöhnlich zwischen seinem dritten und fünften Glas. Irgendetwas war schiefgelaufen, und er konnte nicht begreifen, was. Alle Einwände, die er ins Feld führen konnte, waren läppisch; die Wissenschaftler, die er anzuleiten hatte, waren kindisch, anspruchsvoll, egozentrisch, jeder überzeugt, seine Arbeit sei von vorrangiger Bedeutung, und unwillens, einen Blick auf die Leistung des anderen zu werfen. Und jeder von ihnen verlangte, dass Bob Klugman ihm recht gab. Er verstand es nicht, sie unter einen Hut zu bringen, sie zu besänftigen, wenn sie erregt, sie aufzumuntern, wenn sie niedergeschlagen waren, und im Lauf der Jahre hatte er die Tuchfühlung zu den einzelnen Fachbereichen verloren, so dass er heute kaum noch ihren Argumenten folgen konnte. Manchmal träumte er von der Zeit, als er sein eigenes kleines Büro hatte, wo keiner hereinplatzen konnte, wenn er wochen-, monate-, ja einmal sogar jahrelang in seine eigenen Probleme vertieft war, als er niemanden störte und nichts verlangte als Zeit und einen Raum für seine Arbeit. Das waren noch Zeiten, dachte er.

Mit ihm war leicht zu karren gewesen, das wusste er. Er hatte bei seinen Vorgesetzten keine unmöglichen Forderungen gestellt, hatte sie respektiert, und sie hatten ihn seinerseits respektiert. Und dann wurde alles anders. Die neue Brut, dachte er bitter, hatte für die Altgedienten nur Verachtung übrig. Sie glaubten, er würde senil und man könne ihn geringschätzig behandeln, weil er alt und ausgepumpt war, weil er sich manchmal wie zerschlagen fühlte. Selbst seine Frau zeigte seiner Erschöpfung gegenüber nur Verachtung und jagte ihn von einem Arzt zum anderen. Sie würde erst zufrieden sein, wenn er nichts mehr tun konnte als dasitzen und die Wand anstarren. Wenn sie ihre Ruhe hätte. Wenn du krank bist, dann geh zum Arzt! Wenn du nicht krank bist, hör auf zu jammern und den Kranken zu spielen! Nur weil sie seine Krankheit nicht zu diagnostizieren fähig waren, nur weil keiner seine Qual finden, ihn heilen konnte, behauptete sie, er sei nicht organisch krank. Dein einziges Problem ist das Saufen!

Er schloss die Augen. Nicht wahr. Er war krank, und nichts konnte ihm helfen. Nichts. Sein Rücken schmerzte, sein Kopf tat weh, und stets drohte die Gefahr einer Herzattacke, mit seinem Magen stimmte es nicht, und er schlief schlecht … Er spürte Tränen aufsteigen, zog die Schreibtischschublade auf, holte die Flasche heraus und schenkte sich ein halbes Glas Scotch ein. Und jetzt das, jetzt, wo Gus nicht da war, und niemand greifbar war, der sich darum hätte kümmern können. Und sie behandelten ihn wie Dreck, schlechter als Dreck.

Er nahm den Hörer ab und bat seine Sekretärin, ihn mit Gus zu verbinden, und als sie meldete, in seinem Hotelzimmer auf Antigua antworte niemand, sagte er, sie solle es weiter versuchen, bis sie ihn an der Strippe hätte, sie solle ihn ausrufen lassen, ihn herbeischaffen. Keine Ruhe geben, bis sie ihn hätte.

Anne lehnte sich in ihrem Sessel zurück und wartete, dass Ronnie das Mittagessen brachte. Sie zog ihre Decke höher und schloss die Augen, um die Stellungnahme des Doktors Wort für Wort noch einmal durchzugehen. »Sie brauchen mehr Training, junge Frau. Sie werden schlaff. Wir werden Ihnen heute Krücken anmessen und ab nächste Woche fangen wir wieder mit dem Laufen an. Was halten Sie davon?«