Huysmans Schoßtierchen - Kate Wilhelm - E-Book

Huysmans Schoßtierchen E-Book

Kate Wilhelm

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wissenschaftlicher Durchbruch

Stanley Huysman, einst gefeierter Wissenschaftler und Nobelpreisträger, verbrachte seine letzten Lebensjahre mit eigensinnigen Experimenten, die bei seinen Kollegen wenig Beachtung fanden. Erst nach seinem Tod wird klar, wie brillant der Exzentriker wirklich war, als Huysmans Witwe Irma den Schriftsteller Drew Lancaster damit beauftragt, die Biografie ihres verstorbenen Mannes zu schreiben. Drew entdeckt in dessen Notizen schier Unglaubliches: Huysman hat es tatsächlich geschafft, das Erbgut seiner Testsubjekte so zu manipulieren, dass sie zur Telepathie fähig werden. Doch das ist nicht alles. Drew entdeckt außerdem, dass Huysmans Assistent, Clyde Dohemy, das Projekt an sich gerissen und Forschungsgelder beantragt hat. Drew, Irma und eine kleine Gruppe von Huysmans Studenten machen sich daran, Clyde das Handwerk zu legen – und geraten dabei in eine Verschwörung, die sich bis in die höchsten Kreise der Regierung zieht …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 453

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



KATE WILHELM

HUYSMANS

SCHOSSTIERCHEN

Roman

Das Buch

Stanley Huysman, einst gefeierter Wissenschaftler und Nobelpreisträger, verbrachte seine letzten Lebensjahre mit eigensinnigen Experimenten, die bei seinen Kollegen wenig Beachtung fanden. Erst nach seinem Tod wird klar, wie brillant der Exzentriker wirklich war, als Huysmans Witwe Irma den Schriftsteller Drew Lancaster damit beauftragt, die Biografie ihres verstorbenen Mannes zu schreiben. Drew entdeckt in dessen Notizen schier Unglaubliches: Huysman hat es tatsächlich geschafft, das Erbgut seiner Testsubjekte so zu manipulieren, dass sie zur Telepathie fähig werden. Doch das ist nicht alles. Drew entdeckt außerdem, dass Huysmans Assistent, Clyde Dohemy, das Projekt an sich gerissen und Forschungsgelder beantragt hat. Drew, Irma und eine kleine Gruppe von Huysmans Studenten machen sich daran, Clyde das Handwerk zu legen – und geraten dabei in eine Verschwörung, die sich bis in die höchsten Kreise der Regierung zieht …

Der Autor

Kate Gertrude Meredith wurde am 8. Juni 1928 in Toledo, Ohio geboren. Nach ihrem Highschool-Abschluss arbeitete sie zunächst als Model, Telefonistin und Schreibkraft, ehe sie 1947 Joseph Wilhelm heiratete. Sie begann 1956 mit dem Schreiben von Science-Fiction-Kurzgeschichten; noch im selben Jahr erschien »The Pint-Size-Genie« im Magazin Fantastic

Titel der Originalausgabe

HUYSMAN'S PETS

Aus dem Amerikanischen von Irene Bonhorst

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1986 by Kate Wilhelm

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Prolog

14. März 1970: Kansas City. Nasser Schnee schmolz und bildete Rinnsale, die ineinanderflossen und in den Gossen zu Strömen wurden. Bereits gegen acht war die Luft lind. Kinder trugen die Mäntel offen, die Fausthandschuhe steckten in den Taschen; ihre Finger waren feurig rot und fühlten sich heiß an. Der schwere, nasse Schnee eignete sich hervorragend für Schneebälle. Die Schulglocke schrillte, und zögernd trottete die Horde Kinder zu den Türen, hie und da wurde noch ein letzter Schneeball geworfen, noch einmal über die Fläche geschlittert. Einer der Jungen stopfte einem der Mädchen zwei Handvoll Schnee unter den Pullover, und das Mädchen jagte ihn kreischend um das Backsteingebäude herum. Die Glocke klingelte zum zweiten Mal; von jetzt an würden sie eine Eintragung wegen Zuspätkommens erhalten. Lisa Robbins, die die sechste Klasse besuchte, hatte sich abgesondert, da sie nicht mit den kleineren Kindern spielen wollte. Jetzt rannte sie hinter den anderen her die breite Treppe hinauf, auf der obersten Stufe hielt sie jedoch abrupt inne. Jemand prallte von hinten auf sie, und sie strauchelte; sie griff nach dem Geländer, um sich einen Halt zu verschaffen. Ihr Gesicht sah zusammengeschrumpft aus, wie vor Kälte erstarrt. Sie drehte sich um und ging die Treppe wieder hinunter, gegen den Strom der Nachzügler, die jetzt noch in die Klassenzimmer hasteten. Nach der letzten Stufe beschleunigte sie ihren Schritt, entfernte sich vom Gebäude; sie warf keinen Blick zurück, ihre Körperhaltung war steif, mit starr geradeaus sehenden Augen und verkrampften Händen. Bei jedem Schritt stieß ihr der Behälter mit der Pausenverpflegung gegen das Bein.

Das Haus, in dem sie wohnte, lag nur vier Blocks entfernt, eine Doppelhaushälfte in einer Wohnanlage, wo alle Gebäude nichtssagend grau waren und weder Garagen hatten noch richtige Gärten, sondern nur ein Fleckchen Rasen zwischen jedem Haus und der Straße, wo die Autos so dicht, wie es nur ging, geparkt waren – Schnauze an Heck an Schnauze. Ihre Fußabdrücke im Schnee waren zerflossen, jeder war größer als ihre beiden Füße zusammen, rund und schwarz durch geschmolzenen Schnee und schmutziges Wasser.

Zu dieser Zeit war niemand auf der Straße; die Kinder waren alle in der Schule und die Eltern zur Arbeit gegangen, oder sie machten sich noch fertig, um zur Arbeit zu gehen; für den Postboten oder die Lieferanten war es noch zu früh. Sie musste erst den Schlüssel in ihrer Tasche suchen, bevor sie die Tür aufschließen konnte. Ihre Mutter befand sich im Badezimmer und machte sich für ihren Job im Restaurant fertig. Das Kind zog weder Stiefel noch Jacke aus. Es stellte den Behälter mit der Pausenverpflegung auf den Küchentisch und klopfte an die Tür des Badezimmers.

Judy war bereits mit Duschen fertig und halbwegs angezogen. Als sie die Tür öffnete und ihre Tochter sah, mit aschfahlem Gesicht und vor Angst wie gelähmt, sog sie heftig die Luft ein.

»Jene Leute sind in der Schule«, sagte Lisa.

»Ich beeile mich«, antwortete ihre Mutter. »Hol die Kiste aus der Kammer und die Koffer!«

Fünfzehn Minuten später saßen sie in dem zwei Jahre alten Ford und verließen die Stadt in Richtung Westen. Es dauerte noch fast eine Stunde, bis sich das Kind langsam erholte.

3. April 1970: In diesem Jahr besuchten sechs schwarze Kinder die sechste Klasse der Lincoln-Grundschule, und in den Pausen sonderten sie sich mit Bedacht gegen die anderen Schüler ab. Es waren vier Mädchen und zwei Jungen; sie spielten mit einem Ball nach Regeln, die nur sie kannten. Die Schüler der dritten Klasse hatten zur gleichen Zeit Pause, aber die größeren Kinder schenkten den kleineren keinerlei Beachtung. Ihr Spiel war zu rau für diese Babys. Die Glocke ertönte, und sie schossen wie ein winziger Insektenschwarm durcheinander, wobei sie den Ball immer noch in der Luft hielten. Einer von ihnen, Franklin Gillette, blieb plötzlich stehen, mit einem Gesichtsausdruck, als ob er auf etwas lauschte. Ein Mädchen gab ihm einen Stoß in die Seite und flitzte davon, aber er bewegte sich nicht von der Stelle. »Los, komm!«, riefen sie ihm zu und rannten lachend vor und zurück. Er drehte sich um und lief schnell weg, zu den Fahrradständern, wo er die Kette eines Rads aufschloss und mit höchster Geschwindigkeit davonbrauste.

Er fuhr in Richtung des Apartmenthauses, in dem er wohnte, aber als er fast dort angekommen war, bog er scharf ab und radelte stattdessen eine Allee entlang und anschließend durch eine Seitenstraße, bis er schließlich auf die Hauptstraße kam, die zum Highway und aus der Stadt hinaus führte. Er trat mit aller Kraft in die Pedale. Der Geschmack der Angst in seinem Mund erinnerte ihn an die Münzen, die sie manchmal auf Eisenbahnschienen legten; es war der gleiche kupferne Geschmack, der nicht verschwinden wollte.

Er wusste, dass er nicht auf dem Highway weiterfahren konnte. Er nahm eine Ausfahrt in der Nähe der Verladeanlage, und dort ließ er das Fahrrad fallen und schwang sich auf die Ladefläche eines Güterwaggons. Er hatte so etwas noch nie gemacht, aber er hatte es im Kino gesehen, und die anderen Kinder hatten davon erzählt. Er kauerte sich so weit in die Ecke, wie er konnte, und man fand ihn erst, als der Zug schon außerhalb von Oklahoma City war; dort warf man ihn hinaus.

1. Juni 1970: Mrs. Hendersons Gesicht war gerötet, und ihr Haar war vom Schweiß durchnässt, als die Sechstklässler endlich in die Turnhalle getrottet kamen und ihre Plätze einnahmen, ohne dass einer von ihnen hingefallen wäre oder einen anderen angerempelt hätte, ohne jedes ungehörige Geräusch, das sie alle zu einem Ausbruch wilden Gelächters hingerissen hätte, ohne ungebührliches Scharren und Schieben und Poltern beim Einnehmen der Plätze. Es war ein Fehler, dachte sie missgestimmt, sie paarweise hereinmarschieren zu lassen. Sie hatte es allen anderen immer wieder gesagt, dass das ein Fehler war, aber wer hörte schon auf sie? Keiner! Fünfmal war sie gezwungen gewesen, die Übung wiederholen zu lassen. Fünfmal!

»Und denkt morgen daran, es wieder genauso zu machen«, hatte sie sie streng ermahnt. »Wenn ihr wieder durcheinanderlauft, dann werde ich … werde ich …«

Jemand kicherte, und auch sie musste lächeln. Was konnte sie tun?

»Das hat gut geklappt«, sagte sie dann. »Es hat wirklich ordentlich ausgesehen. Bobby, scharre nicht mit dem Stuhl, wenn du dich hinsetzt, ja? Und Sandra …«

Eins der Mädchen – Michelle? – war aufgestanden. Sie sah bleich aus, krank.

»Was ist los, meine Liebe?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf, mit weit aufgerissenen Augen, alle Farbe war bis zu den Lippen aus ihrem Gesicht gewichen.

»Alle übrigen gehen jetzt zurück in ihre Klassenzimmer. Also los, und seid leise in den Fluren! Denkt daran, dass die anderen Klassen Unterricht haben. Setz dich, Michelle! Geht es dir nicht gut?«

Ein paar der Mädchen drängten sich in einer Traube um Michelle. Einige der Jungen spielten quer durch die Turnhalle Fangen; Stühle wurden mit dem scharrenden Geräusch von Holz auf Holz verschoben. Der Turnlehrer würde einen Anfall bekommen …

»Ihr Mädchen, geht jetzt! Ich werde mich um Michelle kümmern.« Mrs. Henderson griff nach der Hand des Mädchens. Sie war kalt, feucht. »Komm mit, meine Liebe! Ich bringe dich ins Büro, dort kannst du dich etwas ausruhen. Ich nehme an, die Aufregung war zuviel für dich.«

»Ich muss nach Hause gehen«, flüsterte sie.

»Das werden wir sehen. Vielleicht solltest du dich einfach erst mal für eine Minute oder zwei hinlegen.«

»Ich muss gehen. Ich … ich muss mich übergeben.«

Mrs. Henderson drückte sie sanft auf einen Stuhl. Sie sah die drei Mädchen an, die immer noch herumstanden. »Sandra, bitte geh ins Büro und bitte Mr. Holbein, herzukommen! So, und jetzt weg mit euch, mit euch allen! Hinaus!«

Offensichtlich zögernd entfernten sie sich. Mrs. Henderson setzte sich neben Michelle und hielt ihre Hand. »Ich werde dich nach Hause bringen, aber wir müssen erst die Erlaubnis von Mr. Holbein einholen. Einverstanden? Kannst du es noch eine oder zwei Minuten aushalten?«

Sie nickte, aber es war nicht zu übersehen, dass sie krank war und unter Schüttelfrost litt. Mrs. Henderson seufzte. Sie konnte sich nicht erinnern, dass jemals eine Abschlussfeier ohne irgendeinen Zwischenfall abgelaufen wäre, und jedes zweite Jahr war sie für die verdammte Veranstaltung verantwortlich.

»Was ist los?«, fragte Gregory Holbein in gebieterischem Ton, als er die Halle betrat, die sein Echo zurückwarf. Er war der Schuldirektor.

»Ich muss Michelle nach Hause bringen. Sie fühlt sich nicht wohl.«

Er kam zu ihnen, sah das Mädchen forschend an und runzelte die Stirn. »Würden Sie für einen Moment mit mir hier hinübergehen, Mrs. Henderson?« Er durchkreuzte die Halle bis zur Wand und wartete ungeduldig, dass sich Mrs. Henderson zu ihm gesellte.

»Sie wissen, dass wir eine vollzählige Teilnahme bei diesen Tests benötigen«, sagte er mit einem strengen Unterton. »Heute ist der erste Tag seit einem Monat, an dem alle Teilnehmer vollzählig anwesend sind. Sie wissen doch, wie wichtig das Ganze ist.«

»Sehen Sie sie doch an! Sie wird sich jeden Augenblick übergeben.«

»O Gott! Ich habe angerufen und gesagt, dass sie heute kommen könnten. Sie warten, alles ist vorbereitet. Ich habe gesagt, dass heute alle Teilnehmer vollzählig anwesend wären.«

»Nun, lassen Sie es bei dieser Information. Was soll ich sagen? Sie ist krank. Ich dachte schon, sie würde ohnmächtig. Die Kleine muss nach Hause. Sagen Sie keinem, dass jemand fehlt. Dies ist kein Test, der für uns oder den Vorstand entscheidend ist; es wird kein Protokoll geführt. Sagen Sie einfach niemandem, dass jemand fehlt.«

Er atmete tief durch. »Geleiten Sie sie zur Hintertür hinaus. Ich werde kein Wort darüber verlieren, und Sie um Himmels willen auch nicht!«

»Ich werde mindestens eine Stunde lang wegbleiben. Bis dahin werden sie gegangen sein. Keine Sorge, Greg. Bis nachher.«

Sie ließ sich ihre Belustigung nicht anmerken. Wie er innerlich kochte, wenn ihm einer der älteren Lehrer sagte, was zu tun war oder ihn beim Vornamen ansprach, als ob er ein Kind sei! Sie tat das nicht oft, nur ab und zu, um ihn nicht übermütig werden zu lassen. Sie ging zurück zu Michelle. »Kannst du laufen, meine Liebe?«

»Ich glaube schon.« Sie schwankte. Als sie durch die Tür ins Freie traten, hielt sie sich am Rahmen fest, und ihr Gesicht krampfte sich zusammen.

»Warte hier, ich bringe den Wagen hierher. Geht das?«

»Ja, ich werde es schaffen.«

Mrs. Henderson beeilte sich, und als sie mit dem Wagen zurückkam, hielt sich das Mädchen immer noch an der gleichen Stelle fest. Sie half ihr beim Einsteigen. Michelle legte den Kopf auf die Knie, während Mrs. Henderson über das Schulgelände und hinaus auf die Straße fuhr und in Richtung ihrer Wohnung steuerte. Als sie sich einige Blocks von der Schule entfernt hatten, setzte sich die Kleine wieder aufrecht hin; ihre Wangen bekamen wieder Farbe, trotzdem sah sie nicht so aus, als ob sie wieder ganz gesund wäre. Es war das beste, dass sie nach Hause kam, das wusste Mrs. Henderson. Wahrscheinlich brauchte sie einen Arzt, eine gründliche Untersuchung, irgendetwas in der Art.

Michelles Mutter war zu Hause, dem Aussehen nach ein alleinerziehender Elternteil. Das Haus war gediegen eingerichtet, sauber, wenn auch klein. Kein Anzeichen deutete darauf hin, dass ein männliches Wesen hier wohnte.

Die Mutter des Mädchens sah besorgt aus, und Mrs. Henderson versicherte ihr, dass es nichts Ernstes sei, dass Mädchen in diesem Alter oft durch das Einsetzen der Periode Schwächeanfälle erlitten, oder durch Aufregung … Als sie die Kleine und ihre Mutter verlassen hatte, fuhr sie langsam davon; sie hatte es nicht eilig, in die Schule zurückzukommen. Genaugenommen hatte sie nicht die Absicht, vor dem Ende des Unterrichts zurück zu sein. Sie hielt vor einem Café an, trank einen Kaffee und rauchte eine Zigarette, bis es Zeit war, zurückzukehren. Als Michelle am nächsten Tag fehlte, war sie nicht überrascht; sie hatte eigentlich anrufen und sich nach ihr erkundigen wollen, aber die Generalprobe fand statt, und einer der Jungen stieß einen Stuhl von der Empore, und im ersten Moment dachten alle, dass der Junge, auf den er gefallen war, einen Arm gebrochen hätte, aber ihm fehlte nichts, und dann war der Tag auch schon vorbei. Michelle erschien zur Abschlussfeier an diesem Abend nicht. Mrs. Henderson sah sie niemals wieder.

Eins

Die Straße war eine nasse schwarze Schlange, die sich durch einen dichten Wald im nördlichen Teil des Staates New York wand. Der Regen hatte aufgehört, aber es tropfte noch von den Bäumen, und Pfützen schimmerten auf dem Körper der Schlange, hinterhältige Flecken, die glatt und eben oder genauso gut Schlaglöcher sein konnten. Und es war verdammt kalt. Juli, dachte Clay Moseby immer wieder voller Missmut. Es war Juli, und es war kalt! Er verlangsamte das Tempo von fünfundzwanzig Meilen auf zwanzig und beugte sich vor, um die Namen auf einer Gruppe von Briefkästen zu lesen, die plötzlich aufgetaucht war. Er suchte Jay Rissel. Er hatte den Glauben an Jay Rissel verloren. Gleich ein paar Meilen nach der Abzweigung, ha! Ein Tier flitzte über die Straße, und er drosselte die Geschwindigkeit noch mehr. Er hatte nicht erkannt, was es war. Ein Opossum? Ein Murmeltier? Ein Waschbär? Tiere gehörten in den Zoo, mit Namensschildchen vor ihren Käfigen, verdammt! Eine weitere Gruppe von Briefkästen stand neben der Straße in Reih und Glied. Der dritte war mit JAY RISSEL beschriftet. Er fuhr noch langsamer und suchte die Einfahrt. Die erste nach den Briefkästen, rechts. Wenn er das Haus nicht bald fände, das wusste er, dann würde er es heute überhaupt nicht mehr finden. In einer halben Stunde wäre es dunkel. Niemand konnte auf einer Straße wie dieser etwas finden, wenn es erst einmal dunkel war. Schwarze Bäume, schwarze Straße, Regen, Tiere, die die Straße für sich beanspruchten, sobald sich das Tageslicht senkt. Vielleicht Bären und ähnliche gefährliche Viecher, wer weiß?

Fast hätte er die Einfahrt übersehen, so schmal war sie, so dicht von Bäumen gesäumt. Manche Leute wohnten tatsächlich hier, das ganze Jahr über, steckten im Winter bis zu den Arschbacken im Schnee. Sie schickten ihre Kinder in Bussen zur Schule, die sich durch die Bäume schlängelten und kaum ausreichend Platz zum Wenden hatten, und wenn ihnen etwas Breiteres als ein Fahrrad entgegenkam, sah es ganz düster aus … Die Einfahrt war ein Kiesweg, gerade breit genug für einen Wagen, und der Wind peitschte hier noch stärker als auf der Straße. Unvermittelt endete er vor einem Blockhaus.

Niemand antwortete, als er gegen die Tür pochte; er drückte auf die Klinke und stellte fest, dass nicht abgeschlossen war. Er trat ein, machte einen Rundgang durch das Haus, in dem es dunkler war als draußen, und fand schließlich Drew Lancaster auf einer Plattform hinter dem Haus, von der aus man über den See blicken konnte. Der See lag so reglos da, dass er wie künstlich aussah, ein Gemälde, auf dem die Farbe noch nass war.

»He, Drew, wie geht's?«

»Gut, Clay. Wie hast du mich gefunden? Oder besser, warum hast du dir die Mühe gemacht?«

»Pat hatte deine Adresse. Sie lässt dich grüßen.«

»Sei gegrüßt, Pat.«

Drew war groß; so wie er jetzt ausgestreckt auf einer Liege lag, sah er sogar noch größer aus als seine Einsachtzig und noch was und dünner, als ihn Clay in Erinnerung hatte.

Clay setzte sich und sah ihn forschend an. Ein paar Minuten lang sprach keiner von beiden, bis Clay fragte: »Wo gibt's was zu trinken?«

»In der Küche. Bedien dich!«

»Gut. Gleich wieder da.«

Diesmal schaltete er ein Licht an, wühlte in den Schränken herum, fand ein Glas und füllte es zur Hälfte aus einer Flasche, die auf der Bartheke stand. Das Zeug war zu kalt, als dass er noch hätte Eis zufügen müssen.

»Was machst du hier draußen?«, fragte er, als er wieder auf die Plattform zurückgekehrt war.

»Zusehen, wie die Fische springen.«

Clay nahm einen tiefen Schluck.

»Schau mal! Siehst du den Ring da draußen, wo ich hinzeige? Fische. Sie kommen zu dieser Tageszeit an die Oberfläche, um sich was zu essen zu fangen.«

»Wenn du nicht gerade Fische beobachtest, was machst du dann hier draußen?«

»Ich hüte das Haus für meinen alten Freund. Schade, dass er nicht hier ist. Ich könnte euch vorstellen: ›Clay, Jay‹.«

»Pat hat gesagt, dass das Haus neun oder zehn Monate im Jahr leer steht. Das braucht keiner zu hüten.«

Drew hob die Schultern.

»Wann kommst du wieder in die Stadt?«

»Welches Datum haben wir?«

»Den zehnten Juli.«

»Vielleicht im Oktober. Vielleicht im Dezember. Vielleicht nie.«

»Hast du die Sachen gelesen, die ich dir geschickt habe?«

»Über Huysman? Einiges davon.«

»Wirst du das Buch schreiben?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Warum nicht?«

»Ich habe mich zur Ruhe gesetzt.«

Clay nahm noch einen Schluck, einen noch tieferen. Es war guter Bourbon. »Du kannst dich noch nicht zur Ruhe setzen, verdammt. Du bist erst vierzig Jahre alt.«

»Zweiundvierzig.«

»Ich bin zweiundsechzig. Huysman war fünfundachtzig, als er starb.«

»Da siehst du ja, was es ihm gebracht hat, dass er sein ganzes Leben lang gearbeitet hat. Es hat ihn schließlich umgebracht.«

»Sehr komisch! Hör mal, er war ein berühmter Mann. Nobelpreis und all so was. Er ist genau das Richtige für dich. Seine Witwe sagt, dass niemand sonst an seine privaten Sachen rankommt. Searles will, dass du es machst. Ich kann den größten Vorschuss für dich lockermachen, den du je bekommen hast. Tatsächlich ist er schon in die Wege geleitet, du wirst entzückt sein.«

»Er war ein schrecklicher Kerl. Ich mag ihn nicht.«

»Du brauchst ihn nicht zu mögen. Niemand mochte ihn, nicht mal seine Witwe, aber er liefert Stoff für ein wahnsinniges Buch! Niemand erwartet, dass du ein Loblied auf ihn singst, verdammt.«

»Weißt du, warum ich ihn nicht leiden kann? Nicht etwa, weil er ein Faschist war – falls er das wirklich war –, auch nicht, weil er ein Arschkriecher der Regierung war, und das war er wirklich. Nicht aus diesen Gründen. Sondern weil er ein Genie war. Deswegen hasse ich ihn. Ich bin kein Genie. Du bist keins. Nur wenige von uns sind es, aber er war eins; und er wusste es und verachtete jeden, der keins war. Deswegen hasse ich ihn.«

»Drew, mag sein, dass du heute das Geld nicht brauchst, auch nicht dieses Jahr, aber denk doch an nächstes Jahr oder an die Zeit in zehn Jahren. Du musst an die Zukunft denken, und es kommt verdammt viel Geld dabei raus. Seine Witwe hat mich sogar angerufen. Weißt du, wer alles hinter seinen privaten Sachen her ist? Vidal! McPhee! Sogar Manchester! Und allen hat sie gesagt, sie sollen abhauen. Sie mag die Art, wie du schreibst. Ihr gefiel das Buch über Strawinsky und das über Eisenhower. Sie möchte, dass du auch dieses schreibst. Eine autorisierte Biographie. Niemand anders als du!«

»Sehr schmeichelhaft.«

Es wurde zu dunkel, als dass man seine Gesichtszüge noch hätte erkennen können; sein Gesicht war ein blasser Fleck im düsteren Licht der Dämmerung. »Hast du irgendwas zum Essen im Haus?«

»Steaks im Gefrierschrank. Gemüse und Salat im Frischhaltefach. Bedien dich!«

»Ich mache uns was zu essen. Bist du bekifft?«

Drew lachte mit einem tiefen, grollenden Ton, der sich irgendwie freudlos anhörte. »Komisch. Dafür bin ich eigentlich hier rausgekommen, ich wollte jeden Abend durch irgendwas high werden, und bis jetzt habe ich es noch nicht einmal gemacht. Aber ich werde es machen. Ich vergesse es bloß dauernd, aber eines Tages werde ich es machen.«

Drew merkte nichts davon, als Clay ihn verließ. Die Leuchtkäfer drehten jetzt ihre Runden, blitzten da und dort über dem See auf, und Fledermäuse schrien, wenn sie aus dem Gleitflug zum Sturzflug ansetzten … Am gegenüberliegenden Seeufer waren die Lichter in den Sommerhäusern angegangen, und aus der Ferne drangen nicht voneinander zu unterscheidende Stimmen herüber, Worte, die nur Geräusche waren und nichts bedeuteten. Wahrscheinlich hatte Clay recht, dachte er; er sollte an nächstes Jahr denken, an die nächsten zehn Jahre. Doch er beschloss, dass Clay nichts verstand, auch Pat nicht, niemand verstand etwas. Huysman würde es jetzt verstehen, obwohl er vor seinem Tod die gleichen Schwierigkeiten wie alle anderen auch gehabt hatte, daran bestand kein Zweifel, Genie oder nicht. Aber jetzt würde er es verstehen. Alles war so verdammt gleichgültig, das war das Geheimnis, und um darüber nachzudenken, war Drew an den See gekommen; und jetzt hatte er schon wie lange darüber nachgedacht? Sechs Wochen, zwei Monate? Er wusste, das war das letzte Geheimnis, das kaum jemand anerkennen konnte.

Clay würde ihm vorschlagen, sich eine neue Frau zu suchen, wenn er seine Entdeckung ihm gegenüber erwähnen würde. Das war Clays Lösung für jedes Problem – ein neues Betterlebnis, ein neuer Kitzel, eine neue Bindung. Das Leben ist wie Quecksilber, sagte er manchmal, es rast hierhin und dorthin, bleibt niemals still. Wenn du aufhörst, dich zu bewegen, bist du tot, Junge. Finito! Beweg dich! Bleib am Ball! Such dir was Neues, das Spaß macht. Clay dachte bestimmt, es läge daran, dass ihn Pat verlassen habe; bestimmt dachte er das. Die meisten Leute waren der Ansicht, dass er etwas viel zu schwer nahm, das schließlich jeden Tag überall auf der Welt vorkam. Niemand konnte doch erwarten, dass ein Mann und eine Frau viel länger als ein paar Jahre zusammenblieben, verdammt. Das war doch total altmodisch! Er, Drew, erwartete es nicht. Und er, Drew, war sich klar darüber, dass er seine Entdeckung gemacht hatte, lange bevor Pat mit Sack und Pack aus der Wohnung auszog, auch Sherrys Sachen mitnahm und zurückzog nach Richmond und Washington, ein Wunder auf Treu und Glauben, das gleichzeitig an zwei Orten lebte.

Er brauchte das Geld wirklich nicht, grübelte er, während er die blassgrünen Lichter und gelben Lichter in ihren ziellosen Bewegungen beobachtete, Brownsche Bewegungen. Seine Bedürfnisse waren verhältnismäßig gering. Es war angenehm, wenn man eine Frau mit einem eigenen Vermögen hatte, die klagte nicht auf Unterhaltszahlung, und es fielen keine Rechtsanwaltgebühren an. Deins bleibt deins, und meins bleibt meins, hatte sie gesagt, und sie hatte Sherry mitgenommen, die also demnach ihrs war, außer in den Ferien und an einigen Feiertagen und wenn er nach Richmond kommen durfte. Er durfte jederzeit nach Richmond kommen, hatte Pat ihm versichert. Er könnte leben, wo es ihm Spaß machte. Aber bestimmt nicht in Richmond, Baby, an keinem Ort im Süden, in dem Land, wo Frauen noch Frauen sind und Männer Männer und nur ein toter Schwarzer ein guter Schwarzer ist und weibliche Kinder automatisch ihrer Mutter gehören.

»He, Drew, komm rein und iss was! Mein Gott, da draußen ist es saukalt.«

Sie aßen in der Küche. Das Haus war karg eingerichtet mit Sperrmüll-Stühlen und wackeligen Tischen. In den beiden Schlafzimmern standen primitive Bettgestelle, und im Wohnzimmer gab es noch ein Feldbett.

Sie aßen schweigend. Clay hatte eine Tomate zu den Steaks aufgeschnitten, und beide tranken Bourbon.

»Im Ernst«, sagte Clay und schob seinen Teller zurück, »was machst du an einem Ort wie diesem?«

»Schwimmen. Fischen. Wandern.«

»Und denken?«

»Kaum.« Er hatte festgestellt, dass er stundenlang wandern konnte und sich hinterher an keinen einzigen Gedanken erinnerte. Er fragte sich, ob sein Gehirn abgestorben war oder nur Ferien machte. Das bereitete ihm jedoch keinerlei Sorgen.

»Komm zurück, Junge! Überleg dir die Sache mit dem Buch, und wenn du es dann wirklich nicht machen willst – okay. Ich werde dir nicht böse sein. Manchmal geht es einfach nicht. Aber befasse dich wenigstens mal damit.« Er stand auf. »Hast du irgendwo Kaffee?«

»Im Kühlschrank.« Er leerte sein Glas in einem Zug, prüfte, ob er an sich ein Anzeichen von Betrunkenheit finden konnte und fand keins. Er hatte etwas zuwenig getrunken, entschied er. Er war kein ernsthafter Trinker. Pat hatte recht: Er war in keiner Beziehung ernsthaft. »Warum arbeitest du noch?«, fragte er Clay.

»Wegen des Geldes. Warum sonst?«

»Du hast mehr davon als jeder andere. Wie viel ist genug?«

»Das gibt es nicht, Junge. Es ist niemals genug. Egal wo du bist, es ist niemals genug.«

Drew nickte. Das war ein offenes Geheimnis. Geld. Antriebskraft erster Ordnung. Der eigentliche Anlass, der hinter jedem anderen Anlass stand. Das wahre Geheimnis war, dass es Antrieb für sich selbst war. Wo was ist, kommt immer mehr dazu, sagte man. Wo nichts ist, kann man nicht damit rechnen, jemals in den Genuss einer ordentlichen Prise zu kommen. Ganz einfach. Er war sich nicht sicher, wie er in dieses Schema passte. Der Süden war nichts für ihn, denn er konnte sich nicht in der Art der ›anständigen Kerle‹ verhalten, aber genauso wenig konnte er dem Geld auf die Art, wie man sie im Norden pflegte, nachjagen. Er beschloss, dass für ihn eine dritte Kategorie geschaffen werden musste: Typen, die sich nichts draus machten, stolperten von Zeit zu Zeit über Berge von Geld, ohne sich dafür anzustrengen, und es war ihnen völlig egal; oder sie landeten irgendwann in der Gosse, und das war ihnen ebenfalls völlig egal.

Die Stille wurde unterbrochen, als der Kaffeekessel sein eigenartiges schniefendes Geräusch von sich gab. Er protestierte jedes Mal, wenn er etwas zu tun bekam. Schließlich ertappte er sich doch dabei, dass er über Stanley Everett Huysman nachdachte. Warum hatte er bis zu seinem Ende gearbeitet, oder immerhin so lange, bis ein Schlaganfall ihn niederstreckte, dem der Tod innerhalb eines Jahres folgte? Das war ein Mysterium. Fünfundachtzig beschissene Jahre alt. Eine biblische Lebensdauer. Ein ehrfurchtgebietendes Alter, das Alter, das unsere Vorväter mit Würde und harter Arbeit und der sicheren Überzeugung erreichten, dass es ein Leben nach diesem geben werde, das noch länger und würdevoller und ehrfurchtgebietender sein würde. Er lachte, und als Clay ihn fragend ansah, zuckte er die Achseln.

»Warum nicht? Vielleicht mache ich es. Was hat ihn getrieben? Geld?«

»Wahrscheinlich. Hast du irgendwo Sahne?«

»Nein. Und Zucker auch nicht. Ich vergess das dauernd.«

Clay seufzte, goss für sie beide Kaffee ein und stellte die Tassen auf den Tisch. »Lass mich dir etwas über Irma, die Witwe, erzählen.« Er nippte probierend an seinem Kaffee, verzog das Gesicht und gab einen Schuss Bourbon hinein. »Sie lebt einen Teil der Zeit in New Haven, den Winter über in Mesa, Arizona, und einen oder zwei Monate verbringt sie im Sommer in Princeton. Sie ist dabei, das Haus in Princeton zu verkaufen. Deswegen ist ihr so daran gelegen, dass du bald anfängst, sagt sie. Seine Sachen werden zur Zeit in Kisten verpackt, und irgendwann werden sie als Schenkung einer Universität vermacht, aber vorher sollst du dich durchwühlen. Ihre Schenkung ist nämlich mit einer Auflage verbunden: fünfundzwanzig Jahre lang wird das Zeug unter Verschluss sein und für niemanden zugänglich.«

Drew nickte geistesabwesend, er hörte kaum zu. Drei Häuser, wenn das nicht allerhand ist! Das kam dabei heraus, wenn die Leute mehr Geld hatten, als sie ausgeben konnten: sie kauften immer noch ein Haus und noch ein Haus. Huysman hatte also nicht des Geldes wegen bis zu seinem Ende gearbeitet. Macht? Ehre? Prestige? Gewohnheit? Er grinste. Wahrscheinlich Gewohnheit. Was hätte er sonst tun sollen?

»… fragte Ed Searles, ob er der Ansicht sei, dass das Erscheinen einer Biographie zum jetzigen Zeitpunkt den Wert der anderen Bücher steigern würde, und Ed versicherte ihr, dass das seine Ansicht sei. Huysman muss im Lauf der Jahre ein Dutzend populäre Bücher geschrieben haben, die sich alle sehr gut verkauften.«

Am Nachmittag hatte sich eine Schlechtwetterfront aufgebaut und peitschenden Regen und eisigen Wind mitgebracht, und jetzt war es in der Blockhütte feucht und kalt. Er sollte ein Feuer anzünden, dachte Drew, und machte keinerlei Anstalten, hinauszugehen und unter dem Vordach nach trockenem Holz zu sehen. Irma war siebzig, erinnerte er sich. Er hatte das Material durchgesehen, das ihm Clay damals im Juni nach New York geschickt hatte, oder vielleicht war es auch schon im Mai gewesen, und er hatte es immer noch im Kopf. Sie war siebzig, also sechzehn Jahre jünger als ihr Mann. Sie war zweiundzwanzig gewesen und er achtunddreißig, als sie heirateten. Und was dann? Was hatte sie aus ihrem Leben gemacht, verheiratet mit einem berühmten, wenn auch etwas verrückten Wissenschaftler? Seine gleichermaßen verrückten Freunde unterhalten? Ihn von Juli bis August in Princeton besucht? Für eine ausreichende Zeit nach Hause zurückgekehrt, um abzustauben, einige Vorräte aufzustocken, zu prüfen, ob die Gardinen nicht schimmelten …?

Und jetzt wollte sie, dass von seinen Büchern noch mehr Exemplare verkauft würden, wollte noch mehr Geld machen. Wofür? Wofür brauchte sie noch mehr Geld? Für ein weiteres Haus? Pat war achtunddreißig. Sie war zweiundzwanzig gewesen, als sie heirateten, und er sechsundzwanzig. Pat hatte genau die Zeitspanne durchlebt, die Stanley Everett Huysman und seine Braut voneinander trennte, und Pat sagte, dass sie nicht mehr das Mädchen von einst sei, dass sie sich stattdessen zu einer neuen Frau entwickelt habe … Er unterdrückte das Lachen, das in ihm aufstieg, da er keine Lust hatte, es Clay zu erklären, und wusste, dass er es nicht würde erklären können. Ihm war schon mal der Gedanke gekommen, dass Pat im Falle seines Todes möglicherweise allerlei Anstrengungen unternähme, um den Erfolg seiner Bücher zu verlängern, den weiteren Verkauf zu sichern. Nicht wegen des Geldes, würde sie sagen und auch daran glauben, sondern eben so.

Später stand Drew auf der hinteren Terrasse und beobachtete, wie Nebelschwaden über den See zogen. Das Wasser war jetzt wärmer als die Luft, und dichte Nebelwände hatten sich aufgebaut, doch in der Mitte des Sees war er wie Schleier, ohne sich seiner selbst sicher zu sein. Durch den Dunst schimmerten die Lichter der anderen Häuser, lösten sich auf, verdichteten sich wieder, nur um erneut den Zusammenhalt zu verlieren. Geister wandelten über das Wasser, breiteten sich über dem Boden aus, wurden immer kühner und kletterten auf Bäume, streckten flüchtige Hände nach anderen Geistern aus, Hände, die dennoch den Himmel wegwischten und schließlich alles andere auch, bis es nur noch den Nebelgeist gab, der Besitz von der Nacht ergriffen hatte.

Er müsste nach Washington gehen und sämtliche Artikel lesen, die Huysman in all den todlangweiligen wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht hatte, die sich in der Kongress-Bibliothek befanden. Er dachte an die Holzstühle und verkratzten Tische dort, die stickige Luft, die düstere Beleuchtung, und er dachte an Pat, die in Washington ein Apartment hatte. Und ein Haus in Richmond. Er verließ die Terrasse, ging zum Telefon und wählte die Nummer der Telegrammaufnahme. Sein Text lautete: HABE ARBEIT; LASSE MIR DIE HAARE SCHNEIDEN; KANN ICH KOMMEN? ALLES IST VERGEBEN.

»Mein Mann«, sagte Irma Huysman in harschem Ton, »wird als der eigentliche Denker des Jahrhunderts in die Geschichte eingehen. Er ist oft verunglimpft und sogar lächerlich gemacht worden von seinen Zeitgenossen, die im Vergleich zu seinem Genie Mückengehirne waren, aber ihm wird die gebührende Ehre noch zuteil werden. Er war für die Physiologie und Biologie und Genetik das, was Einstein für die Physik war, nein, mehr als Einstein für die Physik war.« Sie war groß und hielt sich aufrecht, mit breiten Schultern und schweren Brüsten, doch dünnen Armen und Beinen. Ihr Haar war metallisch grau, kurzgeschnitten mit akkurat liegenden Locken, die wie aufgemalt aussahen.

»Ja, Ma'am«, sagte Drew von Zeit zu Zeit, wenn sie eine Pause machte und von ihm erwartete, dass er sich äußerte.

Das Haus in Princeton war dreigeschossig und elegant eingerichtet – französischer Landhausstil, edle Hepplewhite-Stücke. Ein chinesischer Teppich in blassem Blau und Gold war einige Zentimeter dick; es gab Lacktische mit schmuckvollen blauen Vasen, in denen Sträuße aus gold- und kupferfarbenen Dahlien arrangiert waren, und einen Leuchter, der funkelte und glitzerte, als ob er mit Diamanten bestückt wäre. Drew hatte Angst, sich zu bewegen.

Mit ihm und Irma Huysman befanden sich in diesem museumsartigen Ambiente noch Florence Charmody, von der er außer ihrem Namen nichts wusste, und ein Notar, Malcolm Letterman. Florence war eine steife Frau im Alter von irgendwas zwischen dreißig und fünfzig; sie hatte rote Haare und grüne Augen und trug etwas, das man als vernünftige Kleidung bezeichnen würde – ein maßgeschneidertes Kostüm, Schuhe mit flachen Absätzen, kein Make-up, keinen Schmuck außer einer schlichten Goldkette. Ihre Fingernägel waren kurzgeschnitten, sie trug keine Ringe, nur eine Uhr blitzte ab und zu hervor, wenn sie sich bewegte. Letterman war in den Sechzigern und gelangweilt.

»Ich möchte Ihnen eine Geschichte über meinen Mann erzählen«, sagte Irma. »Um zu verdeutlichen, was für ein Mensch er war. Die Leute bezeichneten ihn als Rassisten, und sie hatten nicht recht damit. Er machte sich niemals Gedanken über die Reinheit der Rassen. Das einzige, was er anstrebte, war eine Verbesserung der Qualität des menschlichen Geistes. Das war sein Lebensziel, sein Traum. Er widmete sein ganzes Leben diesem Zweck. Bei einer seiner Vorlesungen fragte ein Mann aus den Reihen der Zuhörer, ob Stanleys Eltern Genies gewesen seien. Nun, natürlich waren sie das nicht. Es waren ziemlich durchschnittliche Menschen gewesen, muss ich leider zugeben. Sein Vater war ein kleiner Regierungsangestellter, Buchhalter oder so etwas. Und seine Mutter … nun, ich vermute, sie konnte gut kochen. Wie auch immer, egal. Jedenfalls, als Stanley antwortete, dass sie ganz gewöhnliche Leute gewesen seien, gab der Mann einen Laut des Abscheus von sich, und lautes Lachen erklang. Nachdem es aufgehört hatte, sagte Stanley, und zwar so, als ob er die Unterhaltung weiterführen wollte: ›Was dazu noch zu sagen wäre, Sir, ist, dass sich durch die Beobachtung Ihres Verhaltens eindeutig bestimmen lässt, wo Ihre Eltern sich in der Intelligenzskala einordnen lassen.‹«

Drew blickte zu Florence, um zu sehen, ob sie die Pointe verstanden habe, aber ihre Aufmerksamkeit war von ihrem Daumennagel in Anspruch genommen. Letterman unterdrückte gerade ein Gähnen.

»Er achtete Intelligenz«, fuhr Irma fort. »Das war alles. Nicht Wohlstand, nicht gesellschaftlichen Rang, nicht irgendeine Art von Einfluss, sondern nur Intelligenz.« Sie stand auf. Drew bemerkte, dass sie sich an der Armlehne des Sessels festhielt, bis sie sicher auf den Füßen stand. »Es wird die Regel gelten, wie ich bereits Mr. Searles erklärt habe, dass nichts dieses Haus verlassen darf, bevor entweder ich oder Florence ihr Einverständnis dazu gegeben haben. Und ich behalte mir die letzte Entscheidung darüber vor, welches Material Sie zur Verwendung auswählen können. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden.«

Letterman war aufgesprungen und hatte sich ihr sofort zur Seite gestellt; jetzt hielt er ihr die Hand in der Schwebe hin, ohne jedoch ihren Arm direkt zu berühren. Gemeinsam verließen sie den Raum.

»Er berührt sie mit keinem Finger«, sagte Drew, als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte.

»Das hat er noch nie getan. Niemand würde es wagen. Ich bin übrigens eigentlich Dr. Florence Charmody«, sagte sie mit einem Seufzer. »Diesen Teil vergisst sie immer. Ich sehe seine Papiere durch, um zu untersuchen, ob nicht noch irgendetwas auftaucht, das posthum unbedingt veröffentlicht werden sollte.«

»Doktor der Medizin?«

Sie schüttelte den Kopf. »Physiologin. Er war mein Studienberater, und anschließend habe ich ein paar Jahre für ihn gearbeitet. Ich unterrichte am Sarah-Lawrence-College, oder vielmehr, ich werde es wieder tun, wenn das hier vorbei ist.«

»Okay, Sie sind also der Aufpasser. Welche Rechte habe ich, wie sind die Arbeitszeiten? Werde ich hier beköstigt oder esse ich außerhalb?«

Sie grinste und sah jetzt eher wie dreißig aus als fünfzig. »Wir wollen auf Letterman warten. Ihm macht die Sache hier übrigens ganz schön zu schaffen. Er hat Angst, jemand klaut das Silber.«

»Höchstens den Teppich. Wie viel, schätzen Sie, wird er wert sein?«

»Vierzigtausend Dollar? Fünfzig?«

»Ich möchte nicht derjenige sein, der Tinte darauf verschüttet.«

»Er sieht aus, als könnte man sich gut darauf herumwälzen, finden Sie nicht? Haben Sie ihn eigentlich mal befühlt? Seidig durch und durch.«

»Vielleicht können wir uns mal zusammen darauf herumwälzen, bevor unsere Arbeit hier beendet ist.«

Sie sah ihn nachdenklich an.

»Sie sind nicht verheiratet? Oder lesbisch?«

»Keins von beiden.« Sie blickte an ihm vorbei, und er drehte sich um und sah Letterman hereinkommen. »Ich habe Mr. Lancaster gerade darüber informiert, dass in diesem Raum nicht gegessen oder getrunken werden darf.«

»Um Himmels willen, nein! Sehen Sie Lancaster, ich bin keineswegs davon überzeugt, dass das alles hier ein gutes Ende nimmt. Ich meine, Sie müssen einen großen Teil Ihrer Arbeit hier im Haus erledigen, und wir versuchen, es schätzen zu lassen … Es gibt bereits Interessenten …«

»Ich werde die tropfenden Wasserhähne und den Schimmel im Keller nicht erwähnen.«

»O Gott! Das ist nicht zum Lachen, Mr. Lancaster. Glauben Sie mir, das ist es ganz und gar nicht. Wir hatten hier schon einmal einen Dieb, und offen gesagt, gefällt mir die Vorstellung überhaupt nicht, dass Leute hier ungehindert ein und aus spazieren.«

Drew sah zu Florence hinüber, die eine Augenbraue hob und leicht die Achseln zuckte. »Wir wissen nicht, ob wirklich etwas gestohlen wurde«, sagte sie. »Vielleicht wurde es nur verlegt. Einige der Akten sind nicht dort, wo sie sein sollten.«

»Wenn sie sich irgendwo im Haus befinden, werden wir sie auftreiben«, sagte Drew ungerührt. »Ich verspreche Ihnen, Mr. Letterman, wir werden sie finden.«

Der Notar schloss einen Moment lang die Augen. »Ich verstehe. Nun, hoffentlich werden sich unsere Wege nicht allzu oft kreuzen. Ich werde Ihnen Ihr Arbeitszimmer zeigen und einen Raum, in dem Sie schlafen können, wenn Sie wollen.« Sein Ton war eisig, sein Gesicht starr.

Er wies den Weg aus dem Raum, und Drew folgte ihm langsam. Als er an Florence vorbeikam, flüsterte er ihr zu: »Ich glaube nicht, dass er mich besonders gut leiden kann.« Er hatte den Eindruck, dass er mit einem kaum unterdrückten Schmunzeln belohnt wurde.

Er kam um Mitternacht in Washington an und drückte mit einem Finger, der sich wie Gummi anfühlte, auf den Klingelknopf von Pats Apartment. Sie öffnete die Tür.

»Du bist schön«, sagte er und rührte sich nicht vom Fleck.

»Komm herein! Was für ein albernes Telegramm. Und die Haare hast du dir auch nicht schneiden lassen.«

»Aber eine Arbeit habe ich.« Er hielt seine Aktentasche hoch. »Heute Arbeit, morgen ein Haarschnitt.«

»Geht es dir gut?«

»Du bist schön. Bist du allein?«

»Natürlich. Hast du vor hereinzukommen, oder willst du da draußen stehenbleiben?«

»Können wir ins Bett gehen?«

Ihre Augen weiteten sich. Er wusste, dass sie blau waren, aber jetzt, da das Licht von hinten auf sie fiel, sahen sie schwarz aus, unergründlich tief. Er wollte sich in ihnen ertränken. Das sagte er ihr.

»Komm rein, Drew! Hast du heute schon etwas gegessen?«

»Ich kann mich nicht daran erinnern.«

Sie nahm seine Hand und zog ihn sanft hinein. Sie trug einen bodenlangen Hausmantel aus irgendeinem dünnen Stoff, der an ihrem Körper haftete, wenn sie sich bewegte. Ihr Haar fiel locker, nicht gewellt, nicht glatt; dunkelbraunes Haar mit einem silbernen Schimmer, wenn das Licht darauffiel. Er schob die Tür mit dem Fuß zu und verstärkte den Griff um ihre Hand. Sie leistete keinen Widerstand, sondern folgte ihm durch das Apartment ins Schlafzimmer, wo eine Lampe brannte und ein Buch auf einem Tischchen neben dem Bett lag.

Dann waren sie im Bett, und seine Hände waren auf ihrem Körper, überall, und er glitt in sie und murmelte: »Rutschig, glitschig, warm, heiß …«

»Pst«, sagte sie, »sprich nicht!«

Und er sprach nicht mehr.

Zwei

Er wachte um acht Uhr auf. Sie war in der Küche, bereits angezogen, nicht mit vernünftiger Kleidung, ganz im Gegenteil, mit einem hübschen grünen Leinenkleid und passenden hochhackigen Sandalen. Ein weißer Leinenblazer hing über einem Stuhl, eine weiße Ledertasche lag auf der Sitzfläche.

»Lass uns an den Strand von Rio gehen! Erinnerst du dich an den Sand wie brauner Zucker, wo die Kinder ihre Drachen fliegen ließen? Und die Bikinis!«

»Wir waren noch nie in Rio. Ich muss ins Büro.«

»Paris. Wir können unser Essen in braunen Papiertüten mitnehmen und die nächsten beiden Wochen damit zubringen, uns im Louvre zu verlaufen.«

»In Paris wimmelt es im Sommer nur so von Touristen. Es gibt Schinken und Eier …«

»Madrid. Das grelle weiße Licht auf den roten Ziegeldächern …«

»Im Kühlschrank steht Orangensaft. Ich habe ihn gestern schon ausgepresst, aber er ist noch gut.«

»Ich treffe dich zum Mittagessen. Hot Dogs und Plätzchen und kalte Cola im Park.«

»Ich bin verabredet. Wenn du rausgehst, zieh die Tür einfach zu, sie schnappt ein. Und an der Kaffeemaschine ist die Uhr eingestellt, du brauchst also nicht daran zu denken, sie auszuschalten.«

»Gehst du immer noch mit diesem Senator?«

»Ich arbeite für den Senat. Das ist nicht ganz dasselbe.«

»Ich hoffe nicht. Immer noch mit dieser Untersuchung über die Finanzierungsmöglichkeiten für den großen verschlammten Stausee beschäftigt?« Er sah ihr zu, wie sie den Blazer anzog und sich mit der Hand unter den Kragen fuhr, um die eingeklemmten Haare zu befreien, eine Geste, an die er sich sehr gut erinnerte. »Ich dachte, um diese Jahreszeit wären alle Senatoren auf vergnüglichen sogenannten Dienstreisen.«

»Die Leute von Senator Wiley arbeiten hart. Ich gehöre zu seinen Leuten.« Sie nahm ihre Handtasche auf. »Ich habe keine Lust, mit dir über den Senator oder über den Stausee zu reden.«

»Warum nicht?«

»Du weißt, was du letztes Mal gesagt hast, als ich versuchte, mit dir über meine Arbeit zu sprechen.« Sie betrachtete sich im Korridorspiegel.

»Ich habe es vergessen.«

»Du sagtest, ich würde weniger Schaden in der Welt anrichten, wenn ich einfach zu Hause bleiben und mein Geld zählen würde. Auf Wiedersehen, Drew. Ich komme erst sehr spät nach Hause, also warte nicht auf mich.« Sie wandte sich zur Tür. »Fast hätte ich es vergessen. Deine Post ist von New York nach hier geschickt worden. Hör auf damit, Drew, sonst schreibe ich ›Annahme verweigert‹ drauf und sende sie zurück.« Sie ging.

Er trank ihren Orangensaft und ihren Kaffee, ihren Schinken und ihre Eier aß er jedoch nicht. Wahrscheinlich hätte er ihr das nicht sagen sollen, dachte er. Und schon gar nicht an dem Tag, als ihre Scheidung über die Bühne ging. Sie waren an dem Tag zusammen ins Bett gegangen, und irgendwann im Laufe des langen Nachmittags zwischen Feiern und Jammern hatte er es zu ihr gesagt und sie wieder auf die Palme gebracht. Er hatte eine besondere Begabung, sie auf die Palme zu bringen. Du liebst mich, hatte er an jenem Tag beharrlich behauptet, und sie hatte gesagt, ja, ich liebe dich, und ich kann es mit dir nicht mehr aushalten. Er liebte sie, liebte sie immer noch, würde sie immer und ewig lieben, und sie würde ihn immer und ewig lieben, aber sie traf sich mit dem Senator, und er würde sich mit Florence Charmody bei der ersten sich bietenden Gelegenheit auf dem Teppich wälzen, und die Welt war so verrückt wie er selbst, so verrückt wie sie, alles war verrückt.

Nachdem er geduscht hatte, schrieb er mit Seife auf den drei Meter langen Badezimmerspiegel: Der große verschlammte Stausee ist reine Steuerverschwendung, und alle Finanzierungspläne, alle Erklärungen zur Kosteneffektivität ändern daran gar nichts. Die letzte Zeile musste er etwas quetschen, aber es war eindrucksvoll, entschied er, als er noch einmal einen Blick darauf warf.

Er nahm die Post auf, die ihm von seiner New Yorker Wohnung nachgeschickt worden war. Das meiste waren Werbesendungen zum Wegwerfen und Rechnungen. Er schleuderte sie weg. Das Telefon klingelte. Einen Moment lang starrte er es an; es klingelte weiter. Schließlich nahm er den Hörer ab.

»Sie sind mit dem Wohnsitz von Miss Patricia Stevens verbunden. Hier spricht James, der Butler. Kann ich behilflich sein?«

Es folgten Schweigen und dann ein Räuspern, dann sprach eine Männerstimme. »Ähm, kann ich bitte Mister Drew Lancaster sprechen?«

»Einen Augenblick, Sir. Für den Fall, dass sich Mister Lancaster in den Gebäuden aufhält, wen darf ich als Anrufer melden?«

»Leon Lauder. Aber er kennt mich nicht. Sagen Sie ihm einfach …«

Drew hängte ein. Er kannte tatsächlich keinen Mr. Leon Lauder und hatte auch kein Verlangen, einen Mr. Leon Lauder kennenzulernen, und schon gar nicht wollte er mit einem Mr. Leon Lauder am Telefon sprechen. Er verließ das Apartment. Hinter ihm fing das Telefon erneut an zu klingeln.

»Sie brauchen wirklich nicht nach Washington zu gehen«, hatte Florence zu ihm gesagt. »Die meisten Artikel sind hier, und von den wenigen, die wir nicht haben, können wir Kopien anfordern.«

»Ich weiß. Aber ich bin ein gründlicher und gewissenhafter Mensch. Ich sehe es als meine Pflicht an, mich persönlich davon zu überzeugen.«

»Sie sind ein komischer Kauz, wissen Sie das?«

Ja, das wusste er. Er füllte eine Anforderung für die Artikel aus, die er noch brauchte, verglich den Katalog mit der Liste, die ihm Florence zusammengestellt hatte, ob etwas fehlte, und damit war seine Arbeit in Washington beendet. Draußen war es grell und heiß, und in Washington, wie in Paris, wimmelte es von Touristen. Sie kamen in Bussen, in Kombiwagen, zu Fuß, mit Flugzeugen … Und sie bevölkerten die Straßen, alle mit Kameras behängt. Ihr Schweiß war die Ursache für die sprichwörtliche Luftfeuchtigkeit in Washington, entschied er.

»Mister Lancaster?«

Er spürte eine Berührung am Arm, und als er sich umdrehte, sah er einen grauhaarigen Mann an seiner Seite. »Ich bin Lauder vom Sicherheitsdienst«, sagte der Mann und öffnete die Hand, um wie eine magische Macht seine Erkennungsmarke zu zeigen. »Könnten wir uns ein wenig unterhalten? Irgendwo an einem kühlen Plätzchen?«

»In einer netten dämmerigen kühlen Bar?«

»Äh … em. In einem netten hellen Café? Es gibt eins gleich um die Ecke. Mein Gott, dieses Wetter!«

Im Café fiel Drew ein, dass er noch nicht gefrühstückt hatte; er bestellte Corned beef und Bier. Lauder wählte Eiskaffee mit einer Haube aus Vanilleeis.

»Wie praktisch, dass wir beide uns zur selben Zeit am selben Ort aufhalten«, sagte Drew.

»Ihre Exgattin hat keinen Butler.«

»Hat sie ihn schon wieder rausgeworfen? Ihr früherer, der arme alte Mann, konnte die Hitze nicht vertragen und verendete wie ein Hund.«

»Ja, so kann es gehen.«

Lauder war in jeder Dimension dick: dicker Körper, dicker Hals, dicke Hände und Handgelenke. Sogar sein graues Haar war dick und buschig. Er hatte einen Sonnenbrand. Er sprach bewundernd über das Eisenhower-Buch, während Drew aß.

Drew schob sich den letzten Bissen seines Sandwichs in den Mund und spülte mit dem letzten Schluck Bier nach, dann wischte er sich den Mund ab. Er griff nach der Rechnung, aber Lauder kam ihm zuvor.

»Ich darf Sie einladen. Es ist schön, einen berühmten Schriftsteller zu treffen und mit ihm zu Mittag zu essen. So was passiert nicht alle Tage.«

»Es war mir ein Vergnügen«, sagte Drew höflich.

»Sie arbeiten an einem neuen Buch? Stimmt das? Ihre Exgattin sagte, Sie seien bei den Recherchen.«

»Ja.«

»Muss ein angenehmes Leben sein. Arbeiten, wenn einem danach zumute ist, die Arbeitszeit selbst bestimmen, sich ein Thema auszusuchen, das einem behagt, all das. Muss schön sein.«

»Ja.«

»Und Sie stellen mir gar keine Frage, wie?« Er lachte. »Mann, an Ihrer Stelle würde ich vor Neugier umkommen. Warum hängt sich der Sicherheitsdienst an meine Fersen, beobachtet die Wohnung meiner Exfrau, holt Erkundigungen über mich ein. Ich hätte lauter Fragen, wenn ich Sie wäre.«

»Sie machen Ihre Arbeit. Führen Befehle aus.«

»Ich bin der Chef der Abteilung für den Nordosten.«

»Dann muss es sich um Pflichterfüllung handeln, nicht Befehle, sondern Pflicht. Man wird nicht Chef, ohne dass man seine Pflicht kennt und sie treu erfüllt, Tag für Tag, Jahr für Jahr.«

»Da haben Sie recht, Mister Lancaster. Kennen Sie Arnie Sorbies?«

»Nein.«

»Sicher kennen Sie ihn. Er hat eine Buchhandlung in New York. Ein Antiquariat. Sie gehen dort ein und aus.«

»Oh, diesen Laden meinen Sie. Heißt er so?«

»Einer der Besitzer. Wir suchen ihn, suchen ihn dringend. Wir sind seit langem hinter ihm her. Stand er in Verbindung mit Ihnen?«

»Wann?«

»In letzter Zeit?«

»Nein.«

»Doch, wir haben Grund zu der Annahme, dass er das tat, Mister Lancaster. Das heißt, wir wissen sogar genau, dass er es tat. Es ist nämlich so, dass er Ihnen vor einigen Wochen einen Brief geschickt hat.«

»Ach, wirklich? Vielleicht hat er mein Buch hereinbekommen.«

»Welches Buch?«

»Das geheime Liebesleben der eingeborenen Aleuten vor der Ankunft der russischen Pelzhändler.«

Lauder seufzte und machte der Bedienung ein Zeichen, noch mal Kaffee zu bringen. »Möchten Sie sonst noch etwas?«

»Nur Kaffee. Heiß und schwarz.«

Lauder wartete, bis die Bedienung gegangen war. »Sehen Sie, Mister Lancaster, es ist Ihre Pflicht, dem Geheimdienst zu helfen, wenn man es von Ihnen verlangt. Ich weiß, dass es vielen Leuten nicht gefällt, Informationen über andere zu erteilen, aber manchmal ergibt sich diese Notwendigkeit im Leben.«

»Es fällt mir schwer, mir Sorbies als Attentäter vorzustellen«, sagte Drew. In Gedanken registrierte er Pflichterfüllung als ein weiteres Motiv für die wahnsinnigen Dinge, zu denen Menschen fähig waren.

»Mit der Abteilung hat es nichts zu tun. Der Geheimdienst hat ebenfalls die Aufgabe, Fälscher aufzuspüren und dingfest zu machen, Mister Lancaster. Ihr Freund Sorbies hat seinen Laden mit Blüten gekauft, hat jahrelang ein üppiges und angenehmes Leben mit Blüten geführt. Worüber haben Sie mit ihm gesprochen?«

»Ein Fälscher? Sorbies? Das ist ja allerhand!«

»Worüber haben Sie mit ihm gesprochen?«

»Bücher. Meine Bücher, Bücher, die ich haben wollte und die er für mich auftreiben und kaufen konnte. Er ist Buchhändler. Ich bin Schriftsteller.«

»Ja. Was hat er Ihnen vor einigen Wochen geschrieben?«

»Soviel ich weiß, habe ich keinen Brief von ihm bekommen. Aber ich war jetzt seit einigen Monaten nicht mehr in meiner Wohnung. Der liebe Gott mag wissen, was sich dort alles angesammelt hat.«

»Ihre Post ist Ihnen zu Ihrer Exgattin nachgeschickt worden.«

»Das stimmt. Rechnungen, Spendenaufrufe für gute und gerechte Zwecke, einige wenige Briefe.«

»Wo sind die Briefe?«

»Hier, wenigstens einige davon.« Er öffnete seine Aktentasche und zog die Post heraus, knallte sie auf den Tisch. Lauder sah hastig die Umschläge durch und zog einen heraus, hielt ihn hoch. »Aha, es sieht so aus, als hätte Ihr Informant recht gehabt«, sagte Drew. »Er ist tatsächlich von Sorbies' Antiquariat!«

»Würden Sie ihn bitte öffnen und mich dann einen Blick darauf werfen lassen, Mister Lancaster? Wir können es auf diese Weise erledigen, oder ich kann einen schriftlichen …«

Drew öffnete bereits den Briefumschlag. Er zog ein Blatt heraus, überflog es und reichte es Lauder. Es war die vervielfältigte Kopie einer Bücherliste.

»Der Katalog«, sagte er. »Darin ist mein erstes Buch mit fünfzig Dollar aufgeführt. Viel zu billig.«

»Mist«, sagte Lauder.

»Sind Sie daran interessiert? Wenn er sich aus dem Staub gemacht hat, bezweifle ich sowieso, dass er einen Auftrag dafür bekommt.«

»Okay, ich werde darüber nachdenken. Haben Sie eine Ahnung, wohin er gegangen sein könnte? Kennen Sie irgendwelche Freunde von ihm?«

Drew schüttelte bedauernd den Kopf.

»Na gut. Sobald er mit Ihnen Kontakt aufnimmt, melden Sie es uns bitte. Es tut mir leid, dass wir Sie belästigen müssen.« Lauder stand auf. »Ihre Exgattin hat mich gebeten, Sie wiederum zu bitten, dass Sie sie anrufen mögen, um ihr zu erklären, was das Ganze zu bedeuten hat. Bis dann, Mister Lancaster.« Er ließ die Rechnung auf dem Tisch liegen.

»Du liebe Zeit, Drew!« Pat war kalkweiß im Gesicht. Sie saßen in seinem Wagen.

»Wir können nicht in der Öffentlichkeit reden«, hatte er ihr zugeflüstert. »Steig ein!« Sie war eingestiegen. Er steuerte den Wagen durch den sehr dichten Nachmittagsverkehr, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben. Das Wageninnere war heiß wie ein Backofen. Sie sah kühl wie ein Zitronendrops aus.

»Was meinst du damit, um Himmels willen, dein Fälscher?«

»Erinnerst du dich an Sorbies in New York? Ich habe dir erzählt, dass er mir alles gestanden hat. Er wollte, dass ich seine Geschichte schreibe, erinnerst du dich?«

»Ich erinnere mich nicht. Ich habe kein Wort davon geglaubt.«

»Überdenke diese Aussage, Pat. Untersuche die Verästelung dieser Aussage im Lichte deiner verschiedenen persönlichen Schwierigkeiten …«

»Du treibst mich in den Wahnsinn! Begreifst du nicht? Du bringst mich um den Verstand!«

»Wahrscheinlich sind sie uns genau in dieser Sekunde auf der Spur, nehmen deine Aufregung zur Kenntnis, deinen schrecklichen Ausbruch von Schuldbewusstsein …«

»Hör auf! Was hast du ihm gesagt? Du musst es abgelehnt haben. Du hast dich nicht weiter mit ihm abgegeben, oder?«

»Ich habe ihm gar nichts gesagt. Er beschloss zu warten, bis die Angelegenheit verjährt wäre – irgendwann dieses Jahr, glaube ich, hat er gesagt. Ich war bereit, mich darauf einzulassen.«

»Du hast meinem Vater keine Zusage gemacht«, sagte sie verbittert.

»Mit deinem Vater war es etwas anderes.«

»Inwiefern anders? Er wollte nichts weiter als seine Biographie. Er hat ein faszinierendes Leben geführt, und du weißt es.«

»Warum sollte er etwas Besseres gewesen sein?« Beide hatten Geld gemacht, sinnierte er. Warum war der eine langweilig und der andere interessant? Darüber musste er noch einmal nachdenken. Es lag wohl an dem Wort machen, das die Dinge in ein zweifelhaftes Licht rückte, entschied er.