Margaret und ich - Kate Wilhelm - E-Book

Margaret und ich E-Book

Kate Wilhelm

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Beschreibung

Eine seltsame Beziehung

Margaret Oliver ist bildhübsch, Mitte Zwanzig und verheiratet. Nach außen hin hat sie alles, was eine Frau sich wünschen kann, doch in Margaret sieht es ganz anders aus: ihre Ehe plätschert ereignislos dahin, und sie denkt darüber nach, ihren Mann zu verlassen. Als sie auf Josies Haus, eine Verwandte ihres Mannes, aufpassen soll, als diese nicht da sind, nimmt sie die Gelegenheit dankbar an, eine Weile für sich zu sein und ihre Gedanken zu ordnen. Und dann ist da noch „ich“, Margarets Unterbewusstsein, das eine ganz eigene Stimme hat, die immer lauter wird. „Ich“ sorgt dafür, dass Margaret den Fehler nicht korrigiert, als sie mit Josie verwechselt wird. Was Margaret nicht weiß: Josies Mann, der vor kurzem unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen ist, war ein Physiker, der an einem Geheimprojekt forschte. Schnell wird der jungen Frau klar, dass sie sich mitten in eine gewaltige Intrige hineinmanövriert hat, aus der sie ohne „Ich“ nicht mehr herauskommt …

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Seitenzahl: 330

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KATE WILHELM

MARGARET UND ICH

Roman

Das Buch

Margaret Oliver ist bildhübsch, Mitte Zwanzig und verheiratet. Nach außen hin hat sie alles, was eine Frau sich wünschen kann, doch in Margaret sieht es ganz anders aus: ihre Ehe plätschert ereignislos dahin, und sie denkt darüber nach, ihren Mann zu verlassen. Als sie auf Josies Haus, eine Verwandte ihres Mannes, aufpassen soll, als diese nicht da sind, nimmt sie die Gelegenheit dankbar an, eine Weile für sich zu sein und ihre Gedanken zu ordnen. Und dann ist da noch »ich«, Margarets Unterbewusstsein, das eine ganz eigene Stimme hat, die immer lauter wird. »Ich« sorgt dafür, dass Margaret den Fehler nicht korrigiert, als sie mit Josie verwechselt wird. Was Margaret nicht weiß: Josies Mann, der vor kurzem unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen ist, war ein Physiker, der an einem Geheimprojekt forschte. Schnell wird der jungen Frau klar, dass sie sich mitten in eine gewaltige Intrige hineinmanövriert hat, aus der sie ohne »Ich« nicht mehr herauskommt …

Der Autor

Kate Gertrude Meredith wurde am 8. Juni 1928 in Toledo, Ohio geboren. Nach ihrem Highschool-Abschluss arbeitete sie zunächst als Model, Telefonistin und Schreibkraft, ehe sie 1947 Joseph Wilhelm heiratete. Sie begann 1956 mit dem Schreiben von Science-Fiction-Kurzgeschichten; noch im selben Jahr erschien »The Pint-Size-Genie« im Magazin Fantastic

Titel der Originalausgabe

MARGARET AND I

Aus dem Amerikanischen von Mega Simon

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Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1971 by Kate Wilhelm

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Wir haben keine Kenntnis davon, wie dieses Unbewusste funktioniert, aber da wir annehmen, dass es sich um ein geschlossenes psychisches System handelt, könnte ihm möglicherweise all das zu eigen sein, was auch dem Bewussten zu eigen ist … Wenn das Unbewusste all das enthalten kann, von dem wir wissen, dass es eine Funktion des Bewusstseins ist, dann stehen wir der Möglichkeit gegenüber, dass es, wie das Bewusste, eine Persönlichkeit, eine Art Ego besitzt.

Die Individualisierung ist dann vollständig, wenn das Bewusste und das Unbewusste lernen, einander zu verstehen, zu respektieren und sich aneinander anzupassen.

C. G. J

Kapitel Eins

Selbst die parzellierten Grundstücke wurden weniger, nachdem Margaret Brookhaven hinter sich gelassen hatte, und sie begann nach der Abzweigung an der linken Straßenseite Ausschau zu halten, die sie zu Josies Haus führen sollte. Auf diesem Teil der Insel hatte es angeblich früher viele herrschaftliche Landsitze gegeben, und vielleicht gab es sie immer noch, aber von der Straße aus waren sie nicht zu sehen, und Margaret hegte den Verdacht, dass sie alle schon seit geraumer Zeit verlassen und dem Erdboden gleichgemacht waren, um unzähligen Reihenhäusern und hellen Betonstraßen Platz zu machen. Es war ein heißer Tag; eine ganz unzeitgemäße Hitzewelle hatte den trübgrauen Aprilregen verjagt, und die Schnellstraße wimmelte von Autos, die offenbar alle Richtung Jones Beach unterwegs waren. Doch ihre Wege trennten sich: Margaret nahm die Abzweigung nach Norden, während die endlose Wagenkolonne geradeaus weiterrollte. Brookhaven. Sie sah die Hinweistafeln – und? Ob sie sich wohl in diesem Augenblick daran erinnerte? Ich schon; ich habe mich damals und seither immer wieder daran erinnert, das weiß ich. Während ich also an Atomunfälle dachte, an mutiertes Gestrüpp, an purpurrotes Gras, an weiße Blätter, an unproportioniert verformte Bäume und Ähnliches, war sie von der Suche nach der Abzweigung vollauf in Anspruch genommen, obwohl diese frühestens nach dreißig Kilometern kommen konnte. Bennett hatte gesagt, nach dreißig Kilometern. Ich versuchte, Margaret dazu zu bringen, sich an seine Worte zu erinnern, mit dem Erfolg, dass sie unruhig wurde. Also gab ich es auf und fuhr fort, über Brookhaven nachzudenken. Die schmale Straße machte sie ängstlich, und sie hoffte, keinem Lkw zu begegnen. Außerdem fuhr sie nun grässlich langsam. Mich störte das nicht besonders, ich studierte die Gegend links und rechts von der Straße und verfolgte die dahinjagenden Wolken, roch die Meeresluft und überließ ihr die Sorge um Lkws.

Dann begann auch ich, nach der Abzweigung zu spähen, und wenn sie sie verfehlte, hatte ich vor, ihr ein Kribbeln zu verpassen, das für Stunden vorhielt.

Mit einiger Überraschung bemerkte Margaret die Klippen auf der linken Seite und erhaschte hin und wieder einen kurzen Blick auf die Meerenge. Seit einer halben Stunde hatte sich die Luft gewandelt: sie roch nach Luft, die von salzigem Sprühregen und Sonnenschein gereinigt worden war. Margaret fuhr durch Baiting Hollow, ohne sich im Geringsten bewusst zu werden, dass sie nach weniger als zweihundert Metern abbiegen musste. Ich verstärkte den Druck ihrer Hände um das Lenkrad, und sie entschied, dass es nun bald kommen musste. Dann ließ ich sie das Tempo verringern, die Kurve nehmen und die Augen nach links richten, damit sie von oben her einen ersten Blick auf das Haus werfen konnte. Ich erinnerte mich genau an die ganze Szene mit Bennett, während er ihr die Stelle beschrieb, aber natürlich erinnerte Margaret sich nicht daran. Sie war angenehm überrascht, als sie das kleine graue Gebäude zwischen den riesigen Felsen sah, neben denen es sich winzig klein ausnahm, und die knorrigen, windschiefen Kiefern, die es vor dem stetigen Wind von der See her schützten. Ich werde den Sund ›die See‹ nennen.

Die Straße drehte sich, und der Ausblick war nicht mehr vorhanden. Margaret sah das Haus erst wieder, als sie erneut abbog, diesmal von der drittklassigen Straße voller Furchen und Schlaglöcher auf eine Zufahrt, die in noch schlechterem Zustand war. Dort hatte sich der Belag in der Vergangenheit schon so oft aufgeworfen, war gesprungen und in der Hitze geschmolzen, dass die ganze Zufahrt nur aus Teersplitttrümmern, tiefen Rinnen und grasbewachsenen Erdhaufen bestand. Der Weg zum Haus war zwar in langsamem Tempo passierbar, nur durfte sich nicht später die Notwendigkeit ergeben, ganz schnell wieder heraus zu müssen. Margaret kam der Gedanke, dass sie möglicherweise nie mehr von hier wegwollte. Sie blickte in den Rückspiegel, während der Wagen auf das Häuschen zu schaukelte und ächzte, und sah, dass sie bereits allein war auf der Welt. Die schlechte Straße war verschwunden; nichts gab es mehr außer den Felsen, der steilen Zufahrt und dem Haus.

Die See war es, um derentwillen sie gekommen war. Sie blieb im Wagen sitzen, als sie ihn zum Stehen gebracht hatte, und starrte hinaus auf das Wasser – blaugrün, grau, purpurn, weißgischtig und rau über einer Untiefe in hundertfünfzig oder zweihundert Metern Entfernung vom Ufer, glatt und gläsern zwischen der Sandbank und dem Strand, wo kleine Wellen sanft flüsterten, wenn sie den rauen Sand berührten.

Margaret verließ den Wagen. Ich führte sie zu den Felsblöcken, die wie hingeworfen umherlagen, und ließ sie auf einem von ihnen innehalten, während der Wind ihr den Rock um die Beine peitschte; durch sie fühlte ich die See und die Brise und die Kühle, die alle Gedanken an die Hitze der Stadt und die lange Fahrt hier heraus tilgten. Sie hörte den leisen Wellen zu und dem Rascheln der Gräser, die sich aneinander rieben, auseinanderbogen und wieder berührten. Zum Schwimmen war es zu spät, schon wurden die Schatten lang und dunkel, und die Luft kühlte schnell ab. Morgen, gelobte sie sich selbst oder der See, sie war nicht ganz sicher. Morgen.

Dann schloss sie die Haustür auf und trat ein, ohne dem Haus mehr als flüchtige Beachtung zu schenken. Des Hauses wegen war sie nicht gekommen. Bennett hatte gesagt, es sei sehr nett; er sagte auch, das Metropolitan Museum sei sehr nett, desgleichen der Buckingham Palast; das Hotelzimmer in Atlanta, von dem aus er sie am vergangenen Abend angerufen hatte, war sehr nett; und Josies Haus. Später würde Margaret es eingehender betrachten, würde es erforschen und im Geiste neu einrichten, aber jetzt war sie daran nicht interessiert. Ihr Gesichtsausdruck verfinsterte sich, als die Gedanken an Bennett immer wieder an die Oberfläche drängten. Sie war zwar hergekommen, um über Bennett nachzudenken, aber nicht heute Abend. Nicht jetzt.

Sie holte die Lebensmittel aus dem Wagen, musterte das letzte Stück der Zufahrt, die zur Garage führte, über der sich eine kleine Wohnung befand, und schüttelte den Kopf. Es war definitiv unpassierbar. Bennett hatte ihr aufgetragen, den Wagen nicht draußen zu lassen, wo salziger Sprühregen und Flugsand die Lackoberfläche angreifen würden, aber der Rest der Zufahrt bestand nur aus Löchern. Sie drehte sich um, warf einen Blick auf jenen Teil, den sie bereits befahren hatte, und bemerkte, dass es eigentlich keinen Unterschied gab. Sie holte das restliche Gepäck aus dem Wagen, trug es ins Haus und ließ ihn draußen stehen, wo der Wind ihn mit Salz und Sand zerkratzen würde. Zerkratzen und zerkratzen und zerkratzen.

Margaret war zu müde, um zu denken, zu müde, um sich daran zu stoßen, dass das Haus von einem Ende zum anderen in weißen Schutzüberzügen steckte. Ich musste sie dazu bringen, die Überzüge von den Möbeln zu nehmen und in eine Ecke zu werfen; sie empfand keine Neugier – ich sehr wohl. Also ließ ich sie damit anfangen, die Lebensmittel auszupacken, und betrachtete die Küche durch ihre Augen. Während sie die Sachen einräumte, stellte ich meine Vermutungen an – über Josie, über das Haus, über den Grund, weshalb sie es so verlassen hatte; ich fragte mich, was Bennett wohl gerade eben machte und was Margaret als nächstes tun würde. Es berührte mich jedoch nicht sehr. Es interessiert mich zwar für gewöhnlich, berührt mich aber nicht, außer wenn es sich um Medikamente handelt. Ich halte sie fern davon, wenn ich kann. Schlaftabletten sind am schlimmsten; sie wirken auf mich stärker als auf sie. Die anderen interessieren mich nicht, nur manchmal lassen sie sie den Versuch machen, an mich heranzukommen, und das kann recht lästig sein. Sie hat schreckliche Angst vor mir. Andernfalls würden mir diese Sondierungen nicht viel ausmachen, ja sie könnten sogar hübsch sein für uns beide, aber sie hat Angst vor dem, was sie finden könnte, und ich kann sie nicht beruhigen, ohne wieder die akuten Ängste herbeizuführen, die sie nach den Schlaftabletten greifen lassen: die Katze, die sich in den Schwanz beißt. Ich frage mich: Wenn der Wurm so viel von seinem eigenen Schwanz frisst, dass er an seine Verdauungssäfte gerät – wie lange könnte er sich selbst verdauen, bevor er an Autokannibalismus eingeht?

Aus der letzten Tasche holte Margaret eine Flasche Bourbon und starrte sie an, als hätte sie vergessen, dass sie sie selbst eingepackt hatte. Unvermutet ließ sie sich auf einen Stuhl fallen, die Flasche immer noch in der Hand. »Mein Gott«, flüsterte sie. »Oh, mein Gott, was mach' ich nur?« Sie fühlte sich, als sei sie eben aufgewacht, und ließ einen starren Blick durch die Küche wandern, als sähe sie sie zum ersten Mal an diesem Abend. Dieselben Gedanken kreisten in ihrem Kopf und erstickten alles andere: Sie musste nachdenken über Bennett und sich selbst; sie musste ihn vor acht Uhr anrufen; sie musste etwas essen. Beim Gedanken ans Essen fiel ihr plötzlich ein, dass sie seit neun Uhr morgens nichts gegessen hatte, und da nur Kaffee und Toast.

Margaret kramte sich kurz durch die Lebensmittel, die sie im Kühlschrank verstaut hatte, und holte kaltes Fleisch, Salat und Tomaten und ein Päckchen Milch heraus. Da sie ganz bei der Sache war, ließ ich sie in Ruhe. Sie bereitete sich ein Sandwich und aß es, während sie nochmal durch das Häuschen wanderte, ein Glas Milch in einer Hand. Ihr Zimmer, in Blau und Weiß, nett … »Brrr«, sagte sie bei dem Wort ›nett‹. Das war seine Schuld. Der Raum war gemütlich, feminin, hübsch eingerichtet mit einem Sofa, einem Fauteuil, einem großen Bett, mit Schreibtisch und Frisierkommode. Fin Schrank war halb mit Kleidern gefüllt, alle in Staubhüllen. Die Kleider würde sie tags darauf durchsehen, dachte sie und schloss die Schranktür. Ein Badezimmer führte zu einem zweiten Schlafzimmer, und das war einwandfrei das Zimmer eines Mannes. Margaret zog die Leinenhüllen von den Möbeln, um zu sehen, wie es eingerichtet war. Braun und weiß, einfach. Größer als das andere Schlafzimmer. Sie durchwanderte es und trat wieder auf den Flur hinaus, aber ich zwickte sie kurz und sandte sie zurück, um sich den Raum genauer anzusehen. Das Sandwich war beinahe aufgegessen, und sie dachte an den Kaffee, den sie auf dem Herd hatte. Sie sah recht wenig von dem Zimmer, aber ich studierte es sehr genau. Das Bett war eine Doppelliege und mit einem nach Maß gefertigten Überzug bedeckt; ein reichlich abgenutzter Ledersessel stand neben einem großen Schreibtisch mit einem zurückgeklappten Reißbrett, und darauf ein brauner Becher mit einem halben Dutzend Stiften. Eine Wand war mit Bücherborden bedeckt, ein Druck und einige Vergrößerungen astronomischer Aufnahmen hingen an einer anderen Wand …

Wieder verließ Margaret das Zimmer, und wieder verspürte sie den Drang, hinein zurückzukehren. Es hatte irgendetwas an sich … Sie zuckte die Achseln. Morgen.

Ich ließ sie los und sah mich nochmal im Zimmer um, das nun bereits fest in meiner Erinnerung verankert war. Es war der beste Raum des ganzen Hauses, mit einem offenen Kamin zwischen zwei Fenstern, von denen man die See und die Felsen überblicken konnte. Derjenige, der es benutzt hatte, war sich seines Wertes bewusst gewesen. Der Lederfauteuil war abgenutzt, aber gut erhalten und stand vermutlich immer schon an ebendieser Stelle, von wo aus sein Eigentümer von einem Buch aufblicken und sinnend die Muster aus Licht und Dunkel auf dem Wasser betrachten konnte; der Teppich zeigte deutliche Einbuchtungen: der Fauteuil gehörte an diesen Platz – genauso, wie der Schreibtisch an diesen Platz gehörte, und der Aschenbecher auf dem Schreibtisch und der Papierkorb daneben. Eine ausschwenkbare Schreibmaschine? Ich ließ Margaret die Kaffeetasse hinstellen, in das Zimmer zurückgehen und den Schreibtisch genauer untersuchen: Genau, da war sie, die elektrische Schreibmaschine. Margaret kehrte in die Küche zurück und beendete ihre Mahlzeit.

Gerade jetzt dachte sie auch über das Zimmer nach, und wie es so oft geschieht, wenn ihre Gedanken mit den meinen übereinstimmen, gab es da eine neutrale Stelle, wo ich immer das Gefühl habe, ich könnte fast an sie herankommen oder sie in mich eindringen lassen.

Hin und wieder hatten sie und Bennett über Josie gesprochen, aber sie erinnerte sich nur an wenig von dem, was er über seine Tante erzählt hatte. Josie Oliver war eine alte Jungfer, hatte Bennett einmal im Scherz erwähnt: Josie Oliver, die bekannte Bühnenbildnerin.

»Ein Jahr vor unserer Heirat ist sie abgedampft«, hatte Bennett erzählt. »Bis heute weiß niemand, warum. Sie hat es uns nie verraten. Jetzt ist sie in London, und das Haus steht leer und ist zur Vermietung ausgeschrieben. Sie sagt, wir können es jederzeit gern benutzen.«

Das war alles, woran sich Margaret im Zusammenhang mit Josie Oliver erinnern konnte. Aber dass Bennetts altjüngferliche Tante sich in einem Landhäuschen mit einem Mann verkrochen hätte? Wer war das – und wo war er? Warum hatten sie nicht geheiratet? Margaret zog die Stirn in Falten und fragte sich, ob Bennett davon überhaupt etwas wusste. Der Gedanke war ihr unbehaglich, und sie schob ihn von sich. Mir war klar, dass er nichts davon wusste. Er hätte Margaret, seiner Frau, nie erlaubt, das Haus zu betreten, hätte er davon gewusst. Mir war natürlich weit mehr über Josie bekannt als ihr, aber nichts davon fügte dem, was Margaret herausgefunden hatte, irgendetwas von Belang hinzu; die Seiten in Bennetts Album mit den Ankündigungen verschiedener Shows, für die Josie Bühnenbilder und Kostüm entworfen hatte; ein paar Ansichtskarten, die sie ihm gesandt hatte, als er noch jünger war: ein, zwei Blätter mit Notizen. Ich sah wiederum ihre entschlossene Handschrift: kühn, selbstsicher, halb Druck-, halb Schreibschrift, ganz typisch. Kein Bild. Noch nie hatte ich ein Bild von ihr gesehen. Bennetts Beschreibung: »Sie ist zwei oder drei Jahre älter als ich« – er war jetzt vierzig –, »recht hübsch, zumindest war sie es noch vor ein paar Jahren, größer als du, aber nicht viel, raucht wie ein Schlot, mit langen, dünnen Fingern. Ich erinnere mich genau an ihre Finger. Sie liebt Ringe, große, auffallende Ringe, und trug sie immerzu. Einen hat sie mal bei uns zu Hause verloren. Da war eine Woche lang die Hölle los, bis wir ihn fanden. Es stellte sich heraus, dass es ein echter Smaragd war.«

Das war Josie. Alle persönlichen Dinge waren aus ihrem Zimmer entfernt worden: ihre Bücher, ihr künstlerisches Handwerkszeug, die Toiletteartikel aus dem Badezimmer und aus der Frisierkommode. Doch seine Sachen, die Sachen des Mannes im Nachbarzimmer, waren alle vorhanden, genauso, wie er sie zurückgelassen haben musste. Warum? Ich wusste, in ein, zwei Minuten würde Margaret das Telefon klingeln hören, dann würde es sieben Uhr dreißig sein, und vor acht musste sie Bennett anrufen. Außerdem wurde ihr langsam kalt, doch sie hatte Angst davor, im Ofen einzuheizen.

Das Telefon klingelte, und das Geräusch ließ Margaret zusammenfahren. Wäre es mir möglich gewesen, hätte ich sie vorher gewarnt. Manchmal kann ich das, aber für gewöhnlich nicht.

»Hallo«, sagte sie beinahe flüsternd, denn sie wollte ihre eigene Stimme in dem stillen Haus nicht hören.

»Miss Oliver? Hier spricht Gus Dyerman. Ist alles in Ordnung oben im Haus?«

Margaret starrte verständnislos auf den Apparat. Gus Dyerman, der Kaufmann, von dem ihr der Vermögensverwalter gesagt hatte, er würde sich melden. Warum erinnerte sich die dumme Person nicht daran? Sie erinnerte sich nicht, in keiner Weise. Sie gab einen Laut von sich, der alles Mögliche hätte bedeuten können, und er fuhr fort:

»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich Ihnen ein paar Holzscheite hinten auf die Veranda gelegt habe. Und mein Junge, Harry, kommt gleich morgen früh und heizt Ihnen den Ofen ein. Oder soll er vielleicht heute Abend noch 'rauskommen? Glaub' nicht, dass es heut' Nacht sehr kalt werden wird, was glauben Sie?«

»Nein, nein, bestimmt nicht. Es ist schon gut«, sagte Margaret. Sie wusste nicht, wie sie ihn nennen sollte; er hatte so undeutlich gesprochen, dass sie den Namen nicht verstanden hatte, und sie wusste nicht, wer oder was er überhaupt war.

»Is' gut, Gnädigste. Wenn Sie irgendwas brauchen, wenn Sie wollen, dass Harry Ihnen etwas 'rausbringen soll, dann rufen Sie gleich an, ja? Schöne Lammkoteletts habe ich heute hereinbekommen und ganz frischen Kopfsalat …«

»Ich glaube nicht … ich meine … Ja, ich rufe an, wenn mir etwas einfällt …«

»Schreiben Sie sich vielleicht meine neue Nummer auf, Miss Oliver. 378-9402. Haben Sie es?«

»Ja«, sagte Margaret am Rand der Verzweiflung »aber ich glaube nicht …«

»Ich schicke ein paar Dinge 'rauf, die Sie gern mögen, soweit ich mich erinnere – Beeren aus dem Süden und Sahne und frische Eier. Wenn Sie etwas davon nicht brauchen können, geben Sie es einfach Harry wieder mit. Heute Abend störe ich Sie nicht mehr, Miss Oliver. Bin froh, dass wir Sie wieder hier haben, Gnädigste!«

Margaret saß da und hielt den schweigenden Hörer in der Hand und lachte schließlich auf. »Was für einen Unterschied, zum Teufel, macht es schon?«, sagte sie laut. Am nächsten Morgen würde sie das Missverständnis klären, oder irgendwann einmal. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und wählte die Nummer des Hotels in Atlanta, in dem Bennett wohnte.

»Hallo, Liebling ich bin's.« Margaret zwang Heiterkeit in ihre Stimme.

»Ah, fein! Hat doch alles geklappt, nicht? Hast du Strom? Ist der Ofen eingeheizt? Funktioniert alles?«

»Ja. Alles bestens.«

»Sehr gut. Nun ruh dich schön aus; ich werde versuchen, Mitte der Woche 'raufzukommen. Aber ich kann es noch nicht versprechen. Hast du die Abendnachrichten gesehen?«

»Nein, ich habe es vergessen … Ich bin gerade eben erst angekommen«, fügte sie rasch hinzu.

»Ach so. Aber versuch, wenigstens die Spätnachrichten nicht zu versäumen. Greeley ist in Hochform. Morgen geht's weiter nach Birmingham …«

Ich konnte Bennett vor mir sehen: gestärktes weißes Hemd, schwarze Schleife, makelloser schwarzer Smoking, das Haar so glatt am Kopf, dass man meinen könnte, es sei aufgemalt. Kein Mann mit Namen Arnold, dachte ich eindringlich Richtung Margaret, wird je Präsident werden! Margaret aber dachte nur daran, wie sehr sie Arnold Greeley verabscheute. Sie sagte: »Lass mich wissen, wo du in Birmingham wohnst. Ich versuche nicht mehr, dich anzurufen. Es ist viel einfacher, wenn du dich von Zeit zu Zeit hier meldest. Ich bin ja immer da.«

Bilder von Bennett zuckten durch ihr Hirn: Bennett, wie er sie anlächelte, die Augen verborgen hinter den Reflexen zweier Lampen auf seiner Brille, die Lippen hochgezogen über seinen prachtvollen Zähnen. Der prachtvolle Bennett – alles fauler Zauber, aber prachtvoll, direkt herabgestiegen von einem Plakat mit dem Titel ›Erfolgreichster Mann seiner Zeit‹, mit aufgemaltem Haar und Augen, die sich hinter Brillen versteckten, und Zähnen, die der Horror jedes Dentisten waren. Bennett, der das Licht ausknipste, ehe er sie anrührte. Bennett, der spät zu Bett ging im Dunkel nach ihr tastete, die Sache schnell hinter sich brachte und einschlief, ohne zu wissen oder sich darum zu kümmern, ob sie nun schlief oder sich aus dem Bett schlich … Bennett, der schlief, den Mund offen, ein kleines Rinnsal Speichel am Kinn …

»Gib schön auf dich acht, Liebes«, sagte er. »Bis nächste Woche.«

Margaret legte den Hörer sachte auf; das Geräusch war kaum zu hören. Sie ging in die Küche, goss Bourbon in ein Glas, tat ein bisschen Wasser hinzu und trank es schnell aus. Dann goss sie sich einen zweiten Drink ein, nahm ihn mit ins Wohnzimmer und starrte auf den Fernsehapparat in der Ecke. Die Spätnachrichten. Sie würde versuchen, sie nicht zu versäumen.

Sie musste noch das Bett machen und ein paar Sachen aus dem Koffer holen. Der Verwalter hatte gesagt, Bettwäsche sei in der Kommode. Margaret kramte darin herum, bis sie sie gefunden hatte. Das blau-weiße Zimmer war kalt. Als sie die Laken zurechtgesteckt hatte, fröstelte sie. In einem der Koffer hatte sie einen dicken Pullover, aber sie ging an ihrem Gepäck vorbei, blickte nochmal in den Kleiderschrank und nahm einen Pullover in einer Plastikhülle vom Brett. Es war ein blassblauer Kaschmirpullover mit Glasknöpfen. Mindestens achtzig Dollar, dachte sie, während sie ihn anzog. Sie entsann sich der Holzscheite und ging hinaus auf die Veranda an der Rückseite des Hauses, um einen Armvoll zu holen. Auf dem Weg zurück ins Haus erinnerte sie sich, dass sie außer im Wohnzimmer auch in dem braun-weißen Zimmer einen offenen Kamin gesehen hatte, also machte sie kehrt und ging dorthin. Sie zündete das Feuer an und machte das Bett. Dann warf sie einen Blick in den Schrank; seine Kleider waren darin.

Sie hob die Hüllen von seinen Jacken und befühlte den rauen Stoff; doch dann zuckte sie plötzlich zurück und ging wieder ins Wohnzimmer. Sie vertiefte sich in das Musik- und TV-Schränkchen und legte eine Platte auf, zu deren Klängen sie ihre Tasse abwusch. Dann holte sie Taschen und Koffer aus dem blau-weißen Zimmer und trug sie in das andere. Ich war zufrieden mit ihr; es hatte dazu kaum eines Anstoßes meinerseits bedurft. Ihr gefiel das braun-weiße Zimmer auch besser.

Margaret dachte an gar nichts, sie tat alles, was zu tun war, ohne sich deshalb eine Frage zu stellen, und verbannte, so gut es ging, jeden Gedanken aus ihrem Kopf. Als sie mit den wenigen Dingen, die sie zu machen hatte, fertig war, fühlte sie sich ein paar Augenblicke lang wie verloren, und ein Gefühl der Panik überkam sie; doch es ging schnell vorüber, als sie begann, das Bücherregal im Wohnzimmer zu studieren. Sie holte eine illustrierte Ausgabe des Morte d'Arthur heraus, nahm das Buch mit ins Badezimmer und ließ Wasser in die Wanne laufen.

Ich war auch ziemlich beschäftigt, aber nicht unbedingt mit ihr. Es tat mir wirklich leid, dass sie das Mallory-Buch gewählt hatte. Ich kannte es schon, und sie würde sowieso nichts davon mitbekommen. Genauso gut hätte es eines sein können, das mir noch nie unter die Augen gekommen war. Ich gab ihr ein schlechtes Gefühl wegen des Buches, konnte sie aber nicht dazu bringen, es gegen ein anderes auszutauschen, also ließ ich es sein. Ich vergaß nicht, die Uhrzeit im Auge zu behalten; ich wollte nicht, dass sie Arnold Greeley im Fernsehen versäumte, und ich wusste, ich konnte mich nicht darauf verlassen, dass sie den Apparat einschaltete, ohne dass ich dabei energisch mithalf. Sie verabscheute ihn zutiefst. Ich hasse ihn nicht so sehr. Ich interessiere mich für das, was er ist und was er tut. Sie besteht nur aus animalischen Instinkten: alles Reaktion, keinerlei Denkprozess. Die Uhrzeit ist ein echtes Problem bei ihr. Ich muss dauernd auf dem Laufenden bleiben, und manchmal weigert sie sich dennoch, meine Signale zu akzeptieren. Für mich sind natürlich ihr Jetzt und ihr Gestern und ihr Morgen verfügbar, und auch das ist unangenehm. Für mich sind all diese Zeiten gleich wahr und klar und verfügbar, aber ihr entfallen Vorkommnisse, Namen und Daten, je weiter sie sich von ihrer Vergangenheit entfernt. Da wird nichts unterdrückt: Sie kann sie einfach nicht finden, und wir können miteinander nicht in Kontakt treten. Dazu kommt, dass vieles, von dem sie glaubt, sich erinnern zu können, falsch ist. Einmal sagte sie: »Ich wollte, ich könnte es schaffen und da hineinsehen, mein eigenes Inneres erforschen, weißt du, was ich meine?« Sie erinnert sich nicht mehr daran, aber das hat sie gesagt, als sie fünfzehn war und stark gefühlsbetont und ziemlich intellektuell für ihr Alter. Damals dachte ich, wie wunderbar es sein müsste, wenn ich mich ihr öffnen könnte, wenn ich eins werden könnte mit ihr, aber ich habe dann erkannt, dass das nicht stimmt. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen sie einen kleinen Blick zu mir hereinwerfen konnte, war sie zu Tode erschrocken.

Außerdem legt sie die Dinge falsch aus. Sie gräbt ein Fragment von irgendetwas aus, fügt wissentlich ihre eigene Beurteilung hinzu – die ›Logik‹, die sie sich angeeignet hat – und glaubt, jetzt hat sie die Wahrheit.

Darüber dachte ich nach, während ich keinen Augenblick lang vergaß, dass die Nachrichten in Kürze fällig waren, und nebenbei kontrollierte, ob ich die Seiten des Buches, die sie gerade umblätterte, bereits kannte, zusammen mit ihr spürte, wie das heiße Wasser langsam abkühlte, den Duft des Badezusatzes wahrnahm, den zarten Schaum der Seife und das flauschige Gefühl des Badetuches, das ich mit einem Tuch verglich, das sie mit drei Jahren besessen hatte, und mich dabei an den Geruch ihrer Mutter erinnerte, wenn sie sich über Margarets Bettchen beugte, wenn sie nochmal nach dem Feuer sah … und zuletzt fragte ich mich, was ihr Vater wohl dazu sagen würde, wenn er wüsste, dass sie selbst keine Kinder wollte. Ich verglich das Badezimmer mit anderen Badezimmern – mit dem ihrer ersten New Yorker Wohnung mit dem Waschraum im Ferienlager, als sie elf war, mit dem malvenfarben tapezierten im Haus ihrer Mutter … Jedes einzelne war da, konnte betreten werden und betrachtet, die Sprünge in den Kacheln konnten gezählt werden, und so weiter. Nichts davon drang natürlich bis zu ihr vor. In ihrem Kopf herrschte völlige Leere. Sie stieg aus der Wanne, wickelte sich in einen dicken Bademantel, schlüpfte in warme Pantoffel und rollte sich im Wohnzimmer auf der Couch vor dem Fernsehapparat zusammen.

Sie nahm kleine Schlückchen von einem dritten Drink, während sie den Bildschirm im Auge behielt. Jetzt war ihr angenehm warm, und sie fühlte sich schläfrig und behaglich. Die Kriegsberichte, die jüngste Rede des Präsidenten und die ätzende Antwort eines Senators darauf, das Wetter, Nebensächlichkeiten. Und dann erschien Arnold Greeley – gutaussehend, seriös, ein Vater für die Welt.

»… einer solchen Verderbtheit tatenlos zusehen! Niemals noch ist diese große Nation einer derartigen Unruhe im Innern gegenübergestanden, derart massiver Kritik seitens ihrer Bürger, solch verräterischen Umtrieben und Bedrohungen, einer derart eklatanten Beeinflussung unserer Jugend durch die Propaganda …«

Margaret starrte den Bildschirm an und bemerkte nicht, wann die Nachrichten endeten, wann der Werbungsblock begann und endete, wann der Film Intermezzo begann. Irgendwo in der Mitte des Films wachte sie abrupt auf und stolperte von der Couch zum Fernsehapparat, um ihn auszuschalten und ins Bett zu gehen. Sie knipste alle Lichter in dem kleinen Haus aus und schloss die Tür des braun-weißen Zimmers hinter sich. Der Schrank stand offen, und sie sah ihr Bild in dem großen Spiegel an der Tür. Langsam zog sie den Bademantel aus und starrte auf die Gestalt, die sie auf der anderen Seite des Raumes sah: dünn, hübsche Beine, langes Haar, das einst die Farbe hellen Honigs gehabt hatte, jetzt aber nachdunkelte. Sie tastete nach dem Lichtschalter hinter ihrem Rücken, und danach erhellten nur die Reste des verglühenden Feuers den Raum. Immer noch starrte sie in den Spiegel und hob sehr langsam eine Hand an ihre Brust, spürte ihr Fleisch und kniff die Warze, bis sie reagierte. Sie trat näher an den Spiegel heran und sah zu, wie die andere Hand sich zu bewegen begann. Sie wollte die Augen schließen, wollte aufhören, wollte weinen – und tat nichts von alldem. Sie starrte in den Spiegel, aber daneben konnte ich den braunen Kordsamtmantel sehen, konnte das Material befühlen und den Männergeruch darin wahrnehmen. Da plötzlich tat Margaret einen Schrei, ließ sich auf das Bett fallen und begann, fast hysterisch zu schluchzen.

Ich empfand nur Abscheu vor ihr. Sie hatte es nicht zu Ende geführt, und nun würde sie stundenlang wach sein, rastlos, fordernd mir gegenüber; sie würde mir dieses winzige Stückchen Freiheit, das mir – wie ich glaube – zustand, nicht zubilligen. Und schließlich und endlich würde sie sich doch noch für Schlaftabletten entscheiden. Ich versuchte, sie dazu zu bringen, die Bewegungen wieder aufzunehmen, die den Orgasmus und damit Ausgeglichenheit und Frieden bewirken würden, aber sie warf sich auf dem Bett herum und wand sich und schluchzte und weigerte sich, ihren Körper noch einmal zu berühren.

Kapitel Zwei

Margaret verbrachte eine schlechte Nacht und erwachte nur langsam. Sie hörte das Geräusch zwar, erkannte es aber nicht. Es war ein Klopfen an der Hintertür des Häuschens. Harry Dyerman, der Sohn des Kaufmanns, versuchte sich ihr zu erklären, aber die Mauer zwischen uns beiden war nie undurchdringlicher als an jenem Morgen. Mit einer heftigen Bewegung schlüpfte sie in den Bademantel und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Es verheddert sich nicht, wenn sie schläft; bei dieser Länge würde man das annehmen, aber es stimmt nicht.

Harry war ungefähr sechzehn und machte ein verlegenes Gesicht, als sie ihm die Tür öffnete. Er trug eine große Papiertüte mit Lebensmitteln und vermied es, Margaret anzusehen. Ihre Füße wurden kalt; sie hatte vergessen, die Pantoffeln anzuziehen.

»Dad hat gesagt, wenn Sie das Zeug nicht brauchen, soll ich es wieder mitnehmen. Und das soll ich Ihnen geben.« Er reichte ihr einen Umschlag.

Margaret schickte sich an, ihn in die Tasche zu stecken, und fragte: »Was bin ich Ihnen schuldig?«

Er sah sie dumm an und schüttelte den Kopf. Da fiel ihr ein, dass Josie wöchentlich oder monatlich bezahlt haben musste. Sie rieb sich heftig die Augen. Ich bin nicht Josie Oliver, mein Junge, sollte sie sagen. Stattdessen befingerte sie den Umschlag und zog ein Blatt Papier heraus, das um einen Scheck gefaltet war. Der Scheck war auf $ 54.50 ausgestellt und lautete auf Josies Namen. Sie starrte ihn an und fühlte sich genauso dumm, wie der Junge aussah. Auf dem Blatt Papier stand: »Liebe Miss Oliver! Hier ist der Rest von den hundert Dollar, die Sie mir hiergelassen haben. Ich zahlte Alice $ 8.50 fürs Saubermachen und behielt mir die $ 37.–, die Sie mir noch schuldig waren. Bekommen Sie also $ 54.50 zurück. Wenn ich gewusst hätte, wo Sie sind, hätte ich Ihnen das Geld geschickt. Hochachtungsvoll, Gus.«

Sie steckte den Scheck in die Tasche und zog ihn wieder heraus. Sie konnte doch Josies Scheck nicht behalten oder einlösen! Sie streckte ihn Harry wieder hin, und er machte einen Schritt zurück und glotzte sie an.

»Sagen Sie … sagen Sie Gus, er soll ihn zurücknehmen und für das verwenden, was ich brauche, während ich hier bin«, erklärte sie.

Harry nahm den Scheck, blieb aber stehen. Sie wartete. »Dad hat gesagt, ob Sie jemanden zum Saubermachen wollen.«

Alice? Kam Alice immer zum Saubermachen? Sie kannte Josie sicher vom Sehen … Ich versuchte wieder, an Margaret heranzukommen, aber heute früh wollte sie nichts von mir wissen. Sie sagte: »Ich glaube schon …«

»Dann schickt er Ihnen morgen Mrs. Carmichael her. Oder ist Ihnen ein anderer Tag lieber?«

»Alice?«

»Alice hat sich letzten Winter beim Schlittschuhlaufen das Bein gebrochen. Jetzt ist sie bei ihrer Tochter irgendwo drüben in Jersey.«

Als Harry gegangen war, stellte Margaret Kaffee auf und suchte ihre Pantoffeln. Sie tat mir fast leid, weil sie dem allen in keiner Weise gewachsen war, und gleich würde ein Anruf kommen, und der Kaffee würde überkochen, und der dumme Junge hatte den Ofen vergessen und würde zurückkommen …

Sie versuchte, das Klingeln des Telefons zu ignorieren, aber es läutete und läutete, und schließlich hob sie ab.

»Miss Oliver, hier spricht Horace Bok. Darf ich heute Vormittag auf einen Sprung bei Ihnen vorbeikommen? Ich bin hier in Baiting Hollow …«

»Tut mir leid, Sie müssen eine falsche Nummer gewählt haben.«

»Bitte, Miss Oliver! Ich weiß, dass Sie zurück sind! Legen Sie nicht auf, lassen Sie mich ausreden. Bitte!«

»Mister Bok«, sagte sie verzweifelt, »ich bin gerade angekommen. Ich habe noch nicht einmal ausgepackt …«

»Doktor Bok«, entgegnete die Stimme leise, beinahe flüsternd. Dann fuhr sie anklagend fort: »Sie haben schon wieder alles vergessen, nicht wahr? Sie haben mir geschrieben, dass ich das Material durchsehen könnte, sobald Sie zurück sind, und Sie haben es schon wieder vergessen …«

»Mis … Doktor Bok ich muss auflegen, der Kaffee kocht mir über. Adieu.«

Sie wischte den übergelaufenen Kaffee auf, goss eine Tasse ein und trank ihn in kleinen Schlückchen, während sie die Lebensmittel aus der Tüte holte. Erdbeeren, Sahne, Käse, Kopfsalat, in Scheiben geschnittener Schinken, Schalotten … Dyerman hatte sich Mühe gegeben. Sogar ein kleiner Laib Rosinenbrot. Sie zog die Nase kraus. Rosinenbrot? Ich fragte mich, wie Bok erfahren haben könnte, dass sie hier war. Vermutlich von Dyerman oder von dem Verwalter, der dafür Sorge getragen hatte, dass der elektrische Strom eingeschaltet wurde. Horace Bok. Ich hatte den Namen noch nie gehört. Welches Material es wohl war, das er von Josie wollte? Noch verspürte Margaret keinerlei Neugierde, es zu erfahren. Sie war leicht verkatert, hatte etwas Kopfweh und versuchte krampfhaft, sich an den Traum zu erinnern, den das Klopfen an der Tür unterbrochen hatte.

Es war ein harmloser, simpler Traum gewesen, aber sie würde viel Wind darum machen, wenn sie sich seiner entsann. Ich hatte gehört, wie der Jeep von der Straße in die Zufahrt einbog und hatte mir eine Geschichte darum herumgesponnen: Bennett, in Uniform, überbrachte Garcia mit dem Jeep eine Botschaft und wurde dabei von Gorillas mit Giftpfeilen beschossen, wobei Greeley im Hintergrund stand – Greeley war in diesem Fall Garcia – und fürchtete, Margaret würde Bennetts Aufmerksamkeit so lange ablenken, bis einer der Giftpfeile, die dieser wild mit den Händen fuchtelnd abwehrte, ihn traf. Einer der Gorillas hatte begonnen, auf einen hohlen Baumstamm zu trommeln, der an beiden Enden morsch war (ein boshaftes Detail von mir), und damit war auch das Klopfen des Jungen an der Tür miteinbezogen.

Sie versuchte, sich den Inhalt des Traumes wieder ins Gedächtnis zu rufen, und ich fuhr fort, ihn von ihr fernzuhalten, bis sie es aufgab, sich ein Stück von dem Rosinenbrot abschnitt und mit der Butter bestrich, die Dyerman gesandt hatte. Was für Material wollte Bok eigentlich? Ich schob ihr das immer wieder hin, um sie soweit zu bringen, danach zu schnappen, aber sie wich der Frage hartnäckig aus. Ich ließ meinen Blick durch die Räume des Häuschens wandern und entschloss mich, sie die Schubladen der Schreibtische durchsuchen zu lassen. Sie zögerte. Margaret ist ein ziemlich anständiger Typ Mensch, der nicht anderer Leute Briefe liest und so, aber ich jagte ihr Boks wegen etwas Angst ein, gerade eben so viel, dass sie beschloss, zumindest herauszufinden, wer er war.

Sie fand die Korrespondenz, die Josie mit ihm geführt hatte. Josie hatte sie offensichtlich nicht für wichtig genug erachtet, um sie mitzunehmen, als sie abreiste. Außerdem hatte Josie Bok nie persönlich kennengelernt. Margaret tat einen Seufzer der Erleichterung. Ich auch. Sie spielte die Rolle der Josie, und die Dinge hatten sich in dieser Richtung bereits so weit entwickelt, dass es viel umständlicherer Erklärungen bedurft hätte, sie wieder abzulegen, als sie für den gegenwärtigen Zeitpunkt weiterzuführen.

Da war Boks erster Brief, zusammen mit einem Einführungsschreiben eines Doktor Luther Monroe, der Josie darin ›meine liebe Josie‹ nannte und sich für Boks Seriosität verbürgte. Er sei Doktor der Philosophie an der Columbia-Universität, Doktor Monroe bestens bekannt, allgemein hochangesehen, et cetera, et cetera. Margarets Augenbrauen schossen in die Höhe, als sie rasch den Rest der Korrespondenz überflog. Bok hatte den Wunsch, die Aufzeichnungen und Notizbücher Paul Tysons durchzusehen, die, wie er gehört hatte, sich in Josies Besitz befanden. Josie war bereit, es ihm zu gestatten, sobald sie zurückkehrte.

Paul Tyson. Das braun-weiße Zimmer war Paul Tysons Zimmer, Pauls Bücher, sein Schreibtisch … Ich sah mich nochmal darin um und wusste, dass das Zimmer Paul Tyson gehörte, und der braune Kordsamtmantel …

Margaret legte die Briefe hin und trommelte gedankenverloren mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. Natürlich musste sie Bok darüber aufklären, dass er sie irrtümlich für Bennetts Tante gehalten hatte, aber dann würde er es Dyerman weitererzählen oder dem Vermögensverwalter, und irgendjemand würde kommen, um nachzusehen, wer denn nun wirklich in Josies Haus wohnte, und das einzige, was sie beweisen konnte, war, dass sie Margaret Oliver hieß und die Hausschlüssel hatte. Sie wusste nicht einmal, wie sie sich mit Bennett in Verbindung setzen konnte, bevor er wieder anrief.

Andererseits konnte sie natürlich Bok erlauben, das Material durchzusehen, Josie hatte es ihm schließlich zugesagt. Er erwartete sicher, dass sie wusste, wo es sich befand, und über den Inhalt informiert war. Die Briefe ließen erahnen, dass Josie damit vertraut war – worum immer es sich auch handelte. Aufzeichnungen und Notizbücher. Sie schlenderte in Pauls Zimmer und starrte den Schreibtisch an – den abgeräumten, sauberen Schreibtisch, wo nur der Becher mit den Stiften verriet, dass er je benutzt worden war. In den Schubladen befand sich Schreibmaterial: Papier, Radiergummis, zwei neue Schreibmaschinenbänder, Lineale, ein Kompass, Millimeterpapier … Sie schob die Laden wieder zu und sah in den Bücherregalen nach – alles gebundene Bücher. Nichts im Kleiderschrank, nur seine Kleider, Schuhe, Pullover, Hemden. Die Laden der Kommode enthielten persönliche Dinge: Bürsten, Manschettenknöpfe, Unterwäsche, Socken. Damit war die Sache erledigt. Was für Material es auch war, das Bok durchsehen wollte: Josie musste es bei sich haben. Wenn er anrief, würde Margaret ihm sagen, dass es ihr im Augenblick nicht zur Verfügung stand. Es war ganz einfach in London.