Inseln im Chaos - Kate Wilhelm - E-Book

Inseln im Chaos E-Book

Kate Wilhelm

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Beschreibung

Im Zweifel für die Angeklagte

Vor fünf Jahren hat Barbara Holloway ihren Beruf als Anwältin aufgegeben, weil sie nicht länger Politik über Gerechtigkeit stellen wollte. Als ihr Vater sie bittet, ihm bei einem Fall zu helfen, bei dem es um Leben und Tod geht, kehrt Barbara in den Gerichtssaal zurück: Nell Kendricks wird angeklagt, ihren Mann Lucas ermordet zu haben. Sollte sie schuldig gesprochen werden, droht ihr die Todesstrafe. Doch ist Nell wirklich eine Mörderin? Sie und ihr Mann haben sich vor sieben Jahren getrennt, als Lucas im Auftrag der Regierung seine Forschungen zur Chaostheorie vorangetrieben hat. Kurz darauf ist er verschwunden. Und jetzt soll Nell ihn einfach erschossen haben, als er vor ihrer Tür aufgetaucht ist? Wo war Lucas sieben Jahre lang? Je tiefer Barbara in diesen verwickelten Fall vordringt, desto mehr Fragen stellen sich. Es scheint, als wären Lucas‘ Forschungen der Schlüssel zu allem – und die sind viel mehr als bloße Zahlenspiele auf dem Papier, wie Barbara schnell feststellen muss …

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KATE WILHELM

INSELN IM CHAOS

Roman

Das Buch

Vor fünf Jahren hat Barbara Holloway ihren Beruf als Anwältin aufgegeben, weil sie nicht länger Politik über Gerechtigkeit stellen wollte. Als ihr Vater sie bittet, ihm bei einem Fall zu helfen, bei dem es um Leben und Tod geht, kehrt Barbara in den Gerichtssaal zurück: Nell Kendricks wird angeklagt, ihren Mann Lucas ermordet zu haben. Sollte sie schuldig gesprochen werden, droht ihr die Todesstrafe. Doch ist Nell wirklich eine Mörderin? Sie und ihr Mann haben sich vor sieben Jahren getrennt, als Lucas im Auftrag der Regierung seine Forschungen zur Chaostheorie vorangetrieben hat. Kurz darauf ist er verschwunden. Und jetzt soll Nell ihn einfach erschossen haben, als er vor ihrer Tür aufgetaucht ist? Wo war Lucas sieben Jahre lang? Je tiefer Barbara in diesen verwickelten Fall vordringt, desto mehr Fragen stellen sich. Es scheint, als wären Lucas' Forschungen der Schlüssel zu allem – und die sind viel mehr als bloße Zahlenspiele auf dem Papier, wie Barbara schnell feststellen muss …

Der Autor

Kate Gertrude Meredith wurde am 8. Juni 1928 in Toledo, Ohio geboren. Nach ihrem Highschool-Abschluss arbeitete sie zunächst als Model, Telefonistin und Schreibkraft, ehe sie 1947 Joseph Wilhelm heiratete. Sie begann 1956 mit dem Schreiben von Science-Fiction-Kurzgeschichten; noch im selben Jahr erschien »The Pint-Size-Genie« im Magazin Fantastic

Titel der Originalausgabe

DEATH QUALIFIED

Aus dem Amerikanischen von Walter Brumm

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Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1991 by Kate Wilhelm

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings

in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen?

EDWARD

1

Sie nannten ihn immer Tom. Die Wartungsmannschaft, die Ärzte, alle nannten ihn so, und obwohl er wusste, dass es nicht sein wirklicher Name war, reagierte er darauf. Tue dies, Tom, tue das, komm her, Tom, fass mit an.

Manchmal konnte er beinahe einen anderen Namen für sich denken, aber er wollte sich niemals ganz in seinem Bewusstsein bilden. Es fing mit einem Gedanken an, einer Idee, einer Regung, einen anderen Namen zu sagen, sich nicht umzusehen, wenn sie Tom sagten, aber dann bekam er es mit der Angst, und der Gedanke verschwand wieder. Guten Morgen, Tom. Wie geht's? Irgendwelche Träume, Episoden? Hier ist deine Medizin. So ist's brav. Und nun geh zur Arbeit. Bis morgen früh, Tom.

Er bewohnte ein kleines Apartment auf dem Gelände. Manchmal bereitete er seine Mahlzeiten dort, meistens aber aß er in der Cafeteria. Er hatte eine Essenmarke. Guten Morgen, Tom. Schinken, Spiegeleier, was soll es sein? Von der Cafeteria zum Sprechzimmer der Ärztin. Von dort zum Büro der Wartungsabteilung. Dann draußen auf dem Gelände, Abfälle einsammeln, Mülltonnen leeren, manchmal Reinigungsarbeiten in den Gebäuden, mit der Bohnermaschine. Die Arbeit mit dieser gefiel ihm am besten von den Arbeiten im Innern, aber am liebsten war er draußen beschäftigt. Unkraut jäten, Mulch ausbreiten, mit der Mähmaschine fahren, lange, geschwungene Muster in die Rasenfläche machen, die wie eine Erinnerung roch. Einmal musste er Fenster reparieren, und das war ihm zuwider gewesen. Durch die Scheiben hinein zu schauen, als sähe er eine separate Welt, die nicht seine Welt und nicht einmal wirklich war, hatte ihn nervös gemacht. Nicht, dass er sich vor Fenstern gefürchtet hätte, nervös machte ihn, dass die Fenster falsch waren, hatte er der Ärztin gesagt. Das war aber auch nicht genau, was es war.

Wie ist es dann, Tom? Sag mir, was du meinst.

Er konnte es ihr nicht sagen. Er hatte versucht, ihre Hand an die fensterähnliche Schale zu führen, die ihn umgab, nicht hart wie die Fenster des Gebäudes, sondern nachgiebig, sich dehnend, wenn es nötig war, dann wieder schrumpfend, dass sie genau passte, aber immer vorhanden. Er hatte versucht, sie ihre eigene Schale fühlen zu lassen, zu erklären, dass sie nicht so eng angepasst sein müsse. Als er versuchte, ihre Schale zu berühren, hatte sie nach jemand gerufen, und jemand hatte ihm eine Spritze gegeben. Gestern. Heute morgen. Irgendwann. Alles, was nicht jetzt war, war irgendwann.

Hin und wieder musste er die Fenster putzen, und sie fragten ihn, ob die Fenster ihn ängstigten. Er sagte, nein. Sie fragten ihn, ob er ihre Schalen sehen könne. Er sagte, nein. Er sagte, er wisse nicht, was sie meinten. Sie fragten ihn, ob er eine Schale habe, die sich dehnen und zusammenziehen könne. Es sagte, nein. Er sagte, er wisse nicht, was sie meinten. Er fürchtete sich vor der Ärztin. Wenn er ihr die Wahrheit sagte, rief sie jemanden, der ihm eine Spritze gab. Und wenn er dann hinausging, war es anders. Statt grüne Blätter zu sehen, konnten sie ganz verschwunden sein, oder es konnte Schnee am Boden liegen. Oder es konnte in einer anderen Weise anders sein, die ihn nervös machte. Er sagte ihnen nie, wenn die Blätter nicht richtig waren.

Irgendwann. Er wachte vor seinem Fernseher auf, ein beschriebenes Stück Papier in den Fingern: Nimm die Medizin nicht. Er warf ihn fort.

Irgendwann. Er erwachte in einem Sessel in seinem winzigen Wohnraum, einen Zettel in den Fingern: Nimm die Medizin nicht. Er warf ihn fort.

Irgendwann. Er erwachte und hielt sich die Hand, die blutig war. Als er sie säuberte, sah er Kratzer in der Handfläche, wie mit einer Nadel eingeritzt: Nicht.

Guten Morgen, Tom. Wie geht's? Irgendwelche Träume, Episoden? Hier ist deine Medizin. So ist es brav. Nun geh zur Arbeit.

Die Medizin war eine lange rote Kapsel in einem kleinen weißen Papierbecher, zu dem ein zweiter kleiner Papierbecher mit Wasser gehörte. Er steckte die Kapsel in den Mund und schluckte sie mit dem Wasser hinunter und ging hinaus zur Wartungsabteilung, um seine täglichen Aufträge entgegenzunehmen. Unterwegs spuckte er die Kapsel in die Hand und steckte sie in die Tasche.

Mehrmals berührte er die Kapsel in seiner Tasche. Klebrig. Er zerbrach sie zwischen den Fingern und öffnete sie. Körner wie feiner Sand waren in der Tasche.

Tom, jäte den Löwenzahn aus den Osterglocken. Er bückte sich, um anzufangen, aber er zitterte vor Kälte. He, Tom, bist du krank oder was? Muss die Grippe sein. Alle Welt hat die Grippe. Geh nach Hause, Tom. Leg dich ein paar Tage ins Bett, und alles wird wieder gut sein.

Irgendwann. Guten Morgen, Tom. Man sagte mir, du seist krank, also brachte ich dir die Medizin herüber. Möchtest du zum Arzt?

Als sie gegangen war, spuckte er die rote Kapsel aus. Er zitterte so stark, dass er sie fallen ließ. Kein Arzt. Keine Medizin. Kein Arzt. Keine Medizin. Kein Arzt. Er schlief.

Irgendwann. Guten Morgen, Tom. Geht es dir besser? Die Hälfte des Wartungspersonals hat die Grippe oder was immer es ist. Der Arzt sagt, du sollst einfach ausruhen und viel Flüssigkeit trinken und Aspirin nehmen, wenn du dich schlecht fühlst. Hier ist deine Medizin. Ja, nimm sie schon.

Sie beobachtete ihn so lange, dass die klebrige rote Kapsel in seinem Mund zu schmelzen begann und er die Körner wie Sand fühlte. Er hustete sie in ein Papiertaschentuch. Sie zog sich zurück.

Er schwitzte und fror abwechselnd. Sein Herzschlag raste, verlangsamte, pochte dumpf und heftig. Tiefe, den ganzen Körper erfassende Krämpfe nahmen ihm den Atem, und er krümmte sich vor Schmerz, und als sie nachließen, zitterte er so heftig, dass er kein Glas halten konnte, keinen Löffel, um die Suppe zu essen. Wenn sie ihn fragten, wie es ihm gehe, sagte er immer: »besser«. Sie brachten ihm jeden Tag das Essen, und eines Tages nahm er die Schüssel und trank die ganze Suppe aus, dann trank er alle Milch und den Saft. Er hatte lange nichts gegessen.

An dem Tag, als er die Suppe trank, wurde ihm bewusst, dass er schmutzig und unrasiert war, dass er seine Kleidung nicht gewechselt hatte, seit … Er wusste nicht, seit wann. Er duschte. Beim Rasieren betrachtete er sein Gesicht im Spiegel, wie er es manchmal tat. Sein Gesicht, nicht Toms. Wenn er dies tat, geschah es mit großer Anspannung und Intensität, als könnte dieses fremde Gesicht heute vielleicht vertrauter werden. Dann würde sich dieser fremde Mund öffnen und ihm etwas sagen, was er wissen musste. Blaue Augen, blutunterlaufen, als ob er geweint hätte. Er erinnerte sich, wie er zusammengekrümmt auf dem Bett gelegen und wie ein Kleinkind geweint hatte. Braunes, leicht gewelltes Haar. Ein schmales Gesicht, dünne Lippen, spitzes Kinn. Er war gut genährt, mit gut entwickelten Muskeln.

Einen Augenblick lang dachte er, sein Spiegelselbst würde ihm den anderen Namen sagen; er wusste ihn beinahe, seinen wirklichen Namen; er war da und wartete nur darauf, dass er ihn aussprechen würde. Er öffnete den Mund, wie um jenes andere Selbst zum Sprechen zu ermutigen, und der Schrecken durchfuhr ihn, dass er den Rand des Waschbeckens umklammerte und die Augen fest zudrückte. Als er wieder normal atmen und die Augen öffnen konnte, sah er sein Spiegelbild nicht an.

Er rasierte sich fertig und zog rasch saubere Kleider an: Bluejeans, Hemd, Pullover, Socken, Stiefel. Dann setzte er sich auf die Bettkante. Er wusste nicht, was er als nächstes tun sollte. Ein Zittern überkam ihn, aber es war nur ein schwaches Nachbeben der reißenden Krämpfe, die er ertragen hatte. Er wartete, bis das Zittern sich legte, dann stand er auf und sah sich in seinem Quartier um.

Es war sehr klein. Ein Sofa und ein Stuhl und eine Lampe waren im Wohnzimmer, und ein Fernseher auf einem Ständer. Alles war braun oder beige, sogar ein schäbiger Teppich. Eine kleine Küche mit einem Kühlschrank halber Größe, ein Herd mit drei Platten, zwei winzige Schrankteile, die ein paar Teller, Gläser, eine einzige Tasse enthielten. Ein hellbrauner Tisch mit Resopalplatte und zwei Stühle aus Metall und Plastik nahmen den größten Teil des Raumes ein. Die Schlafkammer war ähnlich, kahl und anstaltsmäßig: ein Feldbett, eine schmale Kommode und ein kleiner Kleiderschrank, der Arbeitskleidung wie die enthielt, welche er jetzt trug.

Und noch etwas, dachte er unbestimmt, aber mehr kam ihm nicht in den Sinn. Etwas anderes. Er sah in den Kühlschrank: Milch, die sauer geworden war, ein paar Eier, Käse, Saft, Äpfel … Etwas anderes, dachte er wieder.

Er kehrte in den Wohnraum zurück und schaltete den Fernseher ein. Drei Kanäle kamen klar herein, eine Unterhaltungssendung, ein Kinderprogramm und ein Film über Löwen. Zwei Fenster waren ihm gegenüber, dahinter Dunkelheit und starker Regen, der gegen die Scheiben schlug. Er wollte aufstehen, um die Rollläden herunterzulassen, dann ließ er es sein. Tom hatte nie bemerkt, dass er wie ein Fisch in einem Aquarium war. Er wusste alles über Tom, was er tat, wie er seine Zeit vor dem Fernseher verbrachte, die meisten Abende davor einschlief und sich benommen in die Schlafkammer schleppte, wenn er aufwachte und Schnee den Bildschirm füllte. Nie hatte er bemerkt, ob die Rollläden aufgezogen oder heruntergelassen waren. Er wusste alles über Tom. Er wusste, dass er und Tom derselbe Mann waren, und dass sein Name nicht Tom war, und in einer Weise, die er nicht begreifen konnte, war ihm bewusst, dass Tom nicht wirklich war, dass er aber niemandem von dieser Erkenntnis erzählen durfte.

Er zwang sich, vor dem Fernseher zu sitzen, wo Leute herumsprangen und schrien und einander umarmten. Sein Kopf begann zu schmerzen, die Augen brannten wieder, aber die Tränen blieben spärlich, und diesmal waren sie nicht von Furcht oder Schmerz verursacht, sondern von Frustration, weil er kaum ertragen konnte, dass die Rollläden aufgezogen waren und dass er von dort draußen in der Dunkelheit beobachtet werden konnte, und dass er nicht wusste, was er dagegen tun konnte. Seine Furcht vor Frau Doktor war größer als seine Abneigung gegen fremde Neugier.

Der Regen prasselte noch heftiger als zuvor gegen die Scheiben, wurde von Windböen gepeitscht. Graupeln, dachte er. Es graupelte. Die Vorstellung machte ihn frösteln. Er saß ganz still und überlegte; dann stand er plötzlich auf, ging in die Schlafkammer, zog eine Decke vom Bett und wickelte sich hinein. Als er ins Wohnzimmer zurückkehrte, ließ er die Rollläden herunter. Er ging in die Küche und wieder in die Schlafkammer und ließ auch dort die Rollläden herunter. Jemand würde mit seinem Abendessen kommen und ihn zusammengekauert auf dem Sofa finden, eingewickelt in eine Decke, fröstelnd. Es war in Ordnung, dass der Lautstärkeregler am Fernseher heruntergedreht war; Tom sah die Programme oft ohne den Ton. Er saß mit geschlossenen Augen, hielt die Decke um sich und dachte über Toms Lebensweise nach.

Diese Woche war es anders gewesen; sie hatten ihm jeden Tag das Essen gebracht. Er musste innehalten und versuchen, sich darüber klarzuwerden, ob Woche die richtige Länge der Zeit war, und merkte, dass er es nicht wusste. Er war zu krank gewesen, um es zu bemerken. Auf einmal begriff er, dass er nicht unter der Grippe gelitten hatte, sondern an Entzugserscheinungen. Entzug, dachte er bei sich. Die roten Kapseln. Er hätte an dieser radikalen Entziehungskur sterben können, verwarf aber den Gedanken; er wusste nicht einmal, was er sich abgewöhnt hatte. Ein starkes Beruhigungsmittel; die Antwort kam so schnell wie die Formulierung seiner Unwissenheit.

Genauso plötzlich kam ihm der Gedanke, dass er nicht wusste, wie lange er Tom gewesen war. Er wusste nicht, welcher Monat, welcher Tag, geschweige denn, welches Jahr es war. Er befeuchtete sich die Lippen, dann tat er es noch einmal.

Als er einen Schlüssel im Türschloss hörte, wäre er vor Schreck beinahe aufgesprungen. Die Tür ging auf, und einer der Männer von der Cafeteria kam mit dem Tablett herein.

»He, wie geht's? Du hast die Rollläden heruntergelassen. Dachte, du wärst vielleicht ausgegangen, tanzen oder was.«

»Kalt«, murmelte er, zog die Decke fester um sich und vergrub das Gesicht darin.

»Ja, scheußlicher Sturm draußen. Gefrierender Regen, Graupeln, und morgen früh wird es schneien. Frühling in den Rockies.« Er ging zum Küchenabteil durch und kam mit dem Mittagstablett zurück. »Bleib schön eingewickelt und warm. Dann also bis morgen.«

Er fühlte, wie seine Schale den jungen Mann berührte und sich dehnte, um ihn zu begleiten, als er über den Parkplatz lief, der die Wohnungen von der Cafeteria trennte. Die Graupeln knallten wie Eiszapfen gegen die Rollläden. Im großen Gebäude auf der anderen Seite des Parkplatzes blieb der junge Mann stehen, um sich das Gesicht mit einer Serviette zu wischen.

»Ah, Michael, gut, dass ich Sie getroffen habe. Wie geht es Tom?«

Die Schale schnellte beinahe zurück, als die Frau Doktor auf den jungen Mann zukam. Sie war grauhaarig, trug einen burgunderroten Regenmantel und einen Schirm. Ihre Augen waren sehr dunkel, die dunkelsten Augen, die er je gesehen hatte. Die furchterregendsten Augen, die er je gesehen hatte.

»Hallo, Dr. Brandywine. Besser, würde ich sagen. Wenigstens hat er sein Mittagessen gegessen. Zum ersten Mal. Er fröstelt, sitzt in eine Decke gewickelt vor dem Fernseher. Hat die Rollläden heruntergelassen, weil es so stürmt, nehme ich an.«

»Nun, wenn er isst, dann ist es ein gutes Zeichen. Ein böses Virus, das zur Zeit sein Unwesen treibt.«

Michael ging weiter zur Cafeteria, und sie blickte in die andere Richtung und rief: »Kommen Sie, Herbert?«

Der Mann, der sich ihr zugesellte, war groß und übergewichtig, mit weißem Haar und hellblauen Augen – Dr. Margolis. Er grinste. »Ich hörte, was er sagte. Zu dumm. Mehr Glück beim nächsten Mal.«

»Hören Sie auf! Das ist nicht komisch.«

Er lachte. Er hatte einen Regenmantel an und zog nun einen Hut aus der Tasche, er brachte ihn in die richtige Form und setzte ihn auf. Dann verließen sie das Gebäude, eilten zu einem abgestellten Wagen, stiegen ein und fuhren davon.

Der Mann, den sie Tom nannten, erhob sich langsam vom Sofa und ging in die Küche, wo sein Abendessen wartete. Es war warm und recht gut. Roastbeef, Kartoffelpüree, Soße, und vorher eine Suppe … Er aß alles auf, er trank den Karton Milch und stand auf, um sich Kaffee zu bereiten, bevor ihm einfiel, dass Tom keinen Kaffee trank. Im Schrank war ein Glas mit koffeinfreiem Pulverkaffee. Er schaute das Glas an, dann stellte er es zurück.

In Ordnung, sagte er zu sich selbst. Tom war kein Gefangener; er hatte ein wenig Geld. Hin und wieder ging er sogar allein einkaufen. Im der Kommode seiner Schlafkammer fand er dreiundvierzig Dollar, und in den Taschen der schmutzigen Jeans, die er vorher getragen hatte, mehrere Eindollarnoten und etwas Kleingeld. Keine Geldbörse, keine Wagenschlüssel, keine Ausweispapiere. Einen Wohnungsschlüssel, der kaum einen Unterschied machte, weil sie auch alle Schlüssel hatten. Er nahm seinen Poncho aus dem Schrank, zog ihn über und ließ die Kapuze fast bis zu den Augen herunter, dann ging er hinaus in den Sturm. In dieser Richtung war die Cafeteria, und dort die Wartungsabteilung, und beiden gegenüber führte ein Weg durch die Bäume zu dem Gehsteig, der entlang der Straße zum nächsten Lebensmittelgeschäft führte, wo Tom eine vertraute Gestalt war. In der anderen Richtung, weiter entfernt, lag ein weiteres Geschäft, ein Minimarkt, in dem er nur einmal gewesen war. Er schlug diese Richtung ein.

Er hatte nicht gewusst, was nach der Lektüre der Zeitungen und Zeitschriftenartikel geschehen würde. Nichts geschah. Er bereitete starken Kaffee und trank ihn, dann eine zweite Tasse. Das Koffein machte ihn schwindlig, und er konnte nicht stillsitzen. März 1989. Es war keine Überraschung. Tom hatte an den Wochenenden jeden Abend das Fernsehen eingeschaltet. Er hatte den Wechsel der Jahreszeiten gesehen, war sich in einer undeutlichen Weise des Zeitablaufs bewusst gewesen. Endlich ging er zu Bett, erschöpft und frustrierter denn je. Zum ersten Mal fragte er sich, ob er vielleicht wirklich die Grippe habe.

Nach dem Erwachen begriff er, dass er die Dinge, die er gekauft hatte, verstecken musste. Jemand würde mit seiner Medizin und seinem Frühstück kommen, und sie durften nicht merken, dass sich irgendetwas geändert hatte, selbst wenn sie keine Ahnung hatten, was die Veränderung bedeutete. Es war Freitag, nach seiner Rechnung. Er war noch zu krank, um zu arbeiten, und würde das Wochenende für sich haben. Vielleicht würde sich manches klären, wenn er ein paar Tage Zeit zum Denken hätte.

Er stand auf und eilte in die Küche, wo er bestürzt und furchtsam den Tisch betrachtete. Wie, wenn sie gekommen waren, während er geschlafen hatte? Der Frau Doktor würde so etwas niemals entgehen. Eine weitere Spritze, viele weitere Spritzen, und wenn er wieder zur Arbeit ginge, mochte es Winter sein, oder Sommer. Er ging zum Fenster und zog den Rollladen so weit hoch, dass er hinausspähen konnte. Es schneite heftig. Er wandte sich wieder dem Tisch zu.

Er hatte Notizbücher und Bleistifte und Kugelschreiber gekauft. Er hatte Kaffee und neue Zeitungen und Zeitschriften. Er hatte ein paar Taschenbücher. Er spülte den koffeinfreien Pulverkaffee durch die Toilette und füllte das Glas mit richtigem Kaffee, stellte es in den Schrank zurück. Dann wollte er das leere Glas in den Mülleimer werfen, zögerte jedoch; sie könnten es bemerken. Stattdessen steckte er es in die Jackentasche, um es später irgendwo wegzuwerfen. Die anderen Dinge versteckte er zwischen der Matratze und den Sprungfedern seines Bettes. Als die junge Frau mit dem langen Zopf kam, saß er vor dem Fernseher, eingewickelt in die Decke.

Am Montag, als er wieder zur Arbeit ging, war nichts klarer geworden. Der Schnee schmolz bereits. Jeden Tag nahm er die rote Kapsel, steckte sie in den Mund und spuckte sie später aus. Er lernte, wie er sie längere Zeit im Mund behalten und sogar murmelnde Antworten geben konnte, wenn er sie unter der Zunge hielt. Tom hatte niemals viel geredet, und jetzt tat er es auch nicht. Ein gemurmeltes Ja oder Nein war alles, was er an den meisten Tagen von sich gab.

»Irgendwelche Träume, Episoden?«

»Nein.«

Er wusste immer, wann Dr. Brandywine in der Eingangshalle ihres Gebäudes oder in dem Büro war, wo er sich jeden Morgen meldete. Wenn es sein musste, blieb er stehen, um eine Blume zu betrachten, oder um sich einen Schnürsenkel zu binden, oder einfach, um leer in die Ferne zu blicken und zu warten, bis sie ins Labor oder in einen Seminarraum ging; dann ging er hinein und ließ sich seine Kapsel geben. Gewöhnlich waren drei Leute dort, die sich nicht für ihn interessierten. Mit ihnen war es einfach. Mit Dr. Brandywine war es niemals einfach.

Wenn er wusste, dass er ihr nicht aus dem Weg gehen konnte, zog er seine Schale so eng um sich, dass er sich von ihr erstickt fühlte, so beengt, dass er sich unbeholfen bewegte; so war es in Ordnung, passend für Tom. Er versuchte stets, sie nicht direkt anzusehen, aber manchmal befahl sie es ihm: »Sieh mich an, Tom. Sag mir die Wahrheit. Irgendwelche Träume?«

Dann sah er ihr Kinn an, oder ihr dünnes eisengraues Haar, durch das ihre Kopfhaut wie rosa Kaugummi zu sehen war. Er schaute ihr Ohrläppchen an, oder die goldene Kette, an der ihre Lesebrille hing.

Er wusste jetzt, wo er war: auf einem College-Campus. Tom war einfach hier gewesen, ohne sich Gedanken darüber zu machen. Der Campus war nicht sehr groß. Es war ein privates College, sehr angesehen, und lag ein paar Meilen nördlich von Denver. Die Zahl der Studenten lag bei fünfhundert. Dr. Brandywines Fachbereich Psychologie war in einem roten Ziegelbau untergebracht. Dr. Margolis' Fachbereich Computerwissenschaften war in dem großen Gebäude, wo die Cafeteria sich befand; ein Flügel war Studentenwohnheim. Dr. Schumaker hatte den Fachbereich Mathematik im Naturwissenschaftsgebäude auf der anderen Seite des Campus. Er war dort nur einen Tag in der Woche. Dies waren die einzigen drei Leute, die ihn interessierten und die er fürchtete.

Jeden Freitagnachmittag meldete er sich in Dr. Brandywines Büro und erhielt einen Umschlag mit vierzig Dollar. Er sagte nie etwas, und gewöhnlich sagte auch die Person hinter dem Schreibtisch nichts. Wenn es die junge Frau war, die Brillengläser dick wie Flaschenböden trug und einen Zopf hatte, der ihr bis zur Taille reichte, sprach sie freundlich, nannte ihn Tom und wünschte ihm ein schönes Wochenende. Er wusste ihren Namen nicht.

Er begann sich anderer Orte zu entsinnen: einer von Gebirgszügen und isoliert aufragenden und abgetragenen Bergkegeln umgebenen Wüste; einer halbkreisförmigen vulkanischen Caldera; eines Nadelwaldes mit schräg einfallendem Sonnenlicht; des gleichen Waldes im Nebel, wenn es von den Bäumen tropfte.

Eines Nachts wachte er plötzlich auf und hatte den Namen Nell im Kopf. »Nell!«, sagte er. »Nell!« Kein Erinnerungsbild begleitete den Namen. Nur der Name ging ihm durch den Kopf. Er stand auf und tappte durch die dunkle Wohnung. Nell. Nell.

Tom wachte nie bei Nacht auf, schaltete nie das Licht ein, nachdem er sich schlafen gelegt hatte, und auch in dieser Nacht tat er es nicht, doch konnte er nicht wieder einschlafen. Er zog das Notizbuch unter der Matratze hervor, tastete nach einem Schreibstift und ging damit zum Küchentisch. Durch die winzigen Ritzen des Rollladens drang etwas Licht in den Raum, nicht genug, dass er lesen konnte, aber genug, um das leere weiße Papier zu sehen. Er hatte noch nichts in das Notizbuch geschrieben. Jetzt tat er es. Nell, schrieb er, und nach kurzem Zögern fügte er einen weiteren Namen hinzu: Travis. Er konnte die Buchstaben nicht ausmachen, wusste aber, was er geschrieben hatte.

Er schlug mit der Hand auf die Tischplatte, dann griff er wieder zum Stift und starrte auf seine Finger. Die Hand hatte früher schon geschrieben, unaufgefordert: Sie hatte ihm gesagt, er solle die Medizin nicht nehmen. Dieser andere, der nicht Tom war, hatte mit ihm kommuniziert. Tu es wieder! Er versuchte die Finger zu entspannen, die Spannung in Arm und Schulter zu lockern, und schließlich schrieb er verbotener Name, dann ließ er den Stift auf den Tisch fallen.

Er stand auf, ging zum Wohnzimmerfenster, um auf den Parkplatz hinauszuschauen, zum ragenden Gebäude jenseits davon. Ein beleuchtetes Treppenhaus, ein paar Lichter in Fenstern dort oben, niemand in Sicht. Und er dachte, verboten. Nicht vergessen, aber verboten.

Der April verging. Der Mai war heiß, und die Trockenheit kehrte wieder und drohte das Gras zu versengen. Er mulchte und mähte und beschnitt. Er bohnerte die Böden und trug Abfälle hinaus.

Er konnte fortgehen. Niemand schenkte ihm wirklich Aufmerksamkeit. Nimm deine Medizin. Irgendwelche Träume? Irgendwelche Episoden? Er wusste, dass sie ihn verfolgen und zurückbringen würden, wenn er ginge, aber das war nicht alles. Er musste bleiben, weil er diesen verbotenen Namen finden musste. Er war hier.

Der Campus war für die Graduationsfeier hergerichtet; eine Plattform war aufgebaut und mit den blauen und orangefarbenen Stoffbahnen der Collegefarben drapiert. Unter Baldachinen standen lange Tische, die für den Empfang mit Blumen geschmückt waren. Die Absolventen und ihre Familien und Gäste waren noch nicht eingetroffen, würden aber innerhalb der nächsten halben Stunde kommen.

Er hatte ein Unkraut aus dem Beet mit Kanna vor dem Verwaltungsgebäude gezogen und richtete sich gerade auf, als er sich Dr. Schumaker gegenübersah. Er machte auf der Stelle kehrt und floh. Er hörte erst auf zu rennen, als er um die Ecke des Gebäudes war, dann ging er sehr schnell zur Rückseite, wo der Lieferanteneingang war. Hinter den Abfalltonnen sank er schwer atmend zu Boden. Idiotisch, dachte er, so davonzurennen, sich durch diese Dummheit zu verraten. Blödsinnig. Er starrte vor sich hin, aber er beobachtete Dr. Schumaker. Ohne zu denken, hatte er seine Schale ausgeweitet, um zu beobachten und zu lauschen, um zu sehen, ob er sich durch eine Dummheit wie das Weglaufen verraten hatte.

Dr. Schumaker ging weiter. An der Tür blickte er stirnrunzelnd zurück.

»Morgen, Walter«, sagte Dr. Brandywine, als sie zu ihm trat. Was für ein langes Gesicht!

»Dieser Tom lief mir gerade über den Weg. Warum in aller Welt behalten Sie ihn da?«

»Tom? Warum sollte ich nicht? Er ist harmlos, und ein guter Arbeiter. Und billig.« Sie lachte leise.

»Hören Sie, ich sagte es Ihnen schon mal, und ich sage es jetzt wieder. Er ist eine Gefahr für Sie, für uns alle. Sehen Sie zu, dass Sie ihn loswerden.«

»Nun, Walter, wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass ein schlechtes Gewissen aus Ihnen spricht. Außerdem, wohin könnte er gehen? Hier kann ich ihn wenigstens im Auge behalten. Nein, lassen Sie nur. Haben Sie eine erhebende Abschiedsrede vorbereitet?«

Er sah sich um, als andere Leute in die Nähe kamen, und seine Stimme wurde zu einem halblauten Murmeln. »Er weiß Bescheid. Dieser Ausdruck in seinem Gesicht: Er weiß Bescheid.«

»Nichts, Walter. Er weiß nichts. Er ist gut für uns. Eine kleine Lucas-Gedächtnishilfe ist uns allen eine Mahnung zu mehr Aufrichtigkeit.«

2

Er lag in gekrümmter Haltung auf der Erde, hatte die Augen fest zugedrückt. Überall waren Stimmen.

Dr. Schumaker: »… alles Idealisten, die nach höchster Vervollkommnung streben …«

Dr. Brandywine: »Du weißt, dass ich die einzige bin, die dir helfen kann. Solange du Tom bist, bist du sicher …«

Schumaker: »… bei jedem Schritt werden Ihnen Versuchungen begegnen, aber Sie haben die inneren Maßstäbe und die Kraft …«

Brandywine: »Er hat Furchtbares getan. Du weißt das. Sie werden dich einer Schockbehandlung unterziehen, vielleicht sogar einer Lobotomie. Gemeingefährliche Geisteskrankheit …«

»… eine Welt erben, die als schlecht und böse verschrien wird, aber dies dient oft nur als Vorwand und Rechtfertigung für persönliche Verweigerungshaltungen. Es scheint, dass die Starken den Schwachen bei jeder Gelegenheit ihren Willen aufzwingen, aber auch das sollte nicht zum Gegenstand von Verallgemeinerungen gemacht werden. Sie sind die Starken. Ihre Jugend, Ihr Mut, das sind die Stärken …«

»Hör mich an, Tom! Hör zu! Er darf nie wieder herausgelassen werden. Niemals! Verstehst du mich?«

Dr. Margolis: »Großer Gott! All das Blut!«

»Wir müssen ihn von hier wegbringen! Beweg dich nicht, Tom! Bleib ganz ruhig! Wir suchen eine Decke …«

»All das Blut! Es wird nicht gehen.«

»Wir müssen ihn dabehalten! Holen Sie eine Decke.«

All das Blut! All das Blut! All das Blut! All das …

»Ich kann dich retten. Ich werde dich beschützen. Aber du musst genau das tun, was ich sage. Verstehst du mich?«

»Was Sie in dieser Akademie hier gelernt haben, ist nicht nur reine Wissensvermittlung. Von vielleicht noch größerer Bedeutung ist, dass Sie in einem Geist und mit einer Haltung ins Leben hinausgehen werden, die den entscheidenden Unterschied ausmachen, nicht nur in den kleinen Dingen des Alltags, sondern vor allem in den großen und wichtigen Entscheidungen und Prüfungen, vor die das Leben Sie stellen wird …«

»Tom, wenn du jemals wieder eine Episode wie diese erlebst, musst du es mir sofort sagen. Unverzüglich. Verstehst du mich? Antworte mir!«

»Ja.«

Dr. Margolis: »Wir müssen ihn einliefern. Mein Gott, wir können so etwas nicht tun. Sehen Sie sich ihn an!«

»… dankbar für Ihr Geburtsrecht, für dieses schöne Land, das Ihr Land ist, und fassen Sie aus tiefster Verantwortung und innerster Überzeugung den Entschluss, alles, was Sie an diesem Land schön finden, Ihren Nachkommen noch schöner zu hinterlassen …«

»Wickeln Sie ihn darin ein. Heb deinen Fuß auf, Tom. Wir haben dich sicher; du wirst nicht fallen. Wickeln Sie die Decke um seine Schuhe. So ist es gut. Säubern Sie den Computer, löschen Sie alles, was er eingegeben hat. Und ich werde die Disketten nehmen. Geben Sie mir zehn Minuten, bevor Sie die Polizei rufen.«

»Mein Gott, Ruth, der Computer ist zerstört! Alles ist hin! Der Datenspeicher ist leer!«

»Dann holen Sie die Ersatzdisketten! Wir müssen uns beeilen!«

»Das ist eben, was ich Ihnen zu erklären versuche. Sie sind nicht da.«

»Sie müssen da sein! Schaffen wir ihn hinaus zum Wagen, dann helfe ich Ihnen suchen.«

»… einzig mögliche Ausdruck von Dankbarkeit ist der Dienst an Ihren Mitmenschen. Der kleinste Akt von Großzügigkeit wird sich tausendfach vergrößern …«

»Dieser Name ist verboten. Du wirst nie wieder daran denken. Du wirst nicht darauf hören, wenn jemand dich damit anredet. Du wirst ihn nicht sehen. Der Name und alles, was damit zusammenhängt, ist verboten. Du bist Tom.«

Guten Morgen, Tom. Irgendwelche Träume? Irgendwelche Episoden? Nimm deine Medizin.

Eine fremde Stimme, eine lachende Stimme: »Du bist ins Netz verstrickt? Tu den nächsten Schritt, er ist leicht.«

»… weder Ruhm noch Geld, sondern die Verwirklichung der Hoffnungen und Träume …«

»Nein!«, stöhnte er. Die Augen schmerzten ihn, so fest drückte er sie zu. »Nein!« Er zog die Schale zu sich her, bis er sich am Ersticken fühlte, bis die Stimmen verstummten; nun konnte er den eigenen Herzschlag hören. Er musste Dr. Brandywine finden und ihr sagen, dass es wieder geschehen war. Sie konnte ihm helfen. Niemand außer Dr. Brandywine konnte ihn retten. Er rührte sich nicht.

Er fürchtete sich, die Augen zu öffnen. Er fürchtete sich, eine Bewegung zu machen. Sie werden dich hier finden, dachte er. Die Worte wurden in seinem Kopf von einer Stimme gesprochen, die Toms Stimme ganz ähnlich war, aber doch anders. Sie werden dich aufheben und zum Bett tragen, und sie wird kommen und dir eine Spritze geben, und morgen noch eine, und dann noch eine. Du wirst es ihr nicht erzählen müssen. Wenn sie dich sieht, wird sie Bescheid wissen. Und wenn du wieder hinausgehst, wird Schnee am Boden liegen.

Oder, dachte er voll Schrecken, vielleicht würde ihm diesmal nicht erlaubt, wieder hinauszugehen. Vielleicht würden sie ihn diesmal fortschicken, wie Dr. Schumaker es wollte. In eine geschlossene Anstalt für kriminelle Geisteskranke würden sie ihn schicken, hatte Dr. Brandywine gesagt.

Er hörte Schritte, dann Stimmen. »Was für ein Schwätzer!«

»Da hast du das richtige Wort gefunden.« Eine Bierdose zischte auf. »Gehst du dieses Wochenende angeln?«

»Nein. Wir fahren mit den Kindern zum Picknick nach Estes hinauf.«

Von ferne war Applaus zu hören, der kein Ende nehmen wollte und immer wieder anschwoll und schließlich verebbte. Die beiden Männer näherten sich dem Abfallbehälter und warfen etwas hinein.

»Wird ein paar Stunden dauern, bis alles abgebaut ist. Das Aufsammeln machen wir morgen; heute schaffen wir bloß die Tische und Stühle und das Zeug hinein …« Sie entfernten sich.

Bei ihrer Annäherung hatte er sich noch fester zusammengezogen, und nun streckte er die schmerzenden Muskeln. Plötzlich merkte er, dass er die Augen geöffnet hatte und den beiden mit seinem Blick folgte.

In der Ferne ertönte ›Pomp and Circumstance‹. Er stemmte sich mit den Armen hoch, kam auf die Knie und zog ein Bein hoch, um den Fuß auf den Boden zu setzen. Schließlich, den Blick unverwandt auf die Füße gerichtet, stand er aufrecht. Er fürchtete sich, wieder aufzublicken.

Er musste Dr. Brandywine suchen. Es musste sein. Er ballte die Fäuste, ohne den Blick zu heben. Sie würde bei der Feier sein, dachte er dann, und konnte die Hände öffnen. Er erinnerte sich, das Wort nicht in die Handfläche geritzt zu sehen. Als er diesmal hinschaute, waren beide Handflächen von den roten Abdrücken seiner Nägel gezeichnet. Nicht. Er war schmutzig von seinem Sturz; das Gesicht, beide Hände. Er würde duschen, seine Kleidung in Ordnung bringen und sie dann suchen gehen. Er nickte seinen Füßen zu und machte sich auf den Heimweg zu seiner Wohnung. Dabei beobachtete er zuerst einen Fuß, dann den anderen, und so weiter, bis er am Ziel war.

Obwohl es in seiner Wohnung stickig warm war, schloss er die Tür und ließ alle Rollläden herunter, bevor er duschte. Er blieb lange unter der Dusche, und dann trocknete er sich nur flüchtig ab, bevor er in die Schlafkammer ging, um sich anzuziehen. Mit ausgestreckter Hand blieb er vor dem Schrank stehen, hob langsam das Gesicht und blickte zur Decke des Wandschranks. Etwas anderes, dachte er. In der Decke des Wandschranks war ein Paneel, das von vier Schrauben gehalten wurde.

Wie in einem Traum wandte er sich um und ließ den Blick durch die Kammer schweifen. Kahl, wie ausgeräumt, nichts Persönliches in Sicht. Aber es sollten Plakate an der Wand sein, und Nells Bild, und eins von Travis. Nell! Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Nell. Seine Frau. Travis, sein Sohn. Ihn schwindelte vor Schock, und er suchte einen Augenblick lang Halt an der Schranktür. Dann rannte er beinahe in Panik zur Küche, ergriff einen der Stühle, riss eine Schublade auf, nahm ein Tafelmesser heraus und eilte zurück zum Wandschrank.

Wie, wenn jemand das Paneel geöffnet hatte? Die Tonbänder gefunden hatte? Dies war seine Wohnung gewesen, bevor … Bevor … Er hatte hier gelebt, hatte eine Stereoanlage, einen Kassettenrecorder, Tonkassetten … Und er hatte die Kassetten da oben hineingetan. Er hatte hier gewohnt, als die Arbeiter gekommen waren, um Wärmedämmung anzubringen, und die Öffnung in die Decke des Wandschrankes geschnitten hatten, um Zugang zum Zwischenboden dort oben zu bekommen.

In seiner Hast war er so ungeschickt, dass er die Schrauben nicht aufbrachte. Er wischte sich Schweiß aus den Augen und holte tief Luft, dann noch einmal, und steckte die gerundete Messerspitze wieder in den Schraubenschlitz; diesmal konnte er sie aufdrehen und mit der freien Hand auffangen. Die nächste, dann die dritte. Die vierte löste er, nahm sie aber nicht heraus; stattdessen schwenkte er das Paneel seitwärts, um die Öffnung freizulegen, wie er es an dem Abend getan hatte, als er die Kassetten versteckte. Dann erhob er sich auf dem Stuhl auf die Zehenspitzen und tastete in dem dunklen Zwischenboden umher und fand den Plastikbeutel, wo er ihn untergebracht hatte.

Er wollte ihn schon herausziehen, hielt aber inne und überlegte. Es gab kein anderes Versteck außer dem hier oben, wo sie sicher gewesen waren. Wie lange? Er wusste nicht, wie viele Jahre. Er zog den Plastikbeutel so nahe zur Öffnung, dass er ihn anschauen konnte, dann schob er ihn wieder zurück. Sechzehn Zwei-Stunden-Kassetten. Später, sagte er sich. Aber bald.

Er zog sich an und bereitete eine Tasse Kaffee, stark und schwarz, und auf einmal wünschte er sich ein Bier. Tom hatte Alkoholverbot. Auch Koffein durfte er nicht haben, sagte er sich, als er den Kaffee schlürfte. Wenn er ging, war ein Bier fällig, nein zwei Biere, eiskalt. Dann ein Café, Espresso oder Cappuccino, vielleicht beides. Er nickte. Beides.

Bald würden die Feierlichkeiten zu Ende sein, Punsch und Kuchen und Gebäck abgeräumt, und dann könnte er sie in ihrem Büro antreffen.

Beinahe wäre er über den Stuhl gefallen, so stark erschütterte ihn der voll ausgebildete Gedanke. »Nein«, sagte er laut. Nie wieder. Und zum ersten Mal wusste er, dass er nicht wagen konnte, ihr so nahe zu kommen, dass sie ihn berühren konnte. Mit einer Berührung konnte sie ihn beherrschen, selbst wenn er nicht verstand, wie sie es machte. Er wusste dies mit absoluter Gewissheit. Er musste fort von hier, jetzt, heute Abend. Als ihm die Notwendigkeit seiner Flucht bewusst wurde, begriff er im gleichen Augenblick, dass er zuerst etwas anderes zu erledigen hatte.

Vor allem musste er still sitzen und überlegen, die Bruchstücke der Erinnerungen zu einem Bild zusammenzufügen. Und er musste Dr. Brandywine ganz aus dem Weg gehen. Er wusste, dass er nicht in seiner Wohnung bleiben konnte; er war an diesem Abend der Aufräumungsmannschaft zugeteilt, und am Morgen wieder. Wenn er nicht zur Arbeit käme, würden sie jemanden schicken. Er durfte jetzt kein verdächtiges Verhalten zeigen, auf keinen Fall. Auf dem Parkplatz wurden Motoren angelassen; die Feierlichkeiten waren zu Ende, die Besucher brachen auf.

Eine Hand auf der Türklinke, hielt er mit geschlossenen Augen inne. »Mein Name ist Lucas Kendricks.« Da, dachte er in stillem Jubel, er hatte ihn wieder. Sie hatte versucht, Lucas Kendricks umzubringen und ihn durch Tom zu ersetzen, aber es war ihr nicht gelungen.

Lucas Kendricks.

3

An diesem Abend ging er zum Minimarkt und kaufte eine kleine Taschenlampe. Um zwei Uhr früh verließ er seine Wohnung, schlich zur Rückseite des Gebäudekomplexes und arbeitete sich weiter zum Gebäude der psychologischen Fakultät, ihrem Gebäude. Wenn er weglaufen wollte, brauchte er Geld. Er wusste, dass sie Geld in einer Kassette im Büro aufbewahrten; aus dieser Bargeldkasse bezahlten sie ihm seinen Wochenlohn. Er hatte beobachtet, wie die junge Frau mit dem Zopf die Geldkassette aus einer Schublade genommen, geöffnet und seinen Umschlag herausgenommen hatte, um ihn auszuzahlen, diesmal etwas früher als sonst, weil alles für die Graduationsfeier geschlossen sein würde.

Die Studenten würden im Laufe der nächsten Tage abreisen; dieses Wochenende war traditionell ein Party-Wochenende. Musik dröhnte über den Campus, in allen Schlafsälen waren die Lampen eingeschaltet, Studenten waren draußen auf den Rasenflächen, gingen überall herum, tanzten auf dem Parkplatz, rauchten offen und ungeniert, lachten, schrien … Die akademischen Fakultätsgebäude aber lagen dunkel und still.

Er wusste, welches Fenster er aufbringen konnte; er hatte sämtliche Fenster des Gebäudes geputzt und mit Glaserkitt ausgebessert, wo es nötig war. Er drückte das Fenster vorsichtig auf und stieg ein. Drinnen wanderte er still durch den Korridor zum äußeren Büro und hinter den Tresen. Keine Geldkassette war in der Schublade. Er zitterte vor Furcht, dass er ihrem Büro so nahe war. Irgendwo auf dem Campus ging eine Serie von Knallfröschen los, und er brach beinahe zusammen. Er hielt sich am Schreibtisch fest und wartete, bis sein Zittern nachließ. Dann ging er zur Tür ihres Büros und öffnete sie. Er hatte das Gefühl, nicht atmen zu können, und wartete, bis auch diese Empfindung verging, dann trat er ein und zog die Tür hinter sich zu.

Viele Male war er in diesem Büro gewesen, zu viele Male, dachte er jetzt, da er die Furcht akzeptierte, die ihn erfüllte. Trübes Licht von einer Straßenlaterne draußen sickerte in den Raum; die Jalousien waren nicht ganz geschlossen. Er dachte, dass jeder, der vorbeiginge, hereinschauen und ihn im Büro stehen sehen würde. Er schluckte angestrengt, dann zwang er sich, den beigefarbenen Teppich zu überqueren, vorbei an dem bequemen hölzernen Armsessel, in dem er häufig gesessen hatte, und um ihren Schreibtisch. Er setzte seine kleine Taschenlampe sparsam ein, hielt das Ende mit der Hand umfasst und beschränkte den Lichtaustritt zusätzlich. So untersuchte er die Schubladen, ließ das Licht über die Tischplatte gehen. Der Anblick eines Briefbeschwerers lähmte ihn. Es war eine Halbkugel von der Größe einer halbierten Melone, durch deren Glas ein kleines Haus und zwei Gestalten zu sehen waren.

Mit seiner Lähmung entfiel die Taschenlampe seinen Fingern; er sackte gegen den Schreibtisch und rang nach Luft. Es schneit nicht, sagte er leise. Es ist in Ordnung. Es schneit nicht.

»Schau den Briefbeschwerer an, Tom. Sieh den Schnee fallen. Behalte den Schnee im Auge, Tom, wie er fällt, fällt …«

Jetzt wusste er, dass es eines der Stichworte war, die sie benutzte, um ihn zu hypnotisieren. »Es schneit, Tom.« Das genügte schon, um ihn in eine Trance zu versetzen. Das Betrachten des Briefbeschwerers mit dem fallenden Schnee war genug. Was noch? Er war überzeugt, dass auch eine Berührung damit verbunden war, konnte sie sich jedoch nicht vergegenwärtigen.

Er merkte, dass er gebückt dastand, den Kopf auf der Brust, aber endlich gelang es ihm, die Hand auszustrecken und seine Taschenlampe wieder aufzuheben. Die Schreibtischschubladen waren verschlossen. »Es schneit nicht«, flüsterte er und richtete das Licht wieder auf die Tischplatte, hielt Ausschau nach etwas, womit er die Schubladen aufbrechen konnte. Stattdessen hörte er auf, den Lichtkegel hin und her zu schwenken, und richtete ihn auf das Faltblatt eines Reisebüros unter dem Briefbeschwerer. Er streckte die Hand danach aus, zog sie aber hastig zurück, bevor er den Briefbeschwerer berührte. Schweiß trat ihm auf die Stirn, ein Schauer überlief seinen Rücken. Er wischte sich die Lippen mit dem Handrücken, schloss die Augen, griff nach dem Faltblatt und zog es mit einem Ruck heraus. Dann kehrte er dem Schreibtisch den Rücken zu, um zu sehen, was in dem Faltblatt war.

Sie reiste Sonntag nach England! Sonntagmorgen um sechs Uhr dreißig ab Stapleton. Das Ticket für den Rückflug war auf den 1. Juli datiert. Er wandte den Blick vom Briefbeschwerer ab, als er das Faltblatt wieder darunterschob. Er vergaß, dass er die Schreibtischschubladen öffnen wollte, stattdessen verließ er eilig das Büro, kletterte zum Fenster hinaus und kehrte in seine Wohnung zurück. Das Feiern auf dem Campus dauerte an; die Fenster des Wohnkomplexes waren beleuchtet, Studenten waren auf den Gehsteigen und Rasenflächen vor vielen der Türen. Niemand schenkte ihm Beachtung, als er den Hauseingang zu seiner Wohneinheit betrat.

Erschöpft warf er sich aufs Bett und überlegte hin und her: Sonntag. Am Samstag würde sie ihn in ihr Büro rufen. Das tat sie immer, bevor sie eine Reise unternahm. Bei dem Gedanken, Instruktionen entgegenzunehmen, ballte er die Fäuste.

Als der Samstagmorgen kam, ging er durch das nasse Moos um die Beete nahe ihrem Gebäude. Er kniete nieder, schmierte Kunstdünger und Kalkstaub auf Hosenbeine und Turnschuhe, steckte die Hände in feuchte Erde und ging dann hinein, um seine Medizin in Empfang zu nehmen. Zuvor wischte er die Hand flüchtig an seinen Jeans ab und schenkte den schmutzigen Fußabdrücken, die er von der Tür bis zum Schreibtisch hinterließ, keine Beachtung. Als sie herauskam und zu reden begann, schenkte er auch ihr keine Beachtung. Er fühlte den durchbohrenden Blick dieser schwarzen Augen, und innerlich war er so angespannt, dass er dachte, er könne sich nicht mehr bewegen. Sie wandte sich ab und ging wieder in ihr Büro, und er tappte wortlos hinaus.

Getan! Nun konnte er für den Rest des Tages verschwinden, und morgen würde sie fort sein. Er verbrachte oft Tage in den nahen Wäldern. Wenn sie ihn fragte: »Wohin gehst du? Was machst du?«, murmelte er »Wald. Weiß nicht.« Wenigstens hatte sie ihm nicht auch das verboten.

Noch immer plagte ihn der Gedanke an etwas anderes, das aber noch immer außer Reichweite blieb. Etwas anderes. Aber er wusste, dass er nicht warten würde, bis der nebulöse Gedanke Gestalt annehmen würde. Kein Warten mehr. Morgen würde er in ihr Haus gehen und die Habseligkeiten von Lucas Kendricks suchen. Sie musste sie versteckt haben, auf dem Dachboden oder im Keller, irgendwo, nur für den Fall, dass sie einmal gezwungen sein würde, Lucas Kendricks oder seinen Leichnam beizubringen. Er erinnerte sich an ihr Haus oben am Hang des Hügels, obwohl er dachte, dass Tom nach jenen ersten paar Wochen wahrscheinlich niemals dort gewesen war. Wochen? Er bemühte sich, diesen Zeitraum genauer zu bestimmen, doch gelang es ihm nicht. Er war jedenfalls sicher, dass es Wochen gewesen waren. Mehr und mehr Bruchstücke von Erinnerungen stellten sich jetzt ein, aber in keiner vernünftigen Reihenfolge, nicht zuerst dies, dann das, nicht Ursache und Wirkung. Sie hatte seine Erinnerungen von Lucas Kendricks, von Nell und Travis genommen, sie hatte ihm die Identität genommen, hatte ihn ausgeleert und durch einen Verrückten ersetzt.

Ihm schauderte bei dem Gedanken an die Jahre, die er Tom gewesen war, ein Verrückter, der Stimmen hörte und keine Vergangenheit hatte, keine Zukunft, nur den unmittelbaren Augenblick. Schaudernd wünschte er, Dr. Brandywine zu erwürgen. Er wollte sie nicht erschießen oder ihr ein Messer ins Herz stoßen, sondern sie mit beiden Händen erwürgen und zusehen, wie diese schwarzen Augen aus den Höhlen traten und dann leer wurden.

Es war ein langer Fußmarsch. Gleich nachdem er sich gemeldet und seine Medizin bekommen hatte, war er aufgebrochen, und nun war es mindestens Mittag. Tom hatte niemals eine Uhr gebraucht, aber Lucas wusste, dass er seit mindestens zwei Stunden unterwegs sein musste. Er war in Schweiß gebadet. Die kurvenreiche, ansteigende Straße war schmal und sah täuschend verlassen aus. Die vielen Einfahrten straften den Anschein von Wildnis Lügen. Zweimal hatte er sich im dichten Unterholz verkrochen, als Motorengeräusch die Annäherung von Wagen angekündigt hatte, und nun war er nicht mehr weit von ihrer Zufahrt.

Der Gedanke: etwas anderes, schlug wie eine Trommel in seinem Kopf, im Takt mit seinem Puls. Etwas anderes. Er blieb vor der Einfahrt stehen: etwas anderes. Nicht hier, weiter die Straße aufwärts. Etwas anderes.

Ein weiterer Wagen näherte sich. Er rannte die Einfahrt hinauf, bis die Biegung ihn der Sicht der Straße entzog, dann machte er wieder halt, diesmal aber aus Vorsicht. Sie mochte jemanden im Haus zurückgelassen haben, eine Haushälterin, einen Hausmeister oder was. In der Deckung der Vegetation schlich er näher heran, bis er das Haus und die Garage sehen konnte; abermals machte er halt. Ein staubiger alter Ford stand in der Zufahrt.

Das Haus war zweistöckig, mit einer Gewölbedecke im Wohnzimmer, einem Balkon, der dieses Wohnzimmer überblickte, Schlafräume, die davon ausgingen. Küche, Speisezimmer, Arbeitszimmer und Waschküche vervollständigten das Erdgeschoss. Er sah jeden Raum vor seinem inneren Auge, wie er bei seinem letzten Besuch hier gewesen war. Und der Ford. Ihre Haushälterin, dachte er. Miranda. Aber sie würde nicht bleiben, nicht die ganze Zeit, das war sicher. Hinter einem Baum kauerte er nieder, um zu warten.

Innerhalb einer Stunde ging die Haustür auf, und eine untersetzte Chicanofrau kam heraus. Sie trug zwei Topfpflanzen, die sie in ihrem Wagen verstaute: dann ging sie wieder ins Haus und kam mit zwei weiteren zurück. Sie trug noch mehrere heraus, bevor sie endlich zusperrte, in den Ford stieg und davonfuhr.

Er wartete noch einige Minuten, war jedoch überzeugt, dass sonst niemand in der Nähe war. Er trottete zum Haus, machte einen Umweg, um durch das Garagenfenster zu spähen, und erstarrte. Ihre Corvette stand in der Garage, und dahinter, teilweise mit einer blauen Plastikplane zugedeckt, stand ein grauer Honda Civic. Sein Wagen.

Ihm war, als wäre er in einen Traum eingetreten. Alle Bewegungen waren traumartig, und wie in einem Traum schwebten Bilder, Worte, Stimmen frei vor ihm. Im Traum schlug er das Fenster ein und betrat die Garage; er öffnete die Tür seines Wagens, setzte sich hinter das Lenkrad und lauschte den verschiedenen Stimmen:

»He, wer bist du? Bist du auch im Netz? Hui!«

»Lucas, komm herauf. Ich brauche dich.« Emils Stimme. Aber Emil war tot.

Im Handschuhfach fand er seine Geldbörse, seine Uhr und die Wagenschlüssel. Er streifte die Armbanduhr über. Sie ging noch. In der Geldbörse waren beinahe hundert Dollar. Er langte wieder ins Handschuhfach, diesmal, um einen dicken Umschlag herauszunehmen, der viertausendzweihundert Dollar enthielt. Er wusste, wie viel darin war. Der Motor sprang nicht an. Die Batterie, dachte er. Er stieg aus, öffnete die Kühlerhaube der Corvette und durchsuchte die Garage nach Werkzeug.

»Hör zu, Mann, wir sind es bloß. Pass auf, verdammt! Er hat den Computer und die Speicher zerschlagen, aber ich habe die Disketten. Hast du gehört?«

Er fuhr die kurvenreiche Bergstraße zu schnell hinauf, und diese junge Stimme war da: »He, gib gefälligst acht, ja?«

»Ich kann nicht. Ich kann nicht.« Überall erstreckte sich das Geflecht, Bänder und Linien, gespannt, schimmernd, sich dehnen, ihn erstickend. Er trat auf die Bremse, drückte die Stirn gegen das Lenkrad und schloss die Augen.

»Na, ist schon gut. Dann suchst du eben nicht. Wirst es schon herausbringen, wenn es Zeit ist, sie zu holen.«

Er fand Handschuhe und zog sie an, dann hob er die Batterie aus dem Honda, baute an ihrer Stelle die Batterie der Corvette ein und schloss die Kabel an. Er ließ Benzin aus dem Tank der Corvette ab und füllte es in den des anderen Wagens, er tat etwas davon in den Vergaser, fand Öl für einen Rasenmäher oder was. Es musste gehen, bis er eine Tankstelle erreichte. Als nächstes schaltete er die Zündung ein, der Motor hustete, keuchte – und sprang an. Er war hinter dem Lenkrad, als er sich erinnerte, wie er, in eine Decke gewickelt, auf der Beifahrerseite in den Wagen gestoßen worden war. Sie war gefahren. Soviel Blut, soviel Blut. Er warf einen Blick zur Kopfstütze neben sich. Staubig und grau, keine Spur von Blut. Sein Kopf war auch mit der Decke umwickelt gewesen. Er befühlte seine Stirn, ertastete die Narbe. Sie hatte die Wunde vernäht.

»Lucas, ich brauche dich!«

»Ich komme schon, Emil. Ich komme.«

»Du wirst wissen, wann es Zeit ist, sie zu holen. Du wirst es wissen!«

Noch immer im Traum stieg er aus dem Honda und untersuchte das Garagentor, fand den Knopf, der es öffnete, und fuhr hinaus auf die Zufahrt. Wenn der Wagen später nicht starten würde, konnte er ihn anschieben, ins Rollen bringen und die abschüssige Straße hinunterfahren. Er schaltete die Zündung aus und steckte die Schlüssel ein. Die Nummernschilder, dachte er plötzlich. Man würde ihn aufhalten. Er ging zurück in die Garage, schraubte die Nummernschilder von der Corvette und befestigte sie am Honda. Dann war er fertig.

Etwas anderes, dachte er. Etwas anderes. Er blickte umher, hielt Ausschau nach dem anderen. Er sah das offene Garagentor und schloss es in der Hoffnung, dass Miranda nichts bemerken würde, bevor Dr. Brandywine zurückkehrte.

»Tom, hör mich an. Hast du die Disketten angerührt? Hast du sie weggetan? Antworte mir, Tom!«

»Nein.«

Er suchte nicht nach einer Richtung, als er um das Haus und auf einem Pfad in den Wald ging. Der Pfad war nicht überwachsen, selbst wenn Dr. Brandywine ihn nicht mehr benutzte, nicht seit Emils Tod. Emil, dachte er wie aus weiter Ferne. Tot. Emil war tot. Seine Sicht trübte sich, und er wischte die Tränen weg. Emil Frobisher war tot.

»Tom, hör mir gut zu. Er kann nie wieder herauskommen. Er hat Furchtbares, Schreckliches getan. Es ist nicht deine Schuld. Du bist unschuldig, aber du musst ihn begraben lassen. Dieser Name ist verboten. Alles, was mit diesem Namen zusammenhängt, ist verboten. Du wirst niemals an ihn denken …«

Er blieb stehen; voraus war eine kleine Scheune. Emil Frobishers Besitz hatte einst aus einer Farm mit Nebengebäuden bestanden; die Scheune stand noch. Er hielt nicht nach dem Haus jenseits der Scheune Ausschau, überlegte nicht, wer jetzt dort wohnen mochte, und ob die Leute zu Hause waren. Er starrte nur die Scheune an. Auf dem Heuboden war Holz gelagert und einige alte Flügelfenster. Hinter all dem Zeug, in einem dunklen Winkel, wo die Seitenwand im spitzen Winkel mit dem Dach zusammentraf, war ein Plastikbehälter mit Computerdisketten. Er befeuchtete die Lippen und ging auf die Scheune zu.

Er schnitt sich die Hand an einer zerbrochenen Fensterscheibe, als er sich durch das staubige alte Zeug auf dem Dachboden arbeitete. Der Plastikbehälter war an Ort und Stelle. Er zog ihn heraus, klemmte ihn unter den Arm, stieg die Leiter herunter und verließ die Scheune. Draußen stand ein kleiner Junge und beobachtete Lucas mit furchtloser Aufmerksamkeit.

»He, du hast dir weh getan.«

Lucas blickte auf seine Hand. All das Blut. Lieber Gott, all das Blut.

Wortlos eilte er an dem Kind vorbei und in den Wald; auf dem Pfad begann er zu laufen.

4

An manchen Sommertagen ähnelte der Fluss einer schlafenden exotischen Schlange, die sich kaum bewegte, kaum atmete; an solchen Tagen glänzte er grün, mit silbernen Schuppen. Manchmal war er wie flüssiges Silber, das um ruhige, kornblumenblau leuchtende Stauwasserbereiche strömte; oder leuchtete spiegelnd, als ob ein Stück Himmel herabgefallen wäre. Im Frühjahr war er blassgrau; dann verwischte sein vom See gespeistes Wasser sich mit den Schmelzwasserströmen des Kaskadengebirges und schoss turbulent und angeschwollen zu Tal, als ob er die Aufgabe hätte, den Ozean zu kühlen, und wäre ein übermäßig gewissenhafter Diener, eifrig bestrebt, seine Pflicht zu erfüllen. Im Winter wurde er oft schwarz und sah täuschend träge aus. Dann und wann lösten sich Eisschollen vom Ufer, tanzten und drehten sich in selbstvergessenen Pirouetten, schaukelten auf und ab und schmolzen allmählich dahin, um zuletzt im Tumult von Wellen und Strömung zu ertrinken.

Wenn Holztrift war, rollten und drehten sich die langen Stämme im schäumenden Wasser; oft blieben sie an Felsen hängen und schlugen auf und nieder wie lebende Geschöpfe, die einer Falle zu entkommen suchen. Der Fluss spielte mit den Stämmen; manchmal hielt er ein Ende fest und ließ das andere höher und höher aus dem Wasser steigen, bis es schließlich wie mit einem Donnerschlag wieder auf die Wasseroberfläche krachte.

Auch andere Dinge wurden flussabwärts getragen: ein Kanupaddel, ein Schwimmer von einer Anglerausrüstung, ein Elch, ein Coyote, einmal ein Schwarzbär. Styroporreste von Picknick-Verpackungen, Plastikbecher …

Der Fluss lachte, er flüsterte, er brüllte. Er hatte seine eigenen Lieder. Und Geheimnisse. Er kannte Stille und Seufzer. Und die Morgensonne warf Silber auf das Wasser; am Abend spann sie Gold.

Hier bei Turners Point war die letzte Strecke ungezähmten Wildwassers. Zehn Meilen flussabwärts war ein Staudamm, und etwa bei Turners Point wurde der Fluss breiter und immer ruhiger, bis er zu einem leuchtend blauen Stausee wurde, der so kalt war, dass ganze Bäume aufrecht in seinem Wasser erhalten geblieben waren.

Bäume und Wasser. Wasser und Bäume. Nadelbäume, die so tiefe Schatten warfen, dass unter ihnen nur Pflanzen und Tiere lebten, die im Halbdunkel gedeihen konnten. Der Boden war eine dichte, federnde Matte aus Nadeln; hier und dort durchbrachen verwitterte Lavafelsen den Waldboden. Nach den Herbstregen und dann wieder im Frühling erschienen Pilze in verschwenderischer Fülle.

Auf der anderen Seite des Flusses, gegenüber von Turners Point, begleitete ein zehn Meter hohes Kliff den Flusslauf. Stromabwärts wurde es zu einer der Begrenzungen des Stausees, und stromaufwärts ragte es dreißig Meter hoch oder noch höher, eine senkrechte Barriere für den Fluss. Auf dieser Seite stieg das Terrain weniger steil an; es bot Platz für die Fernstraße, für Turners Point mit seinen mehreren Dutzend Gebäuden, dem Gemischtwarenladen und der Tankstelle und Hütten des Campingplatzes, die so nahe beieinander standen, dass sie wie ein langes, niedriges Gebäude aussahen. Hinter dem Gemischtwarenladen, fünf Meter über den Fluss, war ein kiesbestreuter Parkplatz mit einer gepflasterten Zufahrt zu einer Slipanlage für Boote. Am Ende der Hüttenreihe erhob sich ein zwanzig Meter breiter und mehr als zehn Meter hoher, mit Moos und blassgrünen und roten Flechten bewachsener Felsblock, auf dem sich zwei zottige Fichten hoch über dem Flussufer angesiedelt hatten.

Wäre der Felsblock nicht gerade dort zur Ruhe gekommen, hätte Nell Kendricks die halbe Meile von ihrem Ufergrundstück zum Laden in Turners Point bequem zu Fuß gehen können, aber der Block verhinderte den Zugang von der Seite, und sie musste fahren, zuerst auf einer Privatstraße, dann beinahe eine Meile auf einer Kreisstraße und schließlich eine halbe Meile auf der Fernstraße. In Turners Point bog diese vom Fluss ab und begann ihren kurvenreichen Anstieg zur Passhöhe und weiter zu den östlichen Hängen des Kaskadengebirges.

Heute gehörte Nell zu dem runden Dutzend Stammkunden, die sich jeden Donnerstag einfanden, wenn der Bücherbus auf den Parkplatz gerollt kam, wo er im Sommer grobkörnigen Staub aufwirbelte und im Winter den Schneematsch aufwühlte. Nell hatte Bücher für sich selbst und ein paar für ihre Kinder ausgeliehen, obwohl keines der beiden jetzt in der ersten Woche der Sommerferien irgendein Interesse am Lesen bekundet hatte. Travis hatte die Anregung mit unverhohlener Verblüffung aufgenommen. Nell hatte auch ein paar Bücher für ihre Nachbarin Jessica Burchard mitgenommen. Mikey, die Fahrerin des Bücherbusses, begleitete Nell zu ihrem Wagen; jede von ihnen trug einen Arm voll Bücher.

»Wie ich sagte«, versicherte Mikey, »noch eine Budgetkürzung, und wir schwimmen mit dem Bauch nach oben. Dieser verdammte Bus schafft kaum die Steigung hier herauf, und sie wollen, dass wir bis zum Pfadfinderlager hinauffahren. Können Sie sich das vorstellen? Das ist eine gewundene kleine Landstraße und steil!«

Mikey war eine große schlaksige Frau von knapp vierzig Jahren, mit widerspenstigem roten Haar, das ständig den verschiedenen Baskenmützen und Haarklammern und Kopftüchern entkam, die sie trug. Sie überragte Nell um einen halben Kopf, die immer sagte, sie sei einsachtundfünfzig und dabei gute zwei Zentimeter zugab, welche die Natur ihr versagt hatte.

»Warum schicken sie die Pfadfinder nicht herunter, wenn sie Bücher wollen? Es sind nur ein paar Meilen auf guten Wegen«, sagte Nell, als sie die Bücher auf dem Beifahrersitz ihres Kleinlasters abluden.

»Warum sollten sie jetzt anfangen, vernünftig zu werden? Kommen Sie, trinken wir zusammen eine Cola oder was.« Sie winkte Lonnie Rowan zu, einer kleinwüchsigen, breiten Frau in roten Hosen, die gerade auf den Parkplatz gefahren war. »Hallo, Lonnie! Ich hab diesen neuen Krimi, den Sie wollten.«

»Machen Sie nur«, sagte Nell. »Ich bring inzwischen die Getränke hinten raus.« Mikey nickte und ging zu Lonnie, während Nell den Gemischtwarenladen ansteuerte. Sie nickte den Leuten zu, wechselte mit mehreren ein paar Worte, hielt sich aber nicht auf. Sie kannte alle hier, begegnete ihnen bei den regelmäßigen Einkäufen oder beim Bücherbus oder irgendwo in der Gegend. Alljährlich hielten sie Gemeindeversammlungen ab, in denen endlos diskutiert wurde, wie man die Langholztransporte veranlassen könnte, vor Erreichen der Ortsdurchfahrt langsamer zu fahren, wie man Touristen anlocken könnte, wer wen heiratete oder sich scheiden ließ …

In Turners Point hatte es einmal einen Turner gegeben; er hatte den Gemischtwarenladen errichtet, dem jetzt eine Art Cafeteria angegliedert war. Chuck Gilmore war jetzt Eigentümer des Ladens, der Tankstelle und der Hütten auf dem Campingplatz. Im Laden gab es belegte Brote unter einer Glasglocke, skandalös teures Obst, Angelausrüstungen, Köderwürmer und Lachseier in einer Kühltruhe, Bier, alkoholfreie Getränke, Brot, das immer Tage alt zu sein schien. Seltsam, dass das Brot niemals frisch war, ganz gleich wie früh man den Laden aufsuchte.

Nell schlängelte sich durch die Gruppe von Leuten im Ladeneingang. Donnerstag, wenn der Bücherbus nach Turners Point kam, war gesellige Stunde, Zeit für die Einheimischen, sich über die lokalen Ereignisse zu informieren und ein bisschen zu klatschen. Als sie an den zu zweit oder zu dritt zusammenstehenden Leuten vorbeiging, hörte Nell Bruchstücke der Gespräche:

»Ich weiß nicht, warum sie immer die Straßen aufreißen müssen, sobald das Wetter schön wird. Maud brauchte mehr als zwei Stunden, um hier heraus zu kommen.«

»Wenn sie weitermachen wie bisher und das ganze Geld für die Fernstraße verpulvern, die keine Reparatur nötig hat, können sie weiterhin behaupten, dass für die alte Halleck Hill Road kein Geld da ist, oder dass sie einfach nicht dazu kommen, die Straße zu sanieren.«