Hier sangen früher Vögel - Kate Wilhelm - E-Book

Hier sangen früher Vögel E-Book

Kate Wilhelm

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Beschreibung

Schöne neue Menschheit

Die Welt, wie wir sie kennen, ist dem Untergang geweiht: Umweltzerstörung, Katastrophen und Atomkriege drohen, die Menschheit auszulöschen. Schon jetzt sind Männer wie Frauen oft unfruchtbar, eine Folge der nuklearen Strahlung. David Summer ist ein genialer Wissenschaftler und fest entschlossen, seine Familie zu retten. Seine Experimente an Mäusen zeigen, dass nach mehreren Generationen von Klonen einige seiner Versuchstiere wieder fruchtbar werden. David fasst einen waghalsigen Plan: er will sich und seine Verwandten ebenfalls klonen. Dazu zieht sich die Familie Summer auf eine entlegene Farm in Virginia zurück, wo sie eine kleine Gemeinschaft aufbauen. Doch das Experiment gerät außer Kontrolle, als die ersten Klone erwachsen werden …

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Seitenzahl: 419

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KATE WILHELM

HIER SANGEN

FRÜHER VÖGEL

Roman

Das Buch

Die Welt, wie wir sie kennen, ist dem Untergang geweiht: Umweltzerstörung, Katastrophen und Atomkriege drohen, die Menschheit auszulöschen. Schon jetzt sind Männer wie Frauen oft unfruchtbar, eine Folge der nuklearen Strahlung. David Summer ist ein genialer Wissenschaftler und fest entschlossen, seine Familie zu retten. Seine Experimente an Mäusen zeigen, dass nach mehreren Generationen von Klonen einige seiner Versuchstiere wieder fruchtbar werden. David fasst einen waghalsigen Plan: er will sich und seine Verwandten ebenfalls klonen. Dazu zieht sich die Familie Summer auf eine entlegene Farm in Virginia zurück, wo sie eine kleine Gemeinschaft aufbauen. Doch das Experiment gerät außer Kontrolle, als die ersten Klone erwachsen werden …

Der Autor

Kate Gertrude Meredith wurde am 8. Juni 1928 in Toledo, Ohio geboren. Nach ihrem Highschool-Abschluss arbeitete sie zunächst als Model, Telefonistin und Schreibkraft, ehe sie 1947 Joseph Wilhelm heiratete. Sie begann 1956 mit dem Schreiben von Science-Fiction-Kurzgeschichten; noch im selben Jahr erschien »The Pint-Size-Genie« im Magazin Fantastic

Titel der Originalausgabe

WHERE LATE THE SWEET BIRDS SANG

Aus dem Amerikanischen von René Mahlow

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Überarbeitete Neuausgabe

Copyright © 1976 by Kate Wilhelm

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

1. TEIL

Hier sangen früher Vögel

1. Kapitel

Was David an den Festmahlzeiten der Sumners immer am meisten hasste, war die Art und Weise, wie alle über ihn redeten, als ob er nicht da wäre.

»Hat er in letzter Zeit genug Fleisch gegessen? Er sieht so spitz aus.«

»Du verziehst ihn, Carrie. Wenn er nicht isst, solltest du ihn nicht zum Spielen hinauslassen. Du warst genauso, weißt du.«

»Als ich in seinem Alter war, konnte ich mit der Axt Bäume fällen, so robust war ich. Aber ich glaube, er könnte sich nicht einmal durch Nebel seinen Weg schneiden.«

David stellte sich dann meist vor, er wäre unsichtbar und schwebte ungesehen über ihren Köpfen, während sie über ihn redeten. Jedes Mal fragte jemand, ob er schon eine Freundin habe, und egal, ob die Antwort Ja oder Nein war, sie tuschelten gleichermaßen. Von seinem Aussichtspunkt aus würde er ein Strahlengewehr auf Onkel Clarence richten, der ihm besonders zuwider war: Onkel Clarence war fett, kahlköpfig und sehr reich. Er pflegte sein Brot in die Bratensoße zu tunken oder in Sirup, oder öfter noch in ein Gemisch aus Sorghum und Butter, das er auf seinem Teller anrührte, bis es aussah wie Babyscheiße.

»Hat er immer noch vor, Biologe zu werden? Er sollte Medizin studieren und dann in Walts Praxis eintreten.«

Er würde seine Strahlenpistole auf Onkel Clarence richten, feinsäuberlich einen Lappen aus seinem Bauch schneiden und vorsichtig herauslösen, und Onkel Clarence würde aus dem Loch heraussickern und über Tisch und Stühle fließen.

»David.« Er fuhr erschrocken auf, entspannte sich dann wieder. »David, warum gehst du nicht mal raus und schaust, was die anderen anstellen?« Es war die ruhige Stimme seines Vaters, der eigentlich sagte: Nun reicht's fürs erste. Und sie würden ihre kollektive Betrachtung einem der anderen Sprösslinge zuwenden.

Als David älter wurde, lernte er die komplexen Verwandtschaftsbeziehungen begreifen, die er als Kind einfach als gegeben hingenommen hatte. Onkel, Tanten, Vettern, Vettern zweiten, dritten Grades. Und die Mitglieder ehrenhalber – die Brüder, Schwestern und Eltern derjenigen, die in die Familie eingeheiratet hatten. Die Sumners und Wistons und O'Gradys und Heinemans und die Meyers und Capeks und Rizzos, alle Teil desselben Flusses, der das fruchtbare Tal durchzog.

Vor allem an die Festtage erinnerte er sich. Das alte Sumner-Haus hatte ein weitläufiges Obergeschoss mit vielen Schlafzimmern und einen Dachboden, der von Wand zu Wand mit Matratzen ausgelegt war, Lager für die Kinder; im Westfenster war ein ungeheurer Ventilator. Ständig kam jemand herauf, um nachzusehen, ob sie nicht auf dem Dachboden allesamt am Ersticken waren. Die älteren Kinder sollten auf die jüngeren aufpassen; tatsächlich aber schüchterten sie sie Nacht für Nacht mit Geistergeschichten ein. Nachts war es immer dasselbe. Allmählich schwoll der Lärm, bis Erwachsene einschreiten mussten. Onkel Ron stapfte schwer die Treppe herauf, und auf dem Dachboden kam es zu eiligem Getrippel, mit unterdrücktem Kichern und gedämpften Schreien, bis jeder wieder in seinem Bett war; so dass, wenn Onkel Ron schließlich das Licht andrehte, das den Speicher trübe erhellte, die Kinder alle in Schlaf versunken schienen. Er blieb kurz im Türrahmen stehen, schloss dann die Tür, löschte das Licht und polterte die Treppe wieder hinunter, anscheinend taub für den fröhlichen Lärm, der sich hinter ihm aufs neue erhob.

Wenn Tante Claudia heraufkam, war es jedes Mal wie die Erscheinung eines Geistes. Eben noch flogen Kissen durch die Luft, irgendjemand weinte, jemand anders las beim Licht einer Taschenlampe, beim Licht einer anderen spielten einige Jungen Karten, einige Mädchen schmiegten sich aneinander und flüsterten über köstliche Geheimnisse – dass es sich um solche handelte, musste man aus der Art schließen, wie sie erröteten und verzweifelt guckten, wenn ein Erwachsener plötzlich bei ihnen auftauchte – und schon sprang die Tür auf, das Licht fiel auf die Unordnung, und da stand sie. Tante Claudia war sehr groß und dünn, ihre Nase war überlang, und ihre Haut besaß die dauerhafte Bräunung alten Leders. Da stand sie dann, starr und furchtbar, und geräuschlos krochen die Kinder in ihre Betten. Sie regte sich nicht, bis alle da waren, wo sie hingehörten, dann schloss sie unhörbar die Tür. Das Schweigen zog und zog sich hin. Diejenigen, die der Tür am nächsten waren, hielten den Atem an und versuchten, sie auf der anderen Seite atmen zu hören. Irgendwann dann hatte schließlich jemand genug Mut zusammengerafft, die Tür einen Spalt weit zu öffnen, und wenn sie wirklich verschwunden war, konnte die Party weitergehen.

Die Gerüche der Festtage hatten sich nachhaltig in Davids Gedächtnis eingeprägt. All die üblichen Gerüche: Fruchtstollen und Truthähne, der Essig in der Eierfarbe, die grünen Tannenzweige und der dicke, cremige Rauch der Lorbeerkerzen. Woran er sich jedoch am lebhaftesten erinnerte, das war der Geruch des Zündpulvers, den sie alle bei den Familienversammlungen am Vierten Juli an sich herumtrugen. Der Geruch, der ihre Haare und Kleider durchdrang, haftete tagelang an ihren Händen. Ihre Hände hatten gewöhnlich beim Beerenpflücken purpurschwarze Flecken bekommen, und Farbe und Geruch der Beeren gehörten zu den unzerstörbaren Erinnerungen seiner Kindheit. Mit hinein mischte sich der Geruch des Schwefelpulvers, das üppig über sie gestäubt worden war, um die Milben zu vernichten.

Hätte es Celia nicht gegeben, so wäre seine Kindheit vollkommen gewesen. Celia war seine Cousine, die Tochter der Schwester seiner Mutter. Sie war ein Jahr jünger als David und bei weitem die hübscheste seiner Cousinen. Als sie noch sehr jung waren, versprachen sie sich, eines Tages zu heiraten, und als sie heranwuchsen und ihnen unmissverständlich klargemacht wurde, dass in dieser Familie Cousin und Cousine niemals heiraten könnten, wurden sie zu unversöhnlichen Feinden. Er wusste nicht, wie man es ihnen beigebracht hatte. Er war sich sicher, dass niemand es je in Worte gefasst hatte, aber sie hatten verstanden. Wenn sie danach einander nicht aus dem Weg gehen konnten, kämpften sie. Sie stieß ihn vom Heuboden, als er fünfzehn war, und dabei brach er sich den Arm; und als er sechzehn war, rauften sie sich den ganzen Weg von der Hintertür des Wistonschen Farmhauses bis zum Zaun, der fünfzig oder sechzig Meter entfernt war. Sie rissen sich die Kleider vom Leib, und ihre Fingernägel kratzten seinen Rücken blutig; sie selbst blutete an der Schulter, mit der sie hart auf einen Stein gestoßen war. Dann berührte, inmitten dieses Rollens und Tobens, seine Wange ihre unbedeckte Brust, und er hörte auf zu kämpfen. Er wurde plötzlich zu einem dahinschmelzenden, schluchzenden, zusammenhanglos stammelnden Idioten; mit einem Stein schlug sie ihm auf den Kopf und beendete den Kampf.

Bis zu diesem Augenblick hatte sich der Kampf in fast vollkommenem Schweigen abgespielt, das nur von keuchendem Atem und geflüsterten Worten unterbrochen worden war, die ihre Eltern schockiert hätten. Aber als der Stein ihn traf und er zusammensackte, nicht ohnmächtig, aber benommen, gleichgültig und schlaff, schrie sie los und überließ sich dem Schrecken. Die Familie stürzte aus dem Haus, als sei sie herausgeschüttelt worden, und ihr erster Eindruck musste sein, er habe sie vergewaltigt. Sein Vater stieß ihn in die Scheune, um ihn, wie alle annehmen durften, zu verprügeln. In der Scheune aber betrachtete ihn sein Vater, den Gürtel in der Hand, mit einem Ausdruck, in dem sich Zorn und eine merkwürdige Sympathie mischten. Er rührte David nicht an, und erst, als der Vater sich umgedreht hatte und gegangen war, merkte David, dass noch immer Tränen über sein Gesicht liefen.

In der Familie gab es Farmer, einige Rechtsanwälte, zwei Ärzte, Versicherungsmakler, Bankiers und Mühlenbesitzer, Eisenwarenhändler und andere Geschäftsleute. Davids Vater besaß ein großes Kaufhaus, dessen Kundschaft aus der oberen Mittelschicht des Tales kam.

Das Tal war reich, die Farmen darin waren groß und üppig. David lebte immer in dem Gefühl, dass die Familie, mit Ausnahme einiger Tunichtgute, ziemlich wohlhabend war. Von all seinen Verwandten war ihm seines Vaters Bruder Walt der liebste. Dr. Walt, so nannten sie ihn alle, niemals Onkel. Er spielte mit den Kindern und lehrte sie Dinge aus der Welt der Erwachsenen. Zum Beispiel, wo man hinzielen musste, wenn es wirklich ernst war, und wo man in einer freundschaftlichen Rauferei lieber nicht hinschlagen sollte. Er schien zu wissen, ab wann sie nicht mehr als Kinder zu behandeln waren, lange bevor irgendjemand anders in der Familie darauf achtete. Dr. Walt war der Grund dafür, dass David sehr früh schon beschlossen hatte, Wissenschaftler zu werden.

David war siebzehn, als er nach Harvard ging. Zu seinem Geburtstag im September kam er nicht nach Hause. Als er dann zum Thanksgiving-Fest kam und der Klan sich versammelt hatte, füllte Großvater Sumner nach altem Ritual die Gläser mit den Aperitif-Martinis und reichte ihm eins. Und Onkel Warner fragte ihn: »Was meinst du, was sollen wir mit Bobbie machen?«

Er hatte jenen geheimnisvollen Grenzübergang erreicht, der nie so deutlich umrissen ist, dass man ihn im Vorhinein erkennen kann. Er nippte an seinem Martini, mochte ihn nicht besonders und wusste, dass seine Kindheit an ihr Ende gekommen war; er empfand eine tiefe Traurigkeit und Einsamkeit.

Das Weihnachten, an dem er dreiundzwanzig war, schien aus dem Lot. Das Szenarium war das gleiche, der Dachboden voller Kinder, die Gerüche der Leckereien, das Aufstäuben des Schnees, nichts von alledem hatte sich geändert; aber er sah es aus einem neuen Blickwinkel, und es war nicht mehr das Wunderland von ehedem. Als seine Eltern nach Hause fuhren, blieb er für ein oder zwei Tage auf der Wiston-Farm und wartete auf Celias Ankunft. Sie hatte die Festlichkeiten des Weihnachtstages versäumt, da sie sich auf ihre bevorstehende Reise nach Brasilien vorbereitete; doch würde sie kommen, hatte ihre Mutter der Großmutter Wiston versichert, und David wartete auf sie, nicht glücklich zwar, nicht in Erwartung eines Lohns, vielmehr mit einer Wut, die ständig wuchs und ihn durch das Haus schleichen ließ wie einen Jungen, der für die Sünden eines anderen bestraft wurde.

Als sie eintraf und er sie bei ihrer Mutter und Großmutter stehen sah, schmolz sein Zorn dahin. Es war, als sähe er Celia in einer Zeitverschiebung, wie sie war und sein würde oder gewesen war. Ihr helles Haar würde sich nicht sehr ändern, aber ihre Knochen würden stärker hervortreten, und in ihr jetzt fast noch leeres Gesicht würde ein Ausdruck von Anteilnahme, Liebe und Hingabe treten – der Ausdruck einer Frau, die entschieden sie selbst war – und von einer Stärke, die man in ihrem zarten Körper nicht erwartete. Großmutter Wiston war eine schöne alte Dame, dachte er verwundert und staunte, dass er ihre Schönheit nie zuvor bemerkt hatte. Celias Mutter war schöner als das Mädchen. Und er sah die Ähnlichkeit der drei mit seiner eigenen Mutter. Überwältigt, wortlos drehte er sich um und ging zur Rückseite des Hauses, wo er eine der schweren Jacken seines Großvaters überzog, denn er wollte Celia jetzt gar nicht sehen, und seine eigene Winterjacke hing in der Garderobe der Eingangshalle, dort, wo sie stand.

Lange wanderte er in den frostigen Nachmittag, sah nicht viel, schüttelte sich ab und zu, wenn er spürte, dass die Kälte in seine Schuhe drang oder seine Ohren gefühllos machte. Er sollte umkehren, dachte er oft, ging aber weiter. Und er merkte, dass er den Hang zu dem uralten Wald hinanstieg, in den ihn sein Großvater einmal geführt hatte, vor langer Zeit. Er kletterte, und es wurde ihm wärmer, und in der Dämmerung war er unter den Ästen der Bäume, die seit Anbeginn der Zeit dort standen. Sie, oder andere, die ihnen gleich waren. Wartend. Für immer wartend auf den Tag, an dem sie den Aufstieg über die Leiter der Evolution aufs neue beginnen würden. Hier waren die Zeugen der Vergangenheit, die ihm sein Großvater gezeigt hatte. Hier war eine Weißtanne, die zur Statur eines großen Baumes gewachsen war, während sie in den niederen Abschnitten der Hänge immer nur Buschwerk blieb. Hier wuchsen weiße Linden neben der Schierlingstanne und dem Bitternuss-Hickory, und Buchen und süße Rosskastanien griffen ineinander.

»David.« Er hielt inne und horchte, war sich zunächst sicher, dass er sich den Ruf eingebildet hatte, aber er kam wieder. »David, bist du hier oben?«

Da drehte er sich um und sah Celia zwischen den wuchtigen Baumstämmen. Ihre Wangen waren hochrot von der Kälte und der Anstrengung des Kletterns; der Schal, den sie trug, hatte genau das Blau ihrer Augen. Sechs Schritte vor ihm blieb sie stehen und öffnete den Mund, um zu sprechen, sprach aber nicht. Stattdessen zog sie einen Handschuh ab und berührte den glatten Stamm einer Buche. »Großvater Wiston hat mich auch hierher geführt; ich war damals zwölf. Es war ihm sehr wichtig, dass wir diesen Ort verstehen.« David nickte.

Sie blickte ihn an. »Warum bist du auf diese Weise auf und davon? Sie glauben alle, wir werden wieder kämpfen.«

»Vielleicht kämpfen wir auch«, sagte er.

Sie lächelte. »Ich glaube nicht. Nie wieder.«

»Wir sollten umkehren. In ein paar Minuten wird es dunkel sein.« Aber er rührte sich nicht.

»David, versuch doch, es Mutter zu erklären, bitte. Du verstehst, dass ich gehen muss, nicht wahr? Sie hält dich für so klug. Auf dich würde sie hören.«

Er lachte. »Klug wie ein junger Hund – das ist es, was sie von mir halten.«

Celia schüttelte den Kopf. »Auf dich hören sie. Mich behandeln sie wie ein Kind, und das werden sie immer tun.«

Lächelnd schüttelte David den Kopf, aber er wurde schnell wieder ernst: »Warum gehst du, Celia? Was willst du damit beweisen?«

»Verflucht, David. Wenn du es nicht verstehst, wer dann?« Sie holte tief Atem und sagte: »Schau, du liest doch die Zeitungen, nicht wahr? Die Menschen in Südamerika hungern. Vor dem Ende dieses Jahrzehnts wird im größten Teil von Südamerika Hungersnot herrschen, wenn man ihnen nicht sofort hilft. Und niemand hat wirkliche Forschungsarbeit im Hinblick auf tropische Landwirtschaftsmethoden geleistet. Praktisch niemand. Das ist alles lateritischer Boden, und niemand da unten begreift das. Sie brennen die Bäume und das Unterholz vom Boden, und in zwei bis drei Jahren haben sie eine sonnenverbrannte, eisenharte Ebene. Okay, sie schicken einige ihrer hellen jungen Köpfe zu uns, damit sie moderne Landwirtschaft studieren, aber sie gehen nach Iowa, oder Kansas, oder Minnesota, oder in irgend so eine blöde Gegend, und lernen Methoden, die für gemäßigtes Klima taugen, nicht für tropisches. Nun, wir sind in tropischer Landwirtschaft ausgebildet, und wir werden dort unten Unterricht geben, in den Dörfern. Dafür habe ich studiert. Dieses Projekt wird mir den Doktor verschaffen.«

Die Wistons waren Farmer, waren immer Farmer gewesen. »Hüter des Bodens«, hatte Großvater Wiston einmal gesagt, »nicht seine Besitzer, nur Hüter.«

Celia bückte sich, kratzte den Blätterbelag an einer Stelle zur Seite und erhob sich mit schwarzer Erde in der Hand. »Die Hungersnöte breiten sich aus. Sie brauchen so viel. Und ich habe so viel zu geben! Kannst du das nicht verstehen?«, rief sie. Sie schloss ihre Hand hart und presste die Erde zu einem Ball zusammen, der wieder auseinanderbröckelte, als sie die Faust öffnete und den Klumpen mit dem Zeigefinger berührte. Sie ließ die Erde aus der Hand fallen und deckte sorgsam die Schutzschicht aus Blättern wieder über die entblößte Stelle.

»Du bist mir nachgegangen, um dich von mir zu verabschieden, nicht wahr?«, sagte David plötzlich, und seine Stimme war spröde. »Diesmal heißt es wirklich Abschied nehmen, nicht wahr?« Er beobachtete sie, sie nickte langsam. »Gibt es da jemanden in deiner Gruppe?«

»Ich bin mir nicht sicher, David. Vielleicht.« Sie senkte den Kopf und zog den Handschuh wieder über ihre Hand. »Ich dachte, ich wär' mir sicher. Aber als ich dich in der Halle sah und den Ausdruck in deinem Gesicht, als ich hereinkam … Ich merkte, dass ich mir gar nicht sicher war.«

»Celia, hör zu! Es gibt keine erblichen Schäden, die sich manifestieren würden! Verdammt noch mal, das weißt du genau! Wenn es welche gäbe, würden wir eben einfach auf Kinder verzichten, aber dazu besteht kein Anlass. Das weißt du doch, nicht wahr?«

Sie nickte. »Ich weiß.«

»Komm mit mir, Celia! Wir müssen ja nicht gleich heiraten, sie sollen sich in Ruhe an die Vorstellung gewöhnen. Das werden sie bestimmt. Letzten Endes tun sie das immer. Wir haben eine unverwüstliche Familie, wir beide. Celia, ich liebe dich.«

Sie wandte den Kopf zur Seite, und er sah, dass sie weinte. Sie fuhr sich mit dem Handschuh über die Wangen, dann mit der nackten Hand, die eine Schmutzspur hinterließ. David zog sie an sich, hielt sie in den Armen und küsste ihre Tränen, ihre Wangen, ihre Lippen. Und immer wieder sagte er: »Ich liebe dich, Celia.«

Schließlich löste sie sich von ihm und begann den Hang hinabzusteigen; David folgte ihr. »Ich kann jetzt nichts entscheiden. Es wäre nicht fair. Ich hätte im Haus bleiben sollen. Ich hätte dir nicht hierher folgen sollen. David, ich habe mich verpflichtet; in zwei Tagen reise ich ab. Ich kann nicht einfach sagen, ich hätte es mir anders überlegt. Es ist wichtig für mich. Für die Menschen dort. Ich kann nicht einfach beschließen, hier zu bleiben. Du bist für ein Jahr nach Oxford gegangen. Ich muss auch etwas tun.«

Er fasste sie am Arm, hinderte sie daran weiterzugehen. »Sag mir nur, dass du mich liebst! Sag es, ein einziges Mal, sag es!«

»Ich liebe dich«, sagte sie.

»Wie lange wirst du weg sein?«

»Drei Jahre. Ich habe einen Vertrag unterschrieben.«

Ungläubig starrte er sie an. »Den kannst du doch ändern! Mach ein Jahr daraus. Dann habe ich mein Examen. Du kannst hier unterrichten. Sollen ihre klugen jungen Studenten zu dir kommen.«

»Wir müssen zurück, sonst werden sie uns suchen kommen«, sagte sie. »Ich versuche, es zu ändern«, flüsterte sie dann. »Wenn es geht.«

Zwei Tage später reiste sie ab.

David verbrachte den Silvesterabend mit seinen Eltern und einer Horde von Tanten, Onkeln und Vettern auf der Sumner-Farm. Am Neujahrstag verkündete Großvater Sumner: »Wir bauen ein Krankenhaus, droben am Bärenquell, diesseits der Mühle.«

David kniff die Augen zusammen. Das war eine Meile von der Farm entfernt, Meilen von allem anderen. »Ein Krankenhaus?« Er sah Onkel Walt erstaunt an; der nickte.

Clarence musterte seinen Eierflip mit säuerlicher Miene, und Davids Vater, der dritte Bruder, beobachtete den Rauch, der sich über seiner Pfeife kringelte.

Sie waren alle eingeweiht, begriff David. »Warum hier oben?«, fragte er endlich.

»Es wird sich um eine Forschungsklinik handeln«, sagte Walt. »Genetisch bedingte Krankheiten, Erbschäden und dergleichen. Zweihundert Betten.«

Ungläubig schüttelte David den Kopf. »Ahnt ihr, wie viel so etwas kosten würde? Wer finanziert das?«

Sein Großvater lachte boshaft. »Senator Burke hat uns gütigerweise Bundeszuschüsse verschafft«, sagte er. Seine Stimme wurde ätzender. »Und ich habe ein paar Familienmitglieder bewegen können, ein Scherflein beizusteuern.« David warf einen Blick auf Clarence, dessen Gesicht einen gepeinigten Ausdruck zeigte. »Ich gebe den Boden dafür«, fuhr Großvater Sumner fort. »Wir haben also da und dort Unterstützung gefunden.«

»Aber wieso hat Burke sich darauf eingelassen? Du hast doch noch nie für ihn gestimmt.«

»Ich habe ihm gesagt, wir würden so einiges an die Öffentlichkeit lassen, was wir von ihm wissen, und seine Gegner unterstützen. Andererseits würden wir ihn unterstützen, wenn er uns hülfe, und unsere Familie ist ziemlich groß heutzutage, David. Ziemlich groß.«

»Also, Hut ab«, sagte David, konnte aber immer noch nicht ganz daran glauben. »Du gibst deine Praxis auf, um in die Forschung zu gehen?«, fragte er Walt. Sein Onkel nickte. David leerte sein Glas.

»David«, sagte Walt ruhig, »wir möchten, dass du bei uns arbeitest.«

Rasch blickte er auf. »Warum? Medizinische Forschung ist nicht mein Gebiet.«

»Ich weiß, was dein Gebiet ist«, sagte Walt, immer noch sehr leise. »Wir möchten dich als Berater, später sollst du dann eine Forschungsabteilung leiten.«

»Aber ich habe noch nicht einmal meine Doktorarbeit abgeschlossen«, sagte David und kam sich vor, als wäre er mitten in eine Pot-Party hineingestolpert.

2. Kapitel

David blickte von seinem Onkel zu seinem Vater, zu den anderen Onkeln und Vettern, die im Raum versammelt waren, und schließlich zu seinem Großvater. »Das ist verrückt. Wovon redet ihr?«

Großvater Sumner stieß geräuschvoll seinen Atem aus. Er war ein großer Mann mit massiger Brust und stark hervortretendem Bizeps. Jede einzelne seiner Hände war groß genug, einen Basketball zu tragen. Sein Kopf aber war das eindrucksvollste an ihm. Es war der Kopf eines Riesen, und obwohl er viele Jahre lang als Farmer tätig gewesen war und später diejenigen beaufsichtigt hatte, die die Landwirtschaft für ihn besorgten, hatte er Zeit gefunden, mehr zu lesen als irgendjemand, den David kannte. Niemand konnte, mit Ausnahme der laufenden Bestseller, irgendein Buch erwähnen, das er nicht gelesen hatte, oder von dem er nicht wenigstens wusste. Und was er las, prägte sich in seinem Gedächtnis ein. Seine Bibliothek war besser als die der meisten öffentlichen Büchereien.

Jetzt beugte er sich vor und sagte: »Hör zu, David. Hör mir gut zu. Ich erzähle dir einiges, was die gottverdammte Regierung noch nicht zuzugeben wagt. Wir sind im ersten Teilstück einer Talfahrt, die die Wirtschaft unseres Landes – und die jedes anderen Landes auf Erden – in eine Depression reißen wird, die sie sich nicht einmal im Traum vorgestellt haben.

Ich erkenne die Zeichen, David. Die Umweltzerstörung wächst uns über den Kopf, schneller, als irgendjemand wahrhaben will. In der Atmosphäre ist mehr Strahlung als jemals seit Hiroshima – französische Bombentests, chinesische Bombentests, Unfälle in Kraftwerken. Gott weiß, wo die ganze Strahlung herkommt. Seit einigen Jahren haben wir es geschafft, dass die Bevölkerung konstant bleibt, aber, David, wir haben uns darum bemüht, und andere Länder erreichen ebenfalls Null-Wachstum, aber sie bemühen sich nicht darum. In diesem Augenblick herrscht in einem Viertel der Erde Hungersnot. Nicht erst in zehn Jahren, nicht in sechs Monaten. Die Hungersnöte sind da, und zwar schon seit drei, vier Jahren, und werden ständig schlimmer. Noch nie gab es so viele Krankheiten, seit der Herrgott die Ägypter mit Plagen heimsuchte. Und es gibt Seuchen, über die die Medizin nichts weiß.

Es gibt mehr Dürren und mehr Flutkatastrophen als je zuvor. England wird zur Wüste, die Sümpfe und Moore trocknen aus. Ganze Fischarten sind verschwunden, einfach verschwunden, und das in nur ein, zwei Jahren. Die Sardinen sind verschwunden, die Dorschindustrie ist kaputt. Der Dorsch, der noch gefangen wird, ist krank, unbrauchbar. Vor der Westküste von Nord- und Südamerika ist kein Fischfang mehr möglich.

Jedes proteinhaltige Getreide auf Erden hat irgendeine verdammte Krankheit, die schlimmer und schlimmer wird. Maisfäule, Weizenbrand, Sojabrand. Wir beschränken jetzt unsere Ausfuhr von Nahrungsmitteln, nächstes Jahr werden wir sie ganz einstellen. Überall gibt es Knappheit, die niemand sich je träumen ließ. Zinn, Kupfer, Aluminium, Papier, Chlor, bei Gott! Was, glaubst du, wird in der Welt passieren, wenn wir plötzlich nicht einmal mehr unser Trinkwasser desinfizieren können?«

Sein Gesicht lief dunkel an, als er sprach, er wurde wütender und wütender, während er seine unbeantwortbaren Fragen an David richtete, der ihn anstarrte und gar nichts zu sagen hatte.

»Und sie wissen nicht, was sie tun sollen«, fuhr sein Großvater fort. »Genauso wenig, wie die Dinosaurier wussten, wie sie ihren Untergang aufhalten sollten. Wir haben Veränderungen der fotochemischen Reaktionen unserer eigenen Atmosphäre verursacht, und wir können uns den neuen Strahlungen nicht schnell genug anpassen, um zu überleben! Immer wieder warnten ein paar Wissenschaftler und sagten, dass das ein Problem allerersten Ranges ist, aber wer hört denn schon? Die verdammten Narren schieben jede einzelne Katastrophe lokalen Umständen in die Schuhe und wollen die Tatsache nicht wahrhaben, dass dies global ist; bis es zu spät ist, etwas dagegen zu unternehmen.«

»Aber wenn du recht hättest, was könnten sie denn tun?«, fragte David und blickte, auf Unterstützung hoffend, zu Dr. Walt hinüber, der ihm aber keine gab.

»Die Fabriken stillstellen, die Flugzeuge runterholen, mit den Bohrungen aufhören, die Autos verschrotten. Aber das wird nicht geschehen, und selbst wenn es geschähe, es käme immer noch zu einer Katastrophe. Sie wird über uns hereinbrechen. Innerhalb der nächsten paar Jahre, David, wird sie hereinbrechen.«

Er trank seinen Eierflip und setzte das Kristallglas hart auf den Tisch. Bei dem Geräusch zuckte David zusammen.

»Es wird den größten Knall geben, seit der Mensch anfing, Zeichen in Felsen zu ritzen, das sage ich dir! Und wir bereiten uns darauf vor! Ich bereite mich darauf vor! Wir haben das Land und wir haben die Menschen, die es bestellen werden, und wir bauen unsere Klinik, und wir werden die Forschung betreiben, die unsere Tiere und Menschen am Leben erhalten wird; und wenn die Welt in ihren letzten Zuckungen liegt, werden wir leben, und wenn sie hungert, werden wir zu essen haben.«

Plötzlich hielt er inne und musterte David mit zusammengekniffenen Augen. »Ich habe gesagt, dass du uns mit der Überzeugung verlassen wirst, wir wären alle übergeschnappt. Aber, David, mein Junge, du wirst zurückkommen. Du wirst zurückkommen, bevor der Hartriegel blüht; denn du wirst die Zeichen lesen.«

David kehrte zur Universität zurück, zu seiner Dissertation und der Arbeit, die Selnick ihm auftrug. Celia schrieb nicht; er hatte keine Adresse von ihr. Auf seine Fragen hin gestand ihre Mutter ein, dass niemand von ihr gehört habe. Im Februar erließ Japan als Vergeltung für das Nahrungsmittelembargo der USA Handelsbeschränkungen, die weiteren Handel zwischen ihm und den Vereinigten Staaten unmöglich machten. Japan und China unterzeichneten einen gegenseitigen Beistandspakt. Im März besetzte Japan die Philippinen mit ihren Reisfeldern, und China beanspruchte wieder die lange nicht ausgeübte Treuhandschaft über Indochina, mit den Reisterrassen Kambodschas und Vietnams.

Die Cholera wütete in Rom, Los Angeles, Galveston und Savannah. Saudi-Arabien, Kuwait, Jordanien und andere Staaten des Arabischen Blocks stellten ein Ultimatum: Die Vereinigten Staaten müssten dem Arabischen Block eine jährliche Weizenlieferung garantieren und jegliche Unterstützung des Staates Israel beenden, sonst würden die Öllieferungen in die USA und nach Europa eingestellt. Sie weigerten sich zu glauben, dass die Vereinigten Staaten ihre Forderungen nicht erfüllen konnten. Sofort wurde der internationale Reiseverkehr beschränkt, und die Regierung bestellte, durch Verfügung des Präsidenten, eine neue Behörde im Rang eines Ministeriums: das Amt für Information.

Der Holunder bildete verschwommene Flecken in Rosa vor dem klaren, mai-milden Himmel, als David nach Hause zurückkehrte. Er blieb nur eben lang genug im Haus, seine Kleidung zu wechseln und seine Zettelkästen aus dem College loszuwerden; dann fuhr er zur Sumner-Farm hinaus, wo Walt wohnte, während er den Bau der Klinik überwachte.

Im Parterre hatte Walt ein Büro. Dort herrschte ein Wirrwarr von Büchern, Notizheften, Skizzen, Korrespondenz. Walt begrüßte David, als sei er überhaupt nicht weg gewesen. »Sag mal«, fragte er, »diese Experimente von Semple und Frerrer, was weißt du darüber? Die erste Generation künstlich befruchteter Mäuse wies keine Abweichungen auf, keine Veränderungen der Lebens- oder Zeugungsfähigkeit, und die zweite oder dritte auch nicht, aber in der vierten ging die Lebensfähigkeit jäh zurück. Von da an besteht ein stetiger und unumkehrbarer Trend in Richtung Untergang. Warum?«

David setzte sich abrupt und starrte Walt an. »Wie bist du daran gekommen?«

»Durch Vlasic«, sagte Walt. »Wir haben zusammen Medizin studiert. Er schlug eine Richtung ein, ich eine andere. In all den Jahren haben wir miteinander korrespondiert. Ich habe ihn gefragt.«

»Du kennst seine Arbeit?«

»Ja. Seine Rhesus-Affen zeigen dieselben Degenerationen in der vierten Generation, bis hin zum Aussterben.«

»Es ist nicht ganz so einfach«, sagte David. »Er musste seine Arbeit letztes Jahr einstellen – keine Gelder mehr. Wir wissen also nichts von der Lebenserwartung der späteren Geschlechter. Aber der Niedergang beginnt in der dritten Klon-Generation{1}, ein Niedergang der Potenz. Er ließ jede Klon-Generation sich sexuell fortpflanzen und überprüfte die Nachkommenschaft auf Normalität. Die dritte Klon-Generation hatte nur noch fünfundzwanzig Prozent Potenz. Der sexuell erzeugte Nachwuchs begann mit demselben Prozentsatz, und in der Tat sank die Potenz bis zur fünften Generation sexuell produzierter Nachkommenschaft, um dann wieder anzusteigen, vermutlich zurück zur Normalität.«

Walts Blicke hingen an ihm, ab und zu nickte er. David fuhr fort. »Das war die Klon-Drei-Generation. In der Klon-Vier-Generation kam es zu einer drastischen Veränderung. Einige Abnormalitäten traten auf, und die Lebenserwartung war um siebzehn Prozent gesunken. Die Abnormalen waren alle steril. Die Potenz war im Durchschnitt auf achtundvierzig Prozent gesunken. Mit jeder sexuell reproduzierten Generation fiel sie weiter. Von den Nachkommen der fünften Generation lebte keiner länger als eine Stunde oder zwei. Soweit die Klon-Vier-Generation. Mit der künstlichen Befruchtung der Vierer ging es noch schlechter. Die Klon-Fünf-Generation wies sehr starke Abnormalitäten auf, alle waren steril. Die Messung der Lebenserwartung wurde nicht vollendet. Eine Klon-Sechs-Generation gab es nicht. Kein Tier überlebte.«

»Also eine Sackgasse«, sagte Walt. Er wies auf einen Stapel von Magazinen und Exzerpten. »Ich hatte gehofft, die wären veraltet, es gäbe vielleicht neuere Methoden, oder ein Irrtum wäre in ihren Zahlen entdeckt worden. Die dritte Generation markiert also den Wendepunkt?«

David zuckte die Achseln. »Meine Information könnte überholt sein. Ich weiß, dass Vlasic letztes Jahr aufhören musste, aber Semple und Frerrer haben wenigstens letzten Monat noch daran gearbeitet. Vielleicht haben sie etwas Neues, von dem ich nichts weiß. Du denkst an den Viehbestand?«

»Natürlich. Hast du die Gerüchte gehört? Sie vermehren sich einfach nicht mehr richtig. Es werden keine Zahlen veröffentlicht, aber zum Teufel, wir haben unsere eigenen Tiere. Es sind nur noch halb so viele trächtig.«

»Ich habe davon gehört. Das Amt für Information bestreitet es, glaube ich.«

»Es ist wahr«, sagte Walt ernst.

»Sie müssen in dieser Richtung arbeiten«, sagte David. »Irgendjemand muss daran arbeiten.«

»Wenn, dann lässt er uns nichts davon wissen«, sagte Walt. Er lachte bitter und stand auf.

»Kannst du genug Material für die Klinik bekommen?«, fragte David.

»Im Moment noch. Natürlich hetzen wir, wie wenn es kein Morgen mehr gäbe. Und über die Kosten machen wir uns jetzt keine Sorgen. Wir haben Sachen, von denen wir nicht wissen, was wir je damit anfangen sollen, aber ich dachte, es ist besser, alles zu bestellen, was mir einfällt, als nächstes Jahr zu entdecken, dass das, was wir wirklich brauchen, nicht mehr zu haben ist.«

David ging zum Fenster und blickte auf das Land hinaus; alles war grün, der Frühling nicht mehr angefochten; bald würde er dem Sommer Platz machen, bald würden die Maisfelder seidig grün schimmern. Ganz so wie immer. »Lass mich mal deine Bestelllisten für die Laborausrüstung ansehen, und das Zeug, das schon gekommen ist«, sagte er. »Und dann werde ich mal sehen, ob ich mir die Genehmigung für eine Reise an die Küste verschaffen kann. Ich werde mit Semple reden; ich hab' ihn ein paar Mal getroffen. Wenn jemand etwas macht, dann sein Team.«

»Woran arbeitet Selnick?«

3. Kapitel

David war todmüde, alle Muskeln schienen gleichzeitig weh zu tun, und sein Kopf dröhnte. Neun Tage lang war er unterwegs gewesen, zur Küste, nach Harvard, nach Washington, und nun wollte er nichts sehnlicher als schlafen: und wenn die Welt zum Stillstand käme, während er versunken war. Er hatte den Zug von Washington nach Richmond genommen und dort, da es unmöglich war, einen Wagen zu mieten oder Benzin zu kaufen, selbst wenn ein Wagen verfügbar gewesen wäre, ein Fahrrad gestohlen, mit dem er den Rest des Weges zurücklegte. Er hätte nie gedacht, dass seine Beine so schmerzen könnten.

»Du bist sicher, dass man die Kerle in Washington nicht zu einem Hearing laden wird?«, fragte Großvater Sumner.

»Niemand will Propheten des Unheils hören«, sagte David. Selnick hatte der Gruppe angehört, und er hatte kurz mit David gesprochen. Die Regierung hätte den Ernst der bevorstehenden Katastrophe zugeben müssen und einschneidende Maßnahmen ergreifen, um sie abzuwenden oder wenigstens ihre Auswirkungen zu mildern, aber stattdessen zog die Regierung es vor, leuchtende Bilder eines kommenden Aufschwungs zu malen, der im Herbst offenkundig sein würde. Während der nächsten sechs Monate würden die, die Verstand und Geld hatten, kaufen, soviel sie könnten, denn nach dieser Gnadenfrist würde es nichts mehr zu kaufen geben.

»Selnick sagt, wir sollen ein Angebot zum Ankauf seiner Ausrüstung machen. Die Universität wird die Gelegenheit beim Schopf packen, sie jetzt abzustoßen. Billig.« David lachte. »Billig! Eine Viertelmillion möglicherweise.«

»Mach das Angebot«, sagte Großvater Sumner brüsk. Und Walt nickte nachdenklich.

David erhob sich wacklig und schüttelte den Kopf. Er winkte ihnen zu und ging zu Bett.

Noch gingen die Menschen zur Arbeit. Noch produzierten die Fabriken, zwar nicht mehr so viel und nur das Lebensnotwendige, aber sie stellten sich so schnell wie möglich auf Kohle um. Er dachte an die lichterlosen Städte, die Flotten rostender Lastwagen, den Mais und Weizen, die auf den Feldern verfaulten, weil für die Mähdrescher kein Sprit zu haben war. Und an die Prioritäten-Komitees, die für dieses oder jenes Anliegen stritten und warben. Lange dauerte es, bis seine überanstrengten Muskeln sich soweit entspannten, dass er ruhig liegen, und länger noch, bis sein Geist sich soweit entspannte, dass er schlafen konnte.

Der Bau der Klinik schritt schneller voran, als möglich schien. Zwei Schichten waren an der Arbeit; auch in diesem Fall hieß es: Geld spielt keine Rolle. Ungeöffnete Kisten und Kartons mit Laborausrüstung sammelten sich in einem langen Schuppen, der rasch errichtet worden war, um sie zu beherbergen, bis sie gebraucht wurde. David begann seine Arbeit in einem Behelfslaboratorium und versuchte, Frerrers und Semples Experimente zu kopieren. Und Anfang Juli traf Harry Vlasic auf der Farm ein. Er war klein, dick, kurzsichtig und reizbar. David brachte ihm die gleiche Ehrfurcht entgegen, die ein Physikstudent für Albert Einstein empfunden hätte.

»Na also«, sagte Vlasic. »Die Maisernte ist zerstört, wie vorhergesagt. Monokultur! Bah! Vielleicht können sie sechzig Prozent des Weizens retten, nicht mehr. Im Winter, hah, wartet nur, was im Winter passiert! Also, wo ist die Höhle?«

Sie führten ihn zum Eingang der Höhle, der kaum mehr als hundert Meter von der Klinik entfernt war. Der Hauptteil der Höhle maß in seiner Länge mehr als sechzehnhundert Meter, und es gab verschiedene Abzweigungen und Seitenhöhlen. Tief in einem der kleineren Gänge floss schwarz und geräuschlos ein Fluss. Quellwasser, gutes Wasser. Vlasic nickte immer wieder. Als sie die Besichtigung der Höhle beendet hatten, nickte er immer noch. »Eine gute Sache«, sagte er. »Es wird funktionieren. Da kommen die Laboratorien rein, unterirdischer Gang zur Klinik, sicher vor radioaktiver Verseuchung. Gut.«

In diesem Sommer und bis in den Herbst hinein arbeiteten sie sechzehn Stunden am Tag. Im Oktober fiel die erste Grippewelle über das Land her, schlimmer als die Epidemie 1917–1918. Im November erschien eine neue Krankheit, und da und dort flüsterte man, es sei die Pest, aber das Amt für Information sagte, es sei Grippe.

Großvater Sumner starb im November. David erfuhr zum ersten Mal, dass er und Walt die alleinigen Nutznießer eines Vermögens waren, das weitaus größer war, als er sich je hatte träumen lassen. Und das Vermögen war in bar. In den letzten zwei Jahren hatte Großvater Sumner so viel von seinem Besitz, wie er nur konnte, zu Geld gemacht.

Im Dezember begannen die Mitglieder der Familie einzutreffen; sie verließen die Dörfer und Städte, die über das ganze Tal verstreut waren, um in der Klinik und den Personalgebäuden Quartier zu nehmen. Inflation, Rationierungen, schwarze Märkte und Plünderungen hatten die Städte in Schlachtfelder verwandelt. Und die Regierung ließ den Warenbestand aller Geschäfte einfrieren – nichts konnte ohne Genehmigung gekauft oder verkauft werden. Die Armee besetzte die großen Geschäftshäuser, und Angestellte der Regierung überwachten die strikte Rationierung, die verhängt worden war.

Die Familie brachte ihr Vieh mit. Jeremy Streit fuhr seinen Bestand an Eisenwaren in vier bis oben gefüllten Lastwagen an. Eddie Beauchamp brachte seine zahnärztliche Ausrüstung mit. Davids Vater schleppte alles nur mögliche aus seinem Kaufhaus an. Die Familie hatte sich mannigfaltig spezialisiert, und es kamen repräsentative Ladungen von Waren und Gebrauchsgegenständen aus allen erdenklichen Sparten des Geschäfts- und Berufslebens.

Als die Radio- und Fernsehkommunikation zusammenbrach, wusste die Regierung nicht mehr, wie sie die sich steigernde Panik kontrollieren sollte. Am 28. Dezember wurde das Kriegsrecht verhängt. Sechs Monate zu spät.

Als die Frühlingsregen kamen, lebte kein Kind mehr, das weniger als acht Jahre alt war, und von den 319 Menschen, die ursprünglich ins Obere Tal gekommen waren, lebten nur noch 201. Die Bevölkerung der Städte hatte einen viel höheren Tribut zahlen müssen.

David musterte den Schweinefoetus, den er sezieren wollte. Er war schrumpelig und ausgetrocknet, seine Knochen zu weich, die Lymphdrüsen knotig, hart. Warum? Warum verfiel die vierte Generation? Harry Vlasic kam vorbei und sah kurz zu, ging dann weiter, den Kopf grübelnd gesenkt. Nicht einmal er konnte Antworten geben, dachte David fast mit Genugtuung.

An jenem Abend trafen sich David, Walt und Vlasic und besprachen alles noch einmal. Der Viehbestand würde, durch künstliche Befruchtung und sexuelle Vermehrung der dritten Generation, für lange Zeit ausreichen, die zweihundert Menschen zu ernähren. Sie konnten bis zu vierhundert Tiere auf einmal künstlich befruchten. Hühner, Schweine, Rinder. Wenn aber das ganze Vieh steril wurde, was sich anzudeuten schien, dann war der Nahrungsvorrat begrenzt.

David, der die beiden älteren Männer beobachtete, wusste, dass sie absichtlich um die andere Frage herumredeten. Wenn auch die Menschen steril würden, für wie lange bräuchten sie dann kontinuierlichen Nahrungsnachschub? Er sagte: »Wir sollten eine Generation steriler Mäuse isolieren, sie künstlich befruchten und bei jeder neuen Klon-Generation testen, ob Fruchtbarkeit wieder auftaucht.«

Vlasic runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Wenn wir ein Dutzend junge Studenten hätten, vielleicht«, sagte er abweisend.

»Wir müssen es wissen«, sagte David und fühlte plötzliche Hitze in sich hochsteigen. »Ihr tut beide so, als ginge es hier nur um einen Fünf-Jahres-Notplan, der uns durch ein paar schlechte Jahre bringen soll. Aber wie, wenn es das gar nicht ist? Was auch immer die Sterilität verursacht, es ist in allen Tieren vorhanden. Wir müssen es wissen.«

Walt blickte David kurz an und sagte: »Wir haben für solche Forschung weder die Zeit noch die Ausrüstung.«

»Das ist nicht wahr«, sagte David schroff. »Wir können so viel Strom erzeugen, wie wir brauchen, wir haben Energie genug, wir haben Ausrüstung, die noch nicht einmal ausgepackt ist …«

»Weil wir nicht genug Leute haben, die damit umgehen können«, sagte Walt geduldig.

»Ich kann es. Ich mach' es in meiner Freizeit.«

»Welcher Freizeit?«

»Die find' ich schon.« Er starrte Walt an, bis sein Onkel mit einem Achselzucken sein Einverständnis erklärte.

Im Juni hatte David seine ersten Ergebnisse. »Die A-Vier-Generation«, sagte er, »hat fünfundzwanzig Prozent Potenz.« Vlasic hatte seine Arbeit in den letzten drei oder vier Wochen aufmerksam verfolgt und war nicht überrascht.

Walt starrte ihn ungläubig an. »Bist du sicher?«, flüsterte er nach einer Weile.

»Die vierte Generation künstlich befruchteter steriler Mäuse weist denselben Verfall auf wie alle Klone in der vierten«, sagte David müde. »Aber sie hat auch einen Fruchtbarkeitsfaktor von fünfundzwanzig Prozent. Die Nachkommen leben kürzer, sind aber fruchtbarer. Dieser Trend setzt sich bis zur sechsten Generation fort, in der die Fruchtbarkeit vierundneunzig Prozent erreicht hat und die Lebenserwartung auch wieder zu steigen beginnt; von da an bewegt sie sich stetig auf Normalität zu.« Er hatte alles in Diagramme übertragen, die Walt nun studierte. A, A1, A2, A3, A4 und ihre sexuell reproduzierten Nachkommen, a, a1, a2 … Nach A4 gab es keine weiteren Klon-Generationen; kein Tier hatte bis zur Reife überlebt.

David lehnte sich zurück, schloss die Augen und dachte an sein Bett, an die Decke, die er sich bis über die Ohren zöge, und schwarzen, schwarzen Schlaf. »Höhere Lebewesen müssen sich sexuell reproduzieren, oder sie sterben aus, und die Fähigkeit dazu ist da. Etwas erinnert sich und heilt sich selbst«, sagte er geistesabwesend.

»Du wirst ein berühmter Mann sein, wenn du das publizierst«, sagte Vlasic, seine Hand auf Davids Schulter legend. Dann setzte er sich neben Walt, um ihn auf einige Details aufmerksam zu machen, die Walt übersehen könnte. »Eine ausgezeichnete Arbeit«, sagte er leise, und seine Augen leuchteten, als sie über die Seiten wanderten. »Ausgezeichnet.« Dann warf er einen Blick auf David. »Natürlich bist du dir der anderen Implikationen deiner Arbeit bewusst?«

David öffnete die Augen und begegnete Vlasics Blick. Er nickte. Verwirrt blickte Walt vom einen zum anderen. David stand auf und streckte sich. »Ich muss schlafen«, sagte er.

Aber es dauerte lange, bevor er einschlief. Er hatte ein Einzelzimmer in der Klinik, war besser dran als die meisten, die ihr Zimmer mit jemandem teilen mussten. Die Klinik hatte mehr als zweihundert Betten, aber nur wenige Einzelzimmer. Die Implikationen, sann er. Er war sich ihrer von Anfang an bewusst gewesen, obwohl er das damals nicht einmal vor sich selbst zugegeben hatte und auch jetzt sich weigerte, darüber zu sprechen. Sie waren noch nicht gewiss. Drei der Frauen waren endlich – nach anderthalbjähriger Unfruchtbarkeit – schwanger. Margaret näherte sich der Entbindung, das Baby war gegenwärtig wohlauf und strampelte in ihrem Bauch. Noch fünf Wochen, dachte er. Noch fünf Wochen, und dann bräuchte er vielleicht nie die Implikationen seiner Arbeit zu diskutieren.

Aber Margaret wartete keine fünf Wochen. Nach zwei Wochen wurde sie von einem toten Kind entbunden. In der Woche darauf hatte Zelda eine Fehlgeburt, und wieder eine Woche später verlor Mary ihr Kind. In diesem Sommer verwehrten es ihnen die Regenfälle, irgendetwas anderes als einen Gemüsegarten anzupflanzen.

Walt überprüfte die Männer auf Fruchtbarkeit und meldete David und Vlasic, dass kein Mann im Tal mehr zeugen konnte.

»So sehen wir nun«, sagte Vlasic leise, »die Bedeutsamkeit von Davids Experimenten.«

4. Kapitel

Der Winter kam früh mit eisigen Regenschauern, die Tag für Tag niedergingen. Die Arbeit in den Laboratorien nahm zu, und David segnete seinen Großvater für den Ankauf von Selnicks Ausrüstung. Sie war mit ausführlichen Anleitungen zur Herstellung künstlicher Plazentas und mit fast vollendeten Computer-Programmen für synthetische amniotische Flüssigkeiten eingetroffen. Als David Selnick aufgesucht hatte, um mit ihm über den Kauf der Ausrüstung zu reden, hatte Selnick darauf bestanden – wie verrückt, hatte David damals gedacht –, dass er alles oder nichts nehme. »Sie werden schon sehen«, hatte er trotzig gesagt, »Sie werden schon sehen.« In der Woche darauf hatte er sich erhängt, und die Ausrüstung war auf dem Weg ins Virginia-Tal.

Sie arbeiteten und schliefen im Laboratorium, verließen es nur für die Mahlzeiten. Winterregen wich Frühlingsregen, die Luft wurde milder.

David verließ gerade die Kantine, in Gedanken bei seiner Arbeit im Laboratorium, als er bemerkte, dass jemand ihn am Ärmel zog. Es war seine Mutter. Seit Wochen hatte er sie nicht gesehen und wäre mit flüchtigem Gruß an ihr vorübergeeilt, hätte sie ihn nicht festgehalten. Sie sah sonderbar aus, kindhaft. Er wandte sich von ihr ab, um aus dem Fenster zu starren, und wartete, dass sie seinen Arm freigäbe.

»Celia kommt heim«, sagte sie leise. »Es geht ihr gut, sagt sie.«

David spürte, wie er erstarrte; er blickte weiter zum Fenster hinaus, ohne etwas zu sehen. »Wo ist sie jetzt?« Er lauschte dem Rascheln billigen Papiers, und als es schien, seine Mutter würde ihm nicht antworten, fuhr er auf dem Absatz herum. »Wo ist sie?«

»Miami«, sagte sie schließlich, nachdem sie die zwei Seiten überflogen hatte. »Der Poststempel ist von Miami, glaube ich. Er ist mehr als zwei Wochen alt. Trägt das Datum des 28. Mai. Unsere Briefe hat sie nie bekommen.« Sie drückte den Brief in Davids Hand. Tränen füllten ihre Augen, und ohne darauf zu achten, ging sie.

David las den Brief erst, als seine Mutter die Kantine verlassen hatte. Ich war eine Zeitlang in Kolumbien, acht Monate, glaube ich. Und ich habe das Virus aufgeschnappt, das niemand beim Namen nennen will. Die Handschrift war zittrig, unsicher. Es ging ihr also nicht gut. Er sah sich nach Walt um.

»Ich werde ihr entgegenfahren. Ich muss verhindern, dass sie der Bande auf der Wiston-Farm in die Arme läuft.«

»Du weißt, dass du hier jetzt nicht wegkannst.«

»Das ist keine Frage von können oder nicht können. Ich muss.«

Walt musterte ihn einen Moment lang, zuckte dann die Achseln. »Wie willst du hinkommen? Und zurück? Kein Benzin. Du weißt, dass wir das bisschen, das wir noch haben, für die Ernte aufheben müssen.«

»Ja, ich weiß«, sagte David ungeduldig. »Ich werde Mike und den Karren nehmen. Mit Mike kann ich auf den Nebenstraßen bleiben.« Er wusste, dass Walt, wie er selbst es getan hatte, im Stillen die Zeit berechnete, die das in Anspruch nehmen würde, und er fühlte, wie sein Gesicht sich spannte, seine Hände sich ballten. Walt nickte nur. »Ich werde morgen früh fahren, sobald es hell ist.« Wieder nickte Walt. »Danke«, sagte David plötzlich. Dafür, dass Walt nicht mit ihm gestritten hatte, meinte er; dass er nicht gesagt hatte, was beide schon wussten – nämlich dass man nicht wissen konnte, wie lange er auf Celia würde warten müssen, ja dass sie die Farm vielleicht nie erreichen würde.

Drei Meilen vor der Wiston-Farm spannte David den Karren aus und versteckte ihn in dichtem Unterholz. Er verwischte die Spuren, die zeigten, wo er den Weg verlassen hatte, und führte Mike in den Wald. Die Luft war heiß und schwer von drohendem Regen; zu seiner Linken konnte er das Getöse des Krummbachs hören, der über seine Ufer hinaustobte. Der Boden war schwammig, David bewegte sich vorsichtig, um nicht bis zu den Knien im heimtückischen Morast der Niederungen zu versinken. Die Farm der Wistons war immer hochwasseranfällig gewesen; das bereichert den Boden, hatte Großvater Wiston behauptet, der die Natur für ihre periodischen Ausfälle nicht verdammen wollte. »Gott hat nicht vorgesehen, dass dieses Stück Land Jahr für Jahr Früchte tragen muss«, sagte er. »Es kommt die Zeit, wo die Erde eine Ruhepause braucht, genau wie du und ich. Also lassen wir es dieses Jahr, geben nur etwas Klee drauf, wenn der Boden wieder trocken ist.«

David fing an zu klettern; noch immer führte er Mike, der ihn dann und wann leise anwieherte. »Nur bis zum Grat, mein Guter«, sagte David beruhigend. »Dann hast du Ruhe und kannst Wiesengras futtern, bis sie kommt.«

Großvater Wiston hatte ihn einmal auf den Grat mitgenommen, als David zwölf war. Er erinnerte sich an den Tag, der heiß und still gewesen war – wie dieser, dachte er –, und Großvater Wiston war aufrecht und stark gewesen. Oben auf dem Grat war sein Großvater stehengeblieben und hatte den massigen Stamm einer weißen Eiche berührt. »Dieser Baum hat die Indianer in diesem Tal gesehen, David, und die ersten Siedler und meinen Urgroßvater, als der hier ankam. Er ist unser Freund, David. Er kennt alle Geheimnisse der Familie.«

»Ist das hier oben noch dein Land, Großvater?«

»Bis hierhin, einschließlich des Baumes, mein Sohn. Die andere Seite ist Staatsforst, aber dieser Baum ist auf unserem Boden. Auch auf deinem, David. Eines Tages wirst du hier heraufkommen und deine Hand auf diesen Baum legen, und du wirst wissen, dass er dein Freund ist, so wie er mein Leben lang mein Freund war. Gott helf uns allen, wenn je einer die Axt an ihn legt.«

Sie waren weitergegangen an jenem Tag, den Hügel auf der anderen Seite des Grats hinab, dann wieder hinauf, weiter und steiler diesmal, bis sein Großvater erneut für ein paar Augenblicke stehenblieb und seine Hand auf Davids Schulter legte. »So sah dieses Land vor einer Million Jahren aus, David.« Die Zeit hatte sich dem Jungen plötzlich verschoben; eine Million Jahre, hundert Millionen, alles dieselbe ferne Vergangenheit, und im Geiste sah er die Fußspuren gigantischer Reptilien. Er stellte sich vor, den stinkenden Atem eines Tyrannosauriers zu riechen. Kühl und dunstig war es unter den hohen Bäumen, unter denen die Schösslinge wuchsen, ihre Äste horizontal ausbreitend, als wollten sie nur ja jeden verirrten Sonnenstrahl auffangen, der das hohe Laubdach durchdrang. Wo die Sonne einen Durchschlupf gefunden hatte, war sie golden und weich, die Sonne einer anderen Zeit. In noch tieferen Schatten wuchsen Büsche und Dickicht, und allem zu Fuße waren die Moose und Flechten, Leberblümchen und Farne. Die sich windenden, aufgebogenen Wurzeln der Bäume waren in samtenen, smaragdgrünen Pflanzenwuchs gehüllt.