Der deutsche Film. Band 12: 2010-2024 -  - E-Book

Der deutsche Film. Band 12: 2010-2024 E-Book

0,0
5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Dieses E-Book ist Teil einer zwölfbändigen Reihe, die die Geschichte des deutschen Films anhand der Sammlungsbestände der Deutschen Kinemathek von den Anfängen im Jahr 1895 bis zur Gegenwart dokumentiert. Jeder Band im ePUB-Format konzentriert sich auf eine Dekade und bietet einen prägnanten Überblick über die filmischen Meisterwerke und Meilensteine dieser Epoche, beleuchtet berühmte und wiederzuentdeckende Filme und würdigt das Kino, sein Publikum und die kreativen Köpfe hinter der Vielfalt des deutschen Films. Das Gesamtwerk, das über 2.700 Objekte aus allen Sammlungsbereichen umfasst und sich über 130 Jahre erstreckt, ist zudem als gedrucktes Buch und als PDF in deutscher und englischer Sprache erhältlich. DIE DEUTSCHE KINEMATHEK zählt zu den führenden Institutionen für die Sammlung, Bewahrung und Präsentation des audiovisuellen Erbes. In ihren Archiven werden dauerhaft Hunderttausende von Objekten erhalten und für die film- und fernsehgeschichtliche Forschung zur Verfügung gestellt. Die Bestände umfassen neben Drehbüchern, Fotos, Plakaten, Kostümen und Entwürfen unter anderem auch filmtechnische Geräte. Die Kinemathek kuratiert Filmreihen und Ausstellungen, sie restauriert und digitalisiert Filme. Ihre vielfältigen Angebote, darunter Installationen, Publikationen, Vermittlungsformate und Konferenzen, laden zur Entdeckung der Welt bewegter Bilder ein.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 133

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Einleitung

„Ehrverbrechen“ und der Kampf um Selbstbestimmung

Die Filmemacherin Tatjana Turanskyj

Genre- und Autorenfilm

Biopics als Musicals

Rechter Terror im 21. Jahrhundert

Ulrike Ottingers ethnologische Reisen

Kostümbild in Historienfilmen

Filmische Dystopie: Tim Fehlbaums Hell

Gegenwart im historischen Erzählen bei Christian Petzold

Margarethe von Trotta porträtiert Hannah Arendt

Culture-Clash-Komödien: Die Filmreihe Fack Ju Göhte

Entwicklungen im schwulen Film

Sozialkritik: Der Regisseur Johannes Naber

Lesbisch-queere Selbstsuche

Fritz Bauer im Film

Toni Erdmann von Maren Ade

Insert: Komplizen Film

Hape Kerkeling – Ich bin dann mal weg

Schauspielstars (VI/VI)

Uli Hanisch verwandelt den Drehort Berlin

Ich war zuhause, aber von Angela Schanelec

Identität und Machtverhältnisse: Filme von Maria Schrader

Gesellschaftskritik in Systemsprenger von Nora Fingscheidt

Andreas Dresens Filme: Geschichte und Individuum

Die Filmarchitektin Silke Buhr

Fatih Akins physisches Kino

Schulen des Sehens – Künstlerbiografien

Die Filme von Edward Berger

Im Einsatz für das audiovisuelle Erbe

2010–2024

Einleitung

Filmproduktion und Streamingdienste

Der in den 2000er-Jahren verzeichnete deutliche Trend eines kontinuierlichen Anstiegs der Zahl in Deutschland hergestellter Filme – einschließlich Co-Produktionen – setzte sich nach 2010 nicht weiter fort, vielmehr blieb die Angebotsmenge in der Folge weitgehend stabil. Zwischen 2012 und 2019 kamen zwischen 234 und 265 Spiel- und Dokumentarfilme, die als deutsche Produktionen oder in internationaler Zusammenarbeit entstanden, in die Kinos. Bei den Spielfilmen hatten die ausschließlich von deutschen Firmen hergestellten Filme mit etwa 80 Titeln jeweils ein leichtes Übergewicht gegenüber den Co-Produktionen. Beide zusammen standen für etwas weniger als zwei Drittel des Gesamtangebots. An Dokumentarfilmen kamen zwischen 74 (im Jahr 2010) und 108 (im Jahr 2019) in die Kinos. Diese Konstanz über eine längere Zeit war ein Indiz dafür, dass für die deutsche Filmproduktion ein Plateau erreicht war. Zugleich schien es den Möglichkeiten und der Struktur der Branche zu entsprechen, die produktionsseitig weiterhin vor allem von kleineren und mittelständischen Firmen geprägt war. Pro Jahr trugen jeweils deutlich mehr als 100 verschiedene Unternehmen zum Angebot bei, in der Spitze konnten es bis zu 190 sein. Etwa 80 Prozent brachten dabei nur je einen Film heraus. Die im Vergleich zu den Jahren um die Jahrtausendwende gewachsene und auf hohem Niveau stabile Zahl der Titel kann als Erfolg der diversen Instrumente der Filmförderung eingeschätzt werden. Zugleich verringerte der große Output jedoch die Chancen der Einzeltitel auf eine längere Auswertungszeit im Kino, zumal die Dominanz der US-amerikanischen Produktionen unverändert fortbestand.

1 Pina, D/F 2011, Regie: Wim Wenders

Während der Dreharbeiten: Wim Wenders und Tänzerinnen des Ensembles von LeSacre du Printemps, Werkfoto

Neben dieser Konkurrenz machte sich eine einschneidende Veränderung auf dem Videomarkt bemerkbar. Dessen Umsätze lagen zwar schon seit Längerem über denen des Kinosektors, mit dem Aufkommen von Streaming-Angeboten und deren wachsender Popularität verschob sich jedoch innerhalb des Home-Movie-Segments das Verhältnis, in dem physische Träger wie DVD und Blu-Ray im Vergleich zu digitalen Video-on-Demand-Angeboten zum Umsatz beitrugen. Am Ende der 2010er-Jahre waren die Erlöse aus den Abonnement-Modellen der verschiedenen Streaming-Plattformen bereits deutlich höher als jene, die mit physischen Trägern erzielt wurden. Amazon Prime Video und Netflix dominierten dabei auch den deutschen Markt. Zusammen standen sie 2022 für einen Marktanteil von etwa 50 Prozent; der erst im März 2020 gestartete Dienst Disney+ konnte sich schon in seinem ersten Jahr in Deutschland als drittstärkster Anbieter positionieren.

2 Das geschlossene Bundesplatz-Kino während der Covid-19-Pandemie, Berlin-Wilmersdorf 2020 Foto: Julia Riedel

Mit Eigenproduktionen veränderten die großen Anbieter zudem die Hierarchie im Angebot von Bewegtbildern. Physische Träger dienten typischerweise der Zweitverwertung originärer Kinofilme, seltener auch der von TV-Produktionen. Nun etablierten sich daneben eigene exklusive Angebote, meist Serienformate, jedoch auch abendfüllende Formen. Prestigeträchtige Filme aus dieser Produktion kamen zu kurzen Einsätzen ins Kino, damit sie formell für Auszeichnungen wie die Academy Awards oder zur Teilnahme an den Wettbewerben internationaler Filmfestivals qualifiziert waren. Das Festival in Cannes ließ solche Filme zunächst dennoch nicht für seinen Wettbewerb zu. Dagegen zeigte das Festival in Venedig bereits 2018 als Weltpremiere Alfonso Cuaróns Roma (MEX/USA), der auch mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde. Später gewann die Netflix-Produktion bei zehn Nominierungen die Oscars für die beste Regie, die beste Kamera und den besten fremdsprachigen Film. Die Berlinale präsentierte 2019 Isabel Coixets Schwarz-Weiß-Film Elisa y Marcela, ebenfalls eine Netflix-Produktion, im Wettbewerb. Präsenz im Kino, wie knapp bemessen auch immer, bleibt bislang das Zulassungskriterium für Festivals und Filmakademien. Gleichwohl zielt die Auswertung solcher Produktionen – der Kritik vor allem der Kinoverbände zum Trotz – primär auf das Streaming-Angebot. Das jüngste prominente Beispiel einer Netflix-Produktion aus Deutschland ist der Oscar-prämierte Film Im Westen nichts Neues (D/UK/USA 2022, Regie: Edward Berger).

Auch die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender reagierten auf das veränderte Nutzungsverhalten. Mit dem Aufbau eigener Mediatheken ermöglichten sie es dem Publikum, Sendungen jenseits der festen Sendeschienen des linearen Fernsehens zu konsumieren. In den Mediatheken bleiben die dort eingestellten Produktionen nicht nur längerfristig abrufbar. Zur Attraktivität des Angebots trägt auch bei, dass für ausgewählte Sendungen die Freischaltung online bereits vor der Ausstrahlung erfolgt.

Im Krisenmodus

Edward Bergers Film gehört zu jenen, die ganz oder teilweise unter den Bedingungen der Covid-19-Pandemie realisiert wurden. Deren Auswirkungen trafen die Filmindustrie in allen Bereichen. Streamingdienste profitierten von den zur Bekämpfung ergriffenen Maßnahmen und vergrößerten als Folge verhängter Lockdowns, später des zeitweise geltenden Maskenzwangs in Sälen, die Anzahl ihrer Abonnentinnen und Abonnenten. Der Verlust an Öffentlichkeit beziehungsweise die eingeschränkte Attraktivität von Kino, Theater, Konzerten oder Museen ließen die Nutzung des Fernsehens, der VoD-Angebote und Games-Anbieter ansteigen.

3 Victoria

D 2015, Regie: Sebastian Schipper

Plakat

Erste Infektionsfälle traten in Deutschland Ende Januar 2020 auf. Die in jenem Jahr bis zum 1. März dauernde Berlinale, erstmals von der Leitung Mariëtte Rissenbeek und Carlo Chatrian verantwortet, konnte jedoch noch regulär beendet werden. Mitte März 2020 verhängten Bund und Länder angesichts der sich rapide verbreitenden Epidemie, die vor allem unter älteren Menschen viele Todesopfer forderte, weitgehende Einschränkungen des öffentlichen Lebens, vergleichbar den Maßnahmen in anderen Staaten. Am 25. März erklärte die Bundesregierung, es bestehe eine epidemische Lage von nationaler Tragweite. Diese Erklärung blieb bis zum 25. November 2021 in Kraft. Dies hatte unter anderem auch für Filmfestivals Konsequenzen. Im Februar 2021 fiel die Berlinale (wie zuvor auch Cannes 2020) aus, nur eine sehr reduzierte Auswahl von Filmen wurde später als sogenannte Sommer-Berlinale gezeigt. Im Jahr darauf durften nur um 50 Prozent reduzierte Platzkontingente genutzt werden, damit das geltende Abstandsgebot eingehalten werden konnte.

4 Fabian oder Der Gang vor die Hunde

D 2021, Regie: Dominik Graf

Jakob Fabian (Tom Schilling) und Cornelia Battenberg (Saskia Rosendahl), Foto: Hanno Lentz, Szenenfoto

Die Anzahl der Kinobesucher:innen insgesamt brach ein, einerseits wegen der Phasen, in denen die Filmtheater wie andere Kultureinrichtungen, Gaststätten, Sportstudios und vieles mehr geschlossen blieben, andererseits wegen der in vermeintlichen Zeiten der Erholung verringerten Kapazität, die von dem verunsicherten Publikum ohnehin kaum je vollständig nachgefragt wurde. Mit 38,1 Millionen konnte 2020 nur mehr ein Drittel der Besuche des Vorjahres verbucht werden; bis 2023 stieg die Zahl zwar auf 95,7 Millionen, lag damit aber immer noch fast 20 Prozent unter den Zahlen von 2019. Mit umfangreichen Förderprogrammen konnte aufs Ganze gesehen ein Kinosterben verhindert werden, die Anzahl der Kinos und der Leinwände blieb trotz der Pandemie fast gleich. Auch der Umfang der Filmproduktion verringerte sich, brach allerdings nicht in gleichem Maße wie der Kinobesuch ein. Die Dreharbeiten wurden unter anderem durch Abstandsregelungen und tägliche Tests auf mögliche Infektionen komplizierter, doch schon 2022 wurden wieder fast 200 Titel realisiert.

Kriege und Bürgerkriege forderten die internationale Gemeinschaft immer stärker heraus und brachten Frontstellungen, die auch im gesamten kulturellen Sektor Folgen hatte. Dazu gehören die anhaltende Unterdrückung demokratischer Bewegungen im Iran; der mit der Besetzung der Krim begonnene Krieg Russlands gegen die Ukraine, ausgeweitet mit dem weiteren Einmarsch russischer Truppen in das Nachbarland am 24. Februar 2022; der seit 2011 anhaltende Bürgerkrieg in Syrien, der 2015 eine massive Flüchtlingskrise zur Folge hatte; der Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023, dem über 1200 israelische Zivilisten zum Opfer fielen und in dem mehr als 200 Israelis von der Terrororganisation als Geiseln genommen wurden, sowie die militärische Selbstverteidigung Israels, die nicht zuletzt aufgrund der von der Hamas verfolgten Strategie, sich hinter zivilen Einrichtungen zu verschanzen, und der israelischen Kriegsführung wiederum Zehntausende zivile Opfer forderte. Solidaritätsaktionen, aber auch aktivistische Proteste kennzeichneten viele internationale Festivals. Regisseure aus dem Iran durften nicht zur Vorführung ihrer oftmals prämierten Filme anreisen, teils wurden sie von Vertretern des Regimes inhaftiert. Berlin, Cannes und Venedig zeigten Dokumentarfilme über die Realität des aufgezwungenen Krieges in der Ukraine.

5 „Forgotten City – Deir Ezzor“, Ausstellung von Fotos und Filmen des Fotografen Hayyan Al-Yousouf in der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen, 2016, Plakat: Pentagram, Berlin

6 3 Tage in Quiberon

D/A/F 2018, Regie: Emily Atef

Romy Schneider (Marie Bäumer), Szenenfoto

Publikumslieblinge, künstlerische Erfolge, neue Ansätze

Komödien und Kinderfilme blieben die beliebtesten Genres des deutschen Films. Til Schweiger, Matthias Schweighöfer, Karoline Herfurth oder Elyas M’Barek waren Stars dieser Filme, zum Teil übernahmen sie auch die Regie. Ein Überraschungserfolg wurde Almanya – Willkommen in Deutschland (D 2011, Regie: Yasemin Şamdereli), eine Tragikomödie über die Lebenserfahrung mehrerer Generationen deutschtürkischer Immigrantinnen und Immigranten sowie Mitbürger:innen. Daneben erwiesen sich Bestsellerverfilmungen wie Der Medicus (D 2013, Regie: Philipp Stölzl), Feuchtgebiete (D 2013, Regie: David Wnendt), Er ist wieder da (D 2015, Regie: David Wnendt) oder Ich bin dann mal weg (D 2015, Regie: Julia von Heinz) als besonders publikumswirksam. Letzterer basiert ebenso wie Der Junge muss an die frische Luft (D 2018, Regie: Caroline Link) auf einem autobiografischen Buch des Entertainers Hape Kerkeling. Inspiriert auch von eigenen Erfahrungen, zugleich die Reflexion einer Berliner Kiezrealität, wurde Sonne und Beton von Felix Lobrecht zum Bestseller; die gleichnamige Verfilmung durch David Wnendt (D 2023) feierte ihren Start auf der Berlinale.

Besonders häufig, nämlich in jeweils mehr als sieben Kategorien beim Deutschen Filmpreis ausgezeichnete Filme waren in diesem Zeitraum die drei Schwarz-Weiß-Filme Das weiẞe Band – Eine deutsche Kindergeschichte (D/A/F/I/USA 2010, Regie: Michael Haneke), 3 Tage in Quiberon (D/A/F 2018, Regie: Emily Atef) und Lieber Thomas (D 2021, Regie: Andreas Kleinert) sowie Das finstere Tal (A/D 2014, Regie: Andreas Prochaska), Systemsprenger (D 2019, Regie: Nora Fingscheidt) und Edward Bergers Im Westen nichts Neues. Auch die Schwarz-Weiß-Produktionen Oh Boy (D 2012, Regie: Jan-Ole Gerster) und Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht (D/F 2013, Regie: Edgar Reitz) wurden als Bester Spielfilm prämiert. Zuletzt ging diese Auszeichnung an İlker Çataks Das Lehrerzimmer (D 2023, produziert von Ingo Fliess), der auch in die Endauswahl für den besten fremdsprachigen Film bei den Academy Awards gelangte, und Matthias Glasners Sterben (D 2024, produziert von Jan Krüger, Ulf Israel und Matthias Glasner).

Im Jahr 2014 gründeten zwölf Regisseurinnen den Verein ProQuote Regie, der 2018 in ProQuote Film umbenannt wurde und sich für die gleichberechtigte Beschäftigung von Frauen in allen Gewerken der TV- und Filmproduktion einsetzt. Ausgangspunkt war der erste Diversitätsbericht des Bundesverbands Regie, der festhielt, dass für Primetime-Produktionen nur bei elf Prozent der Sendungen Regisseurinnen verantwortlich waren und sich dies bei Kinofilmen, insbesondere solchen mit höherem Budget, nicht wesentlich besser darstellte. Der Anteil von Frauen in Regiepositionen und in anderen Gewerken stieg zwar nicht zuletzt aufgrund der Initiativen von ProQuote Film ab den 2010er-Jahren an, eine Parität ist jedoch weiterhin nicht erreicht. Nach 2002, als Caroline Links Nirgendwo in Afrika (D 2001) als bester Spielfilm ausgezeichnet wurde, dauerte es bis 2016, ehe wieder ein Film einer Regisseurin die Goldene Lola erhielt: Toni Erdmann (D/A/MC 2016) von Maren Ade. 3 Tage in Quiberon von Emily Atef, Systemsprenger von Nora Fingscheidt und Ich bin dein Mensch (D 2021) von Maria Schrader folgten.

Selbstbestimmte Frauenfiguren präsentieren Matthias Luthardts Luise (D/F 2023) und Ivo von Eva Trobisch (D 2024). Sowohl Luthardt als auch Trobisch konnten damit längere Zeit nach ihren erfolgreichen Erstlingsfilmen wieder einen Stoff fürs Kino realisieren. Diese Beispiele stehen für die Schwierigkeiten jüngerer Regisseurinnen und Regisseure, kontinuierlich ihre Projekte realisieren zu können. Die Lust an der Entwicklung neuer Formen brachte Filme wie Victoria (D 2015, Regie: Sebastian Schipper) hervor. In einer einzigen Einstellung gedreht, überrascht er das Publikum mit diesem formalen Wagnis ebenso wie mit einer intensiven Genre-Story. Nicolette Krebitz entwickelte in Wild (D 2016) eine Vision von der radikalen Selbstbefreiung einer jungen Frau (Lilith Stangenberg), die sich (auch erotisch grundiert) an einen Wolf annähert und mit ihm auseinandersetzt. Susanne Heinrich wählte für ihren episodischen Film Das melancholische Mädchen (D 2019) eine Erzählform, die auf Verfremdung und Komik setzt. The Ordinaries (D 2022, Regie: Sophie Linnenbaum) ist ein rares Beispiel für eine originelle und witzige Satire: ironisch gebrochene Science-Fiction und medienkritische Persiflage in einem. Mit Elementen der Science-Fiction – und solchen aus anderen Genres – operiert auch Timm Krögers in Schwarz-Weiß gedrehter Film Die Theorie von Allem (D/A/CH 2023). In Fabian oder der Gang vor die Hunde (D 2021) visualisiert Dominik Graf den Einstieg in die erzählte Zeit der Weimarer Republik mit einer langen Kamerafahrt aus einer heutigen U-Bahnstation heraus bis ins Tageslicht, wo die Kamera auf Jakob Fabian (Tom Schilling) trifft. Noch deutlicher legt Christian Petzold die Inszenierung von Vergangenheit in Transit (D/F 2018) offen: Die Handlung ist dem Roman von Anna Seghers entsprechend in den 1930er-Jahren angesiedelt, spielt allerdings vollständig und für das Publikum offenkundig in den Straßen und Gebäuden des Marseille der Gegenwart.

Digitalisierung und Filmerbe

Die in den 2010er-Jahren auf allen Produktions- und Vertriebsebenen durchgesetzte Digitalisierung hatte zur Konsequenz, dass analoge Filme in immer weniger Kinos angemessen vorgeführt werden konnten. Aber auch andere Auswertungsformen – DVD/Blu-Ray, Streaming, TV – blieben diesen Titeln ohne vorherige Digitalisierung verschlossen. Das Filmerbe drohte unsichtbar beziehungsweise auf Nischen verwiesen zu werden. Die im Deutschen Kinematheksverbund kooperierenden Institutionen brachten dies auf vielen Kanälen zur Sprache, auch in Expertenrunden, zu denen der Kulturausschuss des Deutschen Bundestags einlud. Seit Beginn der 2010er-Jahre förderte der Bundesbeauftragte für Kultur und Medien Digitalisierungen analoger Filme mit Sondermitteln, die zunächst der Deutschen Kinemathek, dem Deutschen Filminstitut (heute DFF), der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung und der DEFA-Stiftung zugutekamen. Der vom Kinematheksverbund getragene Vorschlag, diese Finanzierung in eine längerfristige Förderung zu überführen, wurde 2019 mit dem von der Filmförderungsanstalt (FFA) betreuten Förderprogramm Filmerbe (FFE) realisiert. Seither (und bis 2023 ohne Kürzungen) tragen FFA, Länder und Bund das Programm mit jeweils 3,3 Millionen Euro. Dabei sind Antragstellungen in drei gleichberechtigten sogenannten Säulen möglich: für die Unterstützung eines wirtschaftlichen (Wieder-)Auswertungsinteresses, zur Verhinderung drohenden Materialzerfalls nach konservatorischen Befunden und nach der kuratorischen Bewertung von Filmen, zum Beispiel bei besonderem kulturhistorischem, ästhetischem oder dokumentarischem Wert. Mit dem FFE konnten bereits Hunderte von Filmen digital zugänglich gemacht werden. Die Aufgabe, das deutsche Filmerbe möglichst vollständig sichtbar und zugänglich zu halten, besteht angesichts der großen Zahl analoger Produktionen aus über 100 Jahren Filmgeschichte jedoch unverändert fort. rr

7 „Perspectives of Ukrainian Cinema“, Filmreihe der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen in Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung, 2022, Plakat: Fünfzehn, Berlin

8 Toni Erdmann, D/A/MC 2016, Regie: Maren Ade

Kukeri-Kostüm für die Rolle des Winfried Conradi/Toni Erdmann, getragen von Peter Simonischek, Kostümbild: Brigitte Fuchs; hier gezeigt in der vom Weltkulturerbe Völklinger Hütte und der Deutschen Kinemathek gemeinsam kuratierten Ausstellung „Der Deutsche Film – 1895 bis Heute“, präsentiert in der Gebläsehalle des Weltkulturerbes Völklinger Hütte, 2023/24, Foto: Hans-Georg Merkel

„Ehrverbrechen“ und der Kampf um Selbstbestimmung

Es war der bekannteste, aber bei Weitem nicht der einzige Fall in Deutschland: Als am 7. Februar 2005 Hatun Sürücü von ihrem Bruder an einer Bushaltestelle in Berlin mit drei Kopfschüssen ermordet wurde, löste dieses Gewaltverbrechen als sogenannter „Ehrenmord“ eine breite Debatte aus. Diskutiert wurde über Fragen der Integration und Fehler auf beiden Seiten, über Parallelgesellschaften und die Zugehörigkeit des Islams zu Deutschland. Denn die in Berlin geborene Muslima hatte sich nicht in das Rollenbild gefügt, das ihr als Frau in ihrer streng traditionell-patriarchal lebenden Familie zugeteilt war.

1 Nur eine Frau

D 2019, Regie: Sherry Hormann

Aynur (Almila Bagriacik), Foto: Mathias Bothor, Szenenfoto