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Dieses E-Book ist Teil einer zwölfbändigen Reihe, die die Geschichte des deutschen Films anhand der Sammlungsbestände der Deutschen Kinemathek von den Anfängen im Jahr 1895 bis zur Gegenwart dokumentiert. Jeder Band im ePUB-Format konzentriert sich auf eine Dekade und bietet einen prägnanten Überblick über die filmischen Meisterwerke und Meilensteine dieser Epoche, beleuchtet berühmte und wiederzuentdeckende Filme und würdigt das Kino, sein Publikum und die kreativen Köpfe hinter der Vielfalt des deutschen Films. Das Gesamtwerk, das über 2.700 Objekte aus allen Sammlungsbereichen umfasst und sich über 130 Jahre erstreckt, ist zudem als gedrucktes Buch und als PDF in deutscher und englischer Sprache erhältlich. DIE DEUTSCHE KINEMATHEK zählt zu den führenden Institutionen für die Sammlung, Bewahrung und Präsentation des audiovisuellen Erbes. In ihren Archiven werden dauerhaft Hunderttausende von Objekten erhalten und für die film- und fernsehgeschichtliche Forschung zur Verfügung gestellt. Die Bestände umfassen neben Drehbüchern, Fotos, Plakaten, Kostümen und Entwürfen unter anderem auch filmtechnische Geräte. Die Kinemathek kuratiert Filmreihen und Ausstellungen, sie restauriert und digitalisiert Filme. Ihre vielfältigen Angebote, darunter Installationen, Publikationen, Vermittlungsformate und Konferenzen, laden zur Entdeckung der Welt bewegter Bilder ein.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 159
Einleitung
Der Skandal auf der Berlinale um o.k. von Michael Verhoeven
Die Gründung Kommunaler Kinos
Arbeitsalltag im DEFA-Film der 1970er-Jahre
Geschlechterkampf im deutschen Spielfilm
Die Report-Filme im westdeutschen Kino
Menschen mit Behinderungen in Werner Herzogs frühen Filmen
Ingemo Engström: Recherchen zu Flucht und Widerstand
Schauspielstars (III/VI) (BRD und DDR)
Laurens Straub und der Filmverlag der Autoren
Cabaret – Tanz auf dem Vulkan
Die Lümmel- und Paukerfilme
Rosa von Praunheims Durchbruch wird zum gesellschaftlichen Aufbruch
Neuer Heimatfilm: Volker Vogelers Jaider – der einsame Jäger und Reinhard Hauffs Mathias Kneiẞl
Arbeitskämpfe in der Bundesrepublik im Film
Zwischen individueller Sehnsucht und sozialistischer Pflichterfüllung: Der Dritte und Die Schlüssel
Zweimal Hitler im Film – Verfremdungstechnik versus Psychologismus
Zwei Weltstars: Marlene Dietrich und David Bowie
Artur Brauners Filme gegen das Vergessen
Filmstar VW-Käfer
Das Frauenfilm-Seminar von 1973 und die feministische Filmbewegung
„Wenn ein Mensch lebt“ – Die Legende von Paul und Paula
Migrationsthemen bei Rainer Werner Fassbinder und Helma Sanders-Brahms
Effi Briest im Film
Der Deutsche Herbst im Film
Neuer Heimatfilm aus Hamburg: Hark Bohms Nordsee ist Mordsee
Jakob der Lügner von Frank Beyer und Jurek Becker
Plakate der 1970er-Jahre: In der DDR gezeigte Filme aus der BRD
Plakate der 1970er-Jahre: In der BRD gezeigte Filme aus der DDR
Deutsche Roadmovies
Ingmar Bergman in München
Sozialstudien in der Provinz: Paule Pauländer und Das Brot des Bäckers
Aufbegehren und Aufarbeiten: Theodor Kotulla und die Spuren der Geschichte in der Gegenwart
Helke Sander und Elfi Mikesch: Zwei Blicke auf das Westberlin der 1970er-Jahre
Dokumentar- und Spielfilme von Christian Rischert
Internationaler Erfolg: Die Blechtrommel von Volker Schlöndorff
Flucht aus Deutschland: Peter Lilienthals David
Kinderfilme der DEFA
Filmkünstler gegen alle Konventionen: Helmut Herbst und Vlado Kristl
In den 1970er-Jahren erlebte der Neue Deutsche Film eine bemerkenswerte Blüte. Die Filmhistorikerin Claudia Lenssen nannte sie seine „produktivste und kreativste Periode“. Mit großer künstlerischer Vielfalt und auch politischem Engagement prägte der Autorenfilm das deutsche Kino. Etliche neue Vertreter:innen einer jüngeren Generation gehörten dazu. Regisseurinnen behaupteten sich in der Filmwirtschaft, erstmals konnte von einer Bewegung gesprochen werden. Helke Sander, Helga Reidemeister, Helma Sanders-Brahms, Jutta Brückner, Jeanine Meerapfel und Margarethe von Trotta legten ihre ersten Kinofilme vor, mit Frauen und Film erschien 1974 die erste (und bis heute einzige) feministische Filmzeitschrift in Europa, gegründet von Helke Sander. Mit dieser ersten Generation veränderte sich die Branche, wenn dabei auch viele Widerstände zu überwinden waren.
1 Im Lauf der Zeit
BRD 1976, Regie: Wim Wenders
Robert „Kamikaze“ Lander (Hanns Zischler) und Bruno Winter (Rüdiger Vogler), Szenenfoto
Zu den jüngeren und bald ebenfalls international rezipierten Regisseuren gehörte Wim Wenders. Mit Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (BRD/A 1972) drehte er gemeinsam mit seinem Kameramann Robby Müller sein erstes Roadmovie, eine Form, auf die er wiederholt zurückkam, etwa in seinem Kultfilm Im Lauf der Zeit (BRD 1976). Rainer Werner Fassbinder realisierte in diesem Jahrzehnt in rascher Folge den Großteil seines Werkes, darunter die TV-Produktionen Acht Stunden sind kein Tag (BRD 1972/73, fünf Teile) und Welt am Draht (BRD 1973, zwei Teile). Sein Stil entwickelte sich von den bewusst kargen und stilisierten frühen Filmen zu einer Inszenierung, die „opulenter“ wirkte und das Publikum emotional einbinden wollte. Alexander Kluge perfektionierte seine essayistischen Montagefilme, mit Die Patriotin (BRD 1979) erreichte er in dieser Form die vielleicht größte Konsequenz. Mit Verfremdungen und theatermäßigen Inszenierungen arbeitete Hans-Jürgen Syberberg. Seine Filme widmeten sich Abgründen der deutschen Geschichte, mit Hitler. Ein Film aus Deutschland (BRD 1977) schuf er einen der kontroversesten Filme des Jahrzehnts.
Filmemacher:innen des Neuen Deutschen Films praktizierten den Wechsel zwischen dokumentarischen und fiktionalen Formen. Werner Herzog etwa porträtierte in Land des Schweigens und der Dunkelheit (BRD 1971) eine taubblinde Frau in ihrem Alltag und inszenierte bald darauf im peruanischen Dschungel und mit Klaus Kinski die Geschichte eines wahnsinnigen Eroberers (Aguirre, der Zorn Gottes, BRD 1972). Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt (BRD 1971) von Rosa von Praunheim wirkte als Manifest der westdeutsche Schwulen- und Lesbenbewegung und zugleich als ihr Katalysator. Die zwei Jahre zuvor von der sozialliberalen Koalition durchgesetzte Liberalisierung des Paragrafen 175 des StGB brachte juristisch eine Erleichterung für die schwule Community – Rosa von Praunheims Film rief sie zu praktiziertem Selbstbewusstsein auf. Ulrike Ottingers stilisierte Filme wie Madame X – Eine absolute Herrscherin (BRD 1978) und Bildnis einer Trinkerin (BRD 1979) kreierten aus Subkulturen eigenständige künstlerische Welten. Mit Genreformen setzten sich Rudolf Thome, Roland Klick oder Reinhard Hauff auseinander. Experimentelle Arbeiten entstanden oft in kooperativen Zusammenhängen wie der Hamburger Filmmacher Cooperative (Hellmuth Costard, Helmut Herbst, Klaus Wyborny u. a.) oder dem Literarischen Colloquium Berlin (Wolfgang Ramsbott). Auch Dore O., Werner Nekes, Lutz Mommartz, Birgit und Wilhelm Hein präsentierten ihre Filme regelmäßig auf Festivals.
2 Im Lauf der Zeit, BRD 1976, Regie: Wim Wenders
Während der Dreharbeiten: Wim Wenders, Werkfoto (Ausschnitt)
Politisches Engagement, ja aktivistisches Filmemachen spielte im Neuen Deutschen Film dieser Jahre ebenfalls eine bedeutende Rolle. Einflussreich war das Werk von Klaus Wildenhahn, dessen filmische Beobachtungen in diesen Jahren oft dem Alltag und der Arbeitswelt von Menschen in der norddeutschen Provinz galten. Andere Beispiele sind die Arbeiterfilme (Liebe Mutter, mir geht es gut, BRD 1972, Regie: Christian Ziewer) sowie im Kontext der Anti-Atomkraft-Bewegung entstandene Filme wie Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv (BRD 1976, Regie: Nina Gladitz) oder Die Herren machen das selber, daẞ ihnen der arme Mann Feyndt wird (BRD 1979, Regie: Roswitha Ziegler, Niels Bolbrinker, Bernd Westphal). Und der Omnibusfilm Deutschland im Herbst (BRD 1978, Regie: Alf Brustellin u. a.), der auf die gesellschaftliche Situation nach der Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“, der Ermordung Hanns Martin Schleyers durch die RAF und die Selbsttötung der inhaftierten Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe reagierte. Er vereint höchst unterschiedliche Beiträge von zehn Regisseurinnen und Regisseuren.
3 16mm-Filmkamera Eclair ACL, 1971
Von der Kamerafrau Gisela Tuchtenhagen bei Filmen von Klaus Wildenhahn eingesetzt
4 Wäscherinnen
DDR 1972, Regie: Jürgen Böttcher
Szenenfoto
5 Welt am Draht, BRD 1973 (TV), Regie: Rainer Werner Fassbinder
Während einer Drehpause: Rainer Werner Fassbinder (l.) und Kameramann Michael Ballhaus, Werkfoto
Die Produktivität des Neuen Deutschen Films war nicht zuletzt den in den 1970er-Jahren veränderten Förderbedingungen zu verdanken. Angestoßen durch das Oberhausener Manifest und durch eine erfolgreiche Lobbyarbeit, in der unter anderem Alexander Kluge eine wichtige Rolle spielte, konnten schon in den 1960er-Jahren erste Förderungen etabliert werden. Das 1965 gegründete Kuratorium junger deutscher Film konzentrierte sich auf die Anschubfinanzierung von Projekten des „filmkünstlerischen Nachwuchses“. Für die Sicherung einer kontinuierlichen Produktion von Regisseurinnen und Regisseuren schied dieses Instrument daher aus, zumal die Summe, die je Film zur Verfügung stand, gering war: maximal 300 000 DM als Darlehen oder Bürgschaft. Auch beim Bundesministerium des Innern gab es eine Filmförderung. Die verfügbaren Mittel waren jedoch nicht ausreichend, um einen entscheidenden Effekt auf die deutsche Filmkultur zu haben. Eine deutliche Verbesserung brachte aber die Veränderung der Vergabepraxis der 1968 als Bundesanstalt eingerichteten Filmförderungsanstalt (FFA). Da zunächst nur „Referenzmittel“ aufgrund des Kassenerfolgs eines Films im Kino ausgeschüttet wurden, blieb die FFA in ihrer kulturellen Wirkung beschränkt, denn die meisten Regisseurinnen und Regisseure des Neuen Deutschen Films realisierten ihre Projekte auch mit Mitteln der Fernsehanstalten. Sie blieben damit von dieser Maßnahme weitgehend ausgeschlossen. Eine 1974 in Kraft tretende Novelle führte die Projektförderung sowie das Film-Fernseh-Abkommen ein. Die öffentlich-rechtlichen Sender konnten jetzt als Co-Produzenten auftreten. In mehreren Novellen wurde das Filmfördergesetz weiter den veränderten Bedingungen angepasst, so wurden später auch die Video-, die DVD-Auswertung, schließlich das Privatfernsehen und zuletzt Streamingdienste in die Finanzierung der FFA einbezogen.
6 Die Patriotin, BRD 1979, Regie: Alexander Kluge
Szenenfoto (Montagebild)
Schon davor hatte die Bestimmung, dass Filme, die „sexuelle Vorgänge in spekulativer Form“ darstellten, nicht förderberechtigt waren, die sehr erfolgreichen Report-Filme von der Subventionierung ausgeschlossen. Die populärste Reihe hatte mit Schulmädchen-Report: Was Eltern nicht für möglich halten (BRD 1970, Regie: Ernst Hofbauer) begonnen; zahlreiche Varianten wie Hausfrauen-report: unglaublich aber wahr (BRD 1971, Regie: Eberhard Schroeder) folgten.
Es kam zu Firmengründungen, um dem Neuen Deutschen Film eine unabhängige Struktur zu sichern. Der Filmverlag der Autoren sollte sowohl die Produktion wie den Verleih von Autorenfilmen übernehmen. 1971 gegründet und später mehrfach in der Gesellschaftsform verändert, konzentrierte er sich ab 1973 vorrangig auf den Verleih. Ähnliche Ziele verfolgte der Basis-Film Verleih, der ab 1974 maßgeblich von Clara Burckner geprägt wurde. Programmkinos, die stark auf die Präsentation sowohl deutscher wie ausländischer unabhängiger Filme setzten und dabei auch Filmreihen mit älteren Werken anboten, waren neben den Kommunalen Kinos eine wesentliche Stütze des Neuen Deutschen Films. Gegen Ende des Jahrzehnts erreichten viele Titel der Autorenfilmer auch die großen innerstädtischen Erstaufführungstheater, die publikumswirksame internationale und deutsche Großproduktionen zeigten. Beispiele für solche Erfolge sind Die verlorene Ehre der Katharina Blum (BRD 1975, Regie: Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta) oder Die Ehe der Maria Braun (BRD 1979, Regie: Rainer Werner Fassbinder). Die internationale Reputation des Neuen Deutschen Films bewiesen höchste Auszeichnungen. Peter Lilienthals David wurde 1979 bei der Berlinale mit dem Goldenen Bären für den besten Film ausgezeichnet. Im gleichen Jahr gewann Volker Schlöndorff für Die Blechtrommel die Goldene Palme in Cannes (ex aequo mit Apocalypse Now von Francis Ford Coppola) und im Jahr darauf als erste deutsche Produktion den Oscar für den besten fremdsprachigen Film.
7 Madame X – Eine absolute Herrscherin
BRD 1978, Regie: Ulrike Ottinger
Hoi-Sin (Hella Utesch, l.), Madame X (Tabea Blumenschein, r.), Foto: Ulrike Ottinger, Aushangfoto
Bedeutsam für die Präsentation der Filme des Neuen Deutschen Films war auch die Gründung des Internationalen Forums des Jungen Films. Bei der Berlinale wurde nach dem Eklat, den der Rücktritt der Jury in der Kontroverse um Michaels Verhoevens o.k. (BRD 1970) ausgelöst hatte, mit dem Forum eine neue Sektion installiert, die ab 1971 vor allem unabhängige Produktionen zeigte und damit auch innovativen deutschen Beiträgen eine Plattform bot.
8 Goya
DDR/SU 1971, Regie: Konrad Wolf
Plakat
Mit dem Aufkommen von Home-Videoformaten, die von mehreren Herstellern entwickelt wurden – wobei sich das VHS-System von JVC schließlich als Standard durchsetzte – ergab sich neben neuen Möglichkeiten für private Aufnahmen auch eine völlig neue Vertriebsform für Filme. Sammler stellten sich mit Kaufkassetten und Mitschnitten von TV-Ausstrahlungen ihre eigene Mediathek zusammen. Bis zur Jahrtausendwende dominierte die VHS diesen Markt.
9 Lotte in Weimar
DDR 1975, Regie: Egon Günther
Plakat: Siegfried Groß
In der DDR wurden die Folgen der Verbotswelle der Jahre 1965/66 nur langsam und vor allem nicht dauerhaft überwunden. Nach einer hoffnungsvollen Phase zu Beginn des Jahrzehnts – als etwa Konrad Wolfs Film Sonnensucher (DDR 1958/1971), der im Uranbergbau der Wismut AG spielt und auf sowjetischen Protest hin Aufführungsverbot erhielt, 13 Jahre später doch noch seine Premiere erlebte –, brachte das 9. ZK-Plenum der SED 1973 eine erneute Rückkehr zu den rigiden Vorgaben der offiziellen SED-Kulturpolitik. Kritisiert wurden im Plenum unter anderem die Werke von Volker Braun und Ulrich Plenzdorf; für die Filmproduktion hatte dies ebenfalls Folgen.
Gegenwartsfilme, von denen vor dem 9. ZK-Plenum mehrere einen unbefangenen Blick auch auf ambivalente und kritische Aspekte der DDR-Realität gewagt hatten – wie etwa Ingrid Reschkes Kennen sie Urban? (DDR 1970) –, blieben ein riskantes Unterfangen. So wurde Iris Gusners Die Taube auf dem Dach (DDR 1973) unmittelbar nach Fertigstellung verboten und konnte erst 1990 aufgeführt werden. Gusner und die nach einem Autounfall 1970 verstorbene Reschke gehörten zu den wenigen Regisseurinnen, die in diesen Jahren für die DEFA Spielfilme realisieren konnten. Andere Filme, die aktuelle Verhältnisse aufgriffen, waren Lothar Warnekes Dr. med. Sommer II (DDR 1970) und Roland Gräfs Mein lieber Robinson (DDR 1971). Zu den bedeutenden Filmen dieser Jahre gehörten Der Dritte (DDR 1972) von Egon Günther und Heiner Carows großer Publikumserfolg Die Legende von Paul und Paula (DDR 1973), in dem sich die Unbedingtheit der Gefühle gegen Konvention und Ordnungsdenken durchsetzt. Der von Ulrich Plenzdorf geschriebene Film wurde Ingrid Reschke gewidmet, die das Projekt mitinitiiert hatte.
Eine Reihe von Filmen umspielte das Thema der künstlerischen Ausdrucksfreiheit, wie der auf 70mm gedrehte Goya – oder der arge Weg der Erkenntnis (DDR/SU 1971) von Konrad Wolf oder Lothar Warnekes Addio, piccola mia (DDR 1979), ein Versuch über Georg Büchner. Als herausragende und eigenständige Literaturverfilmungen, die mit Blick auf die SED-Kulturpolitik nicht sonderlich problematisch schienen, überzeugten Egon Günthers Lotte in Weimar (DDR 1975) und Die Leiden des jungen Werthers (DDR 1976).
Die Ausbürgerung Wolf Biermanns, der in der DDR mit einem Auftritts- und Veröffentlichungsverbot belegt war, markierte 1976 einen weiteren Tiefpunkt der SED-Politik. Eine genehmigte Konzertreise in die Bundesrepublik mit seinem ersten öffentlichen Auftritt seit vielen Jahren bot die Chance, ihm die Rückkehr zu verweigern und die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Zahlreiche Künstler und Intellektuelle in der DDR unterzeichneten eine Petition mit der Forderung, die Ausbürgerung „zu überdenken“. Einige der Unterzeichner widerriefen später unter politischem Druck. In der Folge verließen etliche Filmschaffende als Reaktion die DDR, so Katharina Thalbach, Thomas Brasch, Manfred Krug, Angelica Domröse und Hilmar Thate. Andere wie Egon Günther und Frank Beyer suchten sich Arbeitsmöglichkeiten „im Westen“, ohne formal auszureisen.
Einen besonderen Erfolg konnte Frank Beyer mit Jakob der Lügner (DDR 1974) verzeichnen. Den bereits in den 1960er-Jahren von ihm geplanten Film nach dem Drehbuch von Jurek Becker hatte er nach dem Verbot von Spur der Steine (DDR 1966) zunächst fallenlassen müssen. Becker arbeitete den Stoff in einen erfolgreichen Roman um – und Beyer konnte ihn endlich verfilmen. Der Silberne Bär für den besten Darsteller an Vlastimil Brodský bei der Berlinale und später die Nominierung für den Oscar als bester fremdsprachiger Film – einzigartig in der DEFA-Geschichte – belegten die große internationale Anerkennung. Dass Beyers Film als offizieller Beitrag der DDR in den Wettbewerb der Berlinale eingeladen wurde, markierte einen Wandel. Es war das erste Mal, dass der Einladung, eigene Produktionen der DEFA für den Wettbewerb einzureichen, Folge geleistet wurde. In den Jahren danach waren mehrmals DEFA-Filme bei der Berlinale vertreten – einer der positiven Effekte der von der sozialliberalen Koalition eingeleiteten neuen Ostpolitik. Nach vorhergehenden Vertragsabschlüssen mit den Regierungen der damaligen UdSSR und Polens trat am 21. Juni 1973 der Grundlagenvertrag zur Regelung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR in Kraft. In beiden Staaten wurden „Ständige Vertretungen“ eingerichtet, so benannt in Abgrenzung zu diplomatischen Vertretungen, die es aufgrund des Wiedervereinigungsgebots im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nicht geben konnte.
Dokumentarische Formen zeigten das Leben in der DDR gelegentlich recht ungeschminkt. Anders als die stark agitatorisch angelegten Filme von Walter Heynowski und Gerhard Scheumann beobachteten Regisseure wie Jürgen Böttcher, Volker Koepp oder das Team Winfried und Barbara Junge den Alltag der Menschen in ihrem Land. Im Unterschied zu vielen Dokumentaristen in der Bundesrepublik drehten sie fast ausschließlich auf 35mm-Film, mit hervorragenden Kameraleuten, darunter Christian Lehmann, Werner Kohlert, Thomas Plenert oder Hans-Eberhard Leupold. Sie gaben diesen Filmen, für die sie eine vergleichsweise schwere Apparatur zu bewegen hatten und zudem nicht auf hochempfindliches Filmmaterial zurückgreifen konnten, eine artifizielle Bildsprache, ohne die Authentizität des Ausdrucks zu unterlaufen. rr
Die XX. Internationalen Filmfestspiele Berlin fanden im Sommer 1970 statt. Zwei Jahre, nachdem Studierende in vielen europäischen Ländern und den USA vehement einen Generationenwechsel in öffentlichen Institutionen gefordert hatten, war das innenpolitische Klima in der Bundesrepublik und besonders in Westberlin, der Hauptstadt der Proteste, immer noch unruhig. Nur in dieser aufgeheizten Stimmung konnte, wie der Filmhistoriker Wolfgang Jacobsen 2000 schrieb, die Vorführung des deutschen Films o.k. von Regisseur Michael Verhoeven (1938–2024) zum vorzeitigen Abbruch des Wettbewerbs, zur Auflösung der Jury und zu Rücktrittsangeboten von Festivalleiter Alfred Bauer und von Walther Schmieding, dem damaligen Intendanten der Berliner Festspiele, führen.
1 o.k.
BRD 1970, Regie: Michael Verhoeven
Sven Eriksson (Michael Verhoeven, l.), Ralph Clarke (Hartmut Becker, 2. v. r.), Sergeant Tony Meserve (Friedrich von Thun, r.)
Aushangfoto
Aus heutiger Sicht erfüllte o.k. alle Ansprüche, die an einen Wettbewerbsbeitrag gestellt wurden: Der Film analysiert die Entwicklung und Eskalation von Gewaltbereitschaft auf individueller und struktureller Ebene mit ästhetischen Mitteln. Er wirkt zeit- und ortlos, abstrahiert von einem konkreten Fall ins Allgemeine und verzichtet auf eine moralisierende Schlussfolgerung. Darüber hinaus streift er auch die Geschlechterfrage, die im Zuge der Studentenrevolte von den Frauen mit zunehmender Dringlichkeit thematisiert wurde. Die Handlung bezieht sich auf ein reales Verbrechen im Kontext des Vietnamkriegs, das an Ostern 1966 verübt wurde. Während einer Waffenruhe vergewaltigten und ermordeten vier amerikanische Soldaten auf einem Außenposten eine junge Vietnamesin. Ein fünfter Soldat beteiligte sich nicht und brachte die Tat vor ein Kriegsgericht.
2 o.k.
BRD 1970, Regie: Michael Verhoeven
Sergeant Tony Meserve (Friedrich von Thun), Phan Ti Mao (Eva Mattes) und Ralph Clarke (Hartmut Becker)
Szenenfoto
Michael Verhoeven rekonstruierte diesen Fall exemplarisch. Zu Beginn des Schwarz-Weiß-Films sieht man die fünf Schauspieler amerikanische Uniformen anziehen, sie stellen sich kurz vor und nennen ihre Rollennamen. Während sie sich vorbereiten, rufen sie immer wieder nach der Regieassistentin, um fehlende oder falsche Kostümbestandteile zu reklamieren. Dann erfasst die Kamera die damals 15-jährige Schauspielerin Eva Mattes in einer anderen Ecke des Raums; auch sie stellt sich vor, während ihre männlichen Kollegen im Off lauthals ihr Gespräch fortsetzen.
3 o.k., BRD 1970, Regie: Michael Verhoeven
Sven Eriksson (Michael Verhoeven), Szenenfoto
Der Standort der militärischen Einheit ist eine Waldlichtung. Der Sergeant lässt die Soldaten Stacheldraht spannen und Löcher ausheben, ihre Kleidung tarnen und Gasmasken anlegen; er schikaniert sie offenbar sinnlos. Die Soldaten lehnen sich mal gemeinsam, mal individuell gegen ihn auf. Es herrscht Futterneid; der Funker wird wegen seiner vermeintlich privilegierten Position angepöbelt. Alle streiten untereinander; dabei wird einer als Norddeutscher, ein anderer als Leser und Nicht-Kartenspieler verunglimpft, ein Dritter wegen seines Hippie-Bartes heruntergemacht, der ihm später in einem gewalttätigen Akt abgeschnitten wird. In Großaufnahmen ist sein schmerzverzogener Mund zu sehen, um den herum die scharfen Klingen der Klappmesser säbeln und Blutstropfen austreten. Diese Bilder kündigen das Kriegsverbrechen bereits an, das gerade der zuvor drangsalierte Soldat besonders auskosten wird.
4 o.k., BRD 1970, Regie: Michael Verhoeven
Werberatschlag der R.C.S. Filmverleih München GmbH
Die Sprache der Männer ist derb, obszön und aggressiv, besonders im sich länger hinziehenden Kartenspiel, mit dem sich die vier späteren Täter die Zeit vertreiben. Ein vermeintlich feindlicher Angriff versetzt die Einheit in Panik, bis sich durch eine Funknachricht herausstellt, dass es die eigenen Truppen waren, die geschossen haben. In diese durch Langeweile, Angst und Aggressionen geprägte Situation gerät die junge Phan Ti Mao, die mit dem Fahrrad vom Milchholen kommt. Die Männer halten sie auf, weil sie angeblich militärisches Sperrgebiet betreten hat, verdächtigen sie der Spionage und bedrängen und erniedrigen sie verbal und körperlich. Immer dichter schließen die vier Soldaten den Kreis um sie – ein Versuch des fünften, ihr zur Flucht zu verhelfen, scheitert. Mao wird von allen vier Männern vergewaltigt und dann umgebracht. Als sie die Leiche fortschaffen, gelingt es dem fünften Soldaten zu fliehen und bei einem Vorgesetzten Meldung zu machen. Dieser beschwichtigt ihn mit der Begründung, die Verteidigung der Freiheit fordere Opfer, die nicht hochgespielt werden dürften. Ein Kommentar im Nachspann erläutert, dass die realen Täter zunächst hohe Strafen erhielten, die aber in verschiedenen Revisionsverfahren abgemildert wurden, und dass das Verfahren noch immer nicht endgültig abgeschlossen sei.
5 Internationale Filmfestspiele Berlin 1970