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Wie die DDR abgewickelt wurde – und wer daran verdiente
Dirk Laabs erzählt die Geschichte der Treuhand, jener »Superbehörde«, die ursprünglich angetreten war, das Volkseigentum der DDR vor dem Ausverkauf zu retten und am Ende verantwortlich war für drei Millionen Entlassungen. Es ist eine Geschichte, die im Schatten der Wiedervereinigung stattfand. Laabs eröffnet uns einen neuen Blick auf die Wendezeit, sein Buch ist Wirtschaftsthriller und Geschichtsbuch in einem.
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Seitenzahl: 677
6. Oktober 1989, Vorabend des vierzigsten Jahrestages der DDR. In einem verwilderten Garten in Potsdam trifft sich wie jeden Freitag eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern und Dissidenten. Seit die herrschende Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) die Kommunalwahlen im. Mai massiv gefälscht hat, ist das Land in einer schweren Krise. Die Proteste gegen das Regime werden heftiger und sind immer besser koordiniert. Die Männer in dem Garten treiben den Widerstand gegen die SED mit voran. Im Gegensatz zu den meisten Bürgerrechtlern sind die Mitglieder der »Freien Forschungsgemeinschaft Selbstorganisation«, so nennt sich der Think Tank, Funktionsträger im DDR-Staat. Hans-Jürgen Blüher etwa ist Chef des DDR-Verbandes der Genossenschaftsbanken, Rainer Schönfelder Software-Entwickler beim führenden ostdeutschen Computerhersteller Robotron. Dazu kommen einige Anwälte, ein Chemiker und Dr. Wolfgang Ullmann, der einzige Kirchenfunktionär der Gruppe.
Der Garten in Potsdam, zwei Kilometer südlich der Glienicker Brücke in der Nähe eines Bahndamms gelegen, gehört dem Physiker Gerd Gebhardt, mit seinen 39 Jahren nur wenige Monate jünger als die DDR. Er ist ein aufstrebender wissenschaftlicher Star. Neben seiner Arbeit im Hygiene-Institut hat er jahrelang an seiner Doktorarbeit getüftelt. Darin analysiert Gebhardt den Energieverbrauch des Landes und sagt für das Gebiet der DDR im Jahr 1988 einen »Evolutionsbruch« – eine tiefe Krise des Systems – voraus. Selbst die NATO wird auf seine Arbeit aufmerksam und lädt Gebhardt zu einem Symposium ein. Die Staatssicherheit startet daraufhin den »Operativen Vorgang Lärm« – die Überwachung des Staatsfeindes Gerd Gebhardt.1 Der Garten, den Gebhardt die »freie Babelsberger Höhe« nennt, eignet sich mit seinen alten Garagen und Lauben ideal als Horch- und Spähposten für die Agenten.
Die Stimmung in der »Forschungsgemeinschaft« ist angespannt. Vor zwei Tagen hat die Reichsbahn Züge mit mehr als 7000 Flüchtlingen aus der Prager Botschaft durch den Hauptbahnhof in Dresden geleitet. Mehrere Tausend Menschen protestierten währenddessen vor dem Bahnhof, versuchten die Gleise zu stürmen und auf die versiegelten Züge zu springen. Sie warfen die Scheiben der Haupthalle ein und zündeten Böller. Die Polizei drängte die Demonstranten ab und verhaftete 1300 Menschen in nur einer Nacht. Mehr Menschen sind in der DDR nur bei den Juni-Aufständen 36 Jahre zuvor weggesperrt worden. Die westdeutsche »Tagesschau« berichtet an diesem Freitag, dass in Dresden ein Mensch getötet worden sein soll.2
Gebhardt und seinen Mitstreitern stehen die Ereignisse auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking vier Monate zuvor vor Augen, als die kommunistischen Machthaber die Armee auf Demonstranten losließen. Die Soldaten der Volksarmee hatten damals Hunderte Demonstranten erschossen, erschlagen oder mit Panzern überrollt. Ausgelöst hatte die Eskalation der Besuch des sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow in der chinesischen Hauptstadt. Nun ist Gorbatschow zu Besuch in Ost-Berlin. Er ist Ehrengast bei den Feiern zum vierzigsten Jahrestag der DDR. An diesem Morgen traf der sowjetische Staatschef in Berlin-Schönefeld ein. Die Stimmung im ganzen Land ist seitdem angespannt wie nie zuvor. Die Wissenschaftler halten eine Eskalation für möglich. Wenn es blutig wird, dann heute oder morgen am Rande der großen Militärparade in Ost-Berlin. Auch Leipzig, das Zentrum der Bürgerrechtsbewegung, könnte ein Brennpunkt werden. Die Bürgerrechtler fragen sich: Wäre Gorbatschow fähig, nach all den Reformen, die er seit 1985 initiiert hat, die Sowjetarmee in der DDR gegen die Bürger zu mobilisieren? Wenn Gorbatschow stillhält, ist die SED dann nicht am Ende? Und wer übernimmt dann die Macht im Land? Sie, die Reformer?
Schließlich meldet sich der Mann des Geldes, der Banker Hans-Jürgen Blüher, zu Wort: »Wollen wir mal sehen, wie lange die Sowjetsoldaten die Ordnung aufrechterhalten und ab wann ein Hundert-DM-Schein das Kommando übernimmt. Man stellt sich ja vor, eine Invasion erfolgt durch eine Armee. Aber es könnte auch sein, dass die Soldaten Markstücke und die Unteroffiziere Zehn-Mark-Scheine sind. Dann gibt’s die Offiziere, das sind die Fünfzig-, Hundert- und Fünfhundert-Mark-Scheine. Diese Armee steht jetzt an der Grenze und wird von den DDR-Bürgern gerufen: ›Kommt zu uns.‹« Was, wenn die D-Mark-Armee tatsächlich das Kommando übernimmt? Wie schützt man sich vor einer solchen Invasion?
An diesem Oktobertag nimmt die »Forschungsgemeinschaft« die Arbeit an einem Papier auf, in dem sie exakt voraussagt, was in den nächsten Jahren in der DDR passieren wird. Und vier Monate später wird Gebhardt auf der freien Babelsberger Höhe ein Konzept in seinen Computer tippen, das die Gründung einer Art Superbehörde vorsieht: eine »Treuhandanstalt«, die das Volkseigentum der DDR-Bürger vor der Invasionsarmee D-Mark retten soll.
Im Säuseln der Schilfhalme, im leisen Rauschen der Bäume, im Murmeln der Bäche konnte man nur folgende Worte erkennen, die bald noch so entfernte Echos wiederholen sollten: Gold! Gold! Gold!
Abenteuer Goldrausch – Erinnerungen von Théophile de Rutté
Der Oberst der Staatssicherheit, Alexander Schalck-Golodkowski, sitzt mit seiner Frau Sigrid im Fond einer russischen Limousine. Es ist eine eiskalte Nacht. Vor dem Grenzübergang Invalidenstraße hat sich ein Stau gebildet.1 Die Mauer ist zwar seit gut drei Wochen faktisch offen, aber noch wird jede Ausreise von den DDR-Grenzbeamten kontrolliert.
Schalck ist eine Schlüsselfigur des Systems, ein Oberst der Staatssicherheit. Er kann im Gegensatz zu gewöhnlichen DDR-Bürgern auch vor dem Mauerfall in den Westen reisen, wann immer er will. Erst am Vormittag ist er zu Verhandlungen mit dem westdeutschen Innenminister Wolfgang Schäuble nach Bonn geflogen. Doch in dieser Nacht wartet er wie alle anderen DDR-Bürger im Stau an der Invalidenstraße auf seine Abfertigung. Seine Freunde im Zentralkomitee der SED, so fürchtet er, haben sich von ihm abgewandt.2 Er will kein Aufsehen erregen, wenn er seine Heimat, die DDR, in dieser Nacht für immer verlässt. Er kennt viele Geheimnisse. Die Nachricht von seiner Flucht würde das kommunistische Regime weiter destabilisieren.
Schalck hat seiner Partei über dreißig Jahre lang Geld beschafft, das sie dringend braucht, um sich an der Macht zu halten. Denn während die DDR der Welt auf den Massenveranstaltungen der Freien Deutschen Jugend (FDJ) und der SED Ordnung, Organisation und Berechenbarkeit vorgaukelt, regiert hinter den Kulissen das Chaos. Immer fehlt irgendetwas: Eisenerz, Autoreifen, Schrauben. Die Staatsführung muss ständig Löcher stopfen und improvisieren. Dabei wollte die sowjetische Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg erreichen, dass die Staaten im kommunistischen Block sich untereinander selbst versorgen: Die Sowjetunion liefert die Energie, im Gegenzug produziert die DDR etwa Bahnwaggons und Schiffe; ein Tauschhandel, der ohne Geld funktioniert, so die Idee. Nur benötigt man für den Bau von Schiffen viel Stahl, und davon gibt es in der DDR nicht genug. Also muss das kleine Land Stahl auf dem Weltmarkt kaufen. Dort wird in US-Dollar abgerechnet. Westgeld hat die DDR aber noch weniger als Rohstoffe.
Dieses Geld besorgt eine Sonderabteilung, die Schalck 1967 gründet: die Kommerzielle Koordinierung (KoKo). Die KoKo verkauft im Westen alles, was Schalck an DDR-Waren bekommen kann: Antiquitäten, Mastschweine, Billigmöbel. Oft veräußert die Abteilung die Güter unter dem Herstellungspreis, also mit Verlust, nur um an Westdevisen zu kommen. Es ist fast so, als hätte der Schwarzmarkt nach dem Zweiten Weltkrieg nie geschlossen – nur sind jetzt nicht Zigaretten, Schnaps und Konserven um jeden Preis in Ost-Berlin gefragt, sondern D-Mark und US-Dollar.
Schalck ist zwölf Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg zu Ende geht. Als Teenager lernt er den Mangel kennen, und er begreift, dass man improvisieren muss, um an lebenswichtige Waren heranzukommen.
Schalcks Vater, einen staatenlosen Immigranten aus Russland, verschlägt es nach dem Ersten Weltkrieg nach Berlin. Er kämpft für die Wehrmacht, kehrt aus dem Krieg zurück nach Berlin. Dort muss er sich auf der sowjetischen Kommandantur melden – und taucht nie wieder auf.
Alexander Schalck wächst als Halbwaise im Ost-Berliner Treptow auf. Er passt sich den neuen Zeiten an, macht eine Lehre in den Elektro-Apparate-Werken Teltow, die von den Sowjets enteignet und übernommen worden sind. Als Mitglied der Freien Deutschen Jugend verteilt er Flugblätter der SED in West-Berlin. Seine Karriere in der Partei beginnt. Im Juni 1953 verteidigt er mit den Panzern der Sowjetarmee das Haus der Ministerien gegen protestierende Arbeiter.
Er studiert Außenwirtschaftshandel, promoviert und tritt eine Stelle im Ministerium für Außenhandel und innerdeutschen Handel an. Hier findet Alexander Schalck seine große Aufgabe: die Devisenbeschaffung.
Er steigt zum Staatssekretär auf, ist aber tatsächlich mächtiger als die meisten Minister der DDR.
Schalck organisiert nicht nur Westgeld für die DDR, sondern auch Westtechnologie, die er wiederum aus den Devisenerlösen bezahlt. Denn das kleine Land braucht nicht nur Rohstoffe, sondern auch moderne Maschinen, später Computer und Speicherchips. Dabei sollen die strengen NATO-Embargogesetze gerade verhindern, dass Hightech-Güter in die DDR gelangen. Die westlichen Staaten wollen – zumindest ist das ihre offizielle Position – den Export von technologisch fortschrittlichen Entwicklungen jeder Art in die DDR unterbinden, da sie fürchten, dass die moderne Technologie im Waffenbau Verwendung finden könnte. Schalck umgeht das Embargo mit Hilfe westdeutscher Firmen.
Der Handel zwischen den deutschen Staaten ist seit dem Mauerbau so zwar komplizierter, aber für viele westdeutsche Unternehmen auch lukrativer geworden. Darauf setzt Schalck.
Weder die ostdeutsche noch die westdeutsche Öffentlichkeit soll erfahren, welche Rolle der Staatssekretär wirklich spielt: Zum einen hilft er Firmen in der Bundesrepublik, westdeutsche Gesetze zu brechen, zum anderen belegt die Existenz seiner Abteilung KoKo, dass das System der DDR sich nicht selbst tragen kann. Also muss Schalck ein Phantom und seine Arbeit ein Geheimnis bleiben. Bis zum Herbst 1989.
Ende Oktober, nach dem Sturz Erich Honeckers, tritt Schalck erstmals öffentlich auf. Er ist Gast in einer Talkshow des DDR-Fernsehens zum Thema »Leistungsgesellschaft DDR«. Er erweckt den Anschein, als wolle er sich für ein höheres Amt im Staat positionieren und die Tatsache nutzen, dass sein Gesicht nicht mit den Machenschaften der SED verbunden wird. Was er wirklich für die DDR getan hat, verrät er nicht. Kurz darauf, am 4. November 1989, ist er wie knapp eine Million DDR-Bürger auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz. Die Menschen demonstrieren gegen die SED und für freie Wahlen, Presse- und Reisefreiheit. Schalck wird von einem ostdeutschen Fernsehteam entdeckt und befragt. Der »geheimnisvolle Staatssekretär«, wie er vorgestellt wird, hält sich weiterhin bedeckt.
Auch Detlef Scheunert, persönlicher Referent des Ministers für Schwermaschinenbau, ist auf dem Alexanderplatz. Obwohl er für den Staatsapparat der DDR arbeitet, kennt er nur Gerüchte über die KoKo. Scheunert steht vor einer glänzenden Karriere und ist trotzdem mit einem Kollegen aus dem Ministerium zu der Demonstration gekommen. Ein Umbruch steht bevor, das spürt er. Scheunert, 29 Jahre alt, ist ein groß gewachsener Mann mit dunklen Haaren, Brille und Schnauzbart. Er hat ein gewinnendes Lächeln, und das braucht er auch, um seine Freunde zu versöhnen, wenn er mal wieder laut und deutlich seine Meinung vertreten hat. In vielen Gesprächen, die er mit Bekannten in seinem Stadtteil Friedrichshain führt, spürt Scheunert, dass die Menschen von dem Regime der SED endgültig genug haben und sich eine neue, andere DDR wünschen. Durch seine Arbeit im Ministerium kennt er die Lage der DDR-Wirtschaft und weiß, dass sich etwas ändern muss.
Für Scheunert war es ein weiter Weg bis ins Ministerium. Er stammt aus einem kleinen Ort in Sachsen, im Dreieck Leipzig – Dresden – Karl-Marx-Stadt gelegen,3 »hinter den sieben Bergen«, wie er sagt. Seine Kindheit verlebt er auf einem Bauernhof. Nachdem die Sowjetarmee 1945 Hunderte sächsische Junker hingerichtet hatte, standen viele Höfe leer, Land lag brach. Sein Vater pachtet nach dem Krieg zu seinem eigenen Hof mehrere Äcker und Höfe hinzu. So wächst Detlef Scheunert auf dem Hof einer Junkerfamilie auf. Der Besitzer ist von den Russen ermordet worden, die Witwe kann den Hof allein nicht führen. Unter der Bedingung, dass sie in dem Gutshaus bleiben darf, kann Scheunerts Vater den Hof pachten.
Scheunert senior, ein massiger Mann, Weltkriegsveteran, streng, unerbittlich, ehrgeizig, überlässt die Erziehung der drei Söhne seiner Frau. Doch tatsächlich prägt vor allem die Witwe den jungen Scheunert. Sie darf als Pensionärin ungehindert reisen, auch nach dem Bau der Mauer. Oft fährt sie nach Hamburg und bringt dem Jungen Bücher und Zeitschriften aus dem Westen mit. Obwohl er »hinter den sieben Bergen« lebt, ist er besser informiert als manche DDR-Bürger in den Großstädten. Die Witwe vermittelt ihm die Lebens- und Gedankenwelt einer Unternehmer- und Großgrundbesitzerfamilie. Sie erzählt ihm von Freiheit, Privateigentum, Verantwortung. Sie sitzen in seinem Kinderzimmer, 75 Quadratmeter groß, hohe Decken, stuckverziert, Holzdielen, während um sie herum das Haus verfällt und der bröckelnde Putz unter Efeu versteckt werden muss. An das Gutshaus grenzt ein Schweinestall, ein Misthaufen mitten im Hof verpestet die Luft.
Weltläufigkeit vermitteln ihm auch die politischen Dissidenten aus der Stadt. Die schickt die Partei zur Strafe regelmäßig aufs Land, damit sie auf den Äckern Sachsens ihre politische Einstellung überdenken. Der junge Detlef lernt so renitente vietnamesische Studenten, Literaten und Professoren aus Ost-Berlin kennen, die mit vielen Büchern im Gepäck auf dem Hof aufkreuzen.
Die Mauer kennt er nur vom Hörensagen, er fühlt, erlebt und sieht sie nicht. Ihm setzt der Hof Grenzen; der ist weit entfernt vom nächsten Ort Döbeln. Wenn die Besucher weg sind, macht Detlef die Einsamkeit zu schaffen. Sein Bruder ist zehn Jahre älter und selten zu Hause, der mittlere Bruder ist als kleines Kind in einem Teich auf dem Hof ertrunken. Auf Detlef wird nun besonders aufgepasst. Er soll nicht in der riesigen Scheune spielen, er könnte im frisch gemähten Weizen ersticken. Meist ist er allein – »mit 150 Tieren«, wie er sich erinnert.
Im Kindergarten bekommt er den Spitznamen »der Boss« wegen seines Auftretens oder weil sein Vater der wichtigste Mann im Dorf ist, da ist sich der junge Scheunert nicht sicher. Seinen Vater kennt jeder in der Gegend. Der hat so viel Land hinzugepachtet, dass er Ende der fünfziger Jahre zum ersten Mal anständig verdient. Er beschäftigt viele Bauern und Landarbeiter aus der Umgebung. Doch immerzu versucht die SED ihn zu überreden, seinen Grund und Boden freiwillig abzugeben und sich »kollektivieren zu lassen«. Scheunert erinnert sich an Erzählungen von Lastwagen, vollbesetzt mit Männern, die rote Fahnen schwingen.
Der Vater weigert sich hartnäckig, wie viele andere Bauern auch, sein Land abzugeben. Vergebens. 1960 beschließt die SED, Eigentümer von landwirtschaftlichen Gütern per Gesetz zu enteignen. Aus Scheunerts Höfen wird eine LPG – eine Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft. Der Vater muss wieder selbst die Schweineställe ausmisten und Kühe melken. Seine ehemaligen Angestellten, die proletarisierten Bauern, lernen schnell, dass es kein Privateigentum mehr gibt. Produktionsmittel darf nur noch der Staat besitzen. Detlefs Schulkameraden rupfen das Obst von den Bäumen auf dem Familiengrundstück. »Ich habe dann gefragt: ›Warum tut ihr das? Das ist doch gestohlen, das ist doch gar nicht euer Eigentum. Ihr könnt doch nicht einfach kommen und das wegnehmen.‹ Dann kriegte ich ein Grinsen zur Antwort: ›Die Zeiten sind vorbei, das gehört jetzt allen‹«, erinnert sich Scheunert.
Dass das Eigentum freigegeben ist, dass sich jeder bedienen kann und Diebstahl nicht mehr geahndet wird, empfindet der kleine Junge als bedrohlich. Die Familie Scheunert passt sich auch nach der Enteignung nicht an. Da der Großvater Scheunert in russischer Kriegsgefangenschaft war, ist die Mutter glühende Kommunistenhasserin. Einmal erleidet sie beim Anblick roter Bettwäsche – der Farbe der Kommunisten – einen Nervenzusammenbruch. Ihre Kinder bringt sie in einem weit entfernten Kloster zur Welt, denn die Krankenhäuser in der Umgebung werden von den neuen Herren, den Kommunisten, beherrscht.
Obwohl sie enteignet sind, gilt der junge Scheunert weiterhin als Sohn eines »Großgrundbesitzers«. Er soll nicht zum Gymnasium zugelassen werden, so will es die örtliche Parteivertretung. Allerdings kennt der Vater den Schulrat des Kreises. Sie waren zusammen in Stalingrad eingekesselt, und das zählt in Sachsen mehr als die Partei. Detlef kann das Abitur ablegen und studiert anschließend auf Empfehlung des Vaters halbherzig Maschinenbau in Dresden, »denn zwei mal zwei ist auch im Sozialismus vier«. Doch dann muss er zur Armee. Er, der einen Tag vor seinem 23. Geburtstag schon das Maschinenbaudiplom in der Tasche hat, soll Wache an der Grenze schieben. Nur mit Glück entkommt er diesem Dienst. Der Lkw, der ihn zur Grenze fahren soll, ist voll, er darf wieder absteigen, kommt stattdessen nach Leipzig.
Improvisation, Willkür, Zufall in allen Lebensbereichen und allerorten. Er verliebt sich in eine Berlinerin. Nun will er unbedingt nach Berlin. Zuvor hat er von New York und London geträumt, aber in Ost-Berlin wäre er immerhin nahe am Westen.
In der Armee spürt er, was er immer und überall spürt: Er ist ein Außenseiter. Ständig bekommt er Ärger und weiß gar nicht, warum. Ein Offizier umgarnt ihn. Ob er nicht Karriere machen will in der Armee, in diesem Staat? Ob er nicht dazugehören will? Er ist doch intelligent, ehrgeizig, begabt. Ein Macher-Typ, nein? Will er nicht mit anpacken? Ja, Scheunert will irgendwo dazugehören und unabhängig werden von seinem Vater. Er muss sich positionieren in diesem Staat, da ist er anderer Ansicht als sein Vater. Der hat noch vor wenigen Monaten gesagt, die DDR sei am Ende: »Du wirst schon sehen, Ende der 1980er ist alles vorbei, die kriegen nicht mal mehr die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln geregelt.« Scheunert hat nur ungläubig gelacht.
Er sagt ja. Zur Gruppe. Zur Armee. Zur Offizierslaufbahn. Zum Staat. Zur Partei.
Die Förderung kann beginnen.
Zu welchen Mitteln sein Staat wirklich gegriffen hat, um wirtschaftlich zu überleben, begreift Scheunert erst drei Tage vor dem Mauerfall. Das Magazin »Der Spiegel« erwähnt den Namen Schalck dreimal in einem Absatz der Titelgeschichte »Ist die DDR noch zu retten?«. Zum ersten Mal erfährt die west- und ostdeutsche Öffentlichkeit von der Abteilung KoKo, von angeblicher Steuerhinterziehung und von kriminellen Geschäftsmethoden. Der Artikel bleibt vage, doch zwei Wochen später ändert sich das.
In einer mehrseitigen Hintergrundgeschichte wird das Magazin deutlicher. Plötzlich scheint das Blatt fast über alles Bescheid zu wissen: Schalcks Rolle, seine Schlüsselstellung, die Adresse seiner Villa in Ost-Berlin, die Namen der KoKo-Tarnfirmen in Deutschland und Liechtenstein, es wird sogar der Verdacht geäußert, dass die Abteilung KoKo Mitarbeiter in Westdeutschland habe ermorden lassen. Quellen werden nicht genannt. Nur eine Institution im Westen weiß zu diesem Zeitpunkt tatsächlich Genaueres über Schalck und die KoKo: der Auslandsgeheimdienst, der Bundesnachrichtendienst (BND). Der BND hat die Abteilung KoKo seit den 1970er Jahren systematisch unterwandert. Vor allem KoKo-Mitarbeiter aus der DDR, die im Westen Tarnfirmen führen, werden rekrutiert, darunter die Unternehmer Günter Asbeck und Peter Kamenz. Kamenz setzt sich 1988 ab und sagt bei der Behörde umfassend über die KoKo-Geschäfte aus. Viele der Informationen des BND tauchen in dem Artikel des »Spiegel« ungefiltert auf.4
Detlef Scheunert liest den Artikel und ist schockiert. Er erfährt, dass Schalck nicht nur dem Staat gedient, sondern auch Schmuck und Luxusgüter für die SED-Funktionäre und deren Ehefrauen besorgt hat – bezahlt aus den Erlösen von Gütern, die er im Westen unter Wert verkaufte. Und er machte, was den Referenten ganz besonders empört, das Eigentum von DDR-Bürgern, die in den Westen geflüchtet waren, zu Geld. Dass Schalck den SED-Funktionären Schmuck besorgt, in einer Villa lebt, macht Scheunert ebenfalls wütend. Er hat mit seiner Frau und den beiden Kindern in den letzten Jahren als Bediensteter des Staates zwar in gesicherten Verhältnissen gelebt, befand sich aber permanent auf der Jagd nach Windeln für das Baby, nach Farbe für die erste Wohnung, nach Nägeln, Pinseln, Kochtöpfen.
Die Veröffentlichungen über Schalck verändern auch die Diskussionen unter Scheunerts Nachbarn. Sie haben genug. Dieser Staat soll verschwinden. Sie wollen nicht mehr auf Reformen und einen Neuanfang warten, sie wollen nur noch weg, am besten in den Westen. Auch Scheunert überlegt, die DDR zu verlassen, doch das will er seiner jungen Familie nicht zumuten. Er vertraut darauf, dass er in einem reformierten Staat eine Rolle spielen kann, er hat das nötige Wissen und die richtige Ausbildung.
Doch seit dem Mauerfall verliert seine Partei Tag für Tag an Macht. Die Menschen haben keine Angst mehr von dem Apparat. Bei Rostock entdecken Bürger am 2. Dezember eine Lagerhalle der KoKo-Firma IMES.5 Sie stürmen die Halle. Sie ist voller Waffen, Munitionskisten, Sprengstoff. Hat die DDR etwa mit Waffen gehandelt? In wessen Auftrag? Wer in der SED wusste davon?
Scheunert wurde in der Armee wie in der Partei stets mit ein und derselben Frage diszipliniert: »Bist du gegen den Frieden?« Die DDR, das war das Bollwerk gegen den Faschismus, gegen die Kalten Krieger aus Bonn und Washington. Die Nationale Volksarmee (NVA) war eine Friedensarmee. Man war arm, ja, aber stand man nicht auf der richtigen Seite? Auf der des Friedens? Und jetzt das: Der Staat handelt im großen Stil mit Waffen. Der Name Schalck fällt. Er ist der Drahtzieher, heißt es. Entsetzen in der DDR. Wenige Stunden nach dem Sturm auf das Waffenlager setzt sich Schalck nach West-Berlin ab. Die Grenzer an der Invalidenstraße halten sein Auto nicht auf und lassen ihn passieren.
Die Mauer ist weg, der Consiliere der DDR, Oberst Alexander Schalck-Golodkowski, auch. Zurück bleiben ein verunsicherter Staatsapparat und Scheunert mit seiner Familie. Ein Kollege fragt: »Und, haust du auch ab? Denk darüber nach!« Doch er wüsste nicht warum. Er hat nichts zu verbergen, glaubt er.
Die Bürgerrechtler, die 1989 die Macht der SED gebrochen haben, zerstreiten sich über ihre nächsten Schritte. Ihre Vertreter werden in Leipzig ausgepfiffen. Die Menschen skandieren: »Wir sind ein Volk«, nicht mehr »Wir sind das Volk«.
Die kleine Welt der DDR gerät aus den Fugen. Polnische Händler strömen nach Ost-Berlin und verkaufen dort Westwaren. Ostdeutsche bringen ihr Geld nach West-Berlin oder arbeiten dort schwarz. Westdeutsche lassen sich quasi umsonst im Osten die Haare schneiden, Ostkunden werden nicht mehr bedient, weil sie kein Westgeld haben, die Kombinate werden von den eigenen Mitarbeitern geplündert. Der neue Ministerpräsident der DDR, Hans Modrow, besucht die Elektro-Apparate-Werke in Teltow, wo einst Schalck gelernt hat. Er sagt, die DDR-Regierung würde es nicht dulden, dass die Waren von hier aus in den Westen geschmuggelt und dort verramscht würden. Man werde durchgreifen. Aber die alte Angst vor dem Staat ist verflogen. Die Menschen schmuggeln und verhökern Ostware, wie es bis vor kurzem Schalck im Auftrag der SED getan hat.
Einen Tag nachdem sich der KoKo-Chef Schalck abgesetzt hat, wird in einem Hinterhof des Bürohauses am Alexanderplatz 3 ein Mann von Protestlern gestellt. In dem Büroriegel gegenüber vom »Hotel Stadt Berlin« ist das Ministerium für Elektrotechnik und Elektronik untergebracht. Ein Arm des Staatsapparats, mit dessen Unterstützung Schalck Waren in die DDR schmuggelte. In dem Haus sind viele Mitarbeiter untergebracht, alle gehören zur Hauptabteilung XVIII/VIII des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Diese ist offiziell für den »Schutz der DDR-Volkswirtschaft« verantwortlich. Sie vor allem brachte die Embargoware der KoKo in die DDR. Leiter der Abteilung ist Oberst Artur Wenzel. Er schleppt am späten Abend mehrere Koffer zu seinem Auto. Doch am Hinterausgang schieben Bürgerrechtler Wache. Sie kontrollieren das Gepäck und finden über 700 000 Mark West, zwei Goldbarren und 150 000 Ostmark. Herbeigeeilte Volkspolizisten können den Oberst nur mühsam aus den Händen der Bürgerrechtler befreien.
Am Morgen des 6. Dezember 1989 wird Artur Wenzel tot in seiner Zelle aufgefunden, erhängt am Fenstergitter.
Wenzels Stellvertreter Willi Koch setzt sich daraufhin in den Westen ab und nimmt Kontakt zum BND auf. Geld hat er nicht im Gepäck, aber Akten und Disketten, auf denen die wichtigsten Aktionen seiner Abteilung im Ausland gespeichert sind. Zudem die Namen von 13 000 Personen, die mit der Abteilung zusammengearbeitet und Embargogüter für die DDR organisiert haben. Nur Koch war auf die Idee gekommen, den Kofferraum von Wenzels Lada zu durchsuchen, der hinter dem Ministerium am Alexanderplatz geparkt war. Dort findet er das Material und sagt wenig später umfassend beim BND aus.
Sieben Monate später, im Sommer 1990, werden westdeutsche Manager ihre Autos auf demselben Parkplatz abstellen. Denn dann wird die Treuhandanstalt in das Haus der Elektrotechnik einziehen und am Alexanderplatz ihre Arbeit aufnehmen. Detlef Scheunert wird hier als einziger Ostdeutscher direkt beim Vorstand arbeiten. Ende 1989 hofft er auf ein freies Leben, auf einen Neuanfang. Der Kollaps der DDR macht ihm keine Angst. Er ist jung, kennt sich aus, hat Einblicke, man wird ihn brauchen, auch in einem neuen Staat.
Dass sich zu viele Männer mit Koffern in den Westen abgesetzt haben, weiß Scheunert nicht.
Auch Schalck bringt Koffer voller Informationen über den Westen mit in den Westen. Zurück lässt er seine wichtigste Mitarbeiterin, Waltraud »Traudl« Lisowski, die wie Scheunert bald für die Treuhandanstalt arbeiten und die DDR-Wirtschaft »privatisieren« wird.
Einen Neuanfang für die beiden deutschen Staaten kann es nicht geben, die Geschichte geht einfach über den Bruch hinweg. Die alten Schulden, die Verpflichtungen und die Verstrickungen bleiben. Im neuen Jahr, dem Schicksalsjahr 1990, werden sie auch das neue Deutschland prägen. Eine Stunde null gibt es nicht. Die alte Macht wird von neuen Mächten abgelöst. Ein Verteilungskampf hat begonnen, obwohl das alte Regime noch nicht vollständig abgetreten ist.
Natürlich sitzen die [westdeutschen Unternehmen] wie die Falken auf den Mauerzinnen, um sich auf die Beute zu stürzen. Marktwirtschaft erst einmal in Gang zu bringen heißt aber auch, daß man die Beutejäger ein bißchen gewähren läßt.
WOLFGANG KARTTE Chef des Bundeskartellamts
Ihr seid auf mich angewiesen, denn ich bin reich und ihr seid arm. Schließen wir also ein Abkommen miteinander. Ich werde euch die Ehre gewähren, mir gefällig zu sein, unter der Bedingung, daß ihr mir das wenige gebt, was euch bleibt, für die Mühe, die ich auf mich nehme, um euch zu befehlen.
JACQUES ROUSSEAU Politische Ökonomie (1755)
Das Ende der DDR wird an einem Vormittag fast beiläufig im Moskauer Kreml verkündet. Der DDR-Ministerpräsident Hans Modrow, seit November 1989 im Amt, besucht an diesem Dienstag den sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow. Der küsst und umarmt Modrow vor laufenden Kameras herzlich. Dann antwortet er noch vor dem offiziellen Gespräch mit Modrow auf die Frage eines Journalisten zur Lage im geteilten Deutschland: »Niemand stellt die deutsche Einheit prinzipiell in Frage.«
Eine Sensation. Auch Hans Modrow ahnt, was der Satz bedeuten könnte: das schnelle Ende seines Staates, der DDR. Auf einer Pressekonferenz bemerkt er später an diesem Tag: »Niemand soll davon ausgehen, dass es sozusagen hier um eine Erscheinung geht, die einfach nur das Aufnehmen des Einen zum Anderen [bedeutet].«
Gorbatschow hatte schon bei seinem Besuch in Ost-Berlin im Oktober 1989 den Eindruck vermittelt, als wolle er die DDR nur noch loswerden. Vor der Neuen Wache war er spontan auf westliche Reporter am Straßenrand zugegangen und hatte gesagt: »Ich bin sicher, dass das Volk [hier] selbst bestimmen wird, was in seinem eigenen Land notwendig ist.« Auf die Frage, ob er die Situation der DDR als gefährlich einschätze, antwortete er: »Ich denke nicht. Mit unseren Schwierigkeiten kann man das gar nicht vergleichen. Uns kann man schon mit nichts mehr in Erstaunen versetzen. Wir sind da schon gestählt. Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren.«1
Dass der Kremlchef die DDR nun, vier Monate später, freigibt, kann diejenigen, die schon damals genau hingehört haben, nicht mehr überraschen. Angst hatte die westdeutsche Regierung während der letzten Monate nur noch vor den sowjetischen Truppen im Ostteil Deutschlands gehabt, dagegen schon lange nicht mehr vor dem SED-Regime. Dennoch äußert sich die Bundesregierung an diesem Tag nicht offiziell – kein Triumphgeschrei, nicht einmal eine Stellungnahme für die »Tagesschau«. Die Bundesregierung ist überrumpelt und macht den Eindruck, als stünde sie unter Schock. Am Tag des Modrow-Besuchs in Moskau lädt Bundesfinanzminister Theo Waigel von der CSU die Währungsexperten seines Ministeriums zu einer Tagung in die bayerische Landesvertretung in Bonn ein. Das Thema: die verfassungsrechtlichen Aspekte und Kosten einer möglichen Wiedervereinigung. Waigel hat seinem Staatssekretär Horst Köhler bereits vor drei Wochen den Auftrag erteilt, mit den Planungen einer Währungsunion zu beginnen.2 Die Ministerialen verfolgen während ihrer Klausur die Nachrichten aus Moskau und begreifen: Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, die Gedankenspiele in die Tat umzusetzen. Am Abend ruft Köhler einen seiner Abteilungsleiter an, den 44-jährigen Thilo Sarrazin. Köhler erklärt ihm, dass er ab sofort eine Arbeitsgruppe leite, die das Angebot einer Währungsunion so schnell wie möglich konkretisieren soll. Der Kanzler wisse Bescheid und wolle, dass der Plan umgesetzt wird.
Öffentlich hat das Bundesfinanzministerium bis dahin immer ausgeschlossen, dass die westdeutsche D-Mark in naher Zukunft offizielles Zahlungsmittel in Ostdeutschland sein wird. Köhler hatte Sarrazin zwar schon vor Wochen aufgetragen, die Einführung der D-Mark in der DDR gedanklich durchzuspielen, ihm aber gleichzeitig eingeschärft, dabei keine »Papierspur zu hinterlassen«, das sei »viel zu gefährlich«; es dürfe auf keinen Fall der Eindruck entstehen, dass man der politischen Einheit mit einer Währungsunion zuvorkommen will.3 Erst am Vortag hat Sarrazin den ersten offiziellen Vermerk über eine mögliche Währungsunion an seine Vorgesetzten weitergereicht. Dieses Konzept, vierzehn Seiten lang, macht seitdem in der Regierung die Runde.
Hinter verschlossenen Türen denkt man im Finanzministerium tatsächlich seit dem Fall der Mauer über eine gemeinsame Währung nach. Schon im Dezember kommt es zu Geheimtreffen zwischen Horst Köhler und DDR-Politikern, die dem Staatssekretär offenbarten, dass die DDR 40 Milliarden D-Mark Auslandsschulden hat. Von da an ist Köhler auf der Suche nach Konzepten und einer Strategie, mit der diese Krise gelöst oder gar genutzt werden kann. Einer seiner wichtigsten Vordenker wird der drei Monate vor Ende des Zweiten Weltkriegs im ostdeutschen Gera geborene Thilo Sarrazin. Der studierte Volkswirt arbeitete in verschiedenen Bonner Ministerien, bis er unter der Regierung Schmidt 1975 ins Bundesministerium der Finanzen berufen wird. Einige Jahre wird er zum Internationalen Währungsfonds in Washington abgeordnet, kehrt dann aber zurück ins Finanzministerium. Obwohl er ein eingefleischtes SPD-Mitglied ist, übersteht er den Machtwechsel 1982. Anfang 1990 leitet er das Büro »Nationale Währungsfragen« der Abteilung »Geld und Kredite«. Mit dem Mauerfall wird dieses Referat förmlich über Nacht zu einem der wichtigsten im Finanzministerium und Sarrazin zum DDR-Experten.
Das Thema DDR beschäftigt Sarrazin seit dem Studium. Hin und wieder hält er sich zu Verwandtenbesuchen dort auf. 1971 wird sein Onkel nach einem solchen Zusammentreffen in Rostock verhaftet. Fortan bleibt Sarrazin der DDR fern, liest sich sein Wissen über den Osten nun aus Büchern an. Bereits Ende 1989, wenige Wochen nach dem Mauerfall, hält er in einem Vermerk fest, dass er eine Währungsunion mittelfristig für unumgänglich hält.4 Das Hauptproblem seien die DDR-Übersiedler. Als Familie können sie im Westen bis zu 1000 D-Mark an Sozialhilfe bekommen – das sind umgerechnet, je nach aktuellem Kurs, bis zu 7000 Ostmark. Warum sollten Ostdeutsche unter diesen Voraussetzungen in der DDR bleiben und dort weiter für viel weniger Geld arbeiten, fragt Sarrazin in seinem Papier.
Seit Anfang 1990 tauchen hin und wieder Delegationen aus dem ostdeutschen Finanzministerium bei Krisensitzungen in Bonn auf. Sarrazin ist bei diesen Treffen fast immer dabei. Der erste offizielle Besuch der Kollegen aus Ostdeutschland am 12. Januar ist für ihn ein Schock. Aus den Ausführungen der Beamten schließt er, dass die DDR kein funktionierendes Steuersystem hat. Keine Finanzämter, kaum Finanzbeamte. Der ostdeutsche Staat versuchte sich hauptsächlich durch Unternehmenssteuern zu finanzieren: Macht ein Kombinat, ein Volkseigener Betrieb oder eine Fabrik Gewinn, schöpft der Staat diesen komplett ab. Wollen die Unternehmen investieren, müssen sie Kredite aufnehmen, also Schulden machen. Rücklagen können sie so nicht bilden. Die Bürger entrichten dagegen nur sehr geringe Steuern, tragen also kaum zum Staatshaushalt bei. Es gibt keine brauchbare Steuerverwaltung und kein nennenswertes Steuerrecht in der DDR, konstatiert Sarrazin.5
Genaue Daten bekommt er von den Kollegen aus der DDR noch nicht, aber er errechnet aufgrund seiner aktuellen Informationen, dass der Kapitalstock der DDR »veraltet ist« und den Unternehmen 1,45 Billionen D-Mark an Kapital fehlen, weil seit dem Krieg kaum in die Industrie investiert werden konnte.6 Unternehmen mit riesigem Investitionsbedarf, dazu kaum Steuereinnahmen und kein funktionierendes Steuersystem – das wäre nach seiner Einschätzung die Ausgangslage für die Währungsunion.
Das Experiment würde teuer werden, aber Sarrazins Analyse bedeutet auch, dass Bonn am längeren Hebel sitzt und mit der D-Mark ein sehr effektives politisches Instrument einsetzen kann. Am 29. Januar prognostiziert der Volkswirt in seinem internen Vermerk, dass die Währungsunion bereits zum 1. Januar 1991 kommen könne, man müsse dafür aber bei der DDR-Regierung eine Bedingung unbedingt durchsetzen: »Die D-Mark kann nur im Austausch gegen einen vollständigen Systemtransfer hingegeben werden.«7
Sarrazin kalkuliert, dass sich die Bundesregierung eine Umstellung der Währung zu einem Kurs von 1 zu 1, was das Bargeld betrifft, leisten könne. Er rechnet bei einer Umstellung des Systems der DDR auch mit einer großen Zahl von Arbeitslosen – 1,4 Millionen Arbeitslose würden zunächst ungefähr 10 Milliarden D-Mark an Arbeitslosenunterstützung kosten. Die »Freisetzungen« nach den zu erwartenden Unternehmenszusammenbrüchen werden groß, »aber letztlich doch begrenzt sein«, vermutet er.8 Im nächsten Schritt müsse man der DDR-Regierung allerdings klarmachen, dass umfassende Reformen vonnöten sind. Später kann man den Ostdeutschen dann die Bedingungen für die Einheit diktieren, so der Tenor zwischen den Zeilen der Sarrazin-Vermerke aus dem Ministerium.
Der westdeutsche Verleger Dieter von Holtzbrinck und sein Blatt »Wirtschaftswoche« laden zu einem »deutsch-deutschen Wirtschaftsdialog«. Im »Palast-Hotel«, direkt gegenüber vom Berliner Dom an der Spree, geht es um die Zukunft der DDR-Wirtschaft.9
Auf dem Podium sitzen die neue DDR-Wirtschaftsministerin Christa Luft, Generaldirektoren von großen ostdeutschen Kombinaten und Oppositionspolitiker wie der Rechtsanwalt Wolfgang Schnur vom Demokratischen Aufbruch. Sie diskutieren mit westdeutschen Konzernführern, unter ihnen Dieter Spethmann, der Thyssen-Chef, Herbert Zapp, seit 1977 im Vorstand der Deutschen Bank, und Detlev Karsten Rohwedder, Vorstandsvorsitzender des Stahlkonzerns Hoesch. Rohwedder hat wenige Tage zuvor in einem Interview über die Wirtschaft in der DDR gesagt: »Wir sind in den Startlöchern. Es gibt kaum ein großes Unternehmen, in dem sich nicht ganze Stäbe damit befassen.«10 600 Manager, Industrielle und Wirtschaftswissenschaftler aus dem Westen verfolgen die Diskussion im »Palast-Hotel«. Die Situation der DDR-Wirtschaft verschlechtert sich fast täglich. Arbeitskräfte wandern seit der Maueröffnung in den Westen ab, zudem hat die Sowjetunion vor gut zwei Wochen dem Ostblock die wirtschaftliche Grundlage entzogen.
Die sozialistischen Staaten in Europa sind seit 1949 in einem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) zusammengeschlossen. Im RGW organisieren die Mitglieder, wer welche Ware zu liefern hat und was die Staaten jeweils im Gegenzug dafür bekommen sollen. Um zu verhindern, dass alle das Gleiche produzieren, versucht der Rat durchzusetzen, dass sich jedes Mitglied auf bestimmte Produkte spezialisiert.11
Doch nun hat die Sowjetunion bei einem RGW-Treffen in Sofia drei Wochen zuvor die Grundlage des Rates aufgekündigt: In Zukunft sollen die Mitglieder für das sowjetische Erdöl zahlen, und zwar in US-Dollar, nicht in Ostmark oder Transferrubel. Das bedeutet de facto das Ende des Tauschhandels und der Planwirtschaft. Diese Entscheidung der sowjetischen Führung setzt die DDR-Regierung enorm unter Druck. Ihr fehlen die Devisen, um das Erdöl zu bezahlen. Eine Zeit lang hatte die DDR-Regierung das Erdöl aus der Sowjetunion ja sogar an den Westen verkauft, um Devisen einzunehmen. Diese Quelle ist nun versiegt. Die DDR braucht Hilfe und neue Partner.
Christa Luft verspricht im »Palast-Hotel« Reformen mit dem Ziel, eine soziale und ökologisch ausgerichtete Marktwirtschaft in der DDR zu etablieren, schränkt aber sofort ein: »Marktwirtschaft ja, aber bei Dominanz gesellschaftlichen Eigentums.«12 Die Gewerbefreiheit bliebe darüber hinaus eingeschränkt. Westdeutsche Unternehmen dürften sich an ostdeutschen Firmen beteiligen, aber in der Regel nicht mehr als 49 Prozent der Anteile erwerben. Doch »selbst wohlwollende Zuhörer … hören kaum noch hin«, schreibt die »Wirtschaftswoche«. Einige Zuschauer aus dem Westen lachen, schreien, buhen und pfeifen.13
Der Hoesch-Chef Rohwedder geht danach »aufs Ganze« und macht klar, dass das Privateigentum im Zentrum der neuen Wirtschaftsordnung stehen müsse: »Ich glaube, dass es in dieser Frage keine Kompromisse geben kann.«14
Die Ostdeutschen auf dem Podium erwidern, dass doch die Effizienz wichtiger sei als die Eigentumsform. Solche Aussagen erwecken bei westdeutschen Beobachtern den Eindruck, dass die Wirtschaftsministerin und die Oppositionspolitiker auf dem Podium überfordert sind. Sie scheinen keine genauen Vorstellungen davon zu haben, wie sich die DDR aus der wirtschaftlichen Krise herausarbeiten kann. Luft wirke nach einem Vierteljahr im Amt »müde und verbraucht«, bemerken sie, zu kraftlos für echte Reformen, die sie seit ihrem Amtsantritt immer wieder versprochen hatte. Angeblich kämpft sie auf dem Podium mit den Tränen, nachdem sie heftig von Rohwedder und Spethmann kritisiert worden ist.15
Der Generaldirektor des VEB Möbelkombinats Berlin, Henri Berger, räumt ein, dass er noch kein Manager sei, aber er wolle es werden; die Bundesrepublik sei zur Hilfe verpflichtet, sagt er. Von einer Verpflichtung will der Thyssen-Chef Spethmann indes nichts wissen: »Investitionen müssen sich rechnen, so einfach ist das.«16
Nach der Diskussion hört ein Reporter, wie ein westdeutscher Gast am Buffet im Flur des »Palast-Hotels« bei einem Glas Weißwein und Cocktailhäppchen sagt, in der DDR müsse erst die gesamte Wirtschaft kaputtgemacht und »wie bei uns« danach wieder neu aufgebaut werden.17
Das Schweigen der Bundesrepublik seit der Ankündigung von Michail Gorbatschow, die Deutschen sich selbst zu überlassen, nutzt der DDR-Ministerpräsident Hans Modrow. Er stellt zwei Tage nach seiner Rückkehr aus Moskau der Presse einen Plan vor, an dessen Ende die deutsche Wiedervereinigung stehen soll – Titel: »Für Deutschland einig Vaterland«.
Selbst Zeitungen aus dem Axel-Springer-Verlag sind begeistert. Die Schlagzeile der »Bild«-Zeitung am nächsten Tag lautet: »Beschlossen: Deutschland! 1. Schritt: DDR bekommt fünf neue Bundesländer. 2. Schritt: Gemeinsame Deutsche Mark«.18 Allein auf der Neutralität Deutschlands beharrt Modrow weiterhin, was Bundeskanzler Helmut Kohl umgehend moniert. Ansonsten äußert sich der Bundeskanzler nicht zu dem Plan.
Das Vorpreschen Modrows macht die Berater von Helmut Kohl tatsächlich sehr nervös. Am 2. Februar wird im Bundeskanzleramt ein Papier erarbeitet, das dem Kanzler klarmacht: Er muss jetzt reagieren. »Inzwischen ist eine Situation eingetreten«, heißt es da, »in der Zurückhaltung von unserer Seite eher negative Auswirkungen haben dürfte. Insofern empfehlen wir, dass Sie sich – wie seinerzeit schon beim Zehn-Punkte-Programm – wieder ›an die Spitze der Bewegung‹ setzen … Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass wir uns von der deutschlandpolitischen Entwicklung ›überrollen‹ lassen … Auch für unsere künftigen Partner in der DDR ist es von wahlentscheidender Bedeutung, ihrer eigenen Wählerschaft möglichst bald ein griffiges, allgemein verständliches Konzept für einen raschen Neuaufbau der DDR-Wirtschaft präsentieren zu können … Unser Ziel sollte es sein, dass sie bereits im angelaufenen DDR-Wahlkampf auftreten können mit der ebenso einfachen wie durchschlagenden Aussage: ›Dieses Konzept wollen wir sofort nach dem 18. März gemeinsam mit Helmut Kohl in die Tat umsetzen.‹« Dann zitieren die Berater Ludwig Erhard, dessen Strategie vom September 1953 kopiert werden soll – inklusive Währungsunion: »›Als erste Maßnahme wird sich eine Währungsneuordnung in der Sowjetzone, d.h. eine Einbeziehung in unser Währungssystem, als unerläßlich erweisen.‹ … Es ist schon bemerkenswert, dass sich die hiesige SPD erbschleicherisch auf genau diesen Satz beruft, um ihr eigenes Konzept zu legitimieren. Eine Kopie der Erhard-Rede, die von ihrer Aktualität nur wenig eingebüßt hat, ist zu Ihrer Information beigefügt. Man könnte sie als ›Steinbruch‹ für Ihre eigenen Reden verwenden.«19
Einen Tag später reist der Bundeskanzler zum Wirtschaftsforum nach Davos. Nach einem Gespräch mit dem Ministerpräsidenten Modrow am Rande des Treffens verkündet Helmut Kohl, die DDR brauche rasche Wirtschaftshilfe, und zwar noch vor der Wahl am 18. März, da nur so der »Übersiedlerstrom« gestoppt werden könne. Über den Deutschland-Plan von Hans Modrow habe man nicht gesprochen.20 Von den konkreten Planungen für eine Währungsunion sagt Kohl Modrow nichts.
Am nächsten Tag gibt Bundesfinanzminister Theo Waigel dem »Süddeutschen Rundfunk« ein Interview. Darin sagt er: »Wenn man eine währungspolitische Neuordnung in der DDR auf einen Schlag verwirklichen möchte, dann könnte nur die Einführung der DM in der DDR in Frage kommen.« 21 Ein Testballon. Zum ersten Mal befürwortet ein Mitglied der Regierung offen eine baldige Währungsunion. Waigel hatte sieben Tage zuvor noch das genaue Gegenteil gesagt: Eine Währungsunion komme viel zu früh und würde die Stabilität der D-Mark gefährden. Diese Einschätzung ist nun, eine Woche später, bereits Geschichte.22
Am folgenden Tag ist Helmut Kohl in Berlin. Am Abend trifft er sich mit Vertretern der Ost-CDU, des Demokratischen Aufbruchs und der Deutsche Sozialen Union im Gästehaus der Bundesregierung in Dahlem. Die drei Parteien vereinbaren, gemeinsam als konservatives Bündnis »Allianz für Deutschland« in den DDR-Wahlkampf zu ziehen. Die CDU-West, die lange nach einem Partner gesucht hatte, den sie bei den Volkskammerwahlen in der DDR unterstützen könnte, hat ihn nun gefunden.
Jetzt braucht die »Allianz« noch »die durchschlagende Aussage«, wie die Vordenker im Bundeskanzleramt gefordert haben. Einer der wichtigsten Berater von Helmut Kohl, Horst Teltschik, telefoniert am Morgen mit Gerhard Mayer-Vorfelder, Landesminister in Baden-Württemberg für Kultur und Sport. Dabei verrät der Minister dem überraschten Teltschik, dass sein Ministerpräsident Lothar Späth in einer Regierungserklärung am folgenden Tag die Währungsunion fordern wolle. Kohl reagierte »etwas gereizt« auf Späths Vorpreschen, wie Teltschik festhält – der Baden-Württemberger hatte ihn im Jahr zuvor noch stürzen wollen. Teltschik, Kanzleramtsminister Rudolf Seiters und Kohl entscheiden daraufhin: Die Ankündigung der Währungsunion vor der Moskau-Reise des Kanzlers am Wochenende könne man riskieren, Kohl solle die Währungsunion fordern und dies nicht dem Ministerpräsidenten aus Baden-Württemberg überlassen.23
So überrascht Helmut Kohl die CDU-Bundestagsfraktion in Bonn an diesem Nachmittag, indem er erklärt, was er in Davos mit »sofortige Wirtschaftshilfe für die DDR« wirklich gemeint hat: »Ich glaube, wir müssen jetzt an die DDR herantreten und einfach sagen, daß wir bereit sind, mit ihr unverzüglich in Verhandlungen über eine Währungs- und Wirtschaftsunion einzutreten.«24 Das ist kein Testballon, sondern ein faktisches Angebot. Und eine sensationelle Nachricht. Der Kanzler überrumpelt damit viele seiner eigenen Minister und brüskiert die Bundesbank, die von Kohls Schritt und den Strategiespielen Sarrazins im Finanzministerium nichts weiß.
Der Bundesbankchef Karl Otto Pöhl hält die Währungsunion zu diesem Zeitpunkt für volkswirtschaftlichen Wahnsinn. Er wird am selben Tag von Reportern nach einem Treffen mit dem DDR-Staatsbank-Chef gefragt, ob eine Währungsunion denkbar wäre: »Kommt überhaupt nicht infrage, ausgeschlossen!« , antwortet Pöhl und warnt davor, »die Wiedervereinigung mit der Notenpresse zu finanzieren«.25
Den konservativen Parteien in der DDR werden in Umfragen weniger als 10 Prozent der Stimmen prognostiziert, der SPD dagegen eine absolute Mehrheit. Der Runde Tisch hatte am Tag zuvor die westdeutschen Parteien gebeten, sich aus der Volkskammerwahl herauszuhalten.26
Doch nun wird die Währungsunion Tagesgespräch, die Pläne Modrows für die Einheit rücken in den Hintergrund. Die entscheidenden Tage im Kampf um die Zukunft der DDR sind angebrochen, die D-Mark ist in Stellung gebracht, die Waffe mit der größten politischen Durchschlagskraft. Eine Woche später taucht auf der Montagsdemonstration in Leipzig ein Plakat auf mit der Aufschrift: »Kommt die D-Mark bleiben wir / Kommt sie nicht geh’n wir zu ihr!« Damit ist entschieden, in welche Richtung sich die Dinge entwickeln werden. Tatsächlich hat die Bundesregierung der DDR die D-Mark angeboten, bevor sie in Ostdeutschland nachdrücklich auf der Straße gefordert wurde.
In der Öffentlichkeit betonen konservative Politiker die existenziellen wirtschaftlichen Schwierigkeiten der DDR. Am offensivsten äußert sich Lothar Späth, Präsidiumsmitglied der CDU, in einem Zeitungsinterview am Tag vor der Reise des Kanzlers nach Moskau.
»SPÄTH: Die Währungsunion hat überhaupt nur Sinn, wenn sie gleichzeitig mit der Wirtschaftsgemeinschaft verwirklicht wird. Das heißt, daß die DDR alle unsere maßgeblichen Wirtschafts- und Eigentumsgesetze übernimmt …
Stuttgarter Zeitung: Das heißt, daß Sie die bedingungslose wirtschaftliche Kapitulation der DDR einfordern.
SPÄTH: Ich sage mal ganz brutal: ja.«27
Die Festung DDR wird über die Presse sturmreif geschossen. Gegen Mittag desselben Tages lädt Horst Teltschik die wichtigsten Hauptstadtjournalisten zu einem Hintergrundgespräch ins Kanzleramt. So hält es der wichtigste außenpolitische Berater Helmut Kohls vor jeder großen Reise des Kanzlers. Die Journalisten dürfen ihn zitieren, jedoch nicht namentlich nennen.
Teltschik erklärt den Pressevertretern, um was es in Moskau gehen wird: »Im Mittelpunkt werde die Lage und Entwicklung in der DDR stehen. Die Dramatik der dortigen Ereignisse werde im Ausland, so auch in der Sowjetunion, aus unserer Sicht noch immer nicht in ihrer vollen Dimension erkannt. Es gehe jetzt darum, das drohende Chaos, das auch Gorbatschow immer befürchtet habe, zu verhindern.«28
Dann wird Teltschik gefragt: Was heißt eigentlich »dramatische Ereignisse« in diesem Zusammenhang?
Teltschik erklärt, was die Bundesregierung befürchtet: »Erstens den drastischen Verfall jeder staatlichen Autorität in der DDR; Entscheidungen der Modrow-Regierung würden immer seltener exekutiert. Zweitens den drohenden wirtschaftlichen Kollaps; es zeichne sich ab, daß die DDR in wenigen Tagen völlig zahlungsunfähig sein und erhebliche Stabilitätshilfen benötigen werde. Drittens die Übersiedlerzahlen, die im Februar erneut höher sein würden als im Januar; in der DDR-Führung gebe es Stimmen, die bereits daran zweifelten, ob die Wahlen im März noch erreicht werden könnten.« 29 Selbst Ministerpräsident Modrow habe Kohl auf dem Wirtschaftsgipfel in Davos vor kurzem gesagt, es könne sein, dass die DDR sehr schnell »vor der Tür« der BRD stehe. Die Journalisten tragen diese Hintergrundinformationen in die Welt, ohne den Namen Teltschik zu nennen.30
Einen Tag später reist Helmut Kohl nach Moskau, um die ersten Details der Wiedervereinigung mit Gorbatschow zu verhandeln.31
Gerd Gebhardt verfolgt die politische Entwicklung besorgt. Am häufigsten tauscht er sich mit dem Chemiker Matthias Artzt aus, der ebenfalls die Arbeit der Forschungsgruppe wesentlich vorantreibt. Die beiden sind ein ungleiches Paar. Matthias Artzt, glatt rasiert, kurze Haare, die der Mode folgend im Nacken etwas länger sind, wirkt sehr viel jünger als Gerd Gebhardt mit seiner Halbglatze. Gebhardt trägt einen langen Bart, ist stämmiger als Artzt und um einiges impulsiver. Er denkt schnell und spricht noch schneller, so als könne er seine Gedanken der Welt gar nicht schnell genug mitteilen. Artzt dagegen ist ein eher bedächtiger Typ, der langsam redet und noch im Sprechen nach besseren Formulierung zu suchen scheint. Wie unterschiedlich ihre Charaktere auch immer sein mögen, beide verfügen über die Beharrlichkeit und die Ausdauer, die nötig sind, um über Probleme gründlich nachzudenken. Sie haben die Dynamik, die jetzt einsetzt, schon Ende des letzten Jahres vorausgesehen. In einem Papier für die große Demonstration am 4. November 1989 in Ost-Berlin schrieben sie damals: »Herzchirurgie bei offenen Adern ist aussichtslos. Insofern wird über die historische Perspektive der DDR durch das potente Nachbarsubjekt BRD entschieden werden: Es allein könnte den ›Blutverlust‹ kompensieren durch geeignete ›Tropf-Transfusionen‹. Andernfalls hätte es sich desavouiert: die Durchführung der ›Operation‹ vereitelt, die Weichen auf eine schlichte, irreversible Kolonisierung gestellt. Statt von Wieder- oder nationaler Neuvereinigung, würde die Geschichtsschreibung einst von ›Vereinnahmung‹ in der vom Volk in der DDR unverschuldeten Stunde der Schwäche sprechen müssen!«32
All das droht einzutreten.
An diesem Freitagabend wird die »Tagesschau« mit der Meldung vom bevorstehenden Bankrott der DDR eröffnet. Doch nicht dieser erste Bericht veranlasst Artzt und Gebhardt zu handeln, sondern eine kurze Stellungnahme des US-Außenministers James Baker. Baker sagt am Rande des Treffens bei Gorbatschow: Es ginge jetzt auch darum, dass ein vereintes Deutschland in die NATO komme.33 Artzt und Gebhardt beschließen daraufhin, umgehend zu handeln. Ihren Staat, die DDR, wird es in wenigen Monaten nicht mehr geben, da sind sie sich nun sicher, denn selbst der Erzfeind aus dem Kalten Krieg traut sich inzwischen in Moskau das Maximale zu fordern: die NATO-Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands. Die Sowjetunion schreckt niemanden mehr ab und kann die schnelle Wiedervereinigung nicht mehr aufhalten.
Der Think Tank, dem Artzt und Gebhardt angehören, hat seit dem Treffen im Oktober immer wieder die politische Entwicklung diskutiert. Im Winter treffen sich die Forscher meist in Berlin-Mitte bei Matthias Artzt in der Chausseestraße 107.
Die hohen Wände in Artzts Studierzimmer sind vollgestellt mit Bücherregalen und Vitrinen, neben den Schreibtisch ist ein geblümtes Sofa gezwängt, dazu ein Tisch, an dem die Forscher die Zukunft der DDR diskutieren. Um sie herum bricht das SED-Regime Stück für Stück zusammen. Staatsratschef Erich Honecker muss zurücktreten und wird schließlich sogar verhaftet. Sein Nachfolger Egon Krenz kann sich nur kurze Zeit halten. Stasi-Zentralen werden gestürmt, ein »Zentraler Runder Tisch« eingerichtet, freie Wahlen versprochen. Die SED nennt sich nun PDS.
Für die Freie Forschungsgruppe ist das nicht genug. Die Wissenschaftler haben ein schwerwiegendes und bislang weithin verkanntes Problem ausgemacht, das mit dem möglichen Einmarsch der »D-Mark-Armee« zusammenhängt: die ungeklärte Rolle des Eigentums in der DDR.
Offiziell gibt es in der DDR das »Volkseigentum« – alle Geschäfte, Fabriken und fast alle landwirtschaftlichen Betriebe gehören dem Namen nach dem Volk: Es sind »Volkseigene Betriebe«, kurz VEBs. Doch es gibt keinen Anteilsschein, der den Besitz des einzelnen Bürgers belegen würde, kein Papier, mit dem er oder sie zu einer Bank gehen könnte, um etwa einen Kredit abzusichern. Der Begriff ist vor allem Propaganda, ein Kampfbegriff. Das Volkseigentum ist letztlich Eigentum des Staates DDR. Die SED und die Massenorganisationen haben einiges an Besitztümern, belegt durch Eigentumsurkunden, doch die Betriebe und Fabriken drohen in der Übergangsphase bis zur deutschen Einheit herrenloses Eigentum zu werden. Das ist das eine Problem. Ein weiteres würde mit der Wiedervereinigung auftreten. Die Bundesrepublik Deutschland kennt nämlich kein Volkseigentum. Was würde dann aus diesem Eigentum werden, wem würde es nach einer Wiedervereinigung gehören?
Artzt und Gebhardt denken noch weiter: Wenn die Marktwirtschaft in der DDR eingeführt wird, wie können sich dann die DDR-Bürger ohne Kapital an dem neuen Wirtschaftssystem beteiligen? Kapitalismus ohne Kapital – wie soll das funktionieren? Wie sollen sie Eigentümer werden? Woher soll das Startkapital für das neue Deutschland kommen? Fragen über Fragen.
Die beiden Wissenschaftler registrieren, dass diese rechtlose Situation schon Konsequenzen hat und sich viele Kader auf ihre ganz eigene Weise auf den Kapitalismus vorbereiten: Die Betriebsleiter, quasi die Geschäftsführer der Volkseigenen Betriebe, schließen bereits eigenmächtig Verträge mit westlichen Firmen ab. Bis zu 49 Prozent der Betriebe können sie aufgrund eines neuen Joint-Venture-Gesetzes schon seit Januar verkaufen.34 Nur wo bleibt dabei das Volk? Wer kontrolliert, ob bei den Verkäufen alles mit rechten Dingen zugeht? Ausgerechnet die alten Kader?
Die Gruppe hat sich inzwischen offiziell als Verein eintragen lassen. Ein befreundeter westdeutscher Anwalt erklärt bei dieser Gelegenheit, was passiert, wenn der Verein sich auflöst. Dann fällt das Eigentum an den Staat, es sei denn, der Verein hat zuvor einen Nachlassverwalter bestimmt, der das Vereinseigentum nach der Auflösung verwaltet. Von diesen Bestimmungen geht die Gruppe fortan bei ihren Überlegungen aus. In den Augen der Forscher ist die DDR – quasi ein großer Verein – selbstständig und muss es auch bleiben. Nur dann können die Bürger – also die Vereinsmitglieder – auch weiterhin entscheiden, was mit dem Eigentum in Ostdeutschland geschehen soll.
Während Helmut Kohl in Moskau ist, verbringt Gerd Gebhardt das Wochenende in Babelsberg, wo er an einem kleinen Sekretär im ersten Stock seines Hauses die Gedanken des Think Tanks zusammenfasst. Gebhardt ist das einzige Mitglied der Gruppe, das einen Computer und einen Nadeldrucker besitzt. Also schreibt er den Entwurf, der die Einsetzung eines Nachlassverwalters für die DDR vorsieht. Am Montag soll das Gruppenmitglied Wolfgang Ullmann das Konzept bei den Verhandlungen am Runden Tisch durchbringen. Ullmann hat sich Ende Januar als Minister ohne Geschäftsbereich von Ministerpräsident Modrow in die Verantwortung nehmen lassen und damit der Forschergruppe einen direkten Zugang, wie man hofft, zur Macht verschafft.
Gebhardt druckt schließlich folgenden Text aus:
Vorschlag der umgehenden Bildung einer Treuhandgesellschaft (Holding) zur Wahrung der Anteilsrechte der Bürger mit DDR-Staatsbürgerschaft am »Volkseigentum« der DDR
Offenbar ist statt einer deutschen Fusionslösung eine baldige Angliederung der DDR an die Bundesrepublik Deutschland wahrscheinlich geworden. Damit 40 so schrecklich fehlgeleitete Lebensjahre voller Arbeit und Mühen für die Bürger der DDR nicht gänzlich ergebnislos bleiben, wird der o g. Vorschlag unterbreitet. Durch die sofortige Schaffung der o.g. Kapital-Holding-Treuhandgesellschaft als neues Rechts-Subjekt würde dafür Sorge getragen werden, daß das in Volksbesitz befindliche Eigentum – soweit es sich als demokratisch legitimiert bzw. durch Kriegsergebnisse zustandegekommen erweisen wird – in der DDR nicht herrenlos wird und einfach verloren geht (an wen mit welcher Berechtigung?).
Die Verlustgefahr resultiert daraus, daß die Rechtskonstruktion »Volkseigentum« nicht im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, dessen Geltungsbereich ja vermutlich auf das Territorium der DDR ausgedehnt werden wird, enthalten ist.
Deshalb muß umgehend das Volkseigentum in eine Form transformiert werden, die den Rechts- und Eigentumsformen der Bundesrepublik entspricht.
Als erste Handlung müßte diese Holding-Gesellschaft gleichwertige Anteilsscheine im Sinne von Kapitalteilhaber-Urkunden an alle DDR-Bürger emittieren. Ausgabe-Stichtag sollte der 18. 3. 1990 sein, um die Legitimitäts-Kontinuität aus der Vergangenheit in die Zukunft zu gewährleisten.
Die Rechtskonstruktion sollte sich am Modell der Nachlaßverwaltung eines Erblassers zugunsten der legitimen Erbberechtigten orientieren und sollte bewußt an dementsprechende Rechtssätze des Bürgerlichen Gesetzbuches der Bundesrepublik angepaßt werden.
Der Runde Tisch tagt zum zwölften Mal, diesmal im Schloss Schönhausen, einem Gästehaus der DDR-Regierung. Die Einrichtung eines sogenannten Runden Tisches hatte es erstmals im Februar 1989 in Polen gegeben, als Kirche, Regierung und Opposition zu Gesprächen zusammenkamen. Der Runde Tisch ist auf den ersten Blick ein großer Erfolg für die Bürgerrechtler. Obwohl das Gremium nicht demokratisch legitimiert ist, diskutiert die sozialistische Regierung seit Dezember an verschiedenen Orten mit der Opposition, wie es mit der DDR weitergehen soll.
Heute sitzen die Teilnehmer im Viereck an Konferenztischen. Achtzehn Parteien müssen untergebracht werden: die Ex-SED, die sich vor wenigen Tagen in PDS umbenannt hat, daneben die CDU-Ost und die anderen Blockparteien, ferner die vielen neuen Oppositionsparteien, die sich in den letzten Monaten gegründet haben, etwa das Neue Forum, Demokratie Jetzt, der Demokratische Aufbruch.
Vom Kopfende aus moderieren Kirchenvertreter die Diskussion. Oft haben die langen Tagungen etwas von einer Schlichtung, ausführliche Wortmeldungen wechseln sich mit noch längeren Gegenstellungnahmen ab. Hammer und Zirkel im Ehrenkranz, goldfarben, hängen an der Wand und schweben über allem.
Am Runden Tisch wurden bereits der Termin sowie die Bedingungen für die ersten freien Wahlen in der DDR ausgehandelt. Hier diskutiert man aber auch über die Abwicklung des DDR-Inlandsgeheimdienstes, die Zukunft der Armee und über eine neue Verfassung für die DDR. Viele Bürgerrechtler halten den Runden Tisch für eine Nebenregierung, doch noch immer entscheidet in letzter Konsequenz der Ministerrat der DDR.35
Bislang gingen alle Teilnehmer der Runde davon aus, dass man über die Zukunft der DDR als souveränen Staat verhandle, doch die Schlagzeilen vom Wochenende über den drohenden Bankrott und die anhaltende Ausreisewelle der Ostdeutschen haben Spuren hinterlassen. Die Bürgerrechtler am Tisch sehen niedergeschlagen und müde aus. Einige kämpfen seit Jahren gegen das SED-Regime. Sie hatten gehofft, nun eine demokratische DDR gestalten zu können. Doch dafür scheint keine Zeit zu sein. Die wirtschaftliche Situation des Landes setzt den Runden Tisch unter Druck.
Reinhard Schult vom Neuen Forum gibt noch kurz vor Sitzungsbeginn ein Interview. Schult hat sich seit den 1970er Jahren in der Opposition der DDR engagiert. Er wurde inhaftiert, weil er »illegale Literatur« verbreitet haben soll. Vor wenigen Wochen hat er zum Sturm auf die Stasi-Zentrale in der Normannenstraße aufgerufen. Der ARD sagt er am Morgen: »Ich hab so ein bisschen das Gefühl, dass es nicht um eine Vereinigung, sondern um einen Anschluss geht. Ich fühle doch so, dass wir hier mehr über den Tisch gezogen und nicht als Partner betrachtet werden.«
»Können Sie das konkret machen?«, fragt der Reporter nach.
»Ich denke, dass seit Monaten diese Kampagne läuft, die den Eindruck erweckt, als wenn die DDR kurz vor dem Zusammenbruch steht. Aus meiner Sicht ist das nicht so. Aus meiner Sicht ist es zwar so, dass wir hier eine Krise haben, die aber primär politischer Natur ist, dadurch natürlich rückwirkt auch auf die wirtschaftliche Situation und überhaupt auch auf die psychologische Situation in dem Land. Ich denk’ aber, dass hier noch nicht alles Schrott und marode ist, sondern dass wir noch eine ganze Menge an Pfunden haben, mit denen wir wuchern sollten – und wir sollten uns hier nicht unter Preis verkaufen.«36
Die Sitzung beginnt. Der wichtigste Tagesordnungspunkt ist die Reise des Ministerpräsidenten Modrow nach Bonn am folgenden Tag. Der Runde Tisch will ihm Leitlinien an die Hand geben. Auf keinen Fall soll er kapitulieren. Doch Modrow muss die Regierung Kohl um viel Geld bitten, da die finanzielle Lage der DDR bedrohlich ist. Die KoKo-Quelle ist versiegt. Der Zusammenbruch des RGW erschüttert die Industrie, die förmlich über Nacht von einer Plan- auf eine Marktwirtschaft umgestellt werden muss. Und für die laufenden Gehälter ist auch kein Geld mehr da. 15 Milliarden D-Mark hätte der Runde Tisch gern von der Bundesregierung.
Einige Bürgerrechtler haben bereits begriffen, dass die westdeutsche Regierung weniger der aktuellen DDR-Regierung helfen, sondern vielmehr schnell eine Währungsunion durchsetzen will. Konrad Weiß, Mitglied der Oppositionsgruppe Demokratie Jetzt, wendet sich während der Fernseh-Live-Übertragung vom Runden Tisch an die westdeutschen Bürger: »Wir bitten alle sozialgesinnten Menschen in der Bundesrepublik Deutschland und in West-Berlin um Solidarität. Verhindern Sie mit allen demokratischen Mitteln, dass durch einen Einmarsch der West-Mark die demokratische Entwicklung in unserem Land abrupt unterbrochen wird.«37
Die Bürgerrechtler können sich zumindest über den Runden Tisch noch Gehör verschaffen. Die Versammlung erarbeitet eine Erklärung, in der die sofortige Verhandlung über eine Währungsunion ausgeschlossen wird, da es »Kräfte in der BRD gebe, die bewusst auf eine Verschärfung der Krise in der DDR hinwirken«. Die Währungssouveränität solle man auf keinen Fall aufgeben, heißt es in dem Papier. Man gibt sich kämpferisch.
Doch wie Thilo Sarrazin in Bonn ist vielen Oppositionellen am Runden Tisch klar: Die entscheidenden Tage im Poker um die Macht im neuen Deutschland beginnen jetzt, und sie haben die schlechteren Karten.
Am frühen Abend ist Gerd Gebhardt an der Reihe. Der Vorschlag, eine Treuhand zu gründen, ist der letzte Tagesordnungspunkt der Sitzung. In der Konferenzpause zieht er sich in eine der hinteren Reihen zurück, geht den Text noch einmal durch; nervös blättert er in den Papieren. Die Zuschauerreihen um ihn herum bleiben leer, von der Niedergeschlagenheit und Untergangsstimmung im Saal scheint er nichts mitzubekommen.38
Ein Kirchenvertreter kündigt Gebhardt an: »Als Letztes müssen wir noch aufgreifen, was Herr Dr. Ullmann hier heute Vormittag vorgeschlagen hat, und zwar ging es darum, eine Treuhandgesellschaft zur Wahrung der Anteilsrechte der Bürger am Volkseigentum der DDR zu bilden. Das ist die Vorlage 12/29, die heute Vormittag auch ausgeteilt worden ist. Darf der Beauftragte das kurz erläutern? Gibt’s Widerspruch? Nein? Danke. Bitte.«
Gerd Gebhardt ist an der Reihe.
»Mein Name ist Gerd Gebhardt, ich spreche als unabhängiger Wissenschaftler, und das vorgeschlagene Modell ist das Ergebnis langer Überlegungen und Abstimmungen mit sehr vielen Experten. Es geht um den Vorschlag der umgehenden Bildung einer Treuhandgesellschaft – Holding – zur Wahrung der Anteilsrechte der Bürger mit DDR-Staatsbürgerschaft am Volkseigentum der DDR …« Gebhardt liest vor, was er tags zuvor geschrieben hat. Der Runde Tisch, ermattet von der Diskussion über die Währungsunion und die Reise der Regierung am nächsten Tag nach Bonn, nimmt den Vorschlag einstimmig an. Auch die Vertreter der Modrow-Regierung stimmen zu. Das DDR-Fernsehen hat sich da bereits ausgeblendet.
Die Idee der Treuhand ist in der Welt. Die Regierung der DDR hat nun die Aufgabe, sie mit Leben zu füllen.
Nachdem der Runde Tisch der Installation einer Treuhand zugestimmt hat, konkurrieren zwei gegensätzliche Ideen miteinander: Auf der einen Seite das Konzept einer Treuhandanstalt, die das Volkseigentum verwalten und Anteilsscheine am Volksvermögen an die Bürger ausgeben soll. Das setzt voraus, dass der Staat DDR auch weiterhin souverän über seine Währung und das Eigentum in Ostdeutschland bestimmt. Dagegen steht auf der anderen Seite die Strategie der Bundesregierung, nach der eine schnelle Währungsunion vorgesehen ist und gleichzeitig das Volkseigentum als Pfand für diesen riskanten Schritt herhalten soll.
In Hintergrundgesprächen und Interviews mochte die Bundesregierung die DDR als verlorenen Staat und Hans Modrow als besiegten Ministerpräsidenten bezeichnen. An diesem Dienstag wird er aber noch einmal wie ein Staatsgast mit allen Ehren empfangen. Roter Teppich auf dem Flughafen. Limousinen-Kolonne. DDR-Fähnchen. Begrüßung durch Helmut Kohl vor dem Bundeskanzleramt. Gruppenfoto. Dann Gespräche hinter verschlossenen Türen.
Thilo Sarrazin hat das Treffen mit vorbereitet. Er weiß, die DDR braucht die D-Mark, um ihre Probleme zu lösen, daher wird sie fast alles tun müssen, was die Bundesregierung fordert. Die Bundesregierung kann die nächsten Schritte diktieren.
Sarrazin hat einen Text verfasst, der die Grundlage für die Gespräche mit der DDR-Regierung bildet. Darin steht: »Ordnungspolitische Fehlentwicklungen« darf die Bundesregierung nicht zulassen, damit folgendes Szenario verhindert wird: »Die DDR bekommt die D-Mark, aber sie behält noch ein bisschen Planwirtschaft.« Sarrazin und die anderen Gesprächsteilnehmer im Finanzministerium machen sich keine Illusionen: Die Einführung der D-Mark in der DDR wird mit gewaltigen Transferleistungen verbunden sein. Diese Leistungen müssen daher in ein von Grund auf reformiertes System fließen, sie dürfen nicht »in dem bestehenden planwirtschaftlichen System versickern«.39 Das Finanzministerium setzt auf einen Systemtransfer und damit auf eine Schocktherapie.
Die Korrespondenten in der Hauptstadt erwarten dagegen noch immer, dass in der abschließenden Pressekonferenz die Bereitstellung eines Hilfspakets für die DDR verkündet wird. Die Hinweise Kohls in der Woche zuvor, dass man der DDR die Währungsunion anbieten werde, hält man für Wahlkampfgetöse. Der große Saal der Bundespressekonferenz in Bonn – das »Aquarium« – ist dennoch überfüllt an diesem Nachmittag.40 Reporter aus aller Welt warten gespannt. Kohl und Modrow kommen über die Wendeltreppe in den Saal, vorneweg Modrow, dann Kohl. Doch fortan wird nur noch der Bundeskanzler das Tempo vorgeben.
Als Kohl auf dem Podium vor der Weltpresse Platz nimmt, scheint er vor Selbstvertrauen zu strotzen und den ganzen Raum auszufüllen. Den neben ihm sitzenden Modrow nimmt man dagegen kaum wahr. Einige Bundesminister stehen dicht gedrängt hinter dem Kanzler.