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In Deutschland zählen immer mehr Soldaten, Polizisten und Nachrichtendienstler zur rechten Szene. Menschen also, die per Amtseid geschworen haben, das Grundgesetz und die Bundesrepublik zu beschützen - und die in diesen Positionen besonders gefährlich sind: Die Todesdrohungen des "NSU 2.0" an eine Frankfurter Anwältin und die hessische Linken-Abgeordnete Wissler wurden mithilfe einer polizeilichen Datenabfrage übermittelt. Fürs Töten ausgebildete KSK-Soldaten und Elite-Polizisten horten zu Hause massenweise Waffen sowie Munition und legen "Feindeslisten" für den "Tag X" an. Dirk Laabs' Spurensuche zeigt: Die rechten Verschwörer profitieren von rechtsextremen Traditionen und Überzeugungen im Sicherheitsapparat. Und das Netz ist größer als gedacht: Rechtsradikale im Staatsapparat helfen ihren Gesinnungsgenossen, bauen gemeinsam mit ihnen internationale Netzwerke auf. Das Bündnis zwischen Rechtsterroristen und AfD-Abgeordneten reicht längst bis in den Bundestag.
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Staatsfeinde in Uniform
DIRK LAABS, geboren 1973 in Hamburg, ist Bestsellerautor und Filmemacher. Seit fast 20 Jahren recherchiert er zum Thema Terrorismus, für das ZDF hat er mehrere Filme über rechtsradikale Soldaten und Polizisten in deutschen Behörden gedreht. Den Film „Der NSU-Komplex“ realisierte er für Netflix und die ARD, zuvor hatte er gemeinsam mit Stefan Aust das Standardwerk „Heimatschutz“ über den NSU veröffentlicht. Als Gutachter wurde er von mehreren NSU-Untersuchungsausschüssen geladen. Seine Texte sind in Zeitungen und Magazinen weltweit veröffentlicht worden, darunter Los Angeles Times, The Guardian, stern und Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Er hat zahlreiche Preise in Deutschland und im Ausland gewonnen.
Schießtrainings, paramilitärische Übungen, Safehäuser, Erkennungsabzeichen für den „Tag X“: Eine militärisch organisierte rechte Szene von Uniformträgern bereitet sich auf den Zusammenbruch der staatlichen Ordnung vor. Polizisten und Soldaten vernetzen und radikalisieren sich in Gruppen wie „Nordkreuz“ oder „Uniter“. Sie hegen Umsturzpläne und pflegen Kontakt mit Waffenhändlern, Reichsbürgern, verurteilten Terroristen und einschlägigen rechten Kadern. Ihnen stehen eine unorganisierte Terrorabwehr und Nachrichtendienste gegenüber, die aus dem NSU-Debakel nichts gelernt zu haben scheinen: Sie wollen ihre Informanten um jeden Preis schützen, verhindern Aufklärung und sind zum Teil sogar selbst von Rechtsradikalen unterwandert. Dirk Laabs führt die Spuren und Stränge zusammen: Er untersucht Tradition und Ausbildung bei Bundeswehr und KSK, wertet geheime Kommunikation des rechten Netzwerks, Gerichtsakten und interne Dokumente des Bundestags aus. Er spricht mit Ermittlern, Insidern und konfrontiert die Verdächtigen. Eine schockierende Darstellung der rechten Gefahr in Deutschland, die immer größer wird.
Dirk Laabs
Wie militante Rechte unsere Institutionen unterwandern
Ullstein
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Der Autor / Das Buch
Titelseite
Impressum
PrologTag X
1Die Gleichgesinnten
2»An die Gewehre!«
3Der Abschirmdienst
4Das Kommando
5Afghanistan
6Im Schatten
7Feindesland
8Die Loge
9Echokammer
10Die Reserve
11Westkreuz
12»Das Merkel abknallen«
13
Viribus Unitis
14Im Bunker
15
Derin devlet
– Tiefer Staat
16Dienststelle 61
17Feuerball
18NSU 2.0
19Staatswohl
EpilogTerrorabwehr
Anmerkungen
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
PrologTag X
Im März 2020, als die Covid-19-Pandemie gerade begann, den deutschen Alltag zu beherrschen, war ich mit meinem Kamerateam auf der Suche nach einem süddeutschen Waffenhändler. Wir drehten für das ZDF den zweiten Film über verfassungsfeindliche Soldaten und Polizisten, die eigene Strukturen gebildet hatten, an ihren Einheiten vorbei. Ein Soldat der Kommando Spezialkräfte (KSK) hatte in einem Verhör durch das Bundeskriminalamt den Waffenhändler als einen wichtigen Kontakt in Baden-Württemberg genannt, dort, wo auch das KSK stationiert ist. Der Kommandosoldat, der vom BKA intensiv verhört wurde, war einer der führenden Köpfe einer Gruppe von Polizisten, Behördenmitarbeitern und Soldaten, die am Tag X eine eigene militärische Struktur aktivieren wollten. Das Konzept des Tag X war mir schon oft untergekommen – Neonazis aus dem Umfeld des Nationalsozialistischen Untergrund hatten mir während meiner Recherchen zum NSU berichtet, dass man in der Szene ständig über den Tag X spreche und sich auf ihn vorbereite. Thüringer Nazis spähten etwa Krankenhäuser aus, zählten die Betten – wie viele der eigenen »Kämpfer« könnte man dort unterbringen, wenn der Gegenschlag gegen das »Judenregime« in der Hauptstadt geführt wird? Ein in die Jahre gekommener Neonazi bestätigte mir während der Recherchen damals auch, dass an diesem Tag natürlich auch Journalisten und Andersdenkende abgeholt und in Lager gebracht würden. Der Tag X ist für rechtsextremistische Aktivisten das zentrale Ziel, auf das sie hinarbeiten: An diesem Tag, so ihre Logik, bricht die staatliche Ordnung zusammen, der Weg ist dann frei, um selbst die Macht zu übernehmen. Auslöser für den Zusammenbruch des Staates kann vieles sein: eine Naturkatastrophe, eine Pandemie, ein Bürgerkrieg, Terroranschläge.
Was von außen grotesk wirkte, war für die Rechten eine todernste Angelegenheit. Der NSU führte lange Listen, darauf Kasernen und Waffenläden, wo man für den Tag X Waffen und Munition erbeuten könnte. Außerdem hatte die rechte Terrorgruppe Listen aufgestellt, darauf Hunderte politische Feinde und Gegner. Mit denen wollte man am Tag X – und danach – abrechnen.
Von dem Waffenhändler in Baden-Württemberg, einem Ex-Soldaten, erhoffte ich mir Antworten, was seine Gruppe genau vorgehabt hatte. Als ich mit dem Team auf den Hof fuhr, sahen wir den Mann durchs Fenster an seinem Schreibtisch. Er hielt uns für die Polizei, mit der er jeden Moment rechnete, da er sich mit seinem Partner zerstritten hatte. Die beiden kämpften mit harten Bandagen um die Firma, der Waffenhändler erwartete seinen unsanften Rausschmiss. Bisher hatte er die Presse erfolgreich abgeschüttelt, in keinem Artikel über rechtsradikale Soldaten war er bislang aufgetaucht, aber unser Kommen machte ihn nervös. Er versuchte, uns mit ein paar Entschuldigungen und Floskeln abzuspeisen, gab dann aber ein ausführliches Interview und gestand einige Punkte ein: Ja, eine Gruppe, die sich auf den Tag X vorbereitet, gebe es wirklich, ja, man habe intensiv trainiert und, ja, ein KSK-Soldat spiele tatsächlich die führende Rolle – Treffen hätten sogar in der KSK-Kaserne stattgefunden. Vieles erzählte er jedoch nicht: dass er selbst einen Haufen Waffen zu Hause hatte, darunter illegale Waffenteile und dass er eine Zeit lang eine Panzerfaust am Arbeitsplatz versteckt hielt. Auch der Frage, wie weit die Gruppe mit den Planungen für den Tag X schon gekommen war, wich er aus. Bis zu diesem Zeitpunkt war unklar, wie konkret die Gruppenmitglieder bereits die nächsten Schritte geplant hatten.
Aus dem Umfeld des Waffenhändlers wurden uns dann jedoch sensible Daten zugespielt. Aus E-Mails zwischen Gruppenmitgliedern ging hervor, dass man bereits Erkennungszeichen für den Tag X – nicht für eine Übung – entworfen hatte, Abzeichen, sogenannte Patches, die denen der Armee ähnelten. Es waren mehrere sogenannte Pick-up-Points – Treffpunkte – festgelegt worden, wo sich die Soldaten, Polizisten und Gleichgesinnte am Tag X sammeln sollten. Dass es diese Punkte für Übungen gegeben haben soll, war mir bereits bekannt, wir aber bekamen eine Taschenkarte – DIN-A4 – für den tatsächlichen Tag X in die Hände, auf der zentrale Punkte zusammengefasst waren. Der abgelegene »PUP« – Pick-up-Point – habe mehrere Zugangsmöglichkeiten und trage den Codenamen »Süd-Alpha-Grau«, kurz: SAG. Auf der Karte im praktischen Taschenformat fanden sich noch weitere Informationen im Militärjargon :
»SAG ist reiner (überwachter) Sammelraum mit Anschlussverbringung in GruppenversteckAktivierung: Innerhalb / unter 12 Stunden nach nationalem Kommunikationsausfall -oder- Innerhalb / unter 4 Stunden nach Ausruf Extremlage durch Führung
Erreichen sie [sic] PUP SAG nach eigenem Ermessen. – Meldegänger zur Kontaktaufnahme in Fahrzeugwartungshalle senden (Ggf. weitere Personen haben sich im Nahbereich des eigenen Fahrzeuges (+/- 10m) aufzuhalten!)
Wichtig! Kein offensives Verhalten an PUP zeigen!Wichtig! Diese Anleitung streng befolgen!Wichtig! Anleitungen vor Ort bei Kontaktaufnahme streng befolgen!«
Mithilfe der Koordinaten auf der Taschenkarte und dank eines ortskundigen Informanten fanden wir den Treffpunkt, eine kleine Hütte mitten im militärischen Sperrgebiet, auf dem riesigen Truppenübungsplatz Heuberg, im Süden Baden-Württembergs. In Sichtnähe trainierte auch oft das KSK in einem kleinen fiktiven Dorf, das aus kleinen Holzhäusern bestand, die beschossen werden konnten. Als Treffpunkt war der Ort für den Tag X gut geeignet, da man sich in der nahen Kaserne etwa mit Lastwagen und anderen Fahrzeugen versorgen könnte.
Die Recherchen zeigten zudem, dass die Gruppe nicht nur lokal aktiv war. Die Mitglieder hatten regionale Strukturen entwickelt, sich in die Gruppen Nord, Süd, West und Ost aufgeteilt. Untereinander verschickten die Mitglieder eine sogenannte S.O.P. für die interne Kommunikation – kurz für Standard Operating Procedure, ein militärisches Konzept, das den optimalen Ablauf einer Operation garantieren soll. In der S.O.P. stand:
»Dieser Chat wurde ins Leben gerufen, um die aktuelle Lage, den aktuellen Stand sowie weiteres Vorgehen an alle Eingeweihte zu übermitteln. … Dabei ist ein Aspekt von höchster Bedeutung. Desto besser die Kommunikation, umso einfacher die Organisation und das Sammeln untereinander am Tag X. Doch bis dahin gilt für jeden von UNS, so wenig wie möglich aufzufallen. Ziel ist es in diesem Chat, mit so vielen vertrauenswürdigen Personen wie nur möglich zu befüllen und somit ein starkes Fundament zu schaffen.«
Wer nur waren diese »vertrauenswürdigen Personen«? Wer war noch Teil dieser Verschwörung? Und was hatten die Verschwörer wirklich vor?
Das Gerichtsgebäude am Demmlerplatz in Schwerin überragt alle Gebäude im Viertel Paulsstadt. Es liegt auf einem kleinen Hügel, so wirkt das sandsteinfarbene Gebäude noch mächtiger, die Straßen in der Nähe noch enger. Im Inneren ging es jedoch familiär zu, die Sicherheitsvorkehrungen wirkten im Dezember 2019 improvisiert. Damals begann ein ungewöhnlicher Prozess, der weit über Mecklenburg-Vorpommern hinaus Bedeutung hatte. Die Menschen standen deshalb im geschwungenen Treppenhaus Schlange, um in den großen Saal im ersten Stock zu kommen. Das Landgericht machte dem Polizisten Marko G. den Prozess, 49 Jahre alt, in der DDR geboren, einst Elitesoldat, dann Beamter beim Sondereinsatzkommando in Schwerin, anschließend beim Landeskriminalamt eingesetzt. Er hatte sich den Spitznamen Hombre gegeben, seine Funkkennung bei Bundeswehr und Polizei – da sich gerade die Spezialkräfte im Funk nie mit ihrem richtigen Namen melden. Polizei-Kollegen hatten das Wohnhaus des Mannes mehrfach durchsucht, Zehntausende Schuss Munition und über ein Dutzend Waffen gefunden, darunter eine Maschinenpistole sowie in großer Menge Munition. Beides darf auch ein Elitepolizist unter keinen Umständen bei sich zu Hause lagern, deshalb drohte Hombre eine Gefängnisstrafe.
Marko G. saß in Hamburg in Untersuchungshaft, sodass er vor jedem Verhandlungstag über einhundert Kilometer schwer bewacht durch den Norden Deutschlands gefahren werden musste. In Fuß- und Handfesseln wurde er dann von zwei Wärtern in schusssicheren Westen in den Saal geführt – wie sonst nur gewalttätige Schwerverbrecher. Juristisch ging es um den Verstoß gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz, aber das war nicht der Grund für seine besondere Behandlung. Der Angeklagte war einer der Köpfe einer Gruppe, die zu diesem Zeitpunkt seit drei Jahren deutsche Terrorermittler und Agenten diverser Nachrichtendienste umtrieb – und noch immer beschäftigt. An vielen Orten im Land hatten sich Mitglieder zusammengefunden, darunter viele Elitesoldaten, die in regionale Gruppen aufgeteilt miteinander kommunizierten, Übungen planten, sichere Rückzugsräume suchten, um sich darauf vorzubereiten, die Macht an sich zu reißen, sollte einmal die staatliche Ordnung zusammenbrechen. Einige Mitglieder wollten jedoch nicht so lange warten. Ein Offizier der Bundeswehr, Franco. A., der dieser Gruppe angehörte und unter anderem mit Kontakten zu Waffenhändlern half, soll selbst einen Terroranschlag geplant haben. Marko G. alias Hombre war einer der Männer, der die Logistik der Gruppe organisierte, Waffen besorgte, Munitionslager anlegte, Spendenlisten führte, Botschaften weiterleitete, neue Mitglieder rekrutierte. Einige dieser Rekruten hatten offen darüber gesprochen, politische Gegner an dem Tag der Machtübernahme in Lager zu schaffen und umzubringen. Andere hatten bereits Leichensäcke und Löschkalk gekauft.
Deswegen die Fußketten für den ostdeutschen Polizisten Marko G., die Einzelhaft, die Metalldetektoren am Eingang, die große Aufmerksamkeit, die Fernsehteams und vielen Reporter im Saal. Doch wenn eine Gruppe oder Einzelpersonen terroristische Anschläge geplant oder durchgeführt haben, ist allein die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe zuständig, nur sie darf überhaupt in Sachen Terror ermitteln. Im Fall von G. zeigten die Bundesanwälte anfänglich großen Arbeitseifer, der einem seltsamen Desinteresse wich, als das BKA erstmals das Haus des Polizisten durchsucht hatte. Man stufte G. auch nach der Durchsuchung weiter nur als Zeugen, nicht als Beschuldigten ein, die mögliche Straftat – der illegale Besitz von Kriegswaffen – sollte die Schweriner Staatsanwaltschaft aufklären. Ermittlungsergebnisse über die Komplizen von G., die anders als Hombre als Terrorverdächtige galten und zentrale Rollen spielten, stellte die Bundesanwaltschaft jedoch nicht zur Verfügung, die Schweriner Kollegen sollten sich einzig um die Waffen und die illegale Munition kümmern. Eine bizarre Situation. Ein Elitepolizist, Scharfschütze, ein Mann, der in dem Schweriner Prozess als Verfassungsfeind beschrieben wurde, vernetzt in ganz Deutschland, Mitglied einer Gruppe, die plant, was man so alles mit den Feinden anstellen könnte, wenn man die Macht einmal übernommen hat – sammelt wie besessen Munition, die bei einer Durchsuchung sichergestellt wird. Danach macht der Mann einfach weiter, hortet wieder Munition, die bei einer weiteren Durchsuchung ebenfalls gefunden wird – man findet also insgesamt zweimal einen Haufen Waffen bei ihm. Aber nicht die Anti-Terror-Ermittler des Bundeskriminalamts übernehmen den Fall, sondern die Fahnder vom LKA Mecklenburg-Vorpommern werden vorgeschickt, ausgerechnet die Kollegen von Hombre. In den Tagen des Prozesses war zu spüren, dass sich die Schweriner Staatsanwälte alleingelassen fühlten mit diesem Verfahren, das den Rahmen der Möglichkeiten sprengte, die man in der kleinen Stadt hat, mag das Gerichtsgebäude auch noch so mächtig wirken.
Dass G. ausgerechnet in dem Gebäude am Demmlerplatz in Schwerin der Prozess gemacht wurde, passt jedoch. 1932 war in Mecklenburg-Vorpommern der erste NSDAP-Ministerpräsident gewählt worden, die Nationalsozialisten brauchten nicht einmal einen Koalitionspartner. Hitler selbst hatte zuvor in der Gegend mehrfach im Landtagswahlkampf auf großen Veranstaltungen für die NSDAP geworben, Zehntausende kamen. Ab 1933 hieß die Straße am Gericht dann Adolf-Hitler-Platz. Das Gericht urteilte danach in dem großen Gebäude mit den vielen Säulen unter anderem darüber, welche Menschen im »Großdeutschen Reich« sterilisiert werden müssten, damit sie kein »unwertes Leben« auf die Welt bringen. Nach dem Krieg nutzten der sowjetische Geheimdienst und die Staatssicherheit der DDR den Gerichtskomplex, Menschen wurden in den Räumen des Gerichts misshandelt und gefoltert. Diese deutsche Geschichte vereint auch der Angeklagte in sich, das Erbe der zwei Diktaturen. Der Prozess sollte zeigen, dass er sich gedanklich immer noch mit einer dieser Diktaturen identifizierte.
In dem großen Gerichtssaal ging es zunächst meist nur um die Indizien, die mit den Waffen und der Munition zu tun haben – wo wurde wann welche Patrone gefunden, welche Pistole, in welchem Zustand? Das mutete sehr deutsch an, eine Unwucht offenbarte sich: Es ging um technische Details, nicht um das Motiv, nicht um die politische Einstellung des Angeklagten. Denn genau über die wurde in Schwerin nicht zu Gericht gesessen. Ein Zustand, mit dem sich die Staatsanwälte jedoch nicht einfach abfinden wollten. Wie bei einer Schnitzeljagd sorgten sie dafür, dass immer wieder Hombres politischer Hintergrund klar wurde und sich beim Beobachter zwangsläufig die Frage aufdrängte: Was wollte der Polizist mit all den Waffen und der Munition? Für wen und wofür bunkerte er dieses Material? Was war der Plan? Kurznachrichten, SMS von Hombre wurden verlesen, in denen er Adolf Hitler feierte oder in denen Asylbewerbern der Tod gewünscht wurde, per Meme – der Schriftzug »Asylantrag abgelehnt« läuft über ein Foto aus dem Zweiten Weltkrieg, auf dem ein Wehrmachtsoffizier einem wehrlosen Menschen am Boden in den Kopf schießt. Einer der Anwälte des Polizisten hielt das für eine lässliche Sünde, verglich die Memes mit Pornobildern, die »dicke Frauen« beim Sex zeigen, die man sich an Weihnachten zuschicke und über die man gemeinsam lachen würde. Das alles sei eine vielleicht fragwürdige Art von Humor, nicht ernst gemeint, Spielereien. Die Waffen, die Munition, ein Spaß, reine Sammelleidenschaft.
Die Staatsanwälte führten trotzdem – oder gerade deshalb – einen Beweis nach dem anderen in den Prozess ein. Sie zeigten, dass Marko G. ein überzeugter Nationalsozialist war, der das »Dritte Reich« bewunderte und sich, wie auch der Richter feststellen sollte, »nicht mehr auf dem Boden der freiheitlich demokratischen Grundordnung« befand. Am dritten Prozesstag wurde schließlich eine Kurznachricht des Polizisten verlesen, eine dieser Spuren, von der Staatsanwaltschaft gelegt, schnell vorgetragen, ein Satz, den kaum ein Reporter im Saal zunächst weiter beachtet. Im März 2016 schrieb G. an einen Freund und Komplizen eine Kurznachricht:
»Wir haben in den letzten Monaten knapp 2000 gleichgesinnte vereint (in D)Haben in jedem Sektor 1–5 safehäuser errichtet und ein weites Netz über ganz Europa zu anderen Nationen gelegt. Auch wenn der unterschied der einzelnen Gruppen nicht krasser sein könnte ist es doch eine Hausnummer auf die jeder stolz sein kann.«
Wir.
2.000 Gleichgesinnte.
In Deutschland.
Vereint.
Mit einemweiten Netz über ganz Europa.
Mutmaßlich unter Waffen.
Ein Grund, um stolz zu sein.
Wer sind diese Gleichgesinnten? Wie viele Soldaten sind dabei? Wie viele Polizisten? Wie hängen sie zusammen? Gibt es sie wirklich – oder ist G., Hombre, am Ende ein Spinner, ein Aufschneider?
Die Bundesanwaltschaft hatte auf diesen Satz nicht weiter wahrnehmbar reagiert, auch nachdem sie von den Schweriner Kollegen alarmiert worden war. Doch es ist diese SMS-Nachricht, die meiner Recherche eine neue Dringlichkeit verleiht. Einen Ansatz liefert Marko G. selbst. Zu Beginn eines jeden Prozesstages zelebrierte der gedrungene Mann ein Ritual. Er trug immer eine Baseballkappe auf dem Kopf, dazu ein schlichtes Freizeithemd am Körper, die weißen Haare und den weißen Bart kurz geschoren. Nachdem man ihm die Ketten abgelegt hatte, klopfte er sich jedes Mal mit der Hand auf die Brust, da, wo das Herz schlägt, und zeigte zu einer Gruppe von Unterstützern in der Galerie, hoch über dem Saal.
Als der Richter am letzten Tag eines sehr kurzen Prozesses den Polizisten zu einer Bewährungsstrafe verurteilte – ein Jahr und neun Monate Gefängnis –, klatschten dessen Fans auf der Galerie, riefen und jubelten laut. Selbst die Anhänger hatten mit einer höheren, einer Gefängnisstrafe gerechnet, die nicht zur Bewährung hätte ausgesetzt werden können. Doch G. wurden die Fesseln nicht mehr angelegt, er durfte das Gericht als freier Mann verlassen, seine Freunde empfingen ihn noch vor dem Saal, drückten, umarmten, feierten ihn. Ich filmte diese Szenen, ging mit der Gruppe nach draußen, um mehr über die Unterstützer in Erfahrung zu bringen. Anschließend wertete ich die Bilder mit Unterstützung von Informanten aus. Unter den Männern, so stellte sich heraus, waren Soldaten, ein Offizier der Reserve, ein AfD-Politiker, obsessive Hobbyschützen und ein Mann, der für die Luftwaffe in Rostock in einem Hochsicherheitsbereich Kampfpiloten ausbildet. Viele von ihnen hatten mitgemacht in der Gruppe, die G. organisiert hatte und unter dem Namen Nordkreuz Mitteilungen per Telegram-Messenger austauschte. Einige Gerichtsbesucher hatten Munition finanziert und mit Hombre trainiert, geschossen, keinen Anstoß daran genommen, dass mutmaßliche Rechtsterroristen, die zum engen Kreis der Gruppe gehörten, »Feinde« umbringen wollten, wenn sich die Gelegenheit bieten würde. Polizisten. Kriminalbeamte. Offiziere. Reservesoldaten.
Die Gleichgesinnten.
Auf freiem Fuß.
Unter uns.
Wie gefährlich die Gruppe Nordkreuz war, hatte erst die Aussage einer dieser Gleichgesinnten beim Bundeskriminalamt deutlich gemacht, zwei Jahre bevor Marko G. der Prozess gemacht wurde. Der Offizier der Bundeswehrreserve sagte im Sommer 2017 aus, er habe einer Gruppe von Soldaten und Polizisten angehört, in der Mitglieder konkret darüber diskutiert hätten, ihre Feinde zu »sammeln und umzubringen«. Ein Horrorszenario wurde durch die Aussage des Mannes erstmals konkret: Polizisten und Soldaten als organisierte rechte Terrorgruppe, mit einem Netz über ganz Deutschland. Ich traf den Zeugen im April 2019, noch vor dem Prozess, in seinem Wohnort, einem kleinen Ort in Mecklenburg-Vorpommern. Horst S. lebte mit seiner Frau in einem alten Haus in der Nähe eines Sees, vor der Tür mächtige Bäume, ein Firmenwagen und eine mit Kopfsteinen gepflasterte Straße, die ins Nirgendwo zu führen schien. Das Bundeskriminalamt hatte Haus und Grundstück durchsucht, den Offizier der Reserve dann mehrfach als Zeugen befragt. Er sollte eine Schlüsselrolle spielen, um die interne Dynamik der Gruppe zu verstehen.
Horst S. war im zivilen Beruf Personalmanager in einem Unternehmen, das mehrere Callcenter betreibt. Ihm waren früh die Haare ausgegangen, mit seiner Halbglatze und seiner Brille sieht er älter aus, als er eigentlich ist. Seine große Leidenschaft ist das Schießen und sein Dienst bei der Reserve der Bundeswehr, zu der er gehörte. Zuvor hatte er schon als Offizier bei der Luftwaffe gedient. Er war ein typisches Mitglied von Nordkreuz. Ein biederer, seriöser, auf den ersten flüchtigen Blick harmloser Mensch.
Doch Horst S. war spätestens 2017 in das Visier verschiedener Sicherheitsbehörden geraten, weil er Kontakt zu einer rechtsradikalen Gruppe names Thule-Seminar gesucht hatte, die unter der Beobachtung des Verfassungsschutzes stand. Aber das allein hatte die Beamten nicht beunruhigt. Hinzu kam, dass er sich bei der Gruppe Nordkreuz engagierte, was dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) aufgefallen war. Die Tarnung, der unschuldige Anschein, dass man sich lediglich mit zivilen Mitteln gemeinsam auf eine potenzielle Katastrophe vorbereiten wollte, so die Legende der Gruppe, wurde schnell unglaubwürdig, zu eindeutig war die interne Kommunikation. Nicht nur gehörten Nordkreuz diverse Mitglieder an, die Waffen und Munition sammelten und fast schon besessen trainierten, wie man eine bewaffnete Auseinandersetzung führt. Der Schlüsselzeuge Horst S. bestätigte dem BKA auch, dass die Mitglieder untereinander nicht nur diskutierten, wie man sich auf eine Überschwemmung oder einen Schneesturm vorbereiten muss, sondern zudem, wie man eine chaotische Situation im Land ausnutzen könnte, um abzurechnen – mit den Feinden im Land. Eines der Mitglieder, der Anwalt Jan Hendrik Hammer aus Rostock, hatte Steckbriefe von Politikern angelegt, deren Engagement, insbesondere für Flüchtlinge, ihm nicht gefiel. Hammer war früher Mitglied in der FDP und saß in der Bürgerschaft von Rostock. Das Bundeskriminalamt konfrontierte Horst S. mit Aussagen des Anwalts Jan Hammer, der innerhalb der Gruppe offen zum Terror aufgerufen haben soll. Horst S. bestätigte den BKA-Ermittlern in seinen Verhören und später mir während unseres Treffens in seinem Haus, dass Hammer tatsächlich immer radikaler geworden sei. Beim Bundeskriminalamt hatte Horst S. ausgesagt: »In diesen Gesprächen wurde deutlich, dass der Jan einen ziemlichen Hass gegen die Linken hat und das Geld, das dort rausgeschmissen wird. Der Jan hat einen Ordner mit Namen, Adressen und Lichtbildern von Personen, die aus seiner Sicht ›schädlich‹ für den jetzigen Staat sind, so wie er ihn sieht und die nach seiner Meinung ›weg‹ müssten.« Horst S. hatte den Eindruck, wie er mir erzählte, dass das BKA über elektronische Aufzeichnungen dieser Gespräche verfüge. Man habe ihm den genauen Wortlaut der erschreckenden Sätze Hammers vorgelegt, er sollte sie dann nur noch bestätigen, so erklärte es mir der Reserveoffizier.
In mehreren langen Verhören versuchte der Bundeswehrreservist sich beim Bundeskriminalamt von der Gruppe zu distanzieren, deren Mitglieder im Kern immer radikaler geworden seien. Auch mir gegenüber verteidigte er seinen Einsatz für Nordkreuz: Es sei ihm nur um eine Art bürgerliche Pflicht gegangen, im Fall einer Katastrophe vorbereitet zu sein, ohne dass er genau begründen konnte, warum er dem Staat nicht zutraute, mit einer solchen Situation allein fertig zu werden. Zumal er ja selbst der Bundeswehrreserve angehört, die genau bei einem solchen Szenario im Notfall zum Einsatz kommen würde. Er erklärte mir stattdessen, dass es praktisch einen Auftrag des damaligen Innenministers Thomas de Maizière gegeben habe, sich als Bürger auf eine Katastrophe vorzubereiten. Er diktierte mir dazu die Nummer einer Drucksache des Bundestages in mein Notizbuch – 17/12 051. In dem Dokument spielte die Bundesregierung im Jahr 2013 verschiedene Katastrophenszenarien durch: ein folgenschwerer Zusammenbruch des Stromnetzes etwa, zudem den Ausbruch einer Pandemie, ausgelöst durch einen neuartigen Grippevirus, mit dem sich Millionen Deutsche anstecken und an dem schlimmstenfalls auch Millionen Bürger sterben könnten. Das klang damals wie ein sehr absurdes Szenario. Dass die Männer um Offizier Horst S. sich sogar konkret auf eine solche Situation vorbereitet haben wollen, Wasser, Lebensmittel, Munition gebunkert hatten, sollte später auch zur Folge haben, dass sie als Spinner durchgingen und von vielen Medien nicht ernst genommen wurden.
Doch ein Jahr später wurde ein ähnliches Szenario, wenn auch nicht so katastrophal, Wirklichkeit. Covid-19 beherrschte das Leben der Menschen. Wollte man nach Mecklenburg-Vorpommern reisen, musste man plötzlich auf den Autobahnen und Bundesstraßen an Polizeisperren vorbeikommen – Besucher aus anderen Bundesländern durften nicht mehr ohne Weiteres einreisen. Die Szenarien wurden mit jedem Tag beängstigender. Hatten die Nordkreuzler am Ende recht, weil sie sich rechtzeitig auf eine Katastrophe vorbereitet hatten? Die Covid-19-Pandemie schien ein Geschenk für Gruppen wie Nordkreuz zu sein. Denn Zeugenaussagen und die interne Kommunikation zeigen, dass es nie nur der Plan vieler Gruppenmitglieder war, eine solche Katastrophe bloß zu überleben und sich in die Wildnis zurückzuziehen. Sie wollten das Chaos vielmehr aktiv nutzen, um mit den eigenen Feinden abzurechnen. So bestätigte Horst S. den Inhalt eines Gesprächs mit dem Anwalt aus Rostock im Zusammenhang mit einer möglichen Krise: »Hier wurde an mich herangetreten als Bundeswehrsoldat. Zum Beispiel mit der Fragestellung, ob man als Uniformträger diese ›Leute aus den Ordnern‹ im Krisenfall leichter durch Polizeisperren bekommen kann. Um diese Personen dann zu einem Ort mit Tötungsabsicht zu verbringen.«
Ein Ort mit Tötungsabsicht. Ein monströser Satz, der während der Hochphase der Corona-Pandemie – mit den Polizeisperren und der eingeschränkten Bewegungsfreiheit – noch monströser klang, weil das Szenario – »Uniformträger« schmuggeln ihre Feinde auf Lastwagen an Polizeisperren vorbei, um sie an einem anderen Ort umzubringen – plötzlich nicht mehr völlig abwegig schien.
Doch auf den Straßen herrschte während des Corona-Lockdowns im April kein Chaos, sondern gähnende Leere. Große Ruhe. Keine Anschläge. Keine Mobilisierung. Kein Putsch. Während der Pandemie schlug vielmehr die Stunde des Staates, er zeigte sich bei aller Nervosität handlungsfähig. Die Exekutive setzte dafür weitreichende Maßnahmen durch, die nicht zuletzt die Bewegungsfreiheit der Bürger extrem einschränkten. Ist mit der ausgebliebenen Reaktion der Umstürzler erwiesen, dass diese Art von Verschwörern, selbst wenn der Tag X, die Katastrophe, das Chaos, in greifbare Nähe rückt, nicht handlungsfähig ist – stellen sie also gar keine Gefahr dar? Hatte sich damit auch die Bedrohung, die eine Gruppe wie Nordkreuz darstellt, erledigt?
Zentrale Stellen innerhalb der deutschen Terrorabwehr gehen davon aus, dass diese Verschwörer nur und erst dann gefährlich werden, wenn der Tag X tatsächlichgekommen ist und der Staat die Kontrolle verloren hat. Das jedoch ist ein großes Missverständnis. Wieder und wieder haben Rechtsterroristen gezeigt, die zuvor oft über diesen Tag X geredet hatten, dass sie meist eben nicht auf den Moment warten, an dem die Chance für einen Umsturz ihnen quasi in den Schoß fällt. Sie schlagen zu, wann immer es ihnen passt oder sie eine Möglichkeit dazu sehen. Oder wenn der innere Handlungsdruck zu groß wird, wenn sie nicht mehr warten wollen oder können, auf den fernen Tag X. Der NSU ist das beste Beispiel. Die Gruppe hatte große Pläne, wollte das System stürzen, beschränkte sich dann aber auf feige, hinterhältige Morde. Der Hass der Rechtsterroristen kann also jederzeit in Aktionismus und Terror umschlagen, jede Strategie vergessend. Ein großer Traum vieler Rechtsextremisten ist zudem: den Tag X, das Chaos, den Kontrollverlust des Staates, selbst herbeizuführen, mit einem Anschlag, der etwa verschiedene Gruppen in der Bevölkerung gegeneinander aufhetzt, indem man etwa gezielt Migranten tötet, die – so der Plan – dann blutig zurückschlagen, was am Ende einen Bürgerkrieg auslöst. Beamte, Soldaten, Polizisten bereiteten sich offenbar ebenfalls auf dieses Szenario vor, das schon seit langer Zeit in rechtsextremistischen Kreisen diskutiert wird. Obwohl sie einen Amtseid geschworen haben und die Stützen des Staates sein sollen.
Die Vertreter der Exekutive hatten selbst während der Pandemie bewiesen, dass sie, wenn sie wollen, schnell handeln können. Wenn es jedoch um Rechtsterroristen und Feinde in den eigenen Reihen ging, um Extremisten bei Polizei und Bundeswehr, das haben die letzten Jahre auch gezeigt, hat der Staat viel zu oft zu lange zugeschaut – und selbst die größten Chancen verpasst, um zu verhindern, dass eine kleine, aber gut vernetzte Gruppe von rechtsradikalen Soldaten die Bundeswehr mit kontrolliert. Skandale wurden einfach nur überstanden und dienten nicht dazu, wirkliche Reformen bei der Bundeswehr – und der Polizei – anzustoßen. So wuchs eine rechtsextreme Szene auch in Bundeswehr- und Polizeikreisen heran, die seit Anfang der 1990er-Jahre fast ungestört vor sich hin wuchern durfte. Bis fast dreißig Jahre später die kritische Masse erreicht war.
Ein heißer Sommertag Anfang Juni 2019, wenige Monate vor dem Prozess in Schwerin gegen Marko G. alias Hombre, den Elitepolizisten, der die Gruppe Nordkreuz mit anführte. Mähdrescher krochen durch das kleine Dorf Banzkow in Mecklenburg-Vorpommern, südlich von Schwerin. Staub wehte von den trockenen Feldern herüber, durch die sich die Trecker pflügten, um die heiße Erde aufzulockern. An der Hauptstraße im Dorf wohnt der Polizist in einem wuchtigen Haus aus rotem Backstein, das von einem spitzen Dach erdrückt zu werden scheint. Das Kamerateam und ich warten vor dem Haus von Marko G., um mit dem Polizisten ins Gespräch zu kommen. Wir wollen ihm viele Fragen direkt stellen, über seine Pläne, Nordkreuz – und seine Zeit bei der Polizei und der Armee. Er sprach durchaus mit den Medien, wenn er das Gefühl hatte, die Situation unter Kontrolle zu haben. Kritische und konkrete Fragen schätzte er jedoch nicht. Zu uns schickte er erst seine Ehefrau, später seine Tochter, um mich und mein Team abzuwimmeln. Er hatte sich vor Gericht ausführlich über meinen ersten Film beschwert, den er dreimal gesehen habe und in dem er zahlreiche Fehler entdeckt haben will.
Als wir, das Kamerateam und ich, das erste Mal vor seinem Haus warteten, schlenderte ein Nachbar heran, er trug ein durchgeschwitztes dunkles Hemd, auf der Brust stand groß Polizei. Ausgiebig hatte er zuvor den Streifen Rasen zwischen seinem Haus und der Dorfstraße gemäht, ohne die Fremden auf dem Gehweg aus den Augen zu lassen. Der Marko möge das gar nicht, erklärte er freundlich, wenn man einfach so vor seinem Haus auftauche. Verständlich. Knapp zwei Jahre zuvor, am 28. August 2017, hatten maskierte Bundespolizisten, Mitglieder der Spezialeinheit GSG 9, das Haus von G. im Morgengrauen umstellt, bereit, die Tür aufzubrechen und Blendgranaten ins Innere zu werfen.
Marko G. war zu diesem Zeitpunkt schon lange wach, obwohl es erst 4 Uhr 30 am Morgen war. Er hatte sein Auto bereits mit Waffen und Munition vollgeladen, die er in seinem Haus gelagert hatte, in dem er mit seiner zweiten Frau und inzwischen seinen jungen Töchtern wohnt. Er wollte angeblich mal wieder, so erklärte er später, zu einem Schießstand fahren und dort ausgiebig trainieren. Als Polizist des Sondereinsatzkommandos SEK hatte G. früher selbst mit schusssicherer Weste, schwerem Helm und Sturmgewehr bewaffnet Häuser gestürmt, Schwerverbrecher verhaftet oder Verdächtige tagelang beschattet. Vielleicht hat er deswegen an diesem Morgen das Gefühl, dass Fremde sein Haus überfallen wollen. So jedenfalls beschreibt er die Situation später vor Gericht. Er nahm die Schatten vor dem Haus durch das Fenster wahr, griff zu einer geladenen Pistole, eine Glock, feuerbereit. Doch dann zögerte er, legte die Waffe auf den Boden, hob die Hände. In diesem Moment stürmten die Männer der GSG 9 sein Haus.
Marko G. hat sich fast sein ganzes Berufsleben vor allem damit beschäftigt, wie man schnell und effektiv Menschen tötet oder schwer verletzt. Er wurde schon als Jugendlicher in der DDR wie fast alle Heranwachsenden dort in der Gesellschaft für Sicherheit und Technik militärisch ausgebildet, lernte noch vor dem Mauerfall das Fallschirmspringen. Ebenfalls noch zu DDR-Zeiten wurde er zum technischen Zeichner ausgebildet, doch anschließend, nach der Wende, hatte er ganz andere Pläne: G. verpflichtete sich für acht Jahre bei der Bundeswehr. Dort wurde er in Braunschweig Mitglied der Fernspähkompanie 100. Die machte ihn zum Elitesoldaten, dafür ausgebildet, hinter feindlichen Linien zu operieren. Allerdings hatte bis zu diesem Zeitpunkt – Anfang der 1990er – noch nie ein bundesdeutscher Soldat tatsächlich hinter feindlichen Linien operieren müssen. Die Bundeswehr war lange eine Armee, die niemals Krieg führen oder sich verteidigen musste und die damals, nach dem Ende der DDR und dem Kollaps der Sowjetunion, auch keine Feinde mehr zu haben schien. Im Irakkrieg 1991 stellte die Luftwaffe einige Tornados ab, die an der Grenze der Türkei Patrouille flogen – mindestens ein Pilot verweigerte den Dienst, weil er nie erwartet habe, jemals in den Krieg zu ziehen, wie er später erklärte. Das brachte das Dilemma auf den Punkt. Es gab einige deutsche Soldaten, die dachten, sie müssten nie kämpfen, töten, womöglich im Einsatz sterben. Andere dagegen konnten nicht abwarten, zu kämpfen, zu töten, sie hofften, dass mit der Wende auch eine neue Zeit für die Bundeswehr anbrechen würde. Diese Zeit damals, als Marko G. sich als Soldat verpflichtete, erklärt viel darüber, wie die Bundeswehr viele Jahre späte in ihre tiefste Krise geraten konnte.
Obwohl unklar war, wie es mit der Bundeswehr weitergehen würde, wurden Fernspäh-Kandidaten auf alles vorbereitet – auch Marko G. bildete man in verschiedenen Lehrgängen zum Einzelkämpfer, Fallschirmspringer und Fallschirmjäger aus. Bevor es die Kommando Spezialkräfte (KSK) gab, waren die Fernspäher und Fallschirmjäger die Elitesoldaten der Bundeswehr. Sie sollten auch den Grundstock für die KSK bilden, als sie 1996 ins Leben gerufen wurden. Die Fernspäher waren dabei innerhalb und außerhalb der Bundeswehr als Einheit verrufen, die besonders große Probleme mit rechtsradikalen Soldaten hatte. Ein Fernspäher schloss sich später der Friedensbewegung an und packte über seine Zeit bei der Einheit in den späten 1980er-Jahren aus: »Freitag könnt ihr in die Disko gehen und am Türken ausprobieren, was ihr gelernt habt«, habe ein Unteroffizier den Soldaten einmal gesagt. Alle hätten das in Ordnung gefunden, der spätere Aussteiger auch: »Meine Welt war stramm rechts«, und: »Wenn unser Auftrag gewesen wäre, Gert Bastian und Petra Kelly umzubringen, hätten wir das erledigt.«1
Marko G. war also bei den Fernspähern an der richtigen Stelle. In einem internen Forum echauffierte sich ein Ex-Fernspäher schon 2004 über Muslime: »Die Imigranten, welche nach Europa drängen (angeblich Zuhause verfolgt, durch totalitäre Systeme) haben keinerlei Interesse, sich unserer Kultur anzupassen. …Das ist der Gipfel von alledem, unsere Kinder verrecken hier an Heroin (400 jedes Jahr in Deutschland) damit dieser Müll in islamischen Staaten in Saus und Braus leben kann, zudem Milliarden an Gelder für Justiz, Ermittlungsbehörden und Therapien ausgegeben wird? Wird Zeit, daß wir ›Fernspäher‹ das in die Hand nehmen!!!«
Während seiner Ausbildung wurde Hombre noch an einem anderen Standort eingesetzt, der zu einem militärischen Knotenpunkt für viele Neonazis in Deutschland wurde, obwohl – oder gerade weil – dort viele Elitesoldaten ausgebildet wurden: die Luftlandeschule Altenstadt. Viele Eliteeinheiten hatten also ein Problem mit rechts gesinnten Soldaten. Wie andere Fernspäher auch absolvierte Marko G. in Altenstadt auf dem ehemaligen Gelände einer Wehrmachtskaserne seine Ausbildung zum Fallschirmjäger. Die Luftlandeschule, die auf einer Anhöhe über dem kleinen Ort im südlichen Bayern liegt, hatte in den 1990er-Jahren innerhalb der Bundeswehr den schlechtesten Ruf überhaupt. 1998 sollte wegen mehrerer rechtsradikaler Vorfälle in Altenstadt ein Untersuchungsausschuss des Bundestags seine Arbeit aufnehmen. Die Beweisaufnahme dauerte wegen der Bundestagswahl im selben Jahr nur wenige Wochen, sie beförderte aber trotzdem Erschreckendes zutage. Der Abschlussbericht des Ausschusses ist eines der zentralen Dokumente, um die Probleme der Bundeswehr auch heute zu verstehen.2
Eine Schlüsselfigur, so zeigte sich, war Oberst Ulrich Quante, ab 1990 für die Ausbildung in Altenstadt verantwortlich – also auch in der Zeit, als Marko G. dort gedrillt wurde. Der Oberst war, wie die Ermittlungen des Bundestagsausschusses zeigten, ein deutlicher Teil des Problems. Er verehrte die Wehrmacht, vor allem die Fallschirmjäger. Noch 2019 hielt er Vorträge, in denen er minutiös deren Operationen im Zweiten Weltkrieg nachzeichnete, als könnte man sie doch noch oder – in anderen Fällen –, wiedergewinnen. Als Quante das Kommando für Altenstadt 1996 abgab, nutzte er die Chance, um dem »Geist« der Fallschirmjäger der Wehrmacht zu huldigen:
»Der kriegerische Geist, der Kampfgeist, der Korpsgeist, der Geist der Ritterlichkeit. Dieser Geist befähigte deutsche Fallschirmjäger im Kriege zu Leistungen, die anderen als Beispiel dienten, die vielen als unmöglich galten, die vor allem den Soldaten der gegnerischen Armeen Ehrfurcht und Respekt abnötigten, und von deren Ruhm noch heute die Fallschirmjägertruppen aller modernen Armeen zehren. Es ist ein Geist, der seine tiefen Wurzeln in unserer deutschen Militärgeschichte, in unserer abendländischen Kultur und in unserer christlichen Ethik hat. … und unsere deutschen Fallschirmjäger haben für ihren ritterlichen Kampf unsterblichen Ruhm erworben. (…) Denn das ist das Wesen einer Elitetruppe: Die physischen Kräfte können erschöpft sein; die moralischen dürfen es nicht.«
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Unsterblicher Ruhm. Moralische Kräfte. Ehrfurcht, Respekt, Ritterlichkeit, christliche Ethik – Quante ließ in seiner Rede fast nichts aus, nur den Holocaust, Massaker und Kriegsverbrechen erwähnte er nicht. Als er später auf dieses Versäumnis angesprochen wurde, verwies er auf die Umstände seiner Rede – »angesichts eines Schneetreibens habe er sie kurz halten wollen«, notierte der Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses seine Ausrede. Dem harten Chef der Fallschirmspringer war der Schnee zu kalt und zu dicht, wollte er also glauben machen. Das war offenbar nur ein flapsiger Satz, mit dem der Oberst auch seine Verachtung gegenüber dem Parlament auszudrücken schien, da seine wahren Ansichten auch dem Ausschuss bekannt waren. Er hatte in seiner Zeit in Altenstadt damit nie hinter dem Berg gehalten.
Tatsächlich stand Oberst Quante vor seinen Soldaten immer zur Wehrmacht. Er ließ die Kaserne, nur konsequent, jedes Jahr am 20. Mai zum Kreta-Tag antreten. Damit erinnerte er an den größten, blutigsten, aber auch stümperhaftesten Einsatz der Wehrmachts-Fallschirmjäger im Zweiten Weltkrieg. Am 20. Mai 1941 leitete die Wehrmachtsführung die Operation Merkur ein, um die griechische Insel Kreta einzunehmen. Auf der Insel hatten sich britische, australische und neuseeländische Truppen verschanzt, ihre letzte Bastion vor Griechenland. Hermann Göring hatte befohlen, alle Flughäfen auf der Insel auf einmal anzugreifen, dabei hatte die Führung den Widerstand des Gegners unterschätzt – so wurde die Operation ein Fiasko, die Soldaten wurden zur Schlachtbank geführt. 10.000 Fallschirmspringer sprangen über der Insel ab, Tausende wurden in den ersten Stunden abgeschossen, verwundet, fast 5.000 Soldaten – zwischen 17 und 21 Jahre alt – starben. Später nahm die Wehrmacht die Insel nach schweren Kämpfen trotzdem ein – und rächte sich an der griechischen Zivilbevölkerung. Für einen toten deutschen Soldaten, der, was meist nicht stimmte, von einem Einheimischen angegriffen worden war, wurden zehn griechische Zivilisten ermordet. Aber im »Dritten Reich« ging es immer auch um die Propaganda, aus Niederlagen wurden Triumphe, aus Feigheit wurde Mut, aus Grausamkeit ein »Triumph des Willens«.
Oberst Quante war zu jung, um im Zweiten Weltkrieg eine Rolle gespielt zu haben, aber er beschäftigte sich dennoch obsessiv mit den Schlachten dieses Krieges. Fakten waren dabei egal, er verehrte das Bild einer Wehrmacht, die es so nie gegeben hatte, eine ritterliche Wehrmacht, die nie verloren und auch niemals Zivilisten massakriert hatte. Verehrt selbst von den Gegnern, nicht verachtet als Gehilfen von Nazi-Schergen. Quante ließ seine Soldaten am Kreta-Tag einen Kranz an einem Denkmal niederlegen, das der vielen abgeschossenen Fallschirmjäger gedachte, ehe man gemeinsam ein altes Wehrmachtslied sang:
»Auf Kreta da flattern unsre FahnenWir Fallschirmjäger haben doch gesiegtUnd sind auch so viele gefallenDer Ruhm der Fallschirmjäger aber blieb.«
Auch das Lied »Hinter den Bergen« gehörte zum Standardprogramm:
»Fallschirmjäger, Fallschirmjäger gehen an den Feind.Narvik, Rotterdam, Korinth, Kreta und Cassino sind Stätten unserer Siege. Ja, wir greifen immer an;Fallschirmjäger gehen ran, sind bereit zu wagen.«
Kreta stand für vieles, aber nicht für die Stätte eines Sieges der Fallschirmjäger. Doch in der Welt des Oberst Quante schon.
Der damalige Verteidigungsminister Volker Rühe verteidigte das Gedenken an Fallschirmjäger aus dem Zweiten Weltkrieg damals: Man müsse Respekt gegenüber »der Tapferkeit des einzelnen Soldaten« haben, auch wenn er »von einem verbrecherischen Regime missbraucht und dessen Opfer geworden sei«. Es habe »Kriegsverbrechen gegeben, die aber nicht generell den Fallschirmjägern der Wehrmacht unterstellt werden könnten«. Respekt. Tapferkeit. Missbrauch Einzelner, nicht die ganze Wehrmacht und nicht jeder Soldat war schuld – sie waren sogar Opfer. Opfer. Damit war die Linie auch von der politischen Führung abgesegnet.
Unter Quantes Führung konnte Altenstadt auch deshalb zu einer Skandalkaserne werden, die in der Vergangenheit lebte und sich auf diese Wehrmacht bezog, die es so nie gab; andere Vorbilder hatte man nicht. Das wurde aber der Öffentlichkeit erst klar, als der Mann schon wieder weg war. Zu seiner Zeit war Altenstadt von dem Gedanken geprägt, dass die Fallschirmspringer etwas Besseres seien, die Elite – besser als der Feind, viel besser als der Durchschnitt, besser als Frauen sowieso. Es kursierten – in altdeutscher Frakturschrift gedruckt – die »Zehn Gebote der Fallschirmspringer« in der Kaserne von Altenstadt, aufgestellt im »Dritten Reich«, angeblich von Adolf Hitler persönlich redigiert4:
Die Begeisterung für einen Angriffsgeist;erst meine Waffe, dann ich;das Wertvollste ist die Munition – nach diesen Geboten lebte auch Marko G., der Nordkreuzler, bis in die heutige Zeit hinein. Und der Gedanke, man sei der »Protest gegen den Durchschnitt«, mithin die Avantgarde, findet sich genauso bei vielen Terrorgruppen wieder. Sie haben das Gefühl, zu den Auserwählten zu gehören, denen es gestattet ist, Gewalt anzuwenden, um die Mehrheit zu ihrem Glück zu zwingen, sie zu erlösen und in ein utopisches Reich zu führen. Wenn es sein muss, bringen sie auf dem Weg dorthin so viele Menschen wie nötig um.
Welche Konsequenzen die Haltung von einem Oberst wie Quante hatte, sagte später ein ehemaliger Stabsunteroffizier aus: »Zum ersten Mal bin ich mit der militärischen Tradition des Dritten Reiches bei der Fallschirmjäger-Ausbildung in Altenstadt in Berührung gekommen. Es war in der sogenannten Burg, dem Unterrichtszentrum. Auf den Fluren gab es Schaukästen, in denen Ausrüstung, Bewaffnung, Schlachtenpläne, Feldpostbriefe, Todesanzeigen und Truppenfahnen mit Hakenkreuzen ausgestellt waren.«6 Auch in anderen Büros, Stuben oder Besprechungszimmern waren Nazi-Devotionalien keine Seltenheit. Im Zimmer eines Oberstleutnants, der für Personalfragen zuständig war, hing ein Foto von Adolf Hitler, an dem eine Militärformation vorbeimarschiert. Die Unteroffizierstubenwaren mit privat beschafften Nazi-Symbolen, Postern, Fahnen und Statuetten mit Hakenkreuz vollgestellt. Wenn der Militärische Abschirmdienst (MAD), quasi der Verfassungsschutz der Bundeswehr, sich eine Kaserne genauer anschauen wollte, kündigte er sich vorher an. So konnte der Kompaniefeldwebel die Soldaten warnen, die dann NS-Devotionalien verschwinden ließen.
Als die Kaserne in Altenstadt 1993 in Franz-Josef-Strauß-Kaserne umbenannt wurde, sangen die Soldaten unter den Augen von Oberst Quante außer dem Bayernlied und der Nationalhymne auch das alte Wehrmachtslied »Rot wie die Sonne«. Auf Handzetteln wurde darum gebeten, »nach Kräften mitzusingen«:
»Klein unser Häuflein, wild unser Blut.Wir fürchten den Feind nicht und auch nicht den Tod.Wir wissen nur eines, wenn Deutschland in Not.Zu kämpfen, zu siegen, zu sterben den Tod.An die Gewehre, an die Gewehre!«7
Die von oben vorgelebte Verehrung der Wehrmacht und damit des »Dritten Reiches« hatte System und prägte die Soldaten der Generation Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen. Ebenfalls 1993 war eine Gruppe Soldaten, angeführt von einem rechtsradikalen Oberfeldwebel in Altenstadt, aus dem Ruder gelaufen. Man hängte zum Geburtstag Adolf Hitlers, am Kreta-Tag und am Jahrestag des ersten Tags des Zweiten Weltkriegs Einladungen für gemeinsame Feiern an das Schwarze Brett – und sang dann betrunken die alten Lieder, in Stuben, die zuvor mit Hakenkreuzfahnen dekoriert worden waren, fotografierte sich vor den Fahnen, den Arm zum Hitlergruß erhoben. Als der Stern entsprechende Fotos am Heiligabend 1997 veröffentlichte, war die deutsche Öffentlichkeit schockiert. Man glaubt eben nur, was man sieht. Bei den Besäufnissen 1993, als auch Marko G. in Altenstadt ausgebildet wurde, hallten ein ums andere Mal Reden von Goebbels und Hitler über die Gänge. Oft gab es von der Führung dienstfrei für die Soldaten an diesen Tagen, gerade am Geburtstag Hitlers. Später nahmen die Soldaten ein Video auf, »auf dem drei bis vier Unteroffiziere der Einheit ›Heil Hitler‹« riefen und den »Hitler-Gruß und sittlich anstößige Verhaltensweisen zeigten«, wie es im Untersuchungsausschussbericht des Bundestags hieß. Es war nicht das einzige Video, das aus der Kaserne in Altenstadt auftauchte. In einem anderen Video trat »eine Person als Hitler verkleidet« auf, und »verwendete nationalsozialistische Grußformeln und Zeichen«. Daneben wurde eine »Verunglimpfung des Militärischen Abschirmdienstes gezeigt«, berichtete dpa damals. Ein weiteres Video war auf einem Übungsgelände nahe Altenstadt gedreht worden. Es simulierte Erschießungen und enthält antisemitische Äußerungen, wie der Untersuchungsausschuss feststellte. Immer mehr Videos tauchten in der Zeit auf. Unter anderem hatte ein rechtsradikaler Soldat zwei Filme an das Privatfernsehen verkauft, die Soldaten der Kaserne Schneeberg in Sachsen aufgenommen hatten, wo die Gebirgsjäger, eine weitere Elitetruppe, ausgebildet wurden, unterstützt von normalen Wehrpflichtigen.
Ein Hauptgefreiter aus einem kleinen sächsischen Ort, der eigentlich Berufssoldat werden wollte, hatte mit einer privaten Videokamera eine Gruppe Wehrpflichtiger gefilmt, die zuvor eine ganz besondere Rolle gespielt hatten – sie wurden von der Bundeswehr in Kostüme gesteckt, um bosnische Zivilisten und Milizionäre zu spielen. Denn Ende 1995 standen gefährliche Auslandseinsätze für die Bundeswehr an – im Rahmen des IFOR-Einsatzes der NATO, der in Bosnien verhindern sollte, dass der Krieg auf dem Balkan erneut aufflammt. Die Gebirgsjäger aus Schneeberg sollten mit den Komparsen auf ihren Einsatz im früheren Jugoslawien vorbereitet werden. In der einstündigen Mittagspause drehten die verkleideten Soldaten dann ihre eigenen Szenen. Die Deutsche Presseagentur fasste damals den Inhalt zusammen: »Auf dem Video ist zu sehen, wie ein Soldat die Pistole an den Mund seines Kameraden ansetzt, um die Hinrichtung zu simulieren. Ein anderer Soldat stürzt sich in einem Zelt auf einen Kameraden, der eine wehrlose Frau darstellt. Vor dem Zelt warten Soldaten und essen. Eine Stimme ertönt: ›Die Schlange ist lang. Alle Soldaten wollen auf eine Frau.‹ Nach der Vergewaltigung muß sie ein Holzkreuz tragen. Hinter ihr geht ein Soldat mit einer Maschinenpistole. Einige Meter weiter wird die ›Frau‹ an ein Kreuz gehängt. Auch das Aufschlitzen des Halses wurde gespielt. Vier vermummte Gestalten stellen das Erschlagen eines wehrlosen, am Boden liegenden Menschen nach.«8
In dem zweiten Film grüßen Soldaten ihre Vorgesetzten mit »Heil Hitler«, in einer anderen Szene werden Auseinandersetzungen zwischen Neonazis und Linken gezeigt: Einem Soldaten, der einen »Linken« verkörpern soll, hält ein anderer Soldat eine Pistole an den Kopf, schreit dabei »Du linke Sau!« Eine andere Szene lässt es so aussehen, als ob ein Mensch am Boden liegt und brennt. Eine Sequenz zeigt einen Ofen, eine Anspielung, so eine Interpretation, auf den Holocaust. Schließlich werfen die Soldaten aus Schneeberg US-Modellflugzeuge gegen eine Wand und grölen dabei antiamerikanische Parolen.
Es blieb nicht immer bei Filmen. Außerhalb der Kaserne prügelten sich Fallschirmspringer aus Altenstadt mit einer »Gruppe von Türken«, wie die Medien berichteten. Die Vorkommnisse in Altenstadt waren kein Einzelfall. In Siegburg schlugen betrunkene Soldaten in einem Bus auf Fahrgäste ein, in Detmold jagten sie Migranten mit Baseballschlägern durch die Stadt, in Dresden steckten Soldaten ein Heim für Asylbewerber mit an. Schon damals schafften Soldaten auch Munition und Waffen beiseite oder besorgten sich auf anderem Wege Munition. Der Spind des Oberfeldwebels, der in Altenstadt die Gruppe enthemmter Soldaten beaufsichtigt hatte, wurde durchsucht, nachdem man ihn schließlich doch entlassen hatte – er hatte betrunken auf dem Heimweg vom Oktoberfest »Sieg Heil!« gebrüllt. Man stellte darin 55 Patronen russische Übungsmunition sicher. In einer Nachbarkaserne fand man bei einer ähnlichen Durchsuchung bei einem Soldaten, der ebenfalls unter Verdacht stand, rechtsradikal zu sein, ein ganzes Waffenlager, darunter sogar eine »Milan«-Panzerabwehrrakete.
Die Verehrung der Wehrmacht und das Gefühl, dass die Bundeswehr, wenn überhaupt, nur ein Provisorium war, bis es wieder eine Armee in Deutschland geben würde, die nicht nur vom Rand aus zusah, sondern auch angriff, wurde vor allem von der Führung in Altenstadt vorgelebt. Sie zeigte regelmäßig, dass ihr wichtigster Referenzpunkt die Wehrmacht war – und die Verehrung des »Dritten Reiches« kein Problem darstellte. 1994 hatte Oberst Quante ehemalige Angehörige des Standortes eingeladen, darunter Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg. Während des Treffens streckte ein ziviler Angestellter ausdauernd seinen rechten Arm nach oben. Keiner der anwesenden Kompanieführer habe daran Anstoß genommen, hieß es in dem Ausschussbericht des Bundestags – auch Quante habe eine Meldung über den Vorfall nicht für nötig gehalten, »weil offensichtlich jeder der Anwesenden ihn gesehen habe«.9 Da war sie wieder, die Quante-Logik. Konsequenzen hatte der Hitlergruß für den Mann, der ihn so beharrlich dargebracht hatte, keine. In der Luftlandeschule galten eigene Regeln. Tausende Soldaten durchliefen diese sehr spezielle Kaserne. Und viele Ausbilder machten hier Karriere. Zu ihnen gehörte damals der Soldat Andreas Kalbitz, von Oberst Quante persönlich zum Obergefreiten befördert – er blieb bis 2005 in Altenstadt und war dort als schillernde Figur bekannt. Später wurde er Fraktionschef der AfD in Brandenburg, Mitglied des rechtsradikalen Flügels, ein Nazi, der aus der AfD ausgeschlossen wurde, weil er zu rechtsextrem war.
Mit der Wende und den Balkankriegen schienen auch die Männer von Oberst Quante ihrem Ziel näher zu kommen: endlich zu kämpfen, nicht mehr nur zusehen. Endlich beweisen, dass man mit den verehrten Helden aus dem Zweiten Weltkrieg mithalten konnte und den Tod nicht fürchtete. Altenstadt wurde auch deshalb ein immer grausamerer Ort. Zwei Rekruten starben bei einem Absprung aus dem Flugzeug. Gegen einen der beiden lief gerade ein Disziplinarverfahren. Der Oberfeldwebel hatte in Altenstadt Soldaten geschliffen, war mit rechtsradikalen Sprüchen aufgefallen, wurde versetzt, bremste sich auch in seiner neuen Kaserne nicht, ließ seine Soldaten Wehrmachtslieder singen und durfte danach trotzdem nach Altenstadt zurückkehren – wo er dann bei einem missglückten Fallschirmabsprung starb.10
Wegen der Abstürze verließen mehr als ein Dutzend Rekruten Altenstadt. Quante war das egal, er setzte auf diese natürliche Auswahl – nur wer wirklich bereit war, alles zu geben, sollte bleiben –, um dann bald an der Front eingesetzt werden zu können: »Die anderen«, zitiert der Spiegel Quante, »sollen lieber gehen.« Dem Spiegel gab der Oberst in diesem Geist 1995 ein Interview. Es ging darin unter anderem um die Befreiung von Mitarbeitern der Deutschen Welle, die im April 1994 in Ruanda festsaßen, als dort der Genozid an den Tutsi begann. Quante hatte auf einen Einsatz gehofft, doch den Auftrag übernahmen belgische Spezialeinheiten: »Der Kommandeur bedauert es heute noch, dass Belgier am Ende die Geiseln befreien durften: ›Da hätten wir mal die Qualität unserer Ausbildung beweisen können.‹ Doch der erste Ernstfall kommt bestimmt, da ist Quante zuversichtlich: ›Und dann sind meine Männer die ersten, weil sie die besten sind.‹ Motivationsprobleme kennt diese Truppe nicht, im Gegenteil. ›Die muß man eher bremsen‹, lobt Quante.« Der General sprach überraschend offen mit dem Spiegel. Man durfte sich nicht offiziell Kommando nennen, denn eine Kommandoeinheit, die hinter den feindlichen Linien operieren kann und ein eigenes Abzeichen erhält, war vonseiten des Verteidigungsministeriums noch nicht vorgesehen. »Die haben Probleme mit dem Wort Kommando«, sagte Quante dem Spiegel: »Wieso eigentlich?« Der Oberst verriet dem Magazin, dass er bereits 180 Elitekämpfer ausgebildet habe. Er nannte sie jedoch nicht offiziell Kommandosoldaten, auch wenn er sie genauso vielseitig ausbildete. Quante bereitete seine Männer schon wie auf Kommandoeinsätze vor, auch ohne Etat und mit Ausrüstung, die man, so erzählte er dem Magazin, ersatzweise selbst gebastelt hatte. Quante zeigte, welche Waffen seine Männer schon hatten, auch ohne offiziellen Auftrag: »Stolz breiten die Kommando-Soldaten ihr Arsenal aus. Sie beherrschen russische, amerikanische, eigentlich alle gängigen Waffen.11 Im Verteidigungsministerium war man irritiert. Das Magazin zitiert einen Offizier aus dem Führungszentrum des Bundesverteidigungsministeriums, der von Quantes Truppe schließlich erfahren hatte: »›Lieber heute als morgen … würden diese Kerle losstürmen.‹ Bei einem Einsatz, weiß der Ministeriale, ›müssen wir denen jede Sekunde auf die Finger gucken. Da besteht ein erheblicher Nachsteuerungsbedarf.‹« In der Tat. Auch dem Focus berichtete Quante von seinen Plänen.12 Er hatte sich selbst ermächtigt, die Gründung eines Kommandos vorzubereiten – dieser Gedanke der Selbstermächtigung war später auch in der DNA des Kommando Spezialkräfte angelegt, als es schließlich gegründet wurde. So autonom durfte es agieren, allerdings nicht, wie Quante gehofft hatte, unter seinem Kommando.
Als mit dem Stern-Bericht Ende 1997 publik wurde, dass unter dem Oberst Altenstadt zu einer Skandalkaserne geworden war, war ausgerechnet unter ihm schon seit mehreren Jahren weitgehend unbemerkt der Grundstock für eine Kommandoeinheit der Bundeswehr gelegt worden, für eine hoch spezialisierte Stoßtruppe, die es so bislang bei der Bundeswehr nicht gab. Oberst Quante, ein Mann, der die Wehrmacht verehrte und verklärte, und später den Wahlkampf der rechtsradikalen Splitterpartei »Bund Freier Bürger« organisierte, hatte Parlament und Regierung missachtet, das Recht in seine eigene Hand genommen. Er wurde zwar gestoppt und zu einem Heimatschutz-Kommando abkommandiert; Reserveeinheiten, die im Ernstfall die reguläre Armee unterstützen sollen. Zuvor hatte er mehrere Schlüsselfiguren, die noch 25 Jahre später eine Rolle spielten, in den Kommandoverbänden geprägt. Sein Nachfolger in Altenstadt, Oberst Friedrich Jeschonnek, ein Verwandter des Generalstabschefs der Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg Hans Jeschonnek, hielt sich nicht lange. Er hatte einen Saal der Kaserne nach dem General Kurt Student benannt. Student hatte den Einsatz der Fallschirmjäger auf Kreta wesentlich mit geplant und damit Tausende von Soldaten in den Tod geschickt.
Dass man gegen Rechtsradikale nicht durchgriff, wurde auch trotz der vielen alarmierenden Erkenntnisse, die durch den Ausschuss ans Licht kamen, von der politischen Führung weiter vorgelebt. Sie redete das Problem grundsätzlich klein. So schrieben die Regierungsfraktionen der CDU/CSU und FDP in dem Abschlussbericht zur Untersuchung der Bundeswehr 1998:
»Nachdem die Vorfälle in Altenstadt bekannt geworden waren, wurden unverzüglich die notwendigen dienstrechtlichen Maßnahmen eingeleitet. … Sie dürfen nicht als Einzelfälle der Vergangenheit für die Gegenwart verallgemeinert werden. Sie geben nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nur ein verzerrtes Bild von dem damaligen inneren Gefüge in dieser Kompanie wieder. Rückschlüsse auf den Zustand der Kompanie in der Gegenwart dürfen daraus keinesfalls gezogen werden. Bei rund 70.000 Soldaten, die seit 1990 in der Luftlandeschule Altenstadt waren, sind von 1990 bis heute 14 Fälle von Verstößen gegen die Innere Führung mit rechtsradikalem Bezug, teilweise unter Alkoholeinfluß, festgestellt worden. Daraus, wie es die Opposition macht, Rückschlüsse auf die gegenwärtige innere Lage der Bundeswehr zu ziehen, ist verfehlt.«
Der Clou ging bei allem Kleinreden fast unter: 70.000 Soldaten wurden in Altenstadt also zwischen 1990 und 1998 ausgebildet – davon gingen die meisten durch die Hände von Oberst Quante und seinen Männern, die nichts getan hatten, um eine neue Tradition zu schaffen, die ohne die Verherrlichung der Wehrmacht auskommt. Erst sehr viel später würde bekannt, was in der Bundeswehr noch alles möglich war. So ließ es die Bundeswehrführung zu, dass deutsche Soldaten als Freiwillige im jugoslawischen Bürgerkrieg kämpften – seit 1991 rund 200 bis 300 Männer, wie der Militärhistoriker Sönke Neitzel schreibt, der sich auf die Arbeit von Julia Dehm beruft: »Insbesondere aus den Garnisonen in Süddeutschland fuhren viele Männer auf ein verlängertes Wochenende oder im Urlaub an die Front, um Kampferfahrung zu sammeln. Das war zwar illegal, wurde von den Vorgesetzten in vielen Fällen aber gedeckt, da man die Eigeninitiative als wertvolle Bereicherung der Gefechtsausbildung betrachtete.«13 Was diese Einsätze zusätzlich heikel machte: Im jugoslawischen Bürgerkrieg kämpften oft auch Rechtsradikale, eine Gruppe wurde dabei von einem ehemaligen NVA-Offizier angeführt.
Aber trotz dieser Zustände und obwohl sich auch viele Offiziere bei der Aufklärung der rechten Umtriebe so zurückgehalten hatten, machten sie danach Karriere und spielten weiter eine große Rolle innerhalb der Armee, wie der damalige stellvertretende Kommandeur des Kommandos Luftbewegliche Kräfte Brigadegeneral Friedrich Riechmann, der erster Befehlshaber des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr wurde. Der Untersuchungsausschuss des Bundestags hatte zwar binnen kurzer Zeit viele Anhaltspunkte geliefert, wie man künftig Rechtsradikale und Ewiggestrige aus der Bundeswehr raushalten könnte – doch diese Lehren wurden nach der Wahl 1998 bald vergessen, weil die Rot-Grüne Regierung schneller als man sich vorstellen konnte auf die Bundeswehr angewiesen war. So sollte die neue Regierung die Luftwaffe schon 1999 in einen völkerrechtlich umstrittenen Einsatz im Kosovo schicken. Gelernt hatten die Topleute der Bundeswehr durch den Ausschuss zuvor vor allem, dass man Skandale aussitzen kann.
Doch junge Soldaten hätten gerade in dieser Zeit Offiziere gebraucht, die auf die Rekruten und Wehrpflichtigen einwirken, sie von Irrwegen abbringen. Ein Sozialwissenschaftler der Bundeswehr, Heinz-Ulrich Kohr, hatte dem Ausschuss erklärt, dass die Armee schon damals kein Spiegel der Gesellschaft mehr war, sondern vielmehr eine bestimmte Gruppe von Kandidaten überproportional anzog: »Modernisierungsverlierer«, viele aus Ostdeutschland, die mit ihrer »geistigen Orientierung in den letzten Jahren das Klima in den Streitkräften mitbestimmt haben, insbesondere wenn man sich vonseiten der Offiziere nicht offensiv mit den damit verbundenen Einstellungen auseinandersetzte«.14Nicht nur Kohr hatte 1992 in seiner Studie darauf hingewiesen, dass sich »soziologische Veränderungen bei den Rekrutierten abzeichneten«, andere Experten schlugen vor dem Ausschuss ebenfalls vor, diesen Entwicklungen mit Studien nachzugehen, aber, so hielt man später im Abschlussbericht fest: »Die militärische Führung und die politische Leitung ging[en] darauf nicht ein.«15Nach dem Motto: Was wissenschaftlich nicht erfasst wird, gibt es nicht. Über 20 Jahre später sollte es wieder so laufen, als es um rechtsradikale Strukturen in der Polizei ging.
Schon der Ausschuss 1998 war eine grandios verpasste Chance, da vor allem der Militärische Abschirmdienst, dafür zuständig, die Bundeswehr vor Extremisten abzuschirmen, deutlich genug darstellte, wie systematisch das Problem mit den Rechtsradikalen war. Man hatte es auch nicht mit einem Phänomen zu tun, das bald wieder verschwinden würde. Der Ausschuss erfuhr etwa, dass erste eindringliche Warnungen schon 1992 nicht ernst genommen worden waren, also sechs Jahre vertan wurden. So sagte der damalige MAD-Präsident Rudolf von Hoegen vor dem Ausschuss, dass sein Dienst schon kurz nach der Wende die militärische Führung alarmiert hatte. Er persönlich habe damals den Inspekteur des Heeres gewarnt, dass der Rechtsextremismus ein ernst zu nehmendes Problem für das »innere Gefüge der Streitkräfte« darstelle. Man habe jedoch nicht auf ihn gehört – denn in dieser Zeit habe noch die Auffassung bestanden, dass Extremismus ebenso wie die Spionage kein Thema mehr sei.
Der Ausschuss des Bundestags musste außerdem erfahren, dass die rechte Szene die vertane Zeit, in der sie wieder einmal nicht ernst genommen wurde, effektiv genutzt hatte, so hatte der MAD-Chef erklärt: »In den Jahren 1994 und 1995 habe es einen Qualitätssprung in der rechtsextremistischen Szene gegeben, der auch zu anderen Dimensionen geführt habe.« Gezielt wurde etwa in der Szene dazu aufgerufen, sich als Soldat bei der Fallschirmjägertruppe zu melden. Der MAD-Chef suchte daraufhin erneut den Inspekteur des Heeres auf und warnte ihn, dass der MAD »auf Grund von Aufrufen und Verwendungswünschen bei Kreiswehrersatzämtern« eine besondere Gefährdung für die Fallschirmjäger sehe. Ein MAD-Offizier erklärte, dass es noch weitere Probleme gebe – besonders raffinierte Rechtsextremistische, die »nicht durch ihr äußeres Erscheinungsbild auffielen«, erkenne man gar nicht. Schlimmer noch: Diese gehörten im Dienst häufig zum ersten Leistungsdrittel ihrer Einheit. Sie wollten zudem möglichst lange in der Bundeswehr bleiben, »um dort führen zu lernen und um später möglicherweise in einer Wehrsportgruppe eine Führungsrolle übernehmen zu können«.16
Tatsächlich hatte auch der Staatsschutz der Kriminalpolizei schon damals ebenfalls die Beobachtung gemacht, dass Rechtsextremisten gezielt die Bundeswehr und andere staatliche Stellen unterwandern wollten. So in Thüringen, wo die rechte Szene besonders straff organisiert war und der Thüringer Heimatschutz zur Wiege des Nationalistischen Untergrunds wurde. Das LKA fand bei Rechtsextremen Unterlagen, die Polizei und Bundeswehr direkt betrafen. Die Vordenker der Bewegung forderten in den internen Konzepten eine »Infiltrierung der Behörden von Gesinnungsgenossen in Sicherheitseinrichtungen wie Bundeswehr, Polizei, öffent. Verwaltung u. a.«. Ein Neonazi-Magazin aus Thüringen schrieb: »Es wird ermahnt, Posten in öffentlichen Ämtern zu übernehmen (Polizei, Bundeswehr …), hierbei Führungspositionen anzustreben, um damit Einfluss zugunsten der revolutionären Kameraden auszuüben.« 17 Bis dahin solle man sich unauffällig verhalten. Infiltrierung. Führungspositionen in der Polizei und Bundeswehr anstreben. Die Kader hinter der Revolution sollten für das verhasste System nicht erkennbar sein und in die Haut eines biederen Bürgers schlüpfen. Die anderen in Massen in die Bundeswehr eintreten. Dieses Konzept sollten die deutschen Rechtsextremen über Jahre weiterverfolgen, nachdem es Mitte der 1990er-Jahre bereits mit großem Erfolg umgesetzt wurde. Es war so erfolgreich, dass der Militärische Abschirmdienst nicht mehr hinterherkam.