Der dicke Mann - Wolfgang Armin Strauch - E-Book + Hörbuch

Der dicke Mann E-Book und Hörbuch

Wolfgang Armin Strauch

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Beschreibung

1967. Ein brutaler Frauenmord erschüttert Krakau. Der junge Kriminalist Andrzej stellt schnell fest, dass der Fall mit der Spionagetätigkeit des Opfers im Zweiten Weltkrieg zu tun haben muss. Alina, die einzige Verwandte, kann nur wenig helfen. Doch dann findet sie den Brief ihrer Mutter, Namenslisten und ein Schreiben in hebräischer Schrift. Andrzej und Alina versuchen, das Puzzle zusammenzusetzen. Sie erfahren von der großen Liebe zwischen der polnischen Mutter Alinas und ihrem deutschen Freund in einer schweren Zeit. Doch was hat das alles mit den Hinweisen auf den "dicken Mann" zu tun? Der spannende und mitreißende Kriminalroman behandelt eine schwierige Problematik mit unkonventionellen Mitteln und ohne erhobenen Zeigefinger.

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Seitenzahl: 333

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Zeit:7 Std. 28 min

Sprecher:Kaja Sesterhenn
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Wolfgang Armin Strauch

Der dicke Mann

Kriminalroman

© 2020 Wolfgang Armin Strauch

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

Umschlagfotos: © fotoru

ISBN

Paperback:

978-3-347-18115-1

Hardcover:

978-3-347-18116-8

e-Book:

978-3-347-18117-5

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Vorwort

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

Angaben zum Autor

Vorwort

Graudenz war bis zum Ende des Ersten Weltkrieg eine Stadt, in der überwiegend Deutsche lebten. Polen waren die Minderheit. Allerdings wurden sie von den Siegermächten nach dem Krieg dem neuen polnischen Staat zugeschlagen. Und aus der deutschen wurde eine polnische Stadt, in der auch vorrangig Polen wohnten. Die Deutschen wurden zur Minderheit. Aus Graudenz wurde Grudziądz.

Auch Straßen und Plätze bekamen neue Namen. Doch auch nachdem die Stadt umbenannt wurde, bezeichneten die Menschen sie aus Bequemlichkeit mit dem alten Namen. Denn die Burg stand immer noch am alten Platz und die Weichsel floss wie ehedem an der Stadt vorbei in Richtung Danzig, wo sie sich mit der Ostsee vereinigte. Sie kümmerte sich nicht darum, wer das Sagen hat oder welche Namen die Menschen sich für die Stadt ausdachten.

Ich weiß nicht, warum man die Stadt Graudenz genannt hat. Früher dachte ich, dass es an der Farbe der alten Gemäuer der Burg lag: grau – jene Schattierung zwischen weiß, der Farbe der Unschuld, und schwarz, der Farbe des Todes. Jene undefinierte Schattierung, die man gern für die Beschreibung trauriger Zeiten benutzt und Menschen ohne Eigenschaften anheftet. Farblose ohne Charakter. Den bisherigen Bewohner und den neuen Bürgern der Stadt war das egal. Menschen suchen sich den Platz zum Leben schließlich nicht nach dem Namen des Ortes aus.

Und überall, wo Menschen sind, gibt es Liebe. Selbst in den dunkelsten Zeiten werden Kinder gezeugt, weil Menschen Hoffnungen in sich tragen, die stärker sind als die Verzweiflung.

Die Nachgeborenen fragen irgendwann nach dem Leben ihrer Vorfahren und sind dazu verdammt, mit der Geschichte umzugehen, die sie nicht zu verantworten haben, aber deren Preis sie zahlen müssen. Wie hoch dieser ist, bestimmen die Eltern – denn sie haben es in der Hand, ihren Kindern eine Welt zu hinterlassen, die ohne Hass auskommt.

Die Burg steht immer noch da. Trutzig blickt sie auf die Menschen. Sie hat mit der Zeit einige Steine verloren, doch der Weichsel ist das egal. Sie fließt nach Norden und nimmt viele salzige Tränen mit. So wie vor 1000 Jahren.

Wolfgang Armin Strauch, 2020

1. Kapitel

Es traf ihn völlig unvorbereitet. Nur wenige Meter von ihm entfernt saßen zwei Frauen an einem Tisch. Hatten sie ihn schon entdeckt? Sprachen sie vielleicht gerade über ihn?

Für einen Zweimetermann ist es kaum möglich, sich zu verstecken. Er drehte sich weg und senkte seinen Kopf. Doch aus den Augenwinkeln beobachtete er das Geschehen.

Jadwiga war merklich gealtert. Sie müsste jetzt um die 50 sein. Eva hingegen schien noch ihre Jugendlichkeit behalten zu haben. Er sah sie im Profil und nur mithilfe des Spiegels, der über dem Tresen angebracht war und ihr Bild verzerrte. Unter anderen Umständen hätte er versucht, Kontakt mit den Frauen aufzunehmen. Doch diese zwei Menschen waren für ihn nun lebensgefährlich.

Er glaubte nicht an Schicksal. Göttliche Vorsehung war für ihn ein Begriff ohne Wert. Zu oft hatte er schon über Leben und Tod entschieden. Früher holte er sich in der Kirche die Absolution für seine Sünden. Doch als ihn ein Pfaffe unter Druck setzte, hatte er den Schwätzer noch im Beichtstuhl zu seinem Schöpfer geschickt.

Eva lachte laut auf. Spottete sie über ihn? Die Frauen sahen sich ein Foto an. Er befand sich zu weit von ihnen entfernt, um Einzelheiten zu erkennen. Kalter Schweiß ließ ihn frösteln. Schon lange hatte er nicht mehr an seine filigrane Situation gedacht: Ein Windhauch reichte, um sein Kartenhaus zu zerstören. Alles wäre vorbei. Hatte ihn der Zufall in die Falle gelockt?

Am Tisch warteten seine Bekannten. Sie gehörten zu einer Reisegruppe aus Warschau. Er hatte sie erst gestern auf dem Wawel kennengelernt. Das Angebot zu einem Umtrunk hatte er gern angenommen, denn er hatte nichts vor und seine Unterkunft war ungemütlich.

Wenige Meter trennten ihn von den beiden Frauen. Der Mann schob seinen massigen Körper durch das voll besetzte Lokal und setzte sich auf den unbequemen Stuhl. Auf diesem Platz war es unvermeidlich, dass ihn Besucher der Toilette erblickten. Wenn sie ihn bisher nicht erkannt hatten, würden sie ihn spätestens beim nächsten Toilettengang sehen. Er war zu groß und zu fett, als dass er unbemerkt bliebe. Die anderen Stühle an seinem Tisch waren besetzt.

Während sich seine Bekannten über ein ungleiches Paar amüsierten, das einander volltrunken am Tresen mit Schimpfworten beleidigte, suchte er nach einem Fluchtweg. Zur Not blieb ihm nur das Fenster. Die Vorstellung allein ließ ihn erschaudern. Wenn die Polizei käme, müsste er diesen Weg nehmen. Er saß in der Falle. In der Tasche hatte er ein schweres Taschenmesser, mit dem er die Scheiben zerschlagen konnte. Sollte das Haus umstellt sein, würde er in die Arme der Miliz laufen. Kalter Schweiß lief von seiner Stirn herab.

Das Essen kam. Er schob den Teller zur Tischmitte. Edward frotzelte: „Na, noch satt von gestern?“ Statt einer Antwort schüttete der Mann den Rest Wodka in sich hinein und suchte krampfhaft nach Alternativen. Das Restaurant war wie ein Schlauch. Die Toilette war zu klein, um sich dort längere Zeit aufzuhalten. Den Weg durch die Küche versperrten die vielen Gäste am Tresen.

Letztendlich blieb lediglich der Ausgang, um das Sichtfeld der Frauen zu verlassen. Es war Zeit zum Handeln. Wenn er jetzt die Initiative ergriff, hatte er vielleicht eine Chance. Abzuwarten war nicht seine Sache. So zerknüllte er die halbvolle Zigarettenpackung, brubbelte etwas von „Zigaretten kaufen“ und erhob sich vom Stuhl. Er holte ein Taschentuch hervor und schnaubte hinein. Nur seine Augen lugten über den Rand. Er sah, dass auch die Frauen bezahlten. Er musste vor ihnen das Lokal verlassen.

Schnell nahm er Hut und Mantel vom Garderobenständer. Mit ein paar Rempeleien an den voll besetzten Stehtischen gelangte er zur Tür. Ohne sich umzudrehen, stieß er sie auf, sprang die Treppe hinab und mischte sich unter die Passanten. Ein Pappschild mit einer Losung zum Nationalfeiertag versperrte die Sicht zur Gaststätte.

Hatte ihn jemand verfolgt? Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und versuchte dabei, den Ausgang im Blick zu behalten. Die Frauen kamen heraus.

Jadwiga drehte sich um. Hatte sie ihn doch gesehen oder bildete er sich das nur ein?

Die Hände zitterten, das Herz schmerzte. Ihm wurde schwarz vor Augen. Sein starkes Übergewicht trieb den Blutdruck in die Höhe. Die Lunge schrie nach Sauerstoff. Gestützt an einem Straßenpoller versuchte er, sich zu beruhigen. Tief sog er die Luft ein, griff in seine Tasche und holte die Pipette mit dem Nitroglyzerin heraus. Nach einigen Tropfen normalisierte sich sein Zustand. Die Gedanken wurden wieder klarer.

Der dicke Mann überlegte: Sollte er in eine der altertümlichen Gassen flüchten? Das hätte aber nur Sinn, wenn er nicht entdeckt worden war, denn sein Körpergewicht verhinderte jede schnelle Bewegung. Wegzulaufen löste das Problem nicht, das sich vor ihm wie eine dunkle Wand auftürmte.

Es war Sonnabend, der 22. Juli 1967, Polens Nationalfeiertag. Überall auf der Straße gab es Buden mit Essen, Trinken und dem üblichen Touristenkitsch. Von Bühnen dröhnte Musik, die sich mit dem Gemurmel der Passanten vermischte. Bisher war nichts geschehen. Die beiden Frauen liefen langsam durch die Ulica Grodzka in Richtung Wawel. Der Mann taxierte seine Chancen. Falls sie ihn nicht gesehen hatten, blieb immer noch die Tatsache, dass zwei gefährliche Zeugen am Leben waren.

Während er die Frauen in gehörigem Abstand verfolgte, suchte der dicke Mann die Umgebung nach Milizionären ab. Viele Leute waren auf der Straße. Sicherheitshalber blieb er am Schaufenster eines Juweliers stehen und beobachtete in den Spiegeln der Auslagen die vorbeilaufenden Passanten. Scheinbar hatte er keine Verfolger. Er beeilte sich, um die Frauen nicht aus dem Blick zu verlieren.

Jadwiga war zwar modisch angezogen, doch bemerkte man ihr Alter am etwas schleppenden Gang. Eva steckte in einem festlichen Kostüm. Für seine Begriffe war es zu modern. Wollte sie mit den Studentinnen mithalten, die die Straßen belebten? Er bekam einige Zweifel. War sie das wirklich? Möglicherweise täuschte er sich. Doch die Statur und ihr Gang ließen seine Unsicherheit wanken.

Bei Jadwiga war er sich sicher. Er könnte einfach weggehen. In Krakau kannte ihn niemand. Eine Suche wäre aussichtslos. Doch aus Eitelkeit hatte er einen Fehler begangen, der nicht mehr zu revidieren war. Bei der Besichtigung des Wawels hatte ihn nämlich jemand fotografiert und er war so unvorsichtig, seinen Namen zu nennen. Als ihm der Mann seine Karte reichte, begriff er den Fauxpas. Der Fotograf war von der „Trybuna Ludu“. Vielleicht würde sein Bild in der Zeitung landesweit abgedruckt. Das Risiko, dass ihn jemand erkannte, hatte er zunächst aber beiseitegeschoben. Jetzt war es anders. Aufgrund seiner Größe und Statur war er unverwechselbar.

Krakau war voller Touristen. Doch er überragte die meisten Menschen. So fiel es ihm leicht, den beiden Frauen aus einigem Abstand zu folgen. Falls sie sich umsahen, gab es genügend Möglichkeiten, in einen Hauseingang zu schlüpfen. Außerdem dämmerte es. Er hatte noch keinen Plan, war sich aber sicher, dass er handeln würde.

Der Aufstieg zum Wawel kam in Sicht. Die Frauen blieben stehen. Er gesellte sich zu einer Gruppe Passanten, die einem Akkordeonspieler zuhörten. Um nicht aufzufallen, griff er in die Tasche und warf dem Musiker eine Münze in den Hut. Dieser sah auf und bedankte sich bei ihm. Der dicke Mann hätte gern zugehört, doch er musste aufpassen, dass die beiden Frauen nicht aus seinem Gesichtsfeld verschwanden. Er konnte gerade noch sehen, wie sich Eva verabschiedete. Sie ging in Richtung Wawel, drehte sich dann aber noch einmal um und winkte der Begleiterin zu.

Der Aufstieg zum Wawel bot keine Möglichkeiten zur Tarnung und war außerdem zu steil. Erst sah es so aus, als ob Jadwiga zum Markt zurückgehen würde, doch sie nahm den Weg in den Park, der die Altstadt umschloss. Einige Schritte hinter einem Restaurant bog sie ab, überquerte eine breite Straße und schwenkte schließlich in einen Durchgang zwischen zwei Häusern. Er war schmal und reichte knapp für eine Person. Kletterpflanzen wucherten an den Wänden und schienen die Frau zu verschlucken.

Der dicke Mann befürchtete, dass er sie verloren hatte, doch auf Höhe des Eingangs erkannte er ihre Statur im Gegenlicht einer Straßenlaterne, die gerade zündete. Noch flackernd zögerte sie, ihre Strahlen auf die Straße zu werfen. Die Dämmerung ließ alles schemenhaft erscheinen. Im spärlichen Restlicht des Tages sah er die Kontur der Frau. Er beeilte sich. Bevor sie ins Licht treten konnte, flüsterte er: „Jadwiga!“

Die Frau drehte sich um. Die Verzögerung reichte. Seine kräftigen Hände schlangen sich um ihren Hals. Sie versuchte, den Griff zu lösen, schlug mit den Armen um sich, kratzte ihn und strampelte mit den Beinen. Doch sie hatte keine Chance. In ihren Augen spiegelte sich Entsetzen.

Sein fetter Körper presste sie gegen die Wand. Die Blätter der Kletterpflanze raschelten. Seine Daumen zerbrachen die empfindlichen Strukturen des Zungenbeins. Noch einmal verstärkte er den Druck. All sein Hass brach in diesem Moment aus ihm heraus. Die Frau war bereits tot.

Der Angreifer löste seine Hände. Ein Rest Luft entwich mit einem Röcheln aus der Lunge. Der Mund hatte sich leicht geöffnet. Der Hilfeschrei blieb lautlos. Das Gehirn hatte schon die Arbeit eingestellt. Der Zerfall des Körpers setzte bereits ein.

Es war vollbracht. Erst jetzt nahm der Mann die tiefen Falten in ihrem Gesicht wahr. Etwas Schminke und Lippenstift versuchten, das Alter zu verbergen. Er bemerkte den Duft des deutschen Parfüms „Kölnisch Wasser 4711“, das auch seine Frau benutzte. Wie ein Sack fiel Jadwiga zu Boden. Skurril verdrehten sich die Beine. Der dicke Mann stieß mit den Füßen gegen das Gesicht, dessen offene Augen ihn anglotzten. Er riss ihr die Kette mit einem großen Bernstein vom Hals und hob ihre Tasche auf. Die Beute schob er unter sein Jackett. Es war wie ein Rausch.

Nun erst dachte er an mögliche Zeugen und einen Fluchtweg. Er sah sich um. Hinter sich auf der Straße huschten ab und zu Passanten vorbei. Dass sie ihn sahen, war unwahrscheinlich. Er stand im Dunkeln. Als ein LKW vorbeifuhr, trat er auf den Gehweg. Nur kurz sah er zurück. Die Gasse verbarg den Tatort. Nichts verriet, dass er gerade einen Menschen getötet hatte.

Nach etwa zweihundert Metern setzte er sich auf eine Bank. Wie beiläufig prüfte er die Umgebung. Dann durchsuchte er die Tasche. Er entnahm ihr die Geldbörse, einen Ausweis und den Wohnungsschlüssel. Den Rest warf er in den Papierkorb. Die Kette steckte er in die Jackentasche. Es war seine Trophäe. Sie würde ihn an den Sieg über die Vergangenheit erinnern.

Zehn Minuten später saß er wieder im Restaurant. Sein Glas war gefüllt. Er stand auf und stieß mit seinen Bekannten an. Mehrere Runden Wodka bestellte er auf seine Rechnung. Dann bezahlte er und ging. Die Unterkunft war nicht weit entfernt. Trotz des Alkohols fühlte er sich fit. Auf den Armen waren einige Kratzer von Jadwigas Fingernägeln. Im Halbschlaf dachte er an Eva.

2. Kapitel

Der Anruf kam um 02: 00 Uhr. Mühsam drehte sich Andrzej Mazur zur Seite, um das nervige Klingeln zu beenden. Der Diensthabende der Miliz meldete den Mord an einer älteren Frau. Der Tatort sei in der Innenstadt und bereits abgesichert. Gerichtsmediziner und Kriminaltechnik waren informiert.

Während er sich anzog, tauchte seine Mutter auf. Ihr feines Gehör hatte sie geweckt.

„Musst du los?“

„Ja. Pack mir bitte noch ein paar Brote ein! Ich weiß nicht, wie lange es dauert.“

Er rasierte sich, um halbwegs zivilisiert zu wirken. Sein Hemd war frisch gebügelt und eine passende Krawatte hatte seine Mutter bereitgelegt. Statt das Jackett anzuziehen, nahm er die Lederjacke vom Haken. Auf dem Motorrad war sie praktischer. Im Dienstzimmer würde er sich umziehen.

Dann steckte er Brote und eine Thermoskanne in die Aktentasche. Mit einem Kuss auf die Wange verabschiedete er sich von ihr und verschwand im Hausflur. Von einer kleinen Erbschaft hatte er ein tschechisches Motorrad gekauft. Die „350er Jawa“ war weinrot. Chromteile spiegelten die Straßenbeleuchtung. Beim ersten Tritt sprang der Motor an. Kraftvoll vibrierte das Gefährt. Er drehte am Griff und ließ die Kupplung kommen. Die Maschine beschleunigte und zog den Fahrer in die Nacht.

Seine Kollegen hatten Mazur den Spitznamen „Jawa“ verpasst. Er wehrte sich nicht dagegen. Vielleicht war er sogar etwas stolz darauf. Ihn regte eher die Überheblichkeit einiger altgedienter Milizionäre auf, die ihn mit seinen achtundzwanzig Jahren immer noch als Frischling ansahen. Dabei besaß er einen Hochschulabschluss und war bereits in bedeutende Fälle einbezogen worden. Dass er jetzt zu einem Mord gerufen wurde, war allerdings der Tatsache geschuldet, dass am Sonntag nach dem Feiertag viele Kollegen freihatten. Es war ihm recht. Mord ist Mord.

Der Tatort war leicht abzusichern, da die schmale Gasse lediglich zwei Zugänge hatte. Die Streife hatte einige Böcke der nahen Baustelle dazu genutzt. Zusätzlich standen Milizionäre auf beiden Seiten. Scheinwerfer beleuchteten den Tatort. Kriminaltechniker suchten alles nach Spuren ab. Angesichts des Schotterwegs, der unverputzten Hauswände und der Kletterpflanzen schien die Mühe aber sinnlos zu sein. Trotzdem prüften sie Zentimeter für Zentimeter. Der Gerichtsmediziner wartete bereits.

Das Opfer war eine ca. 50-jährige gepflegt wirkende Frau mit ausgesprochen stark ausgeprägten Würgemale am Hals. Weitere Verletzungen zeigten sich im Gesicht und am Oberkörper. Abgebrochene Fingernägel sowie Hämatome an Armen und Beinen wiesen darauf hin, dass sich das Opfer gewehrt hatte. Dr. Zeman schloss für den Moment ein Sexualdelikt aus. Er beugte sich über das Gesicht der Leiche.

„Riechen Sie das? Ich würde sagen, es ist ‚Kölnisch Wasser 4711‘.“

Auch Mazur vernahm den süßlichen Duft, doch mit Parfüm kannte er sich nicht aus.

Ein Krankenwagen stand am Straßenrand. Rettungshelfer kümmerten sich um einen Mann, der sichtbar nach Luft rang. Er hatte die tote Frau entdeckt.

Mazur ließ sich die Angaben zu Zeitpunkt und Fundort bestätigen. Da keine Papiere bei der Leiche gefunden wurden, bat er den Zeugen, einen Blick auf die Leiche zu werfen.

„Es ist Jadwiga Klimek aus der 32.“

Bei der Nummer 32 handelte es sich um ein dreigeschossiges altes Bürgerhaus mit einem kleinen Portal und einer riesigen Tür, die mit Elementen des Jugendstils umrahmt war. Das verschnörkelte Klingelbrett war aus Messing. Das Opfer wohnte in der zweiten Etage. Erst nach langem Klingeln öffnete sich ein Fenster. Ein angetrunkener Mann brüllte unverständliche Worte auf die Straße. Als Mazur trotzdem noch einmal klingelte, meldete sich jemand aus der Erdgeschoßwohnung.

„Klimek ist besoffen. Versuchen Sie es morgen Mittag. Vielleicht ist er dann wieder klar.“

Mazur ließ nicht locker und rief: „Wir sind von der Miliz und müssen Herrn Klimek unbedingt sprechen. Bitte öffnen Sie die Tür!“

Der Nachbar öffnete die Haustür. „Ist etwas passiert?“

Der Kriminalist sowie zwei uniformierte Milizionäre betraten das Haus.

„Wann haben Sie Frau Klimek das letzte Mal gesehen?“

Der Nachbar zögerte.

„Ich weiß nicht. Vielleicht gestern Nachmittag.“

Nach langem Klopfen und Klingeln öffnete sich die Tür der Wohnung, in der Opfer gelebt hatte, einen Spalt.

„Was wollen Sie?“

Mazur zeigte seinen Ausweis. „Wir sind von der Miliz, Herr Klimek. Es geht um Ihre Schwester.“

Der Mann glotzte ihn an, als käme er aus einer anderen Welt. Er stank nach Alkohol und Urin. Sein Nachthemd war mit Erbrochenem bekleckert.

„Was soll das? Lasst mich in Ruhe, ihr Hunde!“

Ohne abzuwarten, schob sich Mazur an Klimek vorbei in die Wohnung.

„Wann haben Sie ihre Schwester das letzte Mal gesehen?“

„Weiß ich nicht. Wenn sie nicht im Zimmer ist, ist sie nicht da.“

Er wies auf eine Tür. Sie war verschlossen. Klimek behauptete, keinen Schlüssel zu haben. Mit etwas Gewalt gelang es einem Milizionär, die Tür zu öffnen. Das Zimmer war sehr ordentlich. Ein Bücherregal dominierte den Raum. An den Wänden hingen einige Familienfotos. Mazur suchte nach Ausweisen oder sonstigen Papieren für eine Identifizierung. In einem Schubfach fand sich ein Betriebsausweis mit Lichtbild. Das Opfer war Jadwiga Klimek.

Eine Befragung ihres Bruders hatte keinen Sinn. Der Kriminalist legte eine Visitenkarte auf den Tisch, auf der er einen Termin für 13: 00 Uhr vermerkte.

Die Kriminaltechnik und der Gerichtsmediziner hatten nichts Überraschendes zu berichten. So schrieb Mazur einen Kurzbericht für seinen Chef. Auf dem Deckblatt stand „Mordsache Jadwiga Klimek“.

Gegen acht Uhr wurde er zu seinem Chef gerufen, der ihn zum bisherigen Ermittlungsstand befragte. Angesichts der großen Brutalität vermutete Mazur eine Beziehungstat. Wäre es ein Raub, hätte der Täter die Tasche gegriffen und das Weite gesucht. Erdrosseln ist allerdings eine andere Kategorie: Man kommt dem Opfer sehr nah und es besteht immer die Gefahr, dass es um Hilfe ruft und sich massiv wehrt.

Der Täter war offensichtlich körperlich überlegen. Dafür sprachen die intensiven Würgemale. Die Hände hatten in der Haut große tiefblaue Spuren hinterlassen. Eine Sexualstraftat hatte der Gerichtsmediziner sicher ausgeschlossen. Wie erwartet, fanden sich am Tatort keine Fingerabdrücke oder Fußspuren.

„Kommt der Bruder des Opfers für die Tat infrage?“

„Auszuschließen ist es nicht. Er war volltrunken. Für 13: 00 Uhr ist eine Befragung geplant.“

Der Chef übertrug Mazur offiziell den Mordfall. Drei Leute standen ihm als Mordkommission zur Verfügung. Hinzu kamen Milizionäre, die für das Stadtviertel zuständig waren. Unter ihnen befand sich Adam Krawczyk, der bereits mit seinen Kollegen die Befragung der Nachbarn aufgenommen hatte. Da die Tote keine Tasche bei sich hatte und der Schlüssel unauffindbar war, suchten die Einsatzkräfte die Umgebung ab. Sonntag früh waren wenige Passanten unterwegs, daher sah Mazur gute Chancen für den Einsatz eines Fährtenhundes.

Die Befragung der Nachbarn ergab nur, dass Frau Klimek in der Bibliothek der Universität arbeitete. Für die meisten war sie die nette Schwester eines ehemaligen Offiziers, der ständig betrunken war.

Über die Universitätsleitung erhielt die Mordkommission Einsicht in die Personalakte. Jadwiga Klimek hatte bereits vor dem Krieg in der Bibliothek gearbeitet. Laut einer amtlichen Bescheinigung war sie von der Gestapo 1944 festgenommen worden. Sie gehörte zu den Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz. Nach dem Krieg bekam sie ihre alte Arbeit in der Bibliothek wieder. Die Beurteilungen schilderten sie als fleißig, freundlich und zuvorkommend. Ursprünglich kam sie aus einem kleinen Ort bei Graudenz, lebte aber seit den 30er-Jahren in Krakau unter der gleichen Adresse. Die Wohnung hatte sie von einer Tante geerbt.

Zu ihrem Bruder Tadeusz Klimek fanden sich im Archiv der Miliz einige Einträge. Vor dem Krieg war er bei den Stadtverwaltungen in Graudenz und in Krakau tätig. 1939 wurde er zur polnischen Armee eingezogen. Nach der Niederlage Polens lebte er in der Sowjetunion. Über diese Zeit waren keine Unterlagen auffindbar. Ab 1943 gehörte er als Offizier zur 1. polnischen Armee. Unter Divisionsgeneral Stanisław Popławski nahm er an einigen Schlachten teil. Nach dem Krieg arbeitete er im Bauamt der Stadt Krakau, wurde aber aufgrund einer Kriegsverletzung 1963 invalidisiert. Ein Gesprächsprotokoll ließ darauf schließen, dass Alkoholismus der eigentliche Grund seiner Entlassung war.

In der Stadtverwaltung fand sich ein Beleg, wonach er Erziehungsberechtigter für seine Enkelin Alina Klimek war, die aber nicht mehr hier wohnte. Im Archiv der Miliz gab es zahlreiche Beschwerden wegen Ruhestörung. Mehrfach hatte er unter Alkohol Nachbarn beleidigt. Es kam zu Gewalttätigkeiten, in deren Ergebnis er zu Geldstrafen verurteilt wurde.

Gegen 10: 00 Uhr kam der Fährtenhund. Mazur setzte große Hoffnungen auf „Alex“. Der Hund nahm am Tatort die Spur auf, stoppte kurz an der Nr. 32, bewegte sich aber weiter. An einer Parkbank schnüffelte er am Papierkorb. Über einige Umwege landeten sie in die Nähe der Marienkirche am Marktplatz. Dort verlief sich die Spur. Um sicherzugehen, kehrte der Hundeführer an den Tatort zurück und führte ihn zur anderen Seite der Gasse. Von hier aus lief er erst in Richtung Wawel und wiederum zum Marktplatz. Am Café „Elena“ hielt er an.

Da nur eine Reinigungskraft im Café war, ließ Mazur den Geschäftsführer aus dem Bett holen und befragte ihn zu den Besuchern des vergangenen Abends.

„Gestern hatten wir volles Haus. Wegen des Feiertags waren sogar die Stühle an der Theke besetzt. Mir ist nichts Besonderes aufgefallen.“

Mazur zeigte ihm das Foto der Toten.

„Das ist Frau Klimek. Sie hat wie immer mit ihrer Enkelin am Zweiertisch gesessen.“

Mazur fragte erstaunt: „Sie können sich aber gut an sie erinnern?“

„Ja. Sie trifft sich alle 14 Tage mit dem Mädchen. Meistens essen sie ein Stück Wallnusstorte und trinken Kaffee. Gestern blieben sie nicht so lange wie üblich da. Circa 21: 45 Uhr sind sie gegangen. Außer bei der Bestellung habe ich mit ihr nicht gesprochen. Es tut mir leid. Sie war eine so nette Frau.“

Mazur ließ sich Namen von einigen Stammgästen geben.

Tadeusz Klimek stand ganz oben auf der Liste der Verdächtigen. Da er zum festgelegten Termin nicht kam, suchte ihn Mazur am späten Nachmittag in seiner Wohnung auf. Als er öffnete, wies der Kriminalist den richterlichen Durchsuchungsbefehl für das Zimmer seiner Schwester vor. Während seine Mitarbeiter die Durchsuchung vornahmen, sprach er mit dem Wohnungsinhaber, der immer noch alkoholisiert war.

„Sie ist also tot. Wie ist es denn passiert?“

Klimek holte tief Luft, bevor er weitersprach. Kann Mord passieren? Es war diese fehlende Anteilnahme, die Mazur irritierte. Da ist gerade die Schwester gestorben und er sprach von ihr wie von einer Sache.

Der Kriminalist fragte, ob er in letzter Zeit etwas Ungewöhnliches bemerkt hätte oder neue Bekannte im Umfeld aufgetaucht wären. Klimek wusste nichts und kannte niemanden. Sie bewohnten zwar eine Wohnung, hätten aber kaum Kontakt.

Mazur fragte nach der Enkelin, die mit dem Opfer zusammen war.

Klimek sagte ärgerlich: „Das ist nicht ihre Enkelin, sondern meine.“

Dass sich die beiden regelmäßig getroffen hatten, wusste er nicht. Es hätte ihn auch nicht interessiert. Trotz mehrerer Rückfragen gab er dem Kriminalisten keine Adresse. Mürrisch saß er auf einem alten Ledersessel und ignorierte alle weiteren Fragen. Stattdessen öffnete er ein Schubfach und nahm eine Wodkaflasche heraus. Er füllte sein Glas und schüttete den Schnaps in einem Zug herunter. Dann lallte er nur noch.

Mazur gab auf. Hier war nichts mehr zu holen. Seine Kollegen waren erfolgreicher. Sie hatten im Zimmer eine Akte mit den Rentenunterlagen, persönlichen Belegen und einem Testament gefunden. Sie hatte das Haus von ihrer Tante geerbt und Alina Klimek, also die Enkelin ihres Bruders, zur Alleinerbin erklärt.

Ein Ordner war mit Zeitungsausschnitten über das KZ Auschwitz gefüllt. Ein Beleg wies sie als ehemalige Insassin des KZs aus. In einem Schulheft gab es eine umfangreiche Namensliste. Bei einzelnen Personen war eine Adresse eingetragen. Andere waren mit einem Kreuz markiert. Dahinter standen teilweise Ort, Datum und der Name des Friedhofs. Eine weitere Übersicht umfasste Anschriften von Organisationen, die sich um Naziopfer kümmerten.

Allmählich bekam das Opfer ein Gesicht. Auch von der Enkelin, Alina Klimek, fand sich in den Unterlagen eine Adresse. Mazur ließ alles einpacken und fuhr mit dem Dienstwagen zu einem Studentenwohnheim, in dem sie wohnen sollte, traf sie aber nicht an. Eine Mitbewohnerin meinte, dass sie an einem Projekt arbeitete und sicher nicht vor 20: 00 Uhr zu Hause sein würde.

In der Dienststelle berichtete er seinem Chef über den Stand der Dinge:

„Wenn es der Bruder war, könnten wir den Fall schnell abschließen. Aber es gibt weder Zeugen noch Beweise. Der Mann war so betrunken, dass er keine Auskunft geben konnte.“

„Ein Verdacht reicht nicht für eine Anklage. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie mehr Hilfe brauchen. Am Montag steht die ganze Besatzung wieder zur Verfügung.“

Mazur schrieb einige Berichte. Dann fuhr er mit seinem Motorrad zur Adresse von Alina Klimek. Er klingelte. Die junge Frau, sah mit ihren 21 Jahren wie ein Schulmädchen aus. Er hatte zwar seinen Dienstausweis aus der Tasche gezogen, doch sie achtete nicht darauf.

„Mein Name ist Andrzej Mazur. Ich komme von der Miliz. Es geht um Jadwiga Klimek.“

„Kommen Sie herein. Sie müssen die Unordnung entschuldigen. Ich bin gerade erst gekommen. Was ist mit Jadwiga? Hatte sie einen Unfall?“

Die Stimme der jungen Frau zitterte.

Mazur setzte sich auf einen wackligen Stuhl. Sie setzte sich auf das Bett.

Es war seine erste Todesnachricht. Langsam und stockend berichtete er über das Vorgefallene, ließ aber jene Details weg, die die Brutalität des Mordes illustrierten. Alina Klimek rang mit den Tränen. Sie ergriff das Kopfkissen und hielt es vor ihr Gesicht, um ihren Schmerz laut klagend darin zu versenken. Rinnsale salziger Tropfen nässten den Stoff ihrer Bluse, der mit bunten Frühlingsblumen bedruckt war.

Mazur war sich nicht sicher. Dann aber setzte er sich doch auf das Bett und schloss das tief getroffene Mädchen in seine Arme ein. Dankbar nahm sie das Angebot an.

Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, fragte er: „Wann haben Sie Frau Klimek das letzte Mal getroffen?“

„Gestern waren wir im Café ‚Elena‘. Gegen 21: 30 Uhr sind wir gegangen. Vor dem Aufgang zum Wawel verabschiedeten wir uns. Es war vielleicht kurz vor 22: 00 Uhr. Ich hatte einen Termin als Garderobendienst bei einer Veranstaltung. Jadwiga wollte nach Hause.“

Ihre Stimme stockte. Offenbar wurde ihr bewusst, dass danach der Mord geschehen war.

„War sie an diesem Tag anders als sonst? Hat sie irgendetwas erwähnt, dass Ihnen ungewöhnlich vorkam?“

„Nein. Eigentlich nicht. Sie hat sich wieder über meinen Großvater aufgeregt, der täglich betrunken ist. Deswegen hatte sie bereits mit dem Gedanken gespielt, ihn aus der Wohnung zu werfen.“

„Haben Sie mit ihrem Großvater keinen Kontakt?“

„Nein. Schon seit Monaten nicht. Jadwiga hatte ihn gebeten, mir Sachen von meiner Mutter zu geben. Er meinte, dass sie das nichts angehe. Ich habe ihn dann selbst aufgesucht und danach gefragt. Da hat er mir die Tür vor der Nase zugeschlagen.“

„Worum ging es dabei?“

„Ich habe von Mutter weder ein Bild oder sonst irgendwelche persönlichen Sachen. Selbst meine Geburtsurkunde rückt er nicht heraus. Jadwiga meinte, dass er Post bekommen hat, die mich betrifft.“

Alina Klimek erregte sich dabei so sehr, dass der Kriminalist sie kaum beruhigen konnte. Er bat sie, am nächsten Tag in die Dienststelle zu kommen. Seine Visitenkarte ergänzte er mit der persönlichen Telefonnummer.

„Wenn Ihnen noch etwas einfällt, können Sie mich jederzeit erreichen.“

Mazur stieg auf das Motorrad. Er war ein anderer. Die junge Frau hatte in ihm ungewohnte Gefühle ausgelöst. War es nur der Beschützerinstinkt? Er wusste es nicht. Beim Studium hatte man davor gewarnt, Fälle zu dicht an sich herankommen zu lassen. Sie war eine Zeugin. Da verbot sich jede Nähe, wenn man objektiv bleiben wollte. Trotz Müdigkeit fand er keinen Schlaf.

Am nächsten Tag rief der Nachbar des Opfers an. Er berichtete über Krach in der Wohnung. Als Mazur mit dem Streifenwagen vor dem Haus ankam, wartete der Anrufer schon.

„Es ist jetzt zwar wieder still, aber nach dem Mord wollte ich sichergehen.“

Mazur bedankte sich bei ihm. Gemeinsam mit seinem Kollegen Krawczyk betrat er das Haus. Trotz heftigen Klopfens öffnete niemand. Er ließ die Tür aufbrechen. Klimek lag im Wohnzimmer. Der herbeigerufene Arzt stellte den Tod fest. Fremdeinwirkung schloss er aus. Bei dem großen Alkoholkonsum sei ein solches Ende vorauszusehen.

Sicherheitshalber veranlasste Mazur eine Obduktion.

Es war schon 10: 30 Uhr. Er überlegte, ob er nun wirklich zu Alina Klimek fahren sollte, um ihr die Nachricht zu überbringen. Noch an der Tür zögerte er. Von drinnen hörte er Klaviermusik. Er klingelte. Als sie öffnete, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie bat ihn herein. Mazur rutschte auf dem Stuhl hin und her.

„Es tut mir leid.“

Er vermied es, ihr in die Augen zu sehen.

„Ihr Großvater ist heute in den frühen Morgenstunden verstorben. Es sieht wie ein natürlicher Todesfall aus.“

Mazur versuchte, möglichst sachlich den Ablauf der Ereignisse zu schildern. Sie verbarg ihr Gesicht hinter ihren Händen. Im Radio lief Chopin.

Der Streifenwagen brachte Mazur und Alina Klimek zum Krankenhaus. Er setzte sich zu ihr auf die Rückbank. Den ganzen Weg über blieb sie stumm.

Der alte Mann lag noch auf dem Seziertisch, da die Obduktion gerade erst abgeschlossen war. Der Tote wirkte entspannt.

„Soll ich Sie mit ihm etwas allein lassen?“

„Nein, ich möchte bitte gehen.“

Alina weinte nicht.

„Jetzt bin ich allein. Ich habe keine weiteren Verwandten.“

Mazur verkrampfte sich das Herz. Als letztes Jahr sein Vater verstarb, hatte er eine tiefe Trauer gespürt. Es war diese Leere, die zurückbleibt, wenn die Worte fehlen, das Unsagbare zu beschreiben, und sinnlose Fragen das Hirn beschäftigen.

Seine Mutter war nicht in der Lage, ihn zu trösten, da sie mit sich selbst beschäftigt war. Sein Motorrad hatte ihn auf andere Gedanken gebracht. Er fuhr mit der Jawa Hunderte Kilometer bis zur Ostsee, um sich am Strand von Sopot in den Sand zu legen und in den Nachthimmel zu blicken.

Am Morgen weckte ihn eine Möwe, die seine Mütze nach Futter durchsuchte. Hohe Wellen hatten in der Nacht Algen sowie allerlei Unrat an den Strand gespült. Das Meer tat jetzt unschuldig und der Himmel versprach einen schönen Sommertag. Bernsteinsammler liefen vorbei. Sie hofften auf Beute. Einige Urlauber hatten sich ins Wasser gewagt. Es war wie eine andere Welt, in die er eingetaucht war. Er fühlte sich befreit. Wieder zu Hause stellte er fest, dass Mutter seine Abwesenheit nicht bemerkt hatte. Damals fühlte er sich schuldig, sie allein gelassen zu haben.

Alina Klimek hatte sich im langen Flur des Krankenhauses auf eine Bank gesetzt und starrte ins Leere.

Mazur fragte: „Darf ich Ihnen helfen? Es gibt Psychologen, die in solchen Fällen …“

Sie winkte ab. „Danke, es geht schon.“

Er brachte sie ins Wohnheim und bat ihre Mitbewohnerin, auf sie achtzugeben. Zum Abschied gab er Alina die Hand, die sie etwas zu lange festhielt. Sie sah zu ihm auf.

Der Kommissar in ihm sagte: „Ich werde mich morgen bei Ihnen melden. Es müssen einige Formalitäten erledigt werden.“

„Na dann, bis morgen!“

Im Hausflur hatte er Zweifel, sie allein zu lassen. Dann hörte er Klaviermusik. Es war ein ruhiges Stück, dessen Komponist er nicht kannte.

Am nächsten Morgen traf er bereits um sechs Uhr auf der Dienststelle ein. Er hatte einen Bericht vorzulegen. Doch was sollte er schreiben? Ein Raubmord kam für ihn wegen der Brutalität und der geringen Beute nicht infrage. Es musste eine Beziehungstat sein. Sein Chef war der Ansicht, dass Tadeusz Klimek seine Schwester im Delirium umgebracht hatte. Diese Version passte aber nicht mit der Spur des Fährtenhundes und dem Ergebnis der Obduktion zusammen.

Klimek war körperlich kaum belastbar. Die Frau hatte sich gewehrt. Bei ihrem Bruder fanden sich bei der Obduktion keine Verletzungen. Er passte nicht ins Bild. Warum sollte er extra in die Gasse gelaufen sein, um sie umzubringen? Volltrunken zu warten, bis sie kommt? Außerdem fehlte ein handfestes Motiv. Wegen der Wohnung konnte es nicht sein, denn die erbte seine Enkelin, mit der er sich zerstritten hatte.

Mazur brachte seine Einwände vor. Sie waren für ihn stichhaltig. Doch die Vorgesetzten in Krakau drangen auf einen schnellen Ermittlungserfolg. Angeblich hatte Warschau einen Bericht abgefordert.

Der Vorabbericht, in dem Klimek als möglicher Täter genannt wurde, kam dort überhaupt nicht gut an. Ermittlungen gegen einen ehemaligen Offizier waren stets kritisch. Es war zu befürchten, dass das Innenministerium den Fall an sich zöge, um politischen Schaden zu vermeiden. Die Folge wäre womöglich, dass mit den Särgen auch die Wahrheit begraben wurde und der wahre Täter straffrei bliebe.

Mazur hatte keine andere Wahl. Er wollte die Fäden in der Hand zu behalten. Für Alina wollte er den Fall lösen. Immer öfter ließ er den Nachnamen weg, wenn er an sie dachte.

Die Ermittlungen drehten sich im Kreis. Die Tasche der Toten wurde sichergestellt. Sie lag in der Nähe des Papierkorbes, den der Hund angezeigt hatte. Am Fundort fanden sich einige weitere Utensilien. Kamm, Lippenstift und eine kleine Flasche „Kölnisch Wasser 4711“ trugen die Fingerabdrücke der Toten. Geldbörse und Schlüssel fehlten. Auf der Schließe war allerdings ein halber Daumenabdruck, der sich nicht zuordnen ließ.

Alina hatte gesagt, dass das Opfer eine Goldkette mit einem Bernstein getragen hatte. Da sie nicht gefunden wurde, hatte man bei Schmuckhändlern nachgefragt. Selbst einschlägige Hehler wurden aufgesucht. Alle bestritten, passende Angebote bekommen zu haben. Schmuck aus einem Mordfall war zu heiß. Mazur musste noch einmal die Wohnung aufsuchen. Möglicherweise hatte man etwas übersehen. Er hatte einen Durchsuchungsbefehl für die gesamte Wohnung, wollte aber Alina dabeihaben.

Sie öffnete die Tür in T-Shirt und Jeans. Ihr Studentenzimmer war unaufgeräumt, wofür sie sich gleich entschuldigte.

„Wissen Sie, ich musste irgendetwas tun und habe daraufhin angefangen, meine Sachen zu sortieren. Aber bei jedem Gegenstand fallen mir immer Dinge aus der Vergangenheit ein. Irgendwann habe ich aufgegeben. Übermorgen ist Projektabschluss und ich habe noch nicht eine Seite vom Abschlussbericht geschrieben. Wenn das Jadwiga wissen würde.“

Sie stockte. Jadwiga war tot. Sie würde es nie erfahren. Tränen liefen über ihr Gesicht.

„Ich wollte unbedingt Geschichte studieren, weil sie es nicht durfte. Sie hatte so große Hoffnungen in mich gesetzt.“

Mazur zögerte erst, aber er durfte keine Rücksicht nehmen.

„Alina, wir müssen noch einmal in die Wohnung.“

Sie schaute ihn an. Sie hatte gemerkt, dass er zum Du übergegangen war. Es war ihr recht.

„Muss das wirklich sein?“

„Wir haben immer noch nicht den Mörder gefunden. Ich möchte ausschließen, dass es dein Großvater war.“

„Wird er denn verdächtigt?“

Mazur informierte sie über die bisher bekannten Informationen zu ihrem Großvater. Alina hörte aufmerksam zu.

„Ich kann es mir nicht vorstellen. Er hat es nicht einmal geschafft, die Kohlen aus dem Keller zu holen. Es stimmt schon, dass er laut war und viel getrunken hat. Aber Mord …“

Mazur befürchtete, dass er ihr Vertrauen verloren hatte. Doch sie reagierte anders.

„Ich werde dir helfen.“

Sie schaute auf. „Ich habe auch noch so viele offene Fragen.“

Mit dem Dienstwagen fuhren sie zur Wohnung der Toten. Unterwegs teilte Mazur ihr mit, dass ein Testament gefunden wurde, in dem sie als Alleinerbin eingesetzt war.

„Ich wusste es. Sie hatte es aufgesetzt, als ich ausgezogen bin. Die Wohnung war das einzige Druckmittel gegen meinen Großvater. Als ich klein war, hatte er immer gedroht, mich in ein Heim zu geben. Das wollte sie auf keinen Fall.“

Sie machte eine Pause, ehe sie weitersprach.

„Ich habe viele Streitereien der beiden angehört. Aber er hat sie nie geschlagen. Es begann meistens damit, dass er mit seinen Kriegserlebnissen prahlte. Jadwiga konnte das nicht ertragen. Obwohl sie sonst eher still war, meinte sie dann oft, dass die polnische Armee die Zivilisten 1939 schutzlos zurückgelassen habe. Erst unter Stalin sei er wieder vorgekrochen. Er habe im beheizten Zelt gesessen, als sie in Auschwitz fast erfroren sei. Mein Großvater begann dann immer zu brüllen und verwies auf seine angeblichen Heldentaten. Am Ende zogen sie sich jeweils in ihr Zimmer zurück.“

Alina ergriff seine Hand.

„Ohne Jadwiga wäre ich zugrunde gegangen. Sie war mein Mutterersatz, meine Mama. Sie ging mit mir in den Park und las abends Märchen vor. Wenn ich sie auf der Arbeit besuchte, zeigte sie mir die alten Bücher. Sie meinte immer, dass es die Vermächtnisse der Vergangenheit sind. Deswegen habe ich mein Geschichtsstudium aufgenommen. Jetzt merke ich erst, wie wenig ich eigentlich von ihr weiß. Vom Krieg und von Auschwitz hat sie kaum erzählt, weil sie dann immer gleich anfing zu weinen.

Großvater zeigte wenig Mitgefühl. ‚Heulst du wieder wegen des Juden?‘, war eine Bemerkung, die sie tief verletzte. Ich habe das nie begriffen. Auch nicht, warum beide nicht über meine Mutter redeten.“

Alina wischte sich die Tränen aus den Augen.

„Und jetzt bin ich allein.“

Sie lehnte sich an Mazur. Er schluckte. Doch er riss sich zusammen.

Das Chaos im Zimmer von Tadeusz Klimek hatte er gesehen. Alina blickte betroffen auf den Berg leerer Schnapsflaschen. Es stank nach Erbrochenem und Urin. Sie öffnete das Fenster.

„Es ist mir peinlich, dass mein Großvater eine solche Unordnung hinterlassen hat. Ich bin ewig nicht mehr hier gewesen.“

Sie wandte sich ab, als ob es ihre Schuld wäre.

„Er wollte keine Hilfe annehmen. Sein Arzt hatte vorgeschlagen, ihn in eine Klinik einzuweisen, doch er lehnte das ab. Er unterstellte Jadwiga, dass sie ihn abschieben wolle.“

Die Durchsuchung der Wohnung blieb ohne Ergebnis. Lediglich ein kleiner Panzerschrank konnte nicht durchsucht werden, da der Schlüssel unauffindbar war. Alina wusste nichts über den Inhalt. Sie vermutete aber, dass er persönliche Unterlagen darin aufbewahrt hatte, da sich in der ganzen Wohnung keine Papiere über die Familie fanden. Mazur versprach, einen Fachmann zu beschaffen, um an den Inhalt zu gelangen.

Er verschloss die Wohnung und versiegelte die Tür. Dann brachte er Alina ins Wohnheim. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag um 13: 00 Uhr. Bis dahin hoffte er, einen Spezialisten für den Panzerschrank zu finden. Als er Alina verließ, hatte er noch immer den Duft ihrer Haare in seiner Nase.

Auf der Dienststelle empfing ihn sein Chef übellaunig. Das Innenministerium hatte einen ausführlichen Bericht angefordert. Mazur versprach, das Schreiben sofort fertigzustellen. Zuvor rief er aber Mikulski an, der sich mit Schlössern auskannte. Im Haus behauptete man im Spaß, dass er am legendären Postraub in England beteiligt gewesen wäre und in Polen inkognito lebe. Jedenfalls kannte er sich mit allen gängigen Fabrikaten von Panzerschränken aus.

Den Bericht für Warschau legte er dem Chef auf den Schreibtisch, da dieser schon längst nach Hause gegangen war. Auf seinem eigenen Tisch stapelten sich die Protokolle von Befragungen der Anwohner und Arbeitskollegen von Jadwiga. Das einzig Nennenswerte war der Hinweis, dass sie sehr eng mit einer ehemaligen Kollegin befreundet war, die sie schon aus Vorkriegszeiten kannte und jetzt in Zakopane lebte. Für die Ermittlungen schien es ihm zwar unwichtig, doch hoffte er, dass sich Alina darüber freuen würde.

Ein Dossier über Tadeusz Klimek war aufgetaucht, das anlässlich einer Ordensverleihung gefertigt wurde. Es entpuppte sich allerdings als völlig wertlos, da es außer Plattitüden und Lobhudelei keine objektiven Informationen enthielt.

Es war schon 23: 00 Uhr. Er stieg auf seine Jawa und fuhr nach Hause. Wie immer hatte seine Mutter auf ihn gewartet. Sie liebte es, ihm beim Essen zuzusehen. Es gab Schweinebraten. Auch wenn sich Mazur über den Aufwand ärgerte, vermied er, irgendetwas zu sagen, denn sie hatte ja nur noch ihn. Er schlief wie ein Stein.