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Polit-Thriller Dem deutschen Studenten Friedrich Stein wurde von seinen Eltern ein Ultimatum gestellt: Wenn er sein Studium nicht beendet, gibt es kein Geld mehr. Er überredet seinen belgischen Kommilitonen François Gaspard, in der Universitätsbibliothek nach einem geeigneten Buch für seine Abschlussarbeit zu suchen. Gemeinsam finden sie ein Bücherversteck. In einem der Bücher steckt ein Brief, den Stein unterschlägt. Damit werden Ereignisse ins Rollen gebracht, die nicht vorauszusehen waren. Die belgische Familie Gaspard gerät zwischen die Fronten fanatischer Katholiken, Freimaurer und Nationalsozialisten. Die Flucht nach Argentinien scheint zu helfen. Doch letztendlich ist die Aufdeckung eines Geheimnisses, die einzige Chance, dem Strudel der Gewalt zu entkommen. Es ist ein riskantes Unterfangen. Geliebte sterben, Freunde entpuppen sich als Feinde, Geheimdienste haben ihre Finger im Spiel. Ein geschändetes Grabmal, Hinweise auf Kunstwerken, Symbole, ein Sternbild und eine Karte von Jerusalem lösen das Geheimnis und könnten weitreichende Folgen haben. Machen Sie sich auf die Reise um die halbe Welt und durch 2000 Jahre Geschichte. Nach diesem Buch werden Sie eine andere Sicht haben und manchen Theologen, Historiker oder Astronom zum Verzweifeln bringen, denn die meisten Fakten stimmen. Lassen Sie sich überraschen. Vielleicht war die bisher bekannte Geschichte eine Lüge. Verschwörungen und Geheimnisses der Katholischen Kirche um Papst Hadrian VI. sind inklusive.
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Seitenzahl: 854
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„Sapere aude“
lateinisches Sprichwort vom römischen Dichter Horaz
Interpretation von Immanuel Kant:
„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“
Wolfgang Armin Strauch
Scribent
Sapere aude
Polit-Thriller
© 2023 Wolfgang Armin Strauch
ISBN Softcover:
978-3-347-90145-2
ISBN Hardcover:
978-3-347-90148-3
ISBN E-Book:
978-3-347-90149-0
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH
An der Strusbek 10
22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter:
tredition GmbH,
Abteilung "Impressumservice",
An der Strusbek 10
22926 Ahrensburg, Germany.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Der Brand
Steins Drohung
Die Flucht
Französische Worte
Emigranten
Das Geheimnis
Die Fälschung
Wilson vom MI6
Die Auktion
Tod in Zaragoza
Polnische Helfer
Fotos von Stein
Der alte Ring
Zurück nach Argentinien
Nazis in Buenos Aires
Mossad
Aktion Reisebüro
Steins Verhaftung
Abschied von Annette
Der Auftrag
Die Auswertung
Spuren in Rom
Berliner Luft
Adrians Bilder
Carlos Tod
Das Testament
Der Tempel
Die Wewelsburg
Der Putsch
Der Mord am General
Die Uhr zeigte 13.52 Uhr
Die Aktion
Jerusalem
Der Anschlag
Neue Sichten
Besuch aus Deutschland
Die Analyse
Das Gemälde
Offene Fragen
Die Symbole der Uhr
Luises Bruder
Liebe, Macht und Lügen
Die Kassette
Zusammenkunft in Buenos Aires
Adrians Vermächtnis
Complutensische Polyglotte
Das geheime Wissen des Alcántaraorden
Das Vermächtnis der Ordensbrüder
Das Schuldanerkenntnis
Adrians Grabmal
Mord und Erbe
Geometrie und Glauben
Die Erben der Reliquie
Geheimnisse der Bilder
Analyse der Reliquie
Brief einer Mutter
Maria Magdalena
Die Tafel
Die verschwundenen Symbole
Dreiecke und Kreuze
Der Schlussstein
Das Herz
Was danach geschah
Nachwort
Angaben zum Autor
Der Dicke Mann
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Titelblatt
Urheberrechte
Der Brand
Der Dicke Mann
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Der Brand
1914. Leuven in Belgien.
Friedrich Stein hatte die übliche Studienzeit schon zwei Jahre überschritten. Statt zu lernen, trieb er sich lieber mit Freunden aus der Burschenschaft herum, die sich von ihm aushalten ließen. Sie bedankten sich mit Schmeicheleien, die sein Ego bedienten.
Er legte großen Wert auf sein Äußeres. Sein Anzug war aus feinem Zwirn. Regelmäßig zog er an seiner Uhrkette, um dafür zu sorgen, dass jeder den goldenen Zeitmesser zu Gesicht bekam. Mit Sicherheit war er nicht dumm. Gern sprach er über Themen, von denen seine Kommilitonen keine Ahnung hatten, ging aber fachlichen Diskussionen aus dem Weg.
Wenn er merkte, dass sich jemand mit der Materie besser auskannte, wechselte er schnell das Thema, um über etwas anderes zu schwafeln. Schließlich fand er nur noch bei den Erstsemestern empfängliche Zuhörer.
Sein Gesicht war eher durchschnittlich, wenn man von seinem Bart absah, den er wie Kaiser Wilhelm II. gezwirbelt hatte. Er war kein Frauentyp, da seine schmierige Art abstoßend wirkte. So blieb ihm nichts weiter übrig, als die bekannten Establishments aufzusuchen und dort sein Geld zu verjubeln.
Dummerweise missfiel dieser Lebensstil seinen Eltern. Erst als er bei einer Razzia aufgegriffen wurde und die örtliche Polizei den Rektor anrief, wurde er kleinlaut. Sein Vater kam mit dem Automobil aus Berlin, um im letzten Moment die Exmatrikulation abzuwenden.
Von ihm bekam er ein Ultimatum. Sollte er sein Studium in diesem Jahr nicht mehr abschließen, würden ihm seine Eltern den Geldhahn zudrehen. Anfang Juli 1914 war er mit der Abschlussarbeit schon spät dran. In der Not ging er zu François Gaspard, der bereits mehrfach Arbeiten für ihn gefertigt hatte, und bat um Unterstützung.
Sein Professor hatte ihm drei Wochen Gnadenfrist für die Abgabe eingeräumt. Das Problem war nur, dass er noch keine Zeile geschrieben hatte. Für ein Geschichtsthema waren 21 Tage mehr als eng. So verfiel er auf den Plan, ein möglichst unbekanntes Buch als Thema zu wählen. Der Professor würde bei ihm kaum Interesse haben, alles nachzulesen, wenn es nur langweilig genug wäre.
Die Situation von François Gaspard war völlig anders: Das wenige Geld aus dem Stipendium, reichte vorn und hinten nicht. In der bisherigen Studienzeit besuchte er nicht ein einziges Mal eine Kneipe. Sich mit Mädchen zu verabreden, verbot sich von selbst, da er ihnen nicht einmal ein Bier ausgeben konnte. Das hieß aber nicht, dass er keine Kontakte hatte. Glücklicherweise hatte er eine Arbeit im Archiv der Universität ergattert, die ihm über die größte Not hinweghalf.
Sein Sprachtalent hatte sich herumgesprochen. Dadurch konnte er gelegentlich etwas Geld mit Korrekturarbeiten verdienen. Er liebte Bücher und nutzte jede freie Minute zum Lesen. Allerdings wollte er sein Studium möglichst schnell abschließen, um den Eltern nicht auf der Tasche zu liegen.
Friedrich Stein wusste von seiner Not. Er bot ihm Geld für ein geeignetes Buch. François zögerte, da die Ausleihe historischer Bücher nur mit Sondergenehmigung erlaubt war. Außerdem schien ihm die Vorgabe „irgendein altes langweiliges Buch“ zu schwammig, um zielgerichtet danach zu suchen. Letztendlich entschloss er sich, Stein in das Archiv mitzunehmen, damit er sich selbst ein Buch aussuchen konnte.
Sie gingen bis in das hinterste Ende der Bücherregale. Obwohl schon überall das neue Lipman-Regalsystem aufgebaut war, stand in einer Nische ein altes Regal. Es hatte sich offensichtlich nicht gelohnt, für die achtzig Zentimeter eine Sonderanfertigung zu beauftragen. So hatte man es an seinem Platz gelassen. Wahllos zog Stein ein dickes Buch aus der Ablage.
Vermutlich hatte der Wälzer wie ein Schlussstein fungiert. Zwei Bretter gaben nach und befreiten sich von ihrer Last. Wie Dominosteine schlugen Bücher aneinander, um krachend auf dem Fußboden zu landen. Staub wirbelte auf. Spinnengewebe schwebten durch den Gang. Nur mit Mühe gelang es den beiden Studenten, ein Brett wieder in die Halterung zu bringen und es mit den alten Schriften zu füllen. Das andere hing windschief im Regal und konnte nicht bewegt werden.
Voller Panik ruckelten sie daran, bis sie merkten, dass es mit der darüber liegenden Etage verbunden war. Ein Spalt verriet, dass sich dahinter ein Hohlraum befand. Sorgfältig entfernten sie die verklemmten Schriften und zogen mit leichter Gewalt das Brett heraus. Die Trennwand ließ sich jetzt entfernen. Eine ganze Reihe Bücher wurde sichtbar. François versuchte, die Zwischenwand an ihren alten Fleck zu schieben. Es gelang ihm nicht. Der Inhalt hatte sich völlig verkeilt.
Sie entschlossen sich, die Fächer zu räumen und neu zu befüllen. Um Platz zu schaffen, nahmen sie einen Stapel Bücher, lose Schriften und einen Karton heraus. Alles schafften sie in den Vorraum. Hier sortierten sie es der Größe nach und schoben die unförmigen Papierstapel in das Fach. Letztendlich war nur noch ein Buch übrig, das sich nicht mehr hineinpressen ließ.
„Das nehme ich für meine Arbeit“, sagte Stein.
François sah ihn entgeistert an.
„Wollen wir nicht erst einmal alles in Ordnung bringen?“
Stein hatte aber das Buch schon unter seinem Arm und meinte: „Deswegen sind wir doch hier. Den Rest kannst du allein erledigen.“
François hielt ihn fest und sagte: „Ich muss es noch in das Nachweisbuch eintragen.“
„Scribent I. Band“ schrieb er in die Zeile. Um den Autor zu ermitteln, blätterte er die ersten Seiten durch. Das Buch war vollständig mit der Hand geschrieben. Ein Urheber war nicht festzustellen. Im Einband fand sich ein Brief mit einer unleserlichen Schrift. Auf ihm war ein Siegelabdruck mit einem Wappen zu erkennen. François ergänzte die Eintragung im Nachweisbuch: „Enthält Brief mit unbekanntem Siegel“. Dann unterschrieb Stein und ließ François allein, der sich daran machte, die Bücher einzusortieren.
* * *
François war sich mittlerweile sicher, dass er einen schweren Fehler begangen hatte. Obwohl auf den ersten Blick das alte Regal so aussah, wie sie es vorgefunden hatten, plagten ihn Gewissensbisse. In der Nacht schlief er unruhig. Schließlich ging er eine Stunde früher zum Archiv. Der Hauptarchivar Quentin Mertens war schon da.
„Ich muss ihnen etwas ganz Schlimmes beichten.“
Beim Erzählen kamen ihm die Tränen. Bestimmt war er seine Arbeit los. Vielleicht verwies man ihn sogar der Universität.
Mertens sah ihn strafend an. Dann holte er das Ausleihbuch.
„Es war ein schwerer Fehler. Du kannst dir nicht vorstellen, was ihr getan habt. Aber auch ich habe Schuld.“
Er riss die Seite mit dem Ausleihvermerk heraus.
„Die Geschichte muss unbedingt unter uns bleiben!“
Ungläubig sah François seinen Vorgesetzten an. Mertens zog ihn in die Regalreihen.
„Das Buch hat nie existiert! Versprich mir, dass du mit niemandem darüber redest.“
„Ja. Aber warum?“
„Frage nicht. Hole bitte den Wagen. Wir müssen aufräumen.“
Zielstrebig ging Mertens zum Regal mit dem Geheimfach. Er räumte die erste Reihe und zog die Zwischenwand heraus. Sie brachten den versteckten Inhalt in den Vorraum. Auf einem Blatt Papier dokumentierte Mertens alles und steckte anschließend den Zettel in seine Tasche.
„Gibt es eine Chance, dass wir das Buch und den Brief von Stein wieder zurückbekommen?“
François überlegte: „Er muss ja noch seine Arbeit schreiben. Vielleicht bittet er mich um Unterstützung.“
„Gehe zu ihm, ehe er jemand anderen damit beauftragt. Ich helfe dir bei der Arbeit.“
Mertens verschwand mit dem Material in einem der hinteren Räume.
François brauchte sich nicht bemühen, denn Stein stand bereits vor der Archivtür, als er nach Hause gehen wollte. Er hielt ihm das Buch hin.
„Eine Monatsmiete, wenn du die Arbeit für mich schreibst.“
„In Ordnung. Wie soll der Titel lauten?“
„Der ist mir egal. Hauptsache, es geht um Geschichte. Ja, und eine Kurzfassung vom Inhalt brauche ich natürlich auch.“
Stein übergab das Buch und ging pfeifend davon.
François stürzte zum Archivar, der sich das Buch ansah.
„Was ist mit dem Brief?“
„Das weiß ich nicht. Er hat ihn mir nicht gegeben.“
„Oh mein Gott. Das Buch war unwichtig. Nur der Brief war von Wert. Ich kann nur hoffen, dass Stein die Schrift nicht entziffern kann.“
François sah Mertens besorgt an.
„Soll ich ihn danach fragen?“
„Auf keinen Fall. Wenn du mit der Arbeit fertig bist, hast du einen Grund. Jetzt würde die Nachfrage nur Aufmerksamkeit erregen.“
François öffnete das Buch. „Was ist daran so wichtig?“
„Du wirst schnell erkennen, wer der Urheber des Buches ist. Dann verstehst du es. Gegenüber Stein behauptest du, dass sich der Verfasser nicht ermitteln ließ. Wenn du mit der Arbeit fertig bist, sprechen wir alles durch. Ich bezweifle, dass sein Professor Interesse daran hat. Wenn es doch passieren sollte, fehlt vom Buch jede Spur. Dann hat Stein ein Problem. Ich entferne es, wie die anderen Bücher aus dem alten Regal.“
Mertens sah ihm fest in die Augen. François nickte nur.
* * *
Es war seltsam. Das Buch trug einen Vermerk, wonach es nicht vernichtet werden darf. Darunter klebte ein Papiersiegel, das mit einer unleserlichen Unterschrift beglaubigt war. Der Verfasser hatte leere Rückseiten von Flugblättern für die Vorbereitung von Vorlesungen genutzt. Die Tinte der Schrift war teilweise verblasst. Man konnte aber entziffern, dass es um mathematische, linguistische und theologische Themen ging. Zwischendurch gab es einige Vermerke über das Verhalten von Studenten.
François verglich die aufgefundenen Daten mit dem Vorlesungsverzeichnis aus dem Zeitraum von circa 1501 bis 1508. Schließlich war er sich sicher, dass es sich bei dem Verfasser um Professor Adriaen Floriszoon Boeiens, genannt Adrian von Utrecht handelt, der später zum Papst Adrian VI. gewählt wurde. Im Buch ‚Bibliotheca Chalcographica‘ aus dem Jahr 1660 fand er einen Kupferstich von Johann Theodor de Bry.
Kupferstich von Johann Theodor de Bry, aus ‚Bibliotheca Chalcographica‘, Frankfurt, 1650 © Sammlung W. A. Strauch
François ging mit dem Ergebnis zu Mertens. „Der Autor ist offensichtlich Adrian von Utrecht, der später Papst geworden ist. Sofern ich das beurteilen kann, gibt es kaum Unterlagen über ihn aus dieser Zeit. Wäre es nicht gut, mit der Entdeckung zum Rektor zu gehen?“
„Auf keinen Fall. Nicht ohne Grund wurden die Unterlagen versteckt. Mach dich an die Arbeit, dann tust du der Menschheit einen Gefallen.“
„Warum hat jemand das Buch mit Scribent beschrieben?“
Mertens sah François an. „Es kann sein, dass es Adrian selbst war. Es würde zu ihm passen, da er bescheiden war. Schließlich sind persönliche Notizen und keine Buchvorlagen. Der Wortstamm von Scribent stammt aus dem lateinischen Wort für ‚schreiben‘ und findet sich abgewandelt in vielen Sprachen wieder. Da Adrian Niederländer war, nehme ich an, dass er sich selbst abwertend als ‚Schreiberling‘ bezeichnete. Das Wort gibt es bis heute im Niederländischen. Es wird allerdings in der Umgangssprache kaum benutzt. Endlich glaube ich aber, dass es dem Zweck diente, die Bücher zu verstecken. Kein Mensch such nach einem Autor, der sich Schreiberling nennt.“
* * *
Nach zwei Wochen hatte François eine einigermaßen annehmbare Abschlussarbeit fertiggestellt. Sie trug den nichtssagenden Titel „Vorlesungsvorbereitungen zu Beginn des 16. Jahrhunderts“.
Aus praktischen Gründen hatte er einige andere Quellen angegeben, um auf keinen Fall auf den wahren Urheber zu verweisen. Mertens hatte seinen Segen gegeben und François begab sich auf den Weg zu Friedrich Stein.
Er war aber nicht mehr da. Die Vermieterin sagte, dass er vor einer Woche die Wohnung gekündigt hatte.
François informierte Mertens. Der quittierte die Nachricht mit der Feststellung: „Dann hat er den Brief entziffert.“
Wenige Tage später begann der Erste Weltkrieg. Vieles wurde bedeutungslos. Es ging um das nackte Überleben. Am Nachmittag des 24. August 1914 tauchte ein Fremder in der Bibliothek auf und fragte nach Büchern von Scribent.
Quentin Mertens gab vor, in der Kartei nachzusehen. Dann informierte er den verärgerten Besucher, dass der Autor nicht im Bestand sei. François war im Leseraum und wurde Zeuge des Vorfalls. Mertens legte seinen Zeigefinger auf den Mund und zog ihn hinter einen Schrank.
„Es ist ein Italiener. Seine Aussprache hat ihn verraten. Sie dürfen das Material nicht in die Hände bekommen. Kannst du mir helfen?“
Am Abend holten sie zwei schwere Kisten aus dem Keller und packten sie auf den Bollerwagen des Hausmeisters und transportierten alles quer durch die Stadt zu einem alten Lagerhaus.
„T. Plummer“ stand verwaschen über der Hofeinfahrt. Am Tor empfing sie ein grauhaariger Mann mit einem zerfurchten Gesicht. Im Gegensatz dazu hatte er ausgesprochen filigrane Finger. „Thomas Plummer“, stellte er sich vor. Mertens bemerkte seine Unruhe.
„Du kannst ihm vertrauen“, sagte Mertens.
Plummer öffnete einen Flügel des Tores. Sie schoben den Wagen hindurch und versteckten die Bücherkisten in einem Lagerraum hinter einem Berg alter Kartons.
„Das kann aber nicht hierbleiben“, meinte Plummer.
„Ich habe Egon schon angerufen. Er wird sich bei dir melden.“
Plummer nickte. Dann sah er François an: „Du bist jetzt Teil eines Geheimnisses. Frage nicht, worum es dabei geht. Je weniger du weißt, umso besser ist es für dich.“
Mertens bat François, ihn nach Hause zu begleiten.
Die Wohnung machte einen aufgeräumten Eindruck. Sie gingen in seine Bibliothek. Die Wände waren mit rötlichem Holz getäfelt. Schwere Möbel dominierten den Raum. Ein unförmiges Regal, das bis zur Decke reichte, beherbergte Unmengen alter Bücher. Der Hausherr machte sich am Schreibtisch zu schaffen und hielt plötzlich eine unauffällige Metalldose in der Hand.
„Würdest du sie bitte für einige Zeit aufbewahren?“
„Was ist das?“, fragte François und sah sich die Weißblechdose näher an. „Schnupftabak?“
„Nein. Darin ist ein Ring. Falls mir etwas passiert, schalte bitte in der Wochenendausgabe der Zeitung ‚Le Soir‘ eine Anzeige. Hier ist Geld. Ich schreibe dir den Text auf.“
Mertens schrieb auf einen Zeitungsrand: „Das Buch ist aufgeschlagen. Lesezirkel Leuven.“
„Eine Woche später wird in der Zeitung eine Anzeige stehen, in der die Restauration von alten Büchern angeboten wird. Dahinter wird eine Telefonnummer angegeben sein. Vertausche beim Anrufen die Reihenfolge der letzten drei Ziffern. Verabrede ein Treffen und übergebe den Ring. Das ist alles.“
François ging mit gemischten Gefühlen nach Hause. Dort öffnete er die Metalldose. In ihm lag ein in Watte eingepackter verschmutzter Ring. Es sah aus, als hätte jemand ihn in Wachs gelegt, an dem sich Staub festgesetzt hatte. Als er etwas daran rieb, sah er, dass der Ring aus Gold war und einen dunkelblauen Stein trug. Sorgfältig legte er das Schmuckstück wieder in die Dose.
* * *
In der Nacht war Gewehrfeuer zu hören. Obwohl die Stadt kampflos übergeben wurde, rannten deutsche Soldaten durch die Straßen und schossen um sich.
Am 25. August 1914 um halb zwölf wurde Feuer in der Universitätsbibliothek gelegt. Die Flammen fraßen sich durch Jahrhunderte von Büchern. Die Feuerwehr hatte keine Chance. Bürger versammelten sich in sicherer Entfernung und sahen voller Traurigkeit und Wut dem Schauspiel zu.
François wurde von seiner Vermieterin davon informiert. Er machte sich auf den Weg. Die Flammen loderten hoch über dem Dach. Das Gelände war durch Feuerwehr, Polizei und deutsche Soldaten abgesperrt. Er fragte einen Feuerwehrmann, ob es Verletzte gab. Der verwies ihn an einen Offizier.
„Es ist nicht ausgeschlossen. Wir kommen an die Brandnester kaum heran. Außerdem hat es eine Schießerei gegeben. Einige Leute haben wir medizinisch versorgt und nach Hause geschickt.“
* * *
Am nächsten Morgen fand François den Archivar Mertens leblos in einer Querstraße. Verdreckt von Ruß lag er neben dem Bollerwagen. Mit viel Mühe zog er ihn auf die Ladefläche. Dabei riss er sein Hemd auf. Der Hals hatte blutunterlaufene Male und auf seiner Brust sah er kreisrunde Wunden, als hätte man Zigaretten auf ihr ausgedrückt. Ihm fiel auf, dass er eine Anstecknadel mit Zirkel und Winkelmaß trug.
Deutsche Soldaten bewachten die rauchenden Trümmer. François überlegte, ob er um Unterstützung bitten sollte, doch verwarf schnell den Gedanken.
„Vielleicht hat einer von ihnen die Verletzungen verursacht“, dachte er bei sich.
Eigentlich wollte er den Leichnam zu Mertens Wohnung bringen. Als er in die Straße einbog, sah er, dass vom Haus nur noch rauchende Trümmer übrig waren. In seiner Not fuhr er den Wagen mit den sterblichen Überresten zwei Kilometer weiter bis zum Friedhof. Er nannte einem Diakon den Namen und die Adresse des Verstorbenen. Leichenträger übernahmen den Verblichenen und legten ihn auf einer Wiese ab. Sicherheitshalber durchsuchten sie die Taschen. Sie waren leer.
Auf dem Hauptweg hatte sich eine Schlange mit Menschen gebildet, die nach Angehörigen suchten. François wollte Antworten und ging deshalb zu Plummer, der vor seinem Haus auf einer Bank saß. Langsam hob der den Kopf und fragte ohne Begrüßung: „Ist er tot?“
François nickte. „Man hat ihn gefoltert.“
Der Mann schaute traurig auf seine Hände.
„Er hat nichts gesagt. Sonst wären sie längst hier.“
Sie gingen ins Haus. François dachte, dass Plummer jetzt über die Deutschen schimpfen würde. Stattdessen holte er eine Flasche Wein aus dem Keller und stellte zwei silberne Becher auf den Tisch. Sie trugen Zeichen der Freimaurer und die Aufschrift „Les Disciples de Salomon“.
Statt eine Erklärung zum Tod seines Freundes abzugeben, sagte der Mann: „Barbaren“. Schweigend tranken sie Wein und gaben sich ihrer Trauer hin.
* * *
Zwei Tage später ging François zum Friedhof. Er wollte wissen, wann die Beisetzung stattfindet. Der Diakon sah auf einer Liste nach. Tatsächlich hatte sich ein Angehöriger gefunden, der eine Beisetzungsfeier vereinbart hatte. Auf dem Friedhof sah man zahllose offene Gräber. Die Geistlichen waren überlastet. Hinterbliebene warteten darauf, ihre Familienangehörigen zu bestatten. In ihren Gewändern wirkten die Geistlichen wie bunte Punkte zwischen schwarz gekleideten Männern und Frauen. Sie gingen von Grab zu Grab, um den Verstorbenen das letzte Geleit zu geben.
François hatte nach langem Suchen die Grabstelle gefunden. Auf einem Holzkreuz hatte man Mertens` Namen eingebrannt. Frauen und Männer standen mit dünnen Blumensträußen neben dem Sarg, den man auf den Aushub gestellt hatte. Sie warteten auf den Geistlichen. Die Anwesenden musterten François und nickten ihm zu. Ein etwas beleibter, grauhaariger Mann fragte: „Haben Sie ihn zum Friedhof gebracht?“
François nickte. Der Mann stellte sich als Bruder des Archivars vor und bedankte sich. Eine alte Frau schluchze laut. Es war Mertens` Mutter. François fühlte sich unwohl, weil er die Anwesenden nicht kannte. Er sah nach dem Diakon, der gerade sein Gebet an einem Nachbargrab mit lautem „Amen“ beendet hatte und darauf wartete, dass der Sarg in die Grube hinabgelassen wurde.
Ein Stück weiter sah er einen Mann, der nicht hierher passte. Ohne es näher bestimmen zu können, spürte François, dass er ein Fremdkörper war. Er hatte eine Melone auf und blickte zu oft zur Trauergemeinde. Dann erkannte ihn François. Es war der Fremde, der in der Bibliothek nach den Büchern von Scribent gefragt hatte. Unauffällig stieß er Mertens Bruder an.
„Kennen sie den Mann neben der Skulptur?“
„Nein. Wer ist das?“
François legte schnell den Zeigefinger auf die Lippen: „Psst!“
Der Diakon kam und leierte seine Rede herunter, die er schon so oft von sich gegeben hatte. Das Mitgefühl schien ihm dabei abhandengekommen zu sein, denn er hatte Mühe, sich den Namen des Verstorbenen zu merken. So unterbrach er an den dafür vorgesehenen Stellen kurz, um auf einen Zettel zu sehen. François sah regelmäßig zu dem Fremden, der sich nach einer Weile entfernte.
François wurde von Mertens` Bruder zum Leichenschmaus eingeladen. Er hieß Martin und war Besitzer einer Apotheke. Die Trauergäste saßen an einem langen, ovalen Tisch. Er stellte François offiziell bei den Anwesenden vor. Es wurde auf den Archivar angestoßen und Episoden aus seinem Leben erzählt.
Vor dem Abendessen fragte Martin, wer der Fremde gewesen sei. François schilderte den Vorfall in der Bibliothek, sagte aber nicht, dass er geholfen hatte, die Bücher wegzuschaffen. Martin wurde bleich. Er wollte noch etwas fragen, zögerte aber. Dann sagte er: „Der Scribent schreibt die Sünden auf, damit der Herr sie nicht vergisst.“
Er kannte offensichtlich das Geheimnis. François flüsterte ihm zu: „Aber was passiert, wenn das Geschriebene verbrennt?“
„Dann war alles umsonst. Ich glaube, ich zeige dir mal meinen Apfelbaum.“
Martin zog ihn aus dem Zimmer. Im Garten fragte er: „Was ist passiert?“
„Dein Bruder hat mir verboten, darüber zu sprechen.“
„Das glaube ich dir. Ich möchte nur wissen, ob alles verbrannt ist.“
„Nein. Der Herr wollte es nicht und hat einen Engel geschickt.“
Er wurde ungeduldig: „Hieß der Engel Thomas Plummer?“
„Ja.“
Martin schien zu verzweifeln: „Thomas ist tot. Man hat ihn in Brüssel tot aufgefunden. Er wurde gefoltert. Man hat ihm die Augen ausgebrannt.“
François wurde übel: „Thomas Plummer?“
„Ja. Ich habe vorhin mit seiner Mutter telefoniert. Wir haben einen großen Verlust erlitten. Damit meine ich nicht nur Thomas.“
François sagte: „Vielleicht ist noch Hoffnung. Ich kenne das Versteck.“
Dankbar sah ihn Martin an: „Dann müssen wir uns beeilen.“
Er informierte die Familie, holte seine Limousine aus der Garage und ließ sich den Weg zeigen. Am Ziel angekommen, stellten sie das Auto in einer Seitenstraße ab und gingen in das Lagerhaus. Mit etwas Mühe fanden sie die beiden Kisten hinter den alten Kartons. Als sie auf dem Weg nach oben waren, erschreckte sie lautes Getöse. Fremde durchsuchten das Haus. Türen wurden eingeschlagen. Glas ging zu Bruch.
Martin und François flüchteten in den Keller, schlüpften durch ein Kellerfenster und landeten auf dem Hof des Hauses. Glücklicherweise war das große Eingangstor nur durch einen Riegel gesichert. Auf der Straße gingen sie betont langsam. Sie hatten bereits die Seitenstraße erreicht, als eine Gruppe deutscher Soldaten auf sie zukam.
„Kontrolle!“, rief ein Offizier. Er ließ sich die Papiere zeigen. Dann zeigte er auf die Kisten. Martin öffnete sie bereitwillig.
„Nur alte Bücher“, sagte er auf Deutsch.
Man ließ sie gehen.
Martin startete das Auto: „Ich wäre fast gestorben vor Angst. Jetzt aber weg.“
Als sie am Haus von Thomas Plummer vorbeifuhren, sahen sie einen Mann. Es war der Fremde vom Friedhof. Sie fuhren zum Bahnhof und gaben die beiden Kisten als Gepäck auf.
Zurück in der Wohnung zeigte Martin ein Abzeichen der Freimaurer, die unter dem Revers seiner Jacke versteckt war. Er zog sie heraus und gab sie François. „Wir sind in deiner Schuld.“
Der wiederum fragte: „Kannst du mir sagen, was es mit den Büchern auf sich hat?“
„Es ist besser, das Geheimnis nicht zu kennen.“
* * *
Am nächsten Tag ging François zur Zeitung und gab eine Anzeige auf. Wie angekündigt fand er in der darauffolgenden Woche eine Annonce mit einer Telefonnummer, die er anrief und ein Treffen vereinbarte. Zum festgelegten Zeitpunkt ging er in den Park. Die Bank war etwas abgelegen, hatte aber den Vorteil, dass sie nur von einer Seite einsehbar war, da rechts und links neben ihr hohe Sträucher standen. Ein alter Mann fütterte ein paar Spatzen. Er sah gelegentlich auf eine goldene Uhr, die er aus seiner Weste hervorzog. Die Augen kontrollierten die wenigen Spaziergänger.
Als er François von Weitem sah, zündete er sich eine Zigarre an, lehnte sich zufrieden zurück und warf den Spatzen die restlichen Brotkrumen zu. François setzte sich zu ihm. Statt einer Begrüßung fragte der Alte: „Quentin ist tot?“
François schaute auf den Boden: „Ich habe ihn gefunden und zum Friedhof gebracht. Er sah schrecklich aus. Noch einen Tag vorher hat er mich gebeten, im Falle seines Todes Kontakt zu ihnen aufzunehmen und den Ring zu übergeben. Sonst hat er nichts gesagt.“
Er nahm die Metalldose aus der Tasche und reichte sie dem Mann. François spürte dessen Aufregung, als er den Ring aus dem Behältnis nahm und betrachtete.
„Vielen Dank. Sie können sich nicht vorstellen, wie wichtig dieser letzte Dienst für Quentin war.“
„Ich hätte gern mehr getan. Doch jetzt ist er tot. Gegenstände haben nur für Lebende einen Wert.“
Der Alte nickte. „Aber manchmal sorgen sie dafür, dass andere überleben. Ich werde jedenfalls nicht vergessen, was sie getan haben. Bitte nehmen sie diese kleine Aufmerksamkeit an. Es ist das Mindeste, dass ich für sie tun kann.“
Es waren fünf Goldmünzen zu je 20 Francs. François war sich nicht schlüssig, ob es richtig war, das Geld anzunehmen.
Der Alte stand auf. „In Notzeiten ist es gut, Gold zu besitzen.“
François blieb noch einen Moment sitzen. Die Münzen werden reichen, um die ausstehende Miete zu bezahlen. Mindestens eine wollte er aber als Erinnerung behalten.
* * *
Der Krieg hinterließ in Belgien tiefe Wunden. Allein im August 1914 starben 5000 Zivilisten. Battice, Herve, Visé und Diant wurden in Schutt und Asche gelegt. In Leuven verloren 200 Menschen ihr Leben. Hunger und Not herrschte. Hunderttausende Belgier flohen in die Niederlande. Unter ihnen war François Gaspard, der kurz zuvor erfahren hatte, dass seine Eltern an Typhus gestorben waren.
In Utrecht hielt er sich bis zum Kriegsende mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser. Im Dezember 1918 ging er nach Leuven zurück. Ab Januar 1919 führte er sein Geschichtsstudium weiter, das er im Jahr 1922 abschließen konnte. Im selben Jahr heiratete er Juliane Broustine, die an der Universität als Sekretärin arbeitete. Am 30. Januar 1924 wurde Julien geboren.
Mithilfe der USA wurde die Universitätsbibliothek Leuven neu aufgebaut. Die Regale füllten sich. Der Versailler Vertrag hatte Deutschland verpflichtet, die vernichteten Bestände der Bibliothek zu ersetzen. François kümmerte sich jetzt um historische Bücher und Handschriften. Die Erinnerungen an die Ereignisse von 1914 verblassten. François fühlte sich glücklich. Jeder Tag mit Juliane und seinem Sohn Julien war ein Geschenk.
Nur manchmal, wenn er sich in ein altes Buch vertieft hatte, schaute er auf und suchte mit dem Blick Quentin Mertens, bevor er sich daran erinnerte, dass er nicht mehr lebte.
Steins Drohung
Anfang Januar 1939. Leuven in Belgien.
Es klingelte an der Wohnungstür. Friedrich Stein grinste: „Hallo François. Hast du den Krieg gut überstanden? Wie ich höre, bist du verheiratet und hast ein Kind.“
François sah ihn an und sagte: „Ich habe kein Interesse an einem Gespräch mit dir.“
„So, so. Der Hungerleider ist stolz geworden. Aber vielleicht interessiert es dich, dass ich an einem wissenschaftlichen Projekt arbeite, bei dem du in einem Monat so viel verdienst wie ein Archivar im ganzen Jahr. Der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, hat Interesse an dir. Deutschland hat der Universität großzügig Bücher geschenkt. Da kann man etwas Unterstützung erwarten.“
Empört entgegnete François: „Du bist hier nicht in Deutschland. Ich habe nicht vergessen, wie ihr in Leuven gewütet habt. Zwei Freunde habe ich verloren.“
Stein wurde laut. „Mertens war selbst schuld. Er hätte sich nicht mit den falschen Leuten anlegen sollen.“
Er ließ einen Augenblick vergehen.
„Wenn du dich querstellst, könnte es dir und deiner Familie so ergehen wie ihm. Es liegt bei dir.“
François Schlag war präzise. Er hörte das Brechen des Nasenbeines und den dumpfen Aufschlag des Körpers. Ohne sich um Stein zu kümmern, schloss er die Tür und drehte den Schlüssel zweimal um.
François zitterte am ganzen Leib. Noch nie hatte er sich geprügelt. Seine Frau kam aus der Küche und umarmte ihn. Dann kam auch Julien. „Was war denn los?“
François stand stumm im Flur. Erst nach einigen Minuten hatte er sich gefangen.
„Tut mir leid. Aber ich habe große Angst. Angst um euch.“
Juliane nahm ihn bei der Hand. Im Wohnzimmer setzte er sich auf das Sofa, das sie sich gerade erst angeschafft hatten. Juliane fragte, ob sie die Polizei rufen soll.
„Nein. Die kann nicht helfen. Es ist kompliziert.“
Juliane ergriff seine Hände. „Hast du etwas Verbotenes getan?“
„Nein. Ich bin nur einem Mörder begegnet.“
Dann erzählte er über Friedrich Stein, Quentin Mertens, Thomas Plummer und den Ring, den er einem Unbekannten gegeben hat. Sie sollten ihn verstehen.
Er war sich nicht sicher, ob er das Richtige getan hatte. Doch wem konnte er vertrauen, wenn nicht seinen Liebsten? Sie setzten sich neben ihn. Er weinte. Julien stand auf und ging zum Fenster, denn er hatte etwas gehört. „Der Mann fährt gerade mit einem großen Mercedes weg. Er ist nicht allein. Die zwei anderen haben lautstark auf ihn eingeredet.“
„Hast du etwas verstanden?“, fragte François.
„Nein. Ich glaube, sie haben Deutsch gesprochen.“
Die Tropfen schlugen gegen die Scheiben. Auf der Fensterbank bildete sich eine Pfütze. Das Wasser drohte den Weg auf die Dielen zu finden. Schon längst hätte er den Fensterkitt erneuern müssen. Immer wieder hatte er es verschoben. François fühlte sich schuldig. Bleierne Leere breitete sich in ihm aus. Starr saß er da, nicht in der Lage, sich zu rühren. Wie aus der Ferne hörte er seinen Namen.
Juliane schüttelte ihn. „François! François!“
Er hob den Kopf. „Ich weiß nicht, was ich tun soll.“
Altklug mischte sich Julien ein: „Gibt es den Freimaurer noch?“
François hob langsam seinen Kopf. „Vielleicht. Ich habe ihn vor ein paar Jahren auf der Straße gesehen.“
„Na dann. Sie sind dir etwas schuldig. Mehr als ablehnen können sie nicht. Ich begleite dich.“
François war froh, dass sein selbstbewusster Sohn mitkam, denn er fühlte sich schwach und drohte jeden Moment umzufallen. Der Regen hatte nachgelassen.
Ihre Hüte tief ins Gesicht geschoben, mit hochgeklappten Mantelkragen, schlichen sie wie Diebe durch die Straßen. Die Gaslaternen sprangen an. Ihr Licht war dürftig und spiegelte sich auf dem Pflaster. Sie brauchten fast eine Stunde bis in die Vorstadt.
Obwohl kein Name an der Tür stand, erkannte François das Haus sofort. Skulpturen bewachten den Eingang. Statt einer Klingel befand sich ein Klopfer aus Messing an der Tür. Das Geräusch schien François so laut, dass er befürchtete, Nachbarn würden ihre Fenster öffnen, um zu sehen, wer die Ruhe stört.
Martin Mertens öffnete. Er war merklich gealtert, doch hatte er immer noch wache Augen. Er sah, dass etwas passiert sein musste.
„Kommt erst einmal rein. Ihr seid völlig nass. Schön, dass du da bist.“ Er musterte Julien. „Ist das dein Sohn?“
Martin gab Julien die Hand. „Er sieht dir ähnlich.“
Ehe er darauf eingehen konnte, sagte François: „Ich hatte Angst, allein auf die Straße zu gehen. Es ist etwas passiert.“
Martin rief: „Anne, wir haben Besuch. Mache bitte Tee.“
Eine unsichtbare Stimme antwortete: „Komme gleich.“
„Du hattest Glück. Wir sind gerade eben erst aus Utrecht gekommen. Beinahe hättet ihr uns verpasst.“
Verlegen sagte François: „Tut mir leid, dass wir stören.“
„Aber nein doch. Wir freuen uns immer über Besuch.“
Martin öffnete die Tür zum Wohnzimmer. An der Wand hingen alte Gemälde. In der Ecke stand eine Uhr, die scheinbar auf ihren Eintritt gewartet hatte, da ein Gong die nächste Stunde ankündigte. Die Anrichte war voller Familienbilder. Auf einem war Quentin als Absolvent der Universität zu sehen. François nahm es in die Hand.
„Wenn ich an ihn denke, rieche ich den beißenden Rauch der verbrannten Bücher und sehe, wie er leblos und zerschunden auf dem Wagen liegt.“
Nachdenklich stellte er das Bild wieder zurück. „Und jetzt taucht der Mann auf, der das alles angerichtet hat.“
Martin blickte ihn erschrocken an. „Wer ist gekommen?“
„Friedrich Stein war vorhin bei mir und deutete an, dass er an Quentins Ermordung beteiligt war.“
Als Martin zögerte und dabei Julien ansah, ergriff François die Hand seines Sohnes. „Ich habe meiner Familie von damals erzählt.“ Er sah Martin an.
François sagte: „Stein hat gefragt, ob ich ihn bei einer Forschungsarbeit für die Nazis unterstütze. Als ich abgelehnt habe, drohte er, dass es meiner Familie und mir genauso ergehen könnte wie deinem Bruder und Thomas Plummer.“
„Und wie hast du darauf reagiert?“
Stolz antwortete Julien für ihn: „Er hat ihm die Nase gebrochen!“
Ein leichtes Lächeln umspielte Martins Mund, bevor er wieder ernst wurde. „Nehmt erst einmal Platz und beruhigt euch.“
François unterstrich seine Worte: „Es war keine leere Drohung. In seinen Augen war so eine Kälte“.
Er sah Martin fragend an. „Ich kann mir nicht erklären, warum er nach so vielen Jahren auf mich gekommen ist.“
„Stein hat dich bewusst ausgesucht. Er ging davon aus, dass du erpressbar bist, weil du ihm damals das Buch gegeben hast. Nach deiner Reaktion befürchtet er, dass du das Geheimnis kennst. Wir haben durch einen Mittelsmann erfahren, dass die SS einige Belgier auf eine Suchliste haben. Allerdings ist unbekannt, wie viel die Deutschen wissen. Dummerweise ist ein Brief in ihre Hände geraten. Es ist ausgerechnet ein Schreiben, das Hinweise auf den brisanten Inhalt der Bücher gibt. Und du hast mindestens ein Buch gelesen.“
Verwundert sagte François: „Aber das Buch war doch völlig belanglos. Quentin hatte mir das bestätigt und Stein hat meine Arbeit nicht bekommen.“
„Das weiß Stein aber nicht. Er vermutet bestimmt, dass du in das Geheimnis eingeweiht bist. Ich denke, dass er dich gesucht, aber nicht gefunden hat, weil du dich in die Niederlande abgesetzt hattest.“
„Du weißt, dass ich in den Niederlanden war?“
„Ja. Wir wollten dich damals noch einmal sprechen, weil wir wegen eines Gegenstandes besorgt waren, den Quentin im Besitz hatte. Allerdings hatte er sich später wieder angefunden.“
„Ging es um den Ring? Ich habe mich genau an die Anweisung von Quentin gehalten.“
Martin zog seine Schultern hoch. „Das wussten wir damals nicht. Wir befürchteten, dass er mit der Wohnung verloren ging.“
François fragte: „Kann es sein, dass es Stein eigentlich um den Ring geht?“
„Ich bin mir nicht sicher, was er weiß und worum es geht. Derzeit gehe ich davon aus, dass er die Papiere wollte. Allerdings ist mir unklar, mit wem wir es zu tun haben. Die Nazis und der Vatikan suchen danach. Es kann sein, dass beide Seiten kooperieren oder Konkurrenten sind. Es ist aber auch möglich, dass Stein auf eigene Rechnung arbeitet und die Ergebnisse seiner Arbeit meistbietend verkaufen will.“
Julien fragte ärgerlich: „Was ist es denn für ein großes Geheimnis, um das so viel Aufwand betrieben wird?“
„Ich kann es dir nicht verraten, da ich es selbst nicht kenne. Aber es muss bedeutsam sein. Die Nazis haben in Hamburg ein Logenhaus Stein für Stein abgetragen, weil sie hofften, dort die Lösung zu finden. Glücklicherweise wurde alles in Sicherheit gebracht. Allerdings sind mittlerweile viele unserer deutschen Freunde inhaftiert. Das gesamte Vermögen der Freimaurer wurde konfisziert. Ich kann mir vorstellen, dass die Nazis jetzt auch im Ausland suchen. Das würde zu den Aussagen von Stein passen.“
Julien fragte: „Wäre es nicht einfacher, das Papier den Nazis zu überlassen, um im Gegenzug die Inhaftierten zu befreien?“
„Nein. Das wäre eine Katastrophe für die Menschheit.“
Der Junge war erstaunt: „So schlimm?“
„Noch viel schlimmer, als wir uns das jemals ausdenken könnten. Der Vatikan hat uns deshalb seit Jahrhunderten verfolgt.“
„Und jetzt hängt unsere Familie in dem ganzen Schlamassel.“ Flehend sah François ihn an. „Könnt ihr uns helfen?“
Martin legte eine Pause ein.
Zwischenzeitlich war seine Frau gekommen und hatte Tee gebracht. „Ich lasse euch wohl lieber allein und backe noch ein paar Kekse.“
Martin drückte seiner Frau einen Kuss auf die Wange. Dann wandte er sich seinen Gästen zu. „Danke. Wir melden uns, wenn wir Hunger haben.“
Als seine Frau den Raum verlassen hatte, setzte „Es tut mir leid, dass es dazu gekommen ist. Wir vermeiden es, Unbeteiligte in unsere Angelegenheiten hineinzuziehen. Genau deshalb haben wir die Aufnahmerituale. Jeder soll nur wissen, wofür er reif genug ist. Selbst nach Jahren kann es passieren, dass Menschen niederen Instinkten folgen.
Quentin hat dich in der Not einbezogen, weil er dich für ehrlich und zuverlässig hielt. Damit sind wir bei dir in der Schuld. Ich könnte es mir einfach machen und auf die Regeln der Freimaurer verweisen. Es geht aber um mehr als ein Ritual.
Die meisten Informationen sind nicht geheim. Aber die Zusammenhänge erschließen sich nicht für jeden. Es ist wie ein riesengroßes Puzzle, bei dem man keinen Anfang findet, weil die Ränder nicht zueinanderpassen.
Die Natur ist chaotisch und doch hat sie eine Ordnung, auch wenn wir sie nicht immer verstehen.“
François sah seinen Sohn an, der tat, als ob er alles begriffen hatte.
Bevor sein Vater antworten konnte, sagte Julien: „Ich weiß nicht, was du uns damit sagen willst. Wir wollen keine Freimaurer werden und eure Geheimnisse sind uns völlig egal. Wir sind gekommen, damit Ursachen beseitigt werden, die uns in Gefahr bringen. Nicht mehr und nicht weniger.“
Martin lehnte sich zurück und schloss nachdenklich die Augen. Er lehnte sich in seinem Ledersessel zurück. Nach einem Augenblick öffnete er wieder die Augen und beugte sich vor. Mit gedämpfter Stimme sagte er: „Ich werde euch helfen, aber ich komme nicht umhin, einiges über die Freimaurer zu erzählen, damit ihr begreift, dass es bei uns um größere Dinge geht als die Interessen Einzelner. Bitte gebt mir die Gelegenheit, euch etwas in die Vergangenheit der Freimaurer zu führen.
In Nachschlagewerken wird dort immer der 24. Juni 1717 als Gründungsdatum genannt, weil an diesem Tag sich die erste Großloge von England zusammengeschlossen hat. Das ist aber totaler Unsinn, denn es gab ähnliche Bruderschaften schon viel früher. In ihnen trafen sich Gelehrte, Ingenieure und Künstler. Sie sezierten Leichen, führten chemische und physikalische Experimente durch, stellten aber auch Aussagen der Kirche infrage und überschritten Grenzen.
Nur durch gegenseitiges Vertrauen und die vereinbarte Geheimhaltung konnten sie ihre Gedanken austauschen. Reiche Bürger, aber auch Adlige öffneten ihre Türen, da sie hofften, von den Ergebnissen der Forschungen zu profitieren. In Italien war es die Familie Medici. Ihr Geld verlieh ihnen Macht.
Die Kirche hatte immer ein Problem, wenn die Richtigkeit ihrer Weltsicht infrage gestellt wurde. Sei es die Wahrheit der Bibel, die Planetenbahnen oder der Eigentumsanspruch auf Länder und Kronen.
Menschen, die eine abweichende Sicht hatten und Grenzen überschritten, fanden immer Mittel und Wege, sich zu organisieren. 1312 wurde der Templerorden vom französischen König, Philipp IV. mithilfe von Papst Clemens V. zerschlagen und ihr Vermögen einverleibt. Zwar wurden viele Mitglieder gefangen und umgebracht, doch in Portugal, in Spanien, in der Schweiz und in Schottland tauchten sie unter und nahmen ihre Geheimnisse mit.
In den Köpfen verbindet man mit den Freimaurern immer Steinmetze, die ihr Wissen schützen und durch ein Regelwerk Streitigkeiten verhindern wollten. Ihre Organisationsform wurde zwar zum Muster der Logen, doch waren und sind die wenigsten von uns Steinmetze. In einer Loge zu sein bedeutet, den strengen Anforderungen an Wissen, Können und Ehrbarkeit gerecht zu werden. Dieser grundsätzliche Ansatz, dass es nicht um Macht geht, führte immer wieder zu Versuchen, die Logen zu instrumentalisieren. Kaiser, Könige und vor allem die Kirche versuchten, das Netzwerk zu infiltrieren, um es für eigene Zwecke einzusetzen.
Aufklärung und Reformation veränderten die Ausrichtungen der geheimen Gesellschaften, die vor dem Problem standen, ob man als Katholik, Protestant, Jude oder Moslem vorbehaltlos mit Freimaurern anderer Konfessionen disputieren durfte. Der Austausch ohne Ansehen der Person war aber gerade ihre Stärke.
So verständigte man sich, jeden religiösen Zwang abzulegen. Stattdessen wurden Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz und Humanität als höchste Ziele benannt. In der Loge sollte man von der Weisheit der Erfahrenen lernen und sich zu allen Fragen und Meinungen ohne Vorbehalte austauschen können.
Mit dieser Ausrichtung standen die Freimaurer im Widerspruch zum Alleinvertretungsanspruch der katholischen Kirche, da sich in den Logen Freiräume auftaten, auf die sie keinen Einfluss hatte. Das bedeutete nicht, die Religionen zu kritisieren oder den Glauben infrage zu stellen. Er wurde einfach ausgeblendet. Eine banale Begründung, wonach Gott irgendetwas so will, wurde nicht akzeptiert. Jeder Beweis musste nachprüfbar und wiederholbar sein. Das war für die Kirche Ketzerei und Blasphemie.
Der Papst belegte die Freimaurer mit dem Bann, der über Jahrhunderte bis heute immer wieder erneuert wurde. 1917 wurde das noch einmal bekräftigt. Danach ist ein Katholik durch den Eintritt in eine freimaurerische Vereinigung automatisch exkommuniziert.
Diese Festlegung ist ein Ausdruck der permanenten Angst vor Veränderungen. Spätestens mit den politischen Umstürzen in Frankreich, Russland, Deutschland und auch in Italien, als Rom zur Hauptstadt wurde und der Vatikan sein Territorium verlor, entwickelte sich eine schreiende Angst vor dem Verlust von Macht, Einfluss und Geld. Der Anspruch auf die ewige Wahrheit und die Unfehlbarkeit der Päpste schien zu wanken. Letztendlich führten sie das Desaster auch auf die Freimaurer zurück, die sich einfach nicht gängeln ließen. Mit dieser Haltung hat sich die katholische Kirche aber in eine Situation manövriert, in der sie hilflos zusehen muss, wie unabhängige Wissenschaftler ihr Weltbild mit Beweisen auseinandernehmen.
Nur um das klarzustellen: Ich habe nichts gegen den Glauben. In unserer Loge haben wir Protestanten, Juden, Moslems, Atheisten und auch Katholiken, die sich um den Papst nicht scheren. Und wir kommen alle gut klar, weil wir Menschen mit Verstand sind.
Sicher habt ihr Schauergeschichten über Rituale der Freimaurer gehört. Die meisten wurden vom Vatikan erfunden, um uns zu schaden. Stattdessen haben sie uns geholfen. Menschen sind neugierig und wollen wissen, ob es stimmt. Die strengen Aufnahmebedingungen müssen sein, weil es immer Versuche der Unterwanderung gibt.
Und noch etwas ist über die Jahrhunderte geblieben. Wir bewahren geheimes Wissen, das wir nur an die zuverlässigsten Brüder weitergeben.“
Julien fragte ungeduldig: „Was hat mein Vater mit den Auseinandersetzungen zwischen Freimaurern und dem Vatikan zu tun? Die Drohung kam doch nicht aus Rom, sondern von einem Nazi. Ich habe gelesen, dass Hitler die Kirche ablehnt.“
Martin kratzte sich am Kopf. „Tja. Ich kann die Frage nicht endgültig beantworten, vermute aber, dass Gefahren von beiden Seiten bestehen. Es gibt ein Zweckbündnis zwischen dem Vatikan und den Nazis. 1929 hat Papst Pius XI. die sogenannten Lateranverträge mit Mussolini abgeschlossen. Erst dadurch wurde der Vatikan zum Staat und erhielt gleichzeitig große Geld- und Vermögenswerte von Italien. Hitler schloss 1933 das Reichskonkordat mit dem Papst, das dafür sorgte, dass der Staat Kirchensteuer für die Kirche einzog. Unabhängig davon, was die Vertreter beider Seiten sagen, sprechen die Taten für sich. Der Papst sagte: ‚Mussolini wurde uns von der Vorsehung geschickt.‘
In Italien verfolgten die Schwarzhemden und in Deutschland die SA und SS alle freiheitlich denkenden Kräfte. Vom ersten Tag an gehörten neben Sozialdemokraten, Gewerkschaftern und Kommunisten auch die Freimaurer zu den Opfern. Sie wurden aus allen staatlichen Ämtern ausgeschlossen und viele von ihnen eingesperrt. Wir wissen gegenwärtig nicht, ob sie noch am Leben sind.
Leider gibt es aber auch Kollaborateure. Wir versuchen, Schaden abzuwenden, doch man kann in die Menschen nicht hineinsehen. Für uns war es überraschend, dass die Existenz der Scribent-Bücher so schnell bekannt wurde, da Stein die Arbeit nicht publiziert hat. Deshalb musste mein Bruder dafür sorgen, dass sie aus dem Bestand der Bibliothek verschwanden.
Als der Unbekannte nach den Büchern fragte, war uns klar, dass er aus Rom kam. Wir konnten im Nachhinein sogar feststellen, in welchem Hotel er abgestiegen war. Heute sind wir uns sicher, dass er zu den Mördern meines Bruders und vielleicht auch von Thomas Plummer gehörte. Sein Name ist Mario Vico. Wir konnten ihn in Rom ausfindig machen und stellten Verbindungen zu den Schwarzhemden von Mussolini und zu einer Organisation fest, die sich seit 1930 Opus Dei nennt und schon 1928 vom spanischen Priester Jose Maria Escrivá de Balaguer y Albás gegründet wurde. Das Besondere an ihr ist, dass sie direkte Verbindungen zum Papst hat und fast ausschließlich aus Laien besteht. Vieles liegt über die Organisation im Dunkeln. Bedeutsam ist aber, dass sie Organisation sehr enge Beziehungen zu General Franco unterhält. Es gibt Hinweise, dass in wichtigen Entscheidungen Escrivá selbst oder Personen aus seinem engsten Umgangskreis einbezogen werden. Mitglieder müssen ein Treueversprechen ablegen. Zu den täglichen Ritualen gehört, dass sie jeden Morgen wie ein Gebet sagen: ‚Ich werde dienen!‘
Es handelt sich um Fanatiker, die für ihren Glauben Grenzen übertreten. Man kann sich fragen, ob Vico im Auftrag der Schwarzhemden oder des Vatikans handelte. Ich neige dazu, dass der Vatikan Interesse an den Büchern bekundet hat und daraufhin nach geeigneten Handlangern suchte. Ob Vico und Stein zusammenarbeiten, kann ich nicht sagen.
Da Stein aber seine Drohung gegen dich gerichtet hat, solltest du sie ernst nehmen. Die SS ist für ihre Brutalität bekannt. Ich werde sehen, was wir für euch machen können. Ihr müsst wachsam sein.“
Julien war mit den Antworten nicht zufrieden. „Mein Vater ist kein Freimaurer, aber durch euch in diese Situation geraten. Meinst du nicht, dass der Rat ‚wachsam zu sein‘ nicht ausreicht? Meine Mutter hat Angst, dass etwas passiert, und du erzählst uns von der Geschichte und ehrbaren Absichten der Freimaurer. Wir wollen einfach unser Leben zurück.“
„Im Moment habe ich keine Lösung. Ich versuche aber, etwas zu organisieren. Das geht aber nicht so schnell“, antwortete Mertens, dem man die Sorge ansah.
* * *
Unzufrieden und verunsichert, machten sich François und Julien auf den Weg nach Hause. Unterwegs überlegten sie, was sie erzählen sollten. Sie hofften, dass sich Martin Mertens um das Problem kümmert.
Wenige Tage später besuchte er François in seiner Wohnung und fragte ihn, ob seine Frau über den Ernst der Lage informiert hat.
François sagte: „Nein. Ich wollte sie nicht zu sehr beunruhigen.“
„Sie muss es wissen, denn es ist viel schlimmer als vermutet. Wenn du willst, spreche ich mit ihr.“
François rief seine Frau und Julien.
Sie setzten sich an den Wohnzimmertisch. Martin Mertens begrüßte sie. Dann wurde sehr ernst.
„Es wird Krieg zwischen Deutschland und Polen geben. Wir haben übereinstimmende Berichte von zuverlässigen Brüdern. Sofern England und Frankreich ihren Bündnisverpflichtungen gegenüber Polen nachkommen, wird Belgien zwischen die Fronten geraten. Ich bin mir sicher, dass Hitler an der belgischen Grenze nicht haltmachen wird. Zwar ist die Armee diesmal besser gerüstet, aber gegen Deutschland wird sie nichts ausrichten können.
Es gibt Nazis in Belgien, die Listen von politischen Gegnern aufgestellt haben. Friedrich Stein hat dafür gesorgt, dass du auf der Liste als Freimaurer geführt wirst. Die Gefahr ist da. Diesmal wird es nicht reichen, in die Niederlande zu flüchten, weil dort die Situation ähnlich ist.
Gegenwärtig haben wir noch recht gute Verbindungen zu Vertretungen ausländischer Konsulate. Wie es in ein paar Monaten aussieht, weiß niemand.“
Juliane fing an zu weinen. François hatte Mühe, Worte zu finden: „Meint ihr wirklich, dass es so schlimm kommt? Müssen wir wirklich flüchten? Ich habe gar nicht genügend Geld für einen Neuanfang.“
Mertens sah sie an. „Wir haben beschlossen, die Überfahrt nach Argentinien zu bezahlen. Für den Anfang erhaltet ihr eine Beihilfe, bis ihr auf eigenen Füßen steht. Unser Kontaktmann vermittelt Arbeitsstelle und Wohnung. Das Angebot besteht aber nur eine Woche, da am nächsten Wochenende das Schiff nach Buenos Aires geht und Papiere vorher beschafft werden müssen. Was meint ihr?“
François neigte sich zu seiner Frau, die völlig aufgelöst auf dem Sessel saß. Er umarmte sie.
Julien stand auf. „Sollen wir alles für eure Geheimniskrämereien aufgeben?“ Juliane zog ihn zu sich heran und umarmte ihn, als ob er noch ein kleiner Junge wäre, setzte er sich auf ihren Schoß. Schluchzend sagte er: „Ich kann kein Spanisch. Außerdem sind alle meine Freunde hier.“
Martin lächelte versöhnlich: „Ich kann auch kein Spanisch. Aber du wirst es lernen. Vielleicht ist der Spuk auch schon in einem Jahr vorbei. Dann lachen wir über die Bedenken, wenn du mit einer südamerikanischen Schönheit in Leuven spazieren gehst.“
Juliane wollte etwas sagen. François wartete die Antwort seiner Frau nicht ab. „Ich sehe keine andere Chance.“
* * *
Der Zug ging am 11. Februar 1939 um acht Uhr. Martin Mertens hatte Pässe und eine Aufenthaltserlaubnis für Argentinien beschafft. An Verwandte und Bekannte schickte François Postkarten mit der Mitteilung, dass er ein gutes Arbeitsangebot in Paris bekommen habe. Martin versicherte ihnen, die Möbel bis zu ihrer Rückkehr sicher einzulagern oder zu verkaufen.
Nun standen sie auf dem Bahnsteig und warteten auf den Zug. Sie hatten nur das Nötigste in einem Überseekoffer und zwei große Taschen verstaut. François hatte auf Bücher verzichtet und stattdessen Fotoalben eingepackt. Sie sollten als Heimatersatz mit auf die Reise gehen. Von Martin hatten sie sich bereits einen Abend vorher verabschiedet.
Als der Zug sie mit sich nahm, spürten sie eine tiefe Traurigkeit. Selbst Julien hatte Tränen in den Augen. Vielleicht lag es auch daran, dass er wenige Tage vorher ein Mädchen kennengelernt hatte. Obwohl er es ihr verboten hatte, war Irene zum Bahnhof gekommen. Er war ihr dankbar. So nahm er ein Stück Hoffnung mit in die Fremde.
In Antwerpen wartete ein Dienstmann. Er half ihnen, das Gepäck in ein Automobil zu bugsieren. Nach einer Fahrt quer durch die Stadt und entlang zahlloser Schiffe kamen sie endlich am Liegeplatz an. Die ‚Albatros‘ war im Vergleich zu den anderen Frachtern klein. An der Gangway wartete ein älterer Mann mit einem hellen Anzug und einem auffälligen Strohhut. Sein Lachen nahm das ganze Gesicht ein: „Willkommen in Antwerpen. Ich bin Carlos Jeronimos de Silva, Antiquitäten- und Schmuckhändler aus Buenos Aires. Ihr könnt mich gern Carlos nennen.“
„Buenos Dias. Ich bin François Gaspard. Das sind meine Frau Juliane und mein Sohn Julien.“
„Oh, sie sprechen Spanisch?“
„Nur diese beiden Worte.“
„Das kann geändert werden. Wir haben fast drei Wochen Zeit.“
Die Flucht
Carlos war ein guter Lehrer. Sprach er in den ersten Tagen Französisch und übersetzte die wichtigsten Worte ins Spanische, ging er nach und nach dazu über, ausschließlich Spanisch zu sprechen. Er hatte ihnen ein Wörterbuch gegeben, damit sie fehlende Worte nachschlagen konnten. Da die Besatzung kein Französisch sprach, waren sie gezwungen, ihre Wünsche in der Fremdsprache zu äußern. Dabei erweiterten sie ihren Wortschatz mit den wichtigsten Schimpfwörtern, die im Wörterbuch nicht aufgeführt waren.
Während Juliane und François Gaspard die Fahrt über trauerten, war für Julien die Reise ein Abenteuer. Wissbegierig ließ er sich von den Matrosen über ihre Heimat berichten. Er sah sich für das Leben in der ‚Neuen Welt‘ gerüstet.
Argentinien empfing sie mit angenehmen Temperaturen. Die Sonne beleuchtete das bunte Panorama von Buenos Aires. Die Mannschaft stand an der Reling. Sie suchten an Land bekannte Gesichter. Eine Traube Menschen hatte sich versammelt und rief unverständliche Worte. Der Kapitän kam und sagte stolz: „Das sind meine Freunde.“
Man sah ihm seine Freude an. „Ich habe noch einiges zu tun.“
Uniformierte kamen an Bord und kontrollierten die Pässe. Carlos sprach mit ihnen und schob dem Offizier unauffällig einen Geldschein in die Tasche. Sie durften von Bord. Der Schrankkoffer wurde von einem Kran herabgelassen. Die Einwanderer gruppierten sich um ihn. Carlos überwachte die Entladung einiger großer Kisten. Eine Gruppe Hafenarbeiter sorgte dafür, dass alles auf Kraftwagen verladen wurde. Das Gepäck fand seinen Platz. Der Vorarbeiter ließ sich einen Lieferschein unterschreiben. Dankbar nahm er einen Dollarschein entgegen.
Carlos sah den verwunderten Blick von Julien. Statt einer Antwort sagte er: „Willkommen in Buenos Aires. Es ist schön, wieder zu Hause zu sein.“
François stützte seine Frau. Sie war während der Überfahrt mehrfach seekrank geworden und fühlte sich müde und schwach.
Eine große Limousine wartete. Der Chauffeur hatte alle Türen geöffnet. Carlos sprach mit ihm einige Worte. Er setzte sich nach vorn. Die Gaspards nahmen auf der Rückbank Platz. Zügig fuhren sie durch die Straßen. Viele der Häuser schienen gerade erst gebaut worden zu sein. Zwischen ihnen reckten sich Palmen in die Höhe.