Der Dienstmädchenmörder - Walter Christian Kärger - E-Book

Der Dienstmädchenmörder E-Book

Walter Christian Kärger

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Beschreibung

Ein Pathologe deckt eine Verschwörung des Adels auf – und wird zum Pionier der Kriminologie. München, 1886. Der Pathologe und begeisterte Amateurdetektiv Hajo von Zündt obduziert mit Hilfe seiner jungen Assistentin Charlotte Brauchitsch eine Leiche – und stellt fest, dass die Frau ermordet wurde. Die Polizei hat mit dem Verlobten der Toten schnell einen Verdächtigen im Visier, doch Hajo glaubt nicht an dessen Schuld. Unter Einsatz neuester kriminologischer Methoden folgen er und Charlotte einer Spur, die tief in ein nahes Moor und in höchste adelige Kreise führt.

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Walter Christian Kärger, aufgewachsen im Allgäu, absolvierte die Hochschule für Fernsehen und Film und arbeitete dreißig Jahre als Drehbuchautor in München. Über hundert seiner Drehbücher wurden für Kino oder TV verfilmt. Er lebt als Romanautor in Memmingen.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2024 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Leonardo Magrelli

Lektorat: Lothar Strüh

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-078-5

Historischer Kriminalroman

Originalausgabe

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Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Adel liegt einzig und allein in der Tugend.

Juvenal, Satiren

Als Adam grub und Eva spann,

wo war denn da der Edelmann?

Flugblatt aus der Zeit des Bauernkrieges 1526

Blaues Blut ist auch nur rot.

Hajo von Zündt

Unter den Wegen, die wir beschreiten,

lauern die Dämonen.

1

»Wann?«, fragte er.

»Sechs Uhr.«

»Morgens?«

»Ja, was glauben Sie denn? Duelle finden nun mal am Morgen statt.«

»Wer sagt das?«

»Die Tradition.«

Hajo von Zündt stöhnte demonstrativ. Menschen gegenüber, die er nicht leiden konnte, konnte er unglaublich arrogant sein. Er verzog sein Gesicht, als hätte er auf etwas Ekelhaftes gebissen. »Ich bin einfach kein Frühaufsteher. Ich bin ein Nachtmensch.«

»Was soll ich sagen? Ihr Herausforderer besteht darauf. Ich bin nur der Sekundant. Außerdem: Sie haben es nicht weit. Es ist nur ein Steinwurf von hier. Am Monopteros.«

Hajo drehte sich um. Sein Adoptivbruder und bester Freund, er hatte nur den einen, Adam, schenkte sich und Hajo einen Drink ein. Es war später Nachmittag im Salon des Familienpalais von Zündt, das in Bogenhausen, dem Ostrand des Englischen Gartens, lag, Zeit für einen Brandy.

Adam hatte dem Sekundanten selbstverständlich auch einen angeboten, aber der hatte brüsk abgelehnt. Was Hajo erst recht dazu angestachelt hatte, ihn so richtig zu derblecken, wie man in München zu sagen pflegte.

»Adam, was sagst du dazu?«, fragte er jetzt seinen Bruder.

»Wenn die Gegenseite darauf besteht …«, antwortete Adam achselzuckend. »Vielleicht solltest du dir etwas darauf einbilden, dass du überhaupt satisfaktionsfähig bist.«

Hajo hatte nichts anderes von ihm erwartet. So war Adam nun mal: Er bewahrte immer die Contenance, von Natur aus kaltblütig, selbst wenn es hitzig zuging. Vor anderen jedenfalls. Aber immer leicht sarkastisch, das hatten sie beide gemeinsam.

»Na gut – sonst noch was?«, fragte Hajo den Sekundanten von Baron Schellenberg, der ihm den Fehdehandschuh hingeworfen hatte.

Ferdinand zu Waldsassen war in seiner Uniform der Archetyp eines Offiziers, der sich ganz dem trügerischen Glanz der Vergangenheit verschrieben hatte. Eine Einstellung, die auf tönernen Füßen stand, davon war Hajo überzeugt. Die Welt befand sich seiner Meinung nach vor einem großen Umbruch. Einem Paradigmenwechsel. Hin zu einer gerechteren Gesellschaft, hin zu einem Zeitalter der Vernunft.

Per aspera ad astra.

Das war sein Wahlspruch, den er sich auf sein imaginäres Wappen geschrieben hatte, seine Familie hatte keines. Er war durch und durch Idealist.

Durch Mühsal gelangt man zu den Sternen.

Das hoffte er jedenfalls. Und er würde seinen Beitrag dazu leisten, so gut er es vermochte.

Dieser Waldsassen war ehrversessen, dünkelhaft, verknöchert, hatte militaristische Manieren, ein Mann, der es gewohnt war, dass seine Befehle ohne Widerspruch und ohne sie zu hinterfragen, befolgt wurden. Damit war er bei Hajo an den Falschen geraten. Alles Verhaltensweisen, die er zutiefst verabscheute und die er mit entsprechendem Zynismus konterkarierte. Er konnte nicht aus seiner Haut, er musste die Manieriertheit des Offiziers bis an die Grenze zur Unverschämtheit lächerlich machen, indem er sich, was die Usancen eines Duells anging, dumm stellte.

Auch sein Freund Adam machte dieses Spielchen nur allzu gerne mit.

In seinem Gedächtnis hatte Hajo nach dem Namen des Sekundanten gekramt, er hatte ein außerordentlich gutes, aber ein zu Waldsassen war ihm noch nie untergekommen. Diese Aristokraten waren alle gleich. Er verachtete die meisten, auch wenn er selbst einer war. Er hasste es, wenn sie sich für etwas Besseres hielten und von sich selbst immer wieder behaupteten, »von edlem Geblüt« zu sein.

Was für ein Hochmut!

Hajo hatte mit solchen Selbstein- und -überschätzungen nichts am Hut und hatte sich mit Leib und Seele der Wissenschaft verschrieben. Er war wohlhabend, scharfsinnig und weltläufig. Eine allseits respektierte Koryphäe auf seinem Gebiet, die allerdings mit ihren neumodischen Methoden und frevlerischen, in gewissen Kreisen sogar als häretisch angeprangerten Theorien auf heftigsten Widerstand getroffen war. Was ihm jedoch nichts ausmachte – er lebte nach dem Frundsberg’schen Motto: »Viel Feind, viel Ehr!« Georg von Frundsberg aus Mindelheim war im Mittelalter Landsknechtsführer gewesen, ein gewiefter Taktiker, der musste es wissen.

Hajos Vater war Diplomat und ein weit gereister und fortschrittlich denkender Mann gewesen. Schon in seiner Kindheit und Jugend war Hajo auf diese Weise mit anderen Ideen und Sprachen, Kulturen und Denkweisen in Berührung gekommen. Vor allem die unbegrenzten Möglichkeiten der aufstrebenden Naturwissenschaften hatten ihn von Kindesbeinen an fasziniert. Die Chancen der Medizin, der Chemie, der aufkommenden Fotografie und der Bertillonage, eines ersten Identifizierungssystems anhand von dokumentierten Körpermaßen, begannen ihn mehr und mehr zu interessieren. Vor allem im Zusammenhang mit der Aufklärung von Verbrechen.

Anlass für seinen ersten »Fall« war der Tod seines Vaters gewesen. Hajo war damals zweiundzwanzig Jahre alt. Ein gewaltsamer Tod, der zunächst aussah wie eine unglückliche Havarie: Ein Fährschiff auf der Elbe war bei stürmischem Wetter mit Mann und Maus untergegangen, unter den Passagieren war auch von Zündts Vater gewesen. Hajo hatte sich nicht damit abfinden können, dass die Behörden achselzuckend von einem Unfall sprachen und es dabei bewenden ließen. Er stellte eigene Nachforschungen an und konnte schließlich nachweisen, dass das Fährboot durch einen Sprengsatz versenkt worden war, der gegen den Betreiber der Fähre gerichtet war. Der Täter wurde festgenommen und fand seine gerechte Strafe durch das Beil des Henkers.

Hajo von Zündt kümmerte sich nicht weiter darum, dass er durch die Aufklärung eines monströsen Verbrechens – achtzehn Menschen waren durch den Untergang der Fähre in den Tod gerissen worden – auf einen Schlag im ganzen Deutschen Reich berühmt geworden war, und stürzte sich wieder in sein Studium der Chemie und Medizin. Nebenher begann er, seiner heimlichen Leidenschaft nachzugehen: bei schwierigen Kriminalfällen mit seinen Kenntnissen auszuhelfen, wenn er, was zuweilen vorkam, von Manteuffel, einem Münchner Kriminalkommissar, der schon etliche Male von Hajos Methoden profitiert hatte, um Unterstützung gebeten worden war.

Nun, mit siebenunddreißig Jahren, im Jahr 1886, mit Doktor- und Professorentitel, hatte er einen Lehrstuhl für Pathologie an der Ludwig-Maximilians-Universität, und er wusste nur zu genau, dass es kein blaues Blut gab. Auch wenn die willfährige Hofberichterstattung bestimmter Gazetten das immer wieder behauptete. Stattdessen gab es seiner Vermutung nach unterschiedliche und nicht kompatible Blutsorten. Warum sonst traten bei Bluttransfusionen oft plötzliche Todesfälle auf, die sich niemand erklären konnte? Doch mit dieser Theorie war er in der erzkonservativen Medizinwelt wohl der einsamste Rufer in der Wüste.

Ein Nestbeschmutzer, wie seine Feinde sagten, und davon gab es, wie bereits erwähnt, zahlreiche. Auch und insbesondere bei der Kriminalpolizei, die er schon des Öfteren blamiert hatte, wenn er mit seinen unkonventionellen Methoden zur Aufklärung eines Verbrechens beitragen konnte.

»Werden Sie also pünktlich sein?«, fragte Ferdinand zu Waldsassen und brachte Hajo von seinen gedanklichen Abschweifungen wieder in die Realität zurück.

»So pünktlich wie der Alte Peter«, antwortete er.

Der Alte Peter, im Volksmund liebevoll so genannt, war die Kirche St. Peter am Viktualienmarkt im Herzen von München, die älteste Pfarrkirche in der Residenzstadt des Königs, nach deren Geläut alle ihre Uhren richteten.

Waldsassen verneigte sich kurz, er bewegte sich wie alle seines Standes, als hätte er einen Spazierstock verschluckt und Schmisse von irgendeiner Studentenverbindung im Gesicht, und nahm schon die Türklinke in die Hand, als Adam ihn fragte: »Die Waffen – womit soll das Ganze vonstattengehen?«

»Das Übliche – Duellpistolen.«

»Ich habe keine Duellpistolen«, sagte Hajo.

»Keine Sorge. Wir stellen sie.«

»Ich hätte eigentlich an was anderes gedacht …«

»Woran?«

»Na ja – Säbel, Boxen, Pfeil und Bogen – was auch immer.« Hajo lächelte, weil er merkte, dass er Waldsassen mit seinen flapsigen Bemerkungen bis zur Weißglut reizen konnte, was ihm in diesem Fall ein Herzensanliegen war.

Waldsassen lief wunschgemäß rot an und ballte die Fäuste. Hajo konnte beinahe das Zähneknirschen des Sekundanten hören, er sah es an den Ossa jugalia, den Wangenknochen. Er kannte seine eigene Schwäche dafür, sein Gegenüber allein mit Worten aus der Fassung zu bringen. Und bei diesem eingebildeten Sekundanten konnte er nicht widerstehen.

Aber bevor Waldsassen vor lauter Wut noch platzte, beschloss Hajo, wieder auf Konzilianz umzuschalten. »Also gut«, sagte er. »Dann eben Duellpistolen. Ich dachte immer, der Herausgeforderte hat die Wahl der Waffen. Wenn ich schon nicht die Wahl des Zeitpunkts habe.«

»Da befinden Sie sich im Irrtum«, erwiderte der Sekundant schmallippig. »Der Beleidigte bestimmt Waffen, Ort und Zeitpunkt.«

»Wenn Sie es sagen«, erwiderte Hajo. »Ich will ganz ehrlich sein – wir haben uns mit dieser Thematik noch nicht näher beschäftigt.«

»Vielleicht, weil wir grundsätzlich etwas gegen Duelle haben«, wandte Adam ein.

Ferdinand zu Waldsassen – jetzt fiel Hajo wieder ein, woher er ihn kannte: Er war einer der führenden Köpfe der erzkatholischen Bayerischen Patriotenpartei – blieb in der Tür stehen und räusperte sich. Sein Gesicht hatte einen Ausdruck von Verachtung angenommen. »Was soll das? Wollen Sie sich davor drücken?«

»Wovor?«, stellte sich Hajo absichtlich dumm.

»Davor, sich für Ihre Beleidigungen zu verantworten. Ist es das, was Sie damit sagen wollen? Sie verweigern Ihrem Herausforderer ein Duell, nachdem Sie ihn auf das Gröbste beleidigt haben? Sind Sie etwa ein Mann ohne Ehrgefühl?«

»Nein, ganz und gar nicht. Wat mutt, dat mutt, wie mein Vater – er war Hamburger – immer zu sagen pflegte«, erwiderte Hajo mit einem maliziösen Lächeln, war er doch darauf aus, Ferdinand zu Waldsassen aufs Neue zu provozieren.

Er hatte tatsächlich Erfolg damit, Waldsassen plusterte sich auf wie ein Gockel, der den Hühnerstall beeindrucken wollte. »Meine Herren – ich darf doch bitten! Ich habe den Eindruck, Sie nehmen das Ganze nicht ernst genug. Es handelt sich schließlich um eine Angelegenheit auf Leben und Tod.«

»Und um Festungshaft, wenn wir dabei erwischt werden, bevor oder nachdem wir uns gegenseitig massakriert haben«, fügte Hajo nonchalant hinzu. »Duelle sind strengstens untersagt, das dürfte auch Ihrer Seite nicht ganz unbekannt sein.«

»Von unserer Seite erfährt niemand etwas. Das ist eine Ehrensache.«

»Sie sagen es – mit der Ehre ist das so eine Sache …«

»Was wollen Sie damit andeuten?«

Hajo winkte ab. »Lassen wir das. Wenn nach dem Schusswechsel die Ehre wiederhergestellt wurde, auf welcher Seite auch immer, dann sollte der Satisfaktion Genüge getan sein.«

Ferdinand zu Waldsassen schien über den Sinn dieser Aussage nachzudenken, offenbar erfolglos. Irgendwie war ihm dieser Pathologieprofessor nicht ganz geheuer, dieser Akademiker hatte etwas Doppelbödiges und Spöttisches an sich, und das ärgerte ihn über alle Maßen. Also beschloss er im Gegenzug, dem arroganten Lümmel wenigstens eine schlaflose Nacht zu bescheren. Er schüttelte verärgert den Kopf und machte dann ein bedrohliches Gesicht, bevor er sagte: »Ich sollte das eigentlich nicht tun, aber ich warne Sie – mein Vorgesetzter, Oberst Schellenberg, der Sie gefordert hat, ist der zweitbeste Schütze in unserem Gebirgsschützenregiment. Ich erwähne das nur, damit Sie darüber nachdenken, was morgen früh auf Sie zukommt.«

»Danke für die Warnung«, sagte Hajo und nahm das Glas Brandy, das Adam ihm reichte. »Richten Sie Ihrem Kameraden aus, dass ich mir Gedanken machen würde, wenn er der Beste wäre.«

Ferdinand zu Waldsassen kniff die Lippen zusammen, machte Anstalten, noch etwas zu entgegnen, verabsentierte sich dann jedoch ohne ein weiteres Wort, wobei er immerhin zuerst die Hacken zusammenschlug und zackig salutierte.

»Weißt du was?«, sagte Hajo und wandte sich seinem Freund zu. »Ich hasse dieses militärische und ehrpusselige Getue.«

»Schon klar«, antwortete Adam. »Darum bist du auch der erste Pazifist in Bayern. Aber pass bloß auf, dass du morgen früh nicht der letzte bist!«

2

Adam Bittencourt, Dozent und Experte für Völkerkunde und Geschichte an der Universität München, war seit jeher Hajos Freund. Er entstammte der Verbindung eines hanseatischen Kaufmanns mit einer brasilianischen Schönheit und hatte einen Großteil seiner Kindheit in Manaus im brasilianischen Urwald verbracht. Weshalb er über Kenntnisse und Eigenschaften verfügte, die über das damalige Verständnis weit hinausgingen. Außerdem beherrschte er exotische Kampfsportarten, kannte alle Gifte dieser Welt und deren Wirkung und war überaus gewandt im Umgang mit Waffen aller Art, was ihn neben seiner absoluten Loyalität für seinen Freund und Adoptivbruder Hajo unverzichtbar machte.

Als Adams Eltern in Brasilien an der Cholera gestorben waren, hatte Hajos Vater den Jungen adoptiert, sein Vater war ein Geschäftsfreund gewesen.

Wenn Adam nicht als Dozent auftrat, hielten ihn viele für einen Diener Hajos. Ihm machte es Spaß, in diese Rolle zu schlüpfen, er hatte schauspielerisches Talent und eine diebische Schadenfreude, wenn er gewisse Herrschaften, die ihren Status und ihre eingebildete Wichtigkeit vor sich hertrugen, an der Nase herumführen konnte. Außerdem gelangte er auf diese Weise oft an wertvolle Hintergrundinformationen seitens des tatsächlichen Dienstpersonals, das eher bereit war, klandestines Wissen herauszurücken, wenn es annahm, dass er ihresgleichen war. Und wenn er ehrlich war: Bei einem verzwickten Kriminalfall das Zünglein an der Waage zu sein reizte ihn genauso wie seinen Freund.

Adams Schwäche war sein Leichtsinn, bei ihm überwog die spielerische Komponente, die ein gesundes Angstgefühl oft ausschloss. Aber dieses Mal machte er sich doch Sorgen um Hajo, der seiner Meinung nach zu leichtfertig auf etwas zusteuerte, das ihn Kopf und Kragen kosten konnte – im wahrsten Sinne des Wortes.

»Du solltest das nicht auf die leichte Schulter nehmen«, meinte er deshalb und sah zu, wie Hajo seinen Drink genoss. »Was hast du diesem Schellenberg nur getan, dass er danach trachtet, dein Leben zu beenden?«

»Ich habe ihn beleidigt.«

»Womit?«

»Indem ich ihn einen widerwärtigen Hundsfott genannt habe. Ist mir so herausgerutscht.«

Adam zog die Augenbrauen hoch. »Ja – das ist schon so etwas wie eine Beleidigung, könnte man sagen. War sie gerechtfertigt?«

»Ich finde schon.«

»Was hat er getan?«

»Er hat auf offener Straße eine Frau geschlagen. Das konnte ich nicht zulassen.«

»Das heißt – du hast ihn im Gegenzug ebenfalls geschlagen?«

»Könnte man so sagen, ja.«

»Willst du mir nicht erzählen, was sich wie zugetragen hat?«

Hajo machte es sich in seinem Lieblingssessel bequem und seufzte, dann nahm er noch einen Schluck von seinem Drink. »Um es kurz zu machen, ich war in Haidhausen unterwegs. Nachts. In einer Mietdroschke. Im Arbeiterviertel.«

»Um deine Aussage zu konkretisieren – du warst also dort, wo spezielle Damen ihrer speziellen Arbeit nachgehen?«

Hajo verdrehte die Augen und antwortete nicht. Dass Adam ihn durchschaute und damit aufzog, war er gewohnt. Aber dann sagte er doch: »Willst du jetzt die ganze Geschichte hören oder nicht?«

Adam machte eine einladende Geste.

Hajo betrachtete eingehend seinen Drink und drehte das Glas in seiner Hand. »Ich hatte eine Verabredung mit Manteuffel. In seinem Stammlokal.«

»Dem Polizeikommissar?«

»Kennst du sonst noch einen Manteuffel?«, fragte Hajo.

»Nein.«

»Also. Ich traf ihn in der ›Deutschen Eiche‹. Er wollte meine Meinung zu einem anderen Fall hören.«

»Und? Konntest du ihm weiterhelfen?«

»Ich habe ihm versprochen, die Leiche morgen zu untersuchen. Es handelt sich um eine Ertrunkene. Ein Mädchen, das angeblich in seiner Verzweiflung ins Wasser gegangen ist. So sah es jedenfalls aus, als man ihre Leiche gefunden hat. Manteuffel hat den Verdacht, dass sie sich nicht selbst das Leben genommen hat, wie es auf den ersten Blick aussah, sondern ermordet wurde. Sein Vorgesetzter will den Fall so schnell wie möglich vom Tisch haben, aber Manteuffel hat so seine Zweifel.«

»Und die hat er dir mitgeteilt«, konstatierte Adam.

»So ist es.« Hajo seufzte. »Manteuffel ist der Einzige im gesamten Polizeiapparat, der seinen Beruf ernst nimmt und einen Fall nicht für abgeschlossen erklärt, nur weil das Opfer aus einfachen Verhältnissen stammt und kein Hahn danach kräht. Da ich das respektiere und unterstütze, bin ich ihm in dieser Angelegenheit gerne behilflich.«

»Das weiß ich. Warum zieht er einen Suizid in Zweifel?«

»Weil der Leichnam im Oberstjägermeisterbach im Englischen Garten aufgefunden wurde. Gehst du in einen Bach, der zum größten Teil nur knietief ist, wenn du ersaufen willst?«

»Wohl kaum.«

»Manteuffel sieht das genauso. Ich werde den Leichnam morgen unter die Lupe nehmen.«

»Wenn du da noch unter den Lebenden weilst«, sagte Adam.

Hajo zuckte mit den Schultern. »Mit Schellenberg werde ich schon fertig.«

Jetzt war Adam erst recht alarmiert. »Woher willst du das wissen?«

»Weil er kurzsichtig ist. Ich habe ihm seine Brille zertreten. Er stand über der Frau, sie lag auf der Straße. Er zerrte sie an den Haaren. Sie schrie, er schlug auf sie ein. Da habe ich ihn von ihr weggestoßen, und in dem Handgemenge habe ich ihm einen Hieb auf die Nase verabreicht. Und die Brille.«

»Bravo. Wie hat er reagiert?«

»Er hat geschrien: ›Das wird Sie teuer zu stehen kommen!‹«

»Und dann?«, fragte Adam.

»Die Frau ist weggerannt, er stand auf, hielt sein Taschentuch an die blutige Nase, fuchtelte mit der freien Hand herum und brüllte: ›Ich kenne Sie! Sie sind dieser von Zündt!‹«

Adam schüttelte den Kopf. »Das kommt davon, wenn man im Licht der Öffentlichkeit steht.«

»Nicht unbedingt. Ich habe ihm meine Karte vor die Füße geworfen und gesagt, dass ich ihm jederzeit für eine Revanche zur Verfügung stehe. Und dass ich es nun einmal nicht dulden kann, wenn man eine Frau schlägt. Dann bin ich in die Droschke gestiegen und weggefahren. Er hat mir noch nachgeschrien: ›Das war keine Frau! Das war eine Hure, die mich bestohlen hat!‹«

»Ein wahrer Gentleman.«

»Kann man so sagen.« Hajo schwieg einen Moment, dann sah er Adam an. »Ich muss dich was fragen. Hast du Zeit morgen früh?«

»Um sechs?«

»Lässt sich anscheinend nicht ändern«, sagte Hajo mit schiefem Grinsen.

»Hättest du eine Alternative?«

»Nein.«

Jetzt war es Adam, der seufzte. »Was bleibt mir also anderes übrig?«

Hajo klopfte Adam auf die Schulter. »Danke.«

»Keine Ursache. Was soll ich machen, wenn er dich erschießt?«

»Wird er nicht.«

»Bist du dir da so sicher? Ich frage mich, ob du ein Held bist oder nur ein verfluchter Narr, der für eine Sache, die ihn eigentlich nichts angeht, sein Leben riskiert.«

»Was erwartest du?«, fragte Hajo. »Soll ich heulen und mit den Zähnen klappern?«

»Nein.«

»Na also. Bleibst du zum Abendessen?«

Adam zeigte ein versöhnliches Lächeln. »Gerne.«

»Sehr schön. Und noch etwas …«

»Ich weiß schon – kein Wort von dieser Affäre zu unserer Mutter«, sagte Adam, der manchmal dachte, dass er seinen Freund besser kannte als der sich selbst.

»Oder zu Charlotte.«

»Ach, sie kommt auch?«

»Ja. Was dagegen?«

»Warum sollte ich?«

»Eifersüchtig?«, fragte Hajo.

Sie sahen sich an und mussten beide grinsen.

3

Berta von Zündt führte ein herrschaftliches Haus mit zahlreichem Dienst- und Küchenpersonal als Witwe eines wohlhabenden und angesehenen Diplomaten, der in der ganzen Welt herumgekommen war, was man dem Inneren des Hauses ansah: Alles war mit exotischen und zum Teil seltsamen Artefakten und Möbeln, ausgestopften Tieren aus fernen Kolonialgebieten, Gobelins und Gemälden ganz im Stil der Gründerzeit ausgestattet, die Wände pompejanisch rot, dazu schwere Teppiche auf Eichenholzparkett.

Hajos und Adams Geschmack war das nicht unbedingt, aber wenn ihre Mutter sich wohlfühlte, weil sie fand, dass sie ihrer gesellschaftlich exponierten Stellung eine gewisse Art von Repräsentation schuldig war, sollte es ihnen recht sein. Schließlich pflegte sie regelmäßigen Umgang mit allem, was Rang und Namen hatte. Ihre Soireen waren begehrt, sie war eine äußerst beliebte und großzügige Gastgeberin und machte ganz im Sinne ihres verstorbenen Gatten weiter, der auf so tragische Weise ums Leben gekommen war. Auch nach dessen Tod war sie eine lebenslustige, aufgeschlossene Frau geblieben, deren Ziel es war, eine richtige und angemessene Partie für ihren leiblichen Sohn zu finden. Dessen war sich Hajo durchaus bewusst, er spielte dieses Spiel mit, aber das war es für ihn auch: ein Spiel.

Berta von Zündt war stolz auf ihre Söhne und ihre wissenschaftlichen Laufbahnen, auch wenn sie ihre gelegentlichen Verstrickungen in die niederen Gefilde der Kriminalität nicht unbedingt verstand und goutierte. Das Einzige, was ihr Kummer bereitete, war, dass ihr älterer Sohn immer noch keinerlei Anstalten machte, eine standesgemäße Verbindung einzugehen. Dabei tat sie ihr Möglichstes, um Hajo mit entsprechenden Kandidatinnen zu verkuppeln, aber Hajo hatte bisher bei keiner so recht angebissen.

Was ihren Adoptivsohn Adam anging – den sie nicht weniger liebte –, war sie in dieser Hinsicht neutral. Adam ging seinen eigenen Weg. Berta von Zündt hatte im Laufe der Jahre beschlossen, sich da nicht einzumischen.

Um Schlag acht Uhr war es so weit. Die Zufahrt zum Palais war festlich mit Fackeln erleuchtet. Droschken fuhren vor, die Damen und Herren der gehobenen Gesellschaft gaben sich die Ehre. Zwölf handverlesene Personen waren gekommen, Berta von Zündt war abergläubisch – wie im Märchen von Dornröschen wollte sie keine dreizehnte Person zum Abendessen einladen. Aber wie immer hatte sich ihr Sohn nicht daran gehalten und Charlotte Brauchitsch dazugebeten, seine siebenundzwanzigjährige Assistentin von der Universität.

Berta schätzte Charlotte, sie war hübsch, beherrschte die Kunst der Konversation, weil sie eloquent war und kein Blatt vor den Mund nahm, auch wenn sie nach einem Glas Champagner dazu neigte, allzu unverblümt Missstände zu kritisieren, die ihrer Meinung nach dringend beseitigt werden mussten. Und wenn sie erst damit anfing, konnte sie nicht mehr aufhören. Als der liebe Gott das Temperament vergab, hatte Charlotte wohl gleich zweimal aufgezeigt und »Hier!« gerufen, dachte Berta.

Charlotte entstammte der Familie eines Arztes, der sich auf seelische Krankheiten spezialisiert hatte, rege Korrespondenz mit einem Kollegen in Wien namens Sigmund Freud führte und außerdem ein Freund Hajos war. Vor ein paar Jahren war Charlottes Vater unter mysteriösen Umständen verstorben. Charlotte vermutete immer, dass ihr Vater Opfer eines Giftanschlages geworden war, doch den Beweis für diesen Verdacht konnte sie nie antreten, auch wenn sie darüber spekulierte, dass er einem mächtigen und einflussreichen Mann in die Quere gekommen war, dessen Frau er behandelt hatte. Der Tod ihres Vaters hatte ihr Interesse für Chemie geweckt.

Sie hätte dieses Fachgebiet für ihr Leben gerne studiert, aber Frauen waren zum Studium nicht zugelassen, eine Ungerechtigkeit, die Charlotte immer wieder zur Weißglut brachte und sie folgerichtig zur entschlossenen Kämpferin für Gleichberechtigung machte. Schließlich hatte sie zugesagt, als Assistentin für Hajo zu arbeiten, der ihr eine Anstellung in seinem Fachbereich gegen große Widerstände besorgt hatte. Hajo war grundsätzlich der Meinung, dass jede Frau und jeder Mann nicht nach dem Geschlecht, sondern nach Talent und Können beurteilt werden sollte – und so war es gekommen, dass Charlotte ihm dabei half, sein chemisches Labor auf- und auszubauen. Sie war davon besessen, Gifte im Körper nachweisen zu können, woran auch Hajo forschte, und arbeitete ständig daran.

Charlotte war ein Freigeist in jeder Beziehung. Sie und Hajo hatten seit einem Jahr ein heimliches Verhältnis, von dem niemand auch nur etwas ahnte. Außer Adam. Denn zu ihm fühlte sie sich genauso hingezogen wie zu Hajo.

Sollte sie sich für einen von ihnen entscheiden? Warum?

Nein, das kam ihr nicht in den Sinn. Sie hatte ein wildes Herz, das groß genug war für beide. Hajo und Adam verstanden das. Und akzeptierten es. Jeder für sich war etwas Besonderes. Und sie war es ebenso, im Allgemeinen sowieso und erst recht für Hajo und Adam: etwas Einmaliges. Sie sahen es als Privileg an, private und intime Momente mit ihr teilen zu dürfen, ohne dass einer dem anderen deswegen in die Parade fuhr.

Der eine war auf seine Art ein Genie, intelligent, unabhängig, großzügig, tolerant, und er ließ ihr sämtliche Freiheiten. Der andere war ungestüm, fordernd und leidenschaftlich, sobald sie unter sich waren. Aber wenn sie mit Hajo zusammen war, neidete Adam es ihm nicht, umgekehrt war es genauso. Es war das ideale Arrangement für alle Beteiligten.

Was Charlotte auf keinen Fall wollte: sich binden. So hatten sie stillschweigend eine für alle Seiten gültige Abmachung getroffen, die ohne Eifersucht auskam und gegenseitiges Vertrauen beinhaltete. Eine waschechte Ménage-à-trois. Und damit ein absolutes Unding im Jahr 1886. Aber solange es ihr Geheimnis blieb, lief es wunderbar. Mehr noch: Sie waren glücklich damit. War der eine nicht da, gab es den anderen. Und umgekehrt. Hajo und Adam liebten Charlotte, jeder auf seine Art, und sie liebte alle beide. Auf ihre Art.

Vor Kurzem war Charlotte dem »Allgemeinen Deutschen Frauenverein« beigetreten, und sie sah sich als Vorkämpferin für die Emanzipation der Frau. So gab sie sich auch – sie rauchte leidenschaftlich gerne, spielte Billard und Karten. Außerdem war sie ungewöhnlicherweise eine genauso trainingsfleißige wie überragende Sportlerin. Sie beherrschte sogar die Kunst der Selbstverteidigung, die Adam ihr beigebracht hatte.

Charlottes Eintreten für die Gleichstellung der Frau hatte zuweilen etwas Nervtötendes, aber Berta von Zündt ließ sich gelegentlich gerne auf eine Grundsatzdiskussion bei Tisch mit ihr ein, weil sie temperamentvoll und hitzig ihre Thesen verteidigte und Leben in die Bude brachte, wie Berta von Zündt mit Gelassenheit konstatierte, schließlich war sie stolz auf ihre Liberalität. In ihrem Hause brauchte niemand mit seiner Meinung hinter dem Berg zu halten – solange man sich an gewisse Grenzen der Etikette hielt.

Nur als zukünftige Ehepartnerin ihres Sohnes konnte sie sich Charlotte nicht vorstellen, da schwebte ihr schon jemand aus besseren Kreisen vor. Das behielt sie aber für sich, weil sie wusste, wie Hajo reagieren würde – das Gegenteil von dem tun, was sie sich vorstellte. Das wollte sie um Gottes willen nicht riskieren.

Charlotte genoss bei Hajos Mutter eine besondere Narrenfreiheit, zumal sie etwas konnte, womit sie die feinen Herrschaften als eine Art geistiger Digestif nach dem Dinner aufs Beste unterhielt: Sie spielte hervorragend Klavier. An diesem Abend wusste sie die Anwesenden mit Klavierstücken von Schubert und Mozart glänzend zu unterhalten.

Hajo schützte Müdigkeit vor und verließ die Gesellschaft Punkt Mitternacht, obwohl seine Mutter noch extra zwei unverheiratete adlige Damen, altersmäßig passend zu ihm, eingeladen hatte, die ihm beide schöne Augen machten. Er sah blendend aus, war aus bestem Hause, charmant, wenn er wollte, hatte zwei Berufe, die ihm eine gewisse geheimnisvolle Aura verliehen, von der sich frustrierte gelangweilte Witwen und unverheiratete Frauen der besseren Gesellschaft unwiderstehlich angezogen fühlten. Dass er keinerlei Spekulationen anheizte, die eine oder andere zumindest in Erwägung zu ziehen, schien ihn nur umso interessanter zu machen. Manchmal kam Hajo sich vor wie der begehrteste Junggeselle der Stadt München. Was ihn manchmal schier in den Wahnsinn trieb.

Dass er in sechs Stunden zu einem Duell auf Leben und Tod antreten musste, sagte er niemandem. Wenn seine Mutter davon erfuhr, würde sie Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um das zu verhindern – egal wie. Erst recht Charlotte. Sie würde ihn fesseln und knebeln, damit er erst gar nicht aus dem Haus kam. Aber er wollte dieser Auseinandersetzung auf gar keinen Fall aus dem Weg gehen. Dieser Oberst von Schellenberg verdiente einen Denkzettel, und Hajo war gewillt, ihm einen zu verpassen.

4

Die Glocke vom Alten Peter war deutlich zu hören, als Hajo und sein Sekundant und Adoptivbruder Adam aufbrachen. Halb sechs. Es dämmerte, und Nieselregen hatte eingesetzt. Sie machten sich zu Fuß auf den Weg, denn Hajo hatte gemeint, ein kleiner, stramm geführter Spaziergang durch den Englischen Garten wäre genau das Richtige, um wach zu werden.

Adam hatte nicht widersprochen. Er hatte, was er nicht sagte, nach dem festlichen Abend kein Auge zugetan. Im Gegensatz zu Hajo, der einen inneren Wecker sein Eigen nannte, nach Mitternacht tief geschlafen hatte und wie geplant pünktlich um fünf Uhr aufgewacht war.

Er hatte sich rasiert und sich einen starken Kaffee in der weiträumigen, zu dieser frühen Stunde noch menschenleeren Küche gemacht, Adam war rechtzeitig dazugestoßen. Beide hatten sie wortlos am großen Tisch gesessen, an dem normalerweise die Speisen zubereitet wurden. Das Personal war noch in den Federn, sie wollten aufbrechen, bevor die häusliche Routine losging.

Es hätte ein schweigsamer Spaziergang unter Freunden durch den frühmorgendlichen Park sein können. Wenn man sich so lange und so gut kannte wie die beiden, dann verstand man sich auch ohne Worte. Aber angesichts dessen, was Hajo bevorstand, spielte jeder im Kopf durch, was alles passieren konnte. Und das war erschreckend genug.

Der Kies auf dem Weg knirschte, ab und zu fielen ein paar dicke Tropfen von den Bäumen auf sie, aber sie waren dem Anlass und dem Wetter entsprechend mit Paletot und Zylinder ausgerüstet, und Hajo ging, raschen Schrittes, ganz in Gedanken versunken vor sich hin. Er schwang seinen Spazierstock, den er immer bei sich hatte, als wären sie unterwegs zu einem Picknick im Freien, das für sie vorbereitet war und auf dem eine fröhliche Gesellschaft auf sie wartete.

5

Die Gesellschaft wartete, aber sie war alles andere als fröhlich.

Am Fuße des Monopteros, des klassizistisch-griechischen Tempels, der unter König Ludwig I. errichtet worden war und der im aufziehenden Morgenlicht auf dem exponierten Hügel in strahlendem Weiß leuchtete, standen drei Männer und sahen ihnen mit ernsten Mienen entgegen. Im Hintergrund war eine Kutsche mit zwei Pferden, der Kutscher hatte es sich abseits unter einem Baum im Trockenen gemütlich gemacht und stopfte sich eine Pfeife.

Er wartete auf das, was unweigerlich kommen musste, und insgeheim freute er sich darauf, dass die Hochwohlgeborenen dabei waren, sich gegenseitig abzumurksen. Er war im Grunde seines Herzens heimlicher Anarchist, seit er Bakunin gelesen hatte, aber nur theoretisch, nicht praktizierend, und wünschte all diesen Blaublütigen die Pest an den Hals. Nach außen hin gab er sich brav und königstreu, etwas anderes konnte er sich gar nicht leisten als Vater von fünf Kindern, die er zu ernähren hatte. Aber die Gedanken waren Gott sei Dank frei, auch wenn er es nur so weit gebracht hatte, sich den Sozialdemokraten anzuschließen. Heimlich, seine Frau durfte nichts davon wissen. Denn sie war der festen Überzeugung, dass man sich, wenn man nicht mit einem goldenen Löffel im Mund geboren war, am besten unauffällig durchs Leben schlug und nur das tat, was in den Augen der Obrigkeit angebracht und im Sinne der katholischen Kirche gottgefällig war.

Hajo und Adam verließen den Weg und gingen durch das nasse Gras auf die wartenden Männer zu. Waldsassen und Schellenberg trugen Uniform, der dritte Mann einen schwarzen Trenchcoat.

In angemessener Entfernung, auf seinen Stock gestützt, blieb Hajo stehen und sah zu, wie Adam auf die Kontrahenten zutrat, sich vorstellte und seinen Zylinder lüpfte, wie es die anderen ebenfalls taten und wie es ein Mindestmaß an Höflichkeit erforderte. Waldsassen hatte einen schmalen Koffer dabei, den er auf einem bereitgestellten Tischchen aufklappte. Darin lagen die Duellpistolen, die Adam inspizierte, bevor er Waldsassen zunickte. Die beiden führten ein kurzes Gespräch, während Schellenberg abseitsstand und Hajo einen gehässigen Blick zuwarf, den Hajo betont neutral erwiderte.

Er konnte nicht verstehen, was die beiden Sekundanten besprachen, aber es betraf wohl den detaillierten und korrekten Ablauf des Duells. Ihre Atemwolken zeigten an, wie kalt es in aller Früh noch war.

Schließlich kam Adam zu Hajo zurück und sagte: »Es ist alles so, wie es sein sollte. Die Pistolen sind nagelneu und unbeschossen. Du suchst dir eine heraus, und ich werde ein Auge darauf haben, dass beide ordnungsgemäß geladen werden. Ich habe von Schellenberg, wie es bei Duellen üblich ist, gefragt, ob er wirklich einen Schusswechsel will oder ob die Sache mit unserem Zusammentreffen abgetan ist. Er hat ausdrücklich betont, dass er auf Satisfaktion besteht.«

»Wer ist der dritte Mann?«

»Dr. Severing. Ein Arzt.«

»Na – die haben ja an alles gedacht.«

»Kann man so sagen. Bist du bereit?«

»Bereit, wenn die es sind«, antwortete Hajo und ging gemessenen Schrittes auf die drei Männer zu, lüftete wortlos seinen Zylinder und wurde von ihnen auf die gleiche Art begrüßt.

Es war zunehmend windig geworden, und die Wolkendecke riss allmählich auf. Der Regen hatte inzwischen aufgehört.

Hajo sah, dass Baron von Schellenberg schwitzte, zudem hatte er rote Flecken im Gesicht – und keine neue Brille auf der Nase.

Ferdinand zu Waldsassen lud die Pistolen unter der Aufsicht von Adam, bevor er sie beide ausstreckte und sagte: »Herr von Zündt – Sie haben die Wahl.«

Hajo schnappte sich ohne viel Federlesens eine der Waffen, sah sie kurz an und fragte: »Wie ist das Prozedere?«

Waldsassen räusperte sich und erklärte den weiteren Ablauf. »Sie stellen sich Rücken an Rücken, gehen auf mein Kommando fünfundzwanzig Schritte und drehen sich um. Ich stehe in gebührender Entfernung und halte ein Tuch in meiner ausgestreckten Hand. Sobald das Tuch fällt, schießen Sie. Das wäre alles.«

»Womit sind die Pistolen geladen?«

»Kaliber 17 Millimeter«, antwortete Adam.

Hajo warf seinem Freund einen kurzen, aber bedeutungsvollen Blick zu. Er war ein Experte, was Schusswaffen anging, und er wusste, dass eine Kugel dieses Kalibers schreckliche Wunden verursachte. Wunden, die bisweilen erst nach Tagen zum Tod des Verletzten führten.

»Nun denn«, sagte er, »ein großes Kaliber. Angemessen für eine große Beleidigung. Dann wollen wir diese Angelegenheit mal hinter uns bringen.«

»Sind Sie so weit, Oberst?«, fragte Waldsassen.

Schellenberg nickte und stellte sich in Positur. Der Arzt und Waldsassen nahmen entsprechend Abstand. Adam gesellte sich zum Arzt.

Hajo ging auf Schellenberg zu, kehrte ihm wie verlangt den Rücken und spürte seinen Gegner körperlich, bevor er auf das Kommando von Waldsassen hin losmarschierte und seine fünfundzwanzig Schritte machte. Baron von Schellenberg tat das Gleiche. Sie drehten sich um und sahen sich an. Hajo merkte, dass sein Gegner zitterte, als er seinen Blick erwiderte. Kein Zweifel, Schellenberg hatte Angst.

Ferdinand zu Waldsassen meldete sich noch einmal zu Wort. »Da sich die beiden Parteien bereit erklärt haben, sich einem Duell zu stellen, und damit ihre eindeutige Absicht kundgetan haben, einen Schusswechsel tatsächlich durchzuführen, wäre der Satisfaktion Genüge getan, wenn sich Herr von Zündt entschuldigen würde.« Er sah Schellenberg demonstrativ an.

»Ich wäre damit einverstanden«, sagte der Oberst. »Wenn sich Herr von Zündt der Schwere seiner Beleidigung angemessen entschuldigt.«

Waldsassen nickte und wandte sich erneut an Hajo. »Ich frage Sie, Herr von Zündt – sind Sie dazu bereit?«

»Wozu?«

»Sich zu entschuldigen.«

Adam nickte seinem Freund auffordernd zu. Dies war die letzte Chance, aus einem selbst initiierten Dilemma herauszukommen, ohne dass einem ein Zacken aus der Krone fiel. Oder einer der Kontrahenten sein Gesicht verlor. Gewissermaßen die goldene Brücke über den Hades.

Doch Hajo schüttelte verneinend den Kopf. »Ich habe mich für nichts zu entschuldigen. Jetzt, wo wir schon mal hier sind, tragen wir das auch aus.« Er nahm seine Schussposition ein und richtete seine Waffe auf den Gegner.

»Dann sei es so«, sagte Waldsassen. »Auf mein Zeichen hin …«

Er streckte seinen rechten Arm mit einem roten Tuch aus und wartete darauf, dass auch Schellenberg seine Schussposition einnahm.

Schellenberg drehte sich seitlich, sodass er seinem Gegner möglichst wenig Angriffsfläche bot, und hob seine Pistole.

Sie hörten, wie der Alte Peter anfing, sechs Uhr zu schlagen.

Beim fünften Glockenschlag, Waldsassen hielt das Tuch noch immer ausgestreckt in seiner Hand, drückte Schellenberg ab.

Ein dumpfer Knall durchbrach die Stille zwischen den Glockenschlägen, und Hajo spürte, wie etwas glühend Heißes seine linke Wange streifte. Er geriet leicht ins Wanken.

Waldsassen ließ das Tuch fallen, wohl eher im Schreck, weil der Oberst zu früh geschossen hatte. Adam zuckte zusammen. Er sah, dass Hajo an der Wange blutete.

Hajo schoss noch immer nicht, hielt seine Waffe jedoch weiter auf Schellenberg gerichtet. Für einen Augenblick schien es, als würde die Welt stillstehen. Nur Schellenbergs Pistole rauchte, und der sechste Glockenschlag ertönte.

Schließlich ließ der Oberst seine Waffe fallen und sank auf die Knie, den Arm hielt er schützend vor das Gesicht. Aber das würde nicht viel nützen, wenn die Kugel mit dem Monsterkaliber 17 Millimeter traf.

Alles wartete auf Hajo, der mit der freien Hand seine Wunde abtastete und seine blutigen Finger betrachtete, seine rechte mit der Waffe hielt er immer noch ausgestreckt. Er konnte nun in aller Ruhe Schellenberg anvisieren und ihn mit einem Volltreffer ins Jenseits schicken. Der Zeigefinger seiner rechten Hand war am Abzug seiner schweren Duellpistole. Die Hand zitterte kein bisschen.

Adam spürte sein Herz bis zum Hals schlagen. Er fragte sich, ob Hajo seinen Gegner jetzt töten würde. Grund genug dafür hätte er. Schellenberg hatte geschossen, bevor das Zeichen zum Schusswechsel gegeben worden war. Damit hatte er vor Zeugen einen fundamentalen Regelbruch begangen. Jetzt wusste er, dass er Hajo von Zündt auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. Sein Tod war nur noch eine Frage von ein paar letzten Atemzügen, die ihm sein Gegner zugestand.

Hajo wartete schier endlos lange.

Schellenberg fing an zu wimmern. »Jetzt schießen Sie doch endlich!«, sagte er jammernd.

Und das tat Hajo schließlich.

Allerdings richtete er seine Pistole gen Himmel, als er abdrückte. Dann warf er die rauchende Waffe verächtlich beiseite und ging zu Adam, der ihm seinen Stock hinhielt. Zusammen traten sie ohne ein weiteres Wort den Rückzug an und verließen den Ort des Duells.

Waldsassen und der Arzt kümmerten sich um Schellenberg, während der Kutscher aufstand, seine Pfeife ausklopfte und sich ein Grinsen verkneifen musste. Dem eitlen Oberst Baron von und zu Schellenberg hatte dieser seltsame von Zündt wirklich gezeigt, wo der Hammer hing. Er gönnte es dem eitlen Pinsel von Herzen, gab er doch nie ein ordentliches Trinkgeld.

Aber dieses Mal würde es wohl üppiger ausfallen. Als Schweigegeld, damit er das schändliche Verhalten des Obersts nicht in alle Welt hinausposaunte.

Seine Frau würde sich über ein wenig mehr Haushaltsgeld freuen. Schließlich hatten sie fünf hungrige Mäuler zu stopfen.

6

Ein Dutzend Medizinstudenten, allesamt Erstsemester, wartete im Sektionssaal der Universität auf ihren Professor. Es war die erste Leichenschau für sie, deshalb waren sie im Gegensatz zu sonst nervös und harrten schweigend der Dinge, die da auf sie zukommen würden. Der Geruch nach Chemie und Tod war unverkennbar. Außerdem hatten ihre erfahreneren Kommilitonen es nicht unterlassen, ihnen reichlich Schauergeschichten über den Verlauf einer Sektion aufzutischen. Es war gewissermaßen die Initiation in die blutigen Gefilde ihres zukünftigen Gewerbes, da gehörte es zum guten Ton, die Einführung in die Welt des menschlichen Körpers mit ein wenig Schaudern zu garnieren.

Der Leichnam, der für die Obduktion schon auf dem dafür vorgesehenen Porzellantisch lag, war noch unter einem weißen Leintuch verborgen.

Einer der Studenten, der selbst berufene Scherzkeks der Truppe, versuchte, die angespannte Stimmung durch einen kleinen Witz aufzulockern. »Wisst ihr, was der Unterschied zwischen einem Internisten, einem Chirurgen, einem Irrenarzt und einem Pathologen ist?«

Da keiner etwas sagte, gab er selbst die Antwort. »Der Internist hat Ahnung, kann aber nichts. Der Chirurg hat keine Ahnung, kann aber alles. Der Irrenarzt weiß nichts und kann nichts, hat aber für alles Verständnis. Und der Pathologe weiß alles, kann alles, kommt aber immer zu spät.«

Doch außer ihm selbst lachte niemand. Im Gegenteil, einige der Anwesenden hatten bereits kalkweiße Gesichter angesichts dessen, was sie erwartete.

Als endlich die Tür aufging, zuckten einige von ihnen schon zusammen. Eine Frau im weißen Laborkittel betrat den Saal, sagte keinen Ton und ordnete mit viel Geklirr die diversen Schnitt-, Bohr- und Sägeinstrumente für die Leichenschau auf einem Stahltablett an.

Charlotte Brauchitsch.

Dass eine weibliche Person anwesend war, sorgte für zusätzliche Unruhe und Unbehagen unter den Studenten. Das waren sie nicht gewohnt, und es ließ sie noch verkrampfter werden, als sie es ohnehin schon waren.

Es war allgemein bekannt, dass Hajo von Zündt ein Unikum war, der als Einziger eine weibliche Hilfskraft und außerdem ein Faible für unorthodoxe Methoden und Vorgehensweisen hatte. Gleichwohl galt sein Unterricht als äußerst kompetent, auch wenn er den Ruf hatte, alles, was seit Jahrzehnten ungeschriebenes Gesetz war, in Frage zu stellen. Es hieß, er neige dazu, festgefügte Lehrmeinungen grundsätzlich anzuzweifeln und gegebenenfalls kurzerhand umzukrempeln.

Was nicht nur seine Gegner auf die sprichwörtliche Palme brachte, sondern auch die Fraktion der Studentenschaft spaltete: in glühende Anhänger, die in der Minderheit waren, und entschiedene Befürworter des Althergebrachten, die nur darauf warteten, dass Hajo von Zündt ein fachlicher Fehler nachzuweisen war, damit sie ihn anschwärzen konnten. Dies wäre auch der Mehrheit des Professorenkollegiums zupassgekommen, da sie diesen Protestanten gern in Schimpf und Schande vom Hof jagen wollten. Aber den Gefallen tat er ihnen allen nicht. Bisher jedenfalls.

Als die Ersten schon vor Anspannung im kühlen Sektionssaal zu schwitzen anfingen, betrat der allseits umstrittene Mann den Sektionssaal. Er hatte ein schneeweißes Hemd und Hosenträger an, grüßte Charlotte und die Studenten mit einem angedeuteten Kopfnicken und trat an den Tisch mit dem Leichnam.

Charlotte hielt seinen weißen Kittel bereit, half ihm hinein und band ihn in seinem Rücken zu. Hajo hatte ein dickes Pflaster auf der linken Wange. Charlotte fragte ihn leise, sodass nur er es hören konnte: »Was ist denn mit deinem Gesicht passiert?«

»Habe mich beim Rasieren geschnitten«, antwortete er kurz angebunden und ebenso leise.

Sie widmete ihm einen skeptischen Blick, untermalt von einer hochgezogenen Augenbraue.

Aber Hajo ging nicht weiter darauf ein, sondern wandte sich an die Studenten. »Morgen.«

»Guten Morgen, Herr Professor!«, antworteten die Studenten im Chor.

Egal, was für Gerüchte über Hajo von Zündt die Runde machten – ein Professor war eine Autoritätsperson, ihm gebührte entsprechender Respekt. Der Untertanengeist und der Gehorsam gegenüber Höhergestellten waren nicht nur in Bayern, sondern auch im gesamten Deutschen Reich bis auf ganz wenige Ausnahmen quasi Staatsreligion.

Hajo fragte Charlotte: »Fräulein Brauchitsch – hat Kommissar Manteuffel die Identität des Opfers inzwischen herausgefunden?«

»Nein, leider nicht, Herr Professor«, antwortete sie.

Vor den Studenten und in der Öffentlichkeit siezten sie sich, um Spekulationen über eine mögliche Beziehung zwischen ihnen nicht auch noch anzuheizen.

Charlotte zückte Notizblock und Stift, um die Kommentare des Professors aufzuschreiben. Dann wandte sich Hajo an die Studenten, die sich in einem Halbkreis um den Seziertisch aufgereiht hatten. »Meine Herren, bevor ich mit meiner Arbeit beginne, darf ich Sie darauf hinweisen, dass eine Obduktion nichts für schwache Gemüter ist. Sollte also der eine oder andere von Ihnen ein plötzliches Übelkeitsgefühl verspüren, dann darf ich doch bitten, dass er rechtzeitig den Sektionssaal verlässt, bevor er hier noch eine größere Schweinerei anrichtet als ich.«

Ein paar Studenten gackerten verhalten, weil sie die Worte des Professors für einen Scherz hielten, aber Hajo meinte es durchaus ernst. Er wusste aus Erfahrung, dass bei einer Leichenschau immer einer, der sich besonders abgebrüht gab, plötzlich aschfahl im Gesicht wurde, die Fassung verlor und umkippte.

Charlotte, die in diesen Dingen dickfellig war, freute sich schon klammheimlich darauf, dass eines der hochnäsigen Jüngelchen, die sich bereits einbildeten, der Weißkittelelite anzugehören, beim Ausweiden der Leiche im urplötzlich einsetzenden Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit zusammenklappte oder die bereitstehende Nierenschale benutzen musste, die sie extra für solche Gelegenheiten bereitgestellt hatte. Solches geschah nahezu unweigerlich in der ersten Pathologiestunde. »Also, Herrschaften – letzte Gelegenheit, den Raum zu verlassen«, sagte sie.

Alle tauschten Blicke, aber niemand reagierte. Vor dieser jungen und ausnehmend hübschen Frau, eine absolute Ausnahmeerscheinung an der Universität, die offensichtlich wusste, wovon sie sprach, wollte sich keiner eine Blöße geben.

Bevor er in medias res ging, erläuterte Hajo noch einmal, um was es ging. »Was wir hier vor uns haben, ist ein weiblicher Leichnam. Unsere Aufgabe als Pathologen ist es nun, mit wissenschaftlichen Methoden festzustellen, wie die Tote ums Leben gekommen ist. Der Leichnam wurde uns von der Kriminalpolizei anvertraut, die wissen möchte, ob hier ein Suizid vorliegt oder ob es sich um ein Mordopfer handelt. Die Leiche wurde in einem fließenden Gewässer aufgefunden. Der zuständige Kommissar hat mich beauftragt, die Todesursache festzustellen. Wie gehen wir in diesem Fall vor?«

Ein Student, der vorlaute Witzbold, meldete sich mit Handzeichen.

»Sie heißen?«, fragte Hajo.

»Franz Tobler, Herr Professor.«

»Also?«

»Wir untersuchen den Leichnam gründlich und erstellen ein Protokoll zur möglichen Todesursache. Die Frage, die wir zu klären haben, lautet: Hat die Frau den Freitod im Wasser gesucht, oder wurde sie ertränkt?«

»Richtig, Herr Tobler. Aber es gibt theoretisch noch eine dritte Möglichkeit: dass sie gewaltsam getötet und erst dann ins Wasser geworfen wurde. Wie können wir das ausschließen?«

»Nun«, sagte Tobler. »Wir untersuchen den Leichnam zunächst auf äußerlich sichtbare Verletzungen. Stichwunden, Schussverletzungen, Würgemale und dergleichen. Und dann prüfen wir, ob Wasser in der Lunge ist. Wenn man sie vorher getötet hat, dürfte das nicht der Fall sein.«

»Korrekt. Alle Auffälligkeiten, die wir finden und die von der Norm abweichen, halten wir fest, damit sie der Polizei und später vor Gericht als Beweis vorgelegt werden können. Wissenschaftlich belegbare Fakten sind eine der grundsätzlichen Voraussetzungen für ein gerechtes Urteil in einem Gerichtsverfahren, wenn eine Straftat vorliegt. Zuweilen können wir mit unserer Arbeit auch dazu beitragen, dass ein Verdächtiger entlastet wird. Wir leisten also alles in allem einen fundamentalen Beitrag zur Gerechtigkeitsfindung. Diesen Gesichtspunkt dürfen wir nie aus den Augen verlieren, meine Herren.«

Hajo räusperte sich und fuhr dann fort: »Wir müssen dem durch besondere Sorgfalt und akribisches Vorgehen Rechnung tragen. Das sind wir den Opfern schuldig, die vor uns nackt und leblos auf dem Sektionstisch liegen und nichts mehr sagen können. Und dennoch sprechen sie zu uns. Nämlich durch die Art und Weise, wie sie zu Tode gekommen sind. Das herauszufinden ist unsere Aufgabe. Ich sage das ausdrücklich, um unsere Arbeit, die im Bereich der Medizin zuweilen ein Schattendasein fristet, als das hervorzuheben, was sie ist: ein notwendiges und unabdingbares Instrumentarium zur Diagnose von Todesfällen, die auf den ersten Blick nicht eindeutig zu verifizieren sind. So viel zur Bedeutung unserer Arbeit und zur Theorie. Noch Fragen?«

Hajo sah, dass alle ihm ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkten. »Also gut, dann lassen Sie uns jetzt zur Praxis übergehen. Nämlich der Rekonstruktion des Sterbevorganges. Wir unterscheiden dabei zwischen äußerer und innerer Leichenschau. Ich beginne mit der äußeren.«

Auf sein Zunicken hin schlug Charlotte das Leintuch, das über den Leichnam ausgebreitet war, langsam und mit offenkundigem Respekt zurück, woraufhin ein Frauenkopf mit lockigen Haaren zum Vorschein kam. Das Gesicht war verquollen und schmerzverzerrt, die Augen glasig.

Charlotte merkte, dass Hajo auf den Anblick mit einem kurzen Zögern reagierte. Das fiel niemandem außer ihr auf, aber sie kannte ihn gut genug, um festzustellen, dass er persönlich berührt war, etwas, das sie noch bei keiner Leichenschau erlebt hatte. Schließlich lautete die oberste Maxime eines jeden Pathologen, dass Gefühle bei einer Obduktion nichts zu suchen hatten.

Hajo fasste sich jedoch schnell, atmete einmal tief durch und fing an, zunächst den Schädel der Toten zu untersuchen, für Mund und Nase nahm er dazu ein Holzstäbchen, das Charlotte ihm reichte.

»Unbekannter weiblicher Leichnam, gestern Vormittag aufgefunden, Ort, Datum und Uhrzeit«, diktierte er Charlotte und zog das Tuch weiter nach unten. »Dem ersten Anschein nach ertrunken, darauf lässt der schaumige Rückstand in Nase und Mund schließen. Zustand des Leichnams weist darauf hin, dass der Körper höchstens zwei Tage, jedoch mindestens einen Tag im Wasser lag. Schätzungsweise zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre alt, wie groß?«

»Einen Meter fünfundfünfzig«, sagte Charlotte, die das vorher schon festgestellt hatte. »Gewicht sechsundfünfzig Kilogramm.«

Hajo machte weiter. »Schulterlange, gelockte brünette Haare … die Kleidung wurde untersucht?«

Charlotte nickte. »Ich habe sie getrocknet und aufbewahrt.«

»Irgendwelche Auffälligkeiten?«

»Ja. Ich hatte den Eindruck, dass die Kleidung dem Opfer nach dem Tod angezogen wurde.«

»Woraus schließen Sie das?«

»Das Mieder war nicht richtig zugebunden. Ebenso die Schnürung der Stiefeletten. Und ein Strumpf war auf links gedreht.«

»Haben Sie das notiert?«, fragte Hajo.

»Selbstverständlich.«

»Gut. Dann sehen wir mal, ob sich diese Beobachtung mit der Obduktion deckt. Sonst noch etwas?«

»Normale Frauenkleidung und Unterwäsche. Nichts Extravagantes, einfache Stoffe, einfache Ausführung, mehrfach geflickt. Schuhe billig und abgetragen. Persönliche Gegenstände – eine Tasche, Schlüssel, Papiere oder Ähnliches – waren nicht vorhanden.«

»Kein Schmuck?« Hajo sah Charlotte fragend an.

Sie schüttelte den Kopf. »Weder Ringe noch Ohrringe, Ohrläppchen nicht durchstochen.«

Hajo zog das Leintuch ganz weg und reichte es einem Studenten, um den nackten Körper des Opfers näher in Augenschein zu nehmen. Charlotte gab ihm dazu eine Lupe, mit der er Zentimeter für Zentimeter der Haut absuchte. »Insgesamt gepflegte Erscheinung, Fingernägel intakt, keine Abwehrspuren sichtbar. Auf den ersten Blick keine äußeren Verletzungen festzustellen. Bringen wir sie bitte in Bauchlage.«

Zwei Studenten traten heran, aber Hajo hob die Hand.

»Warten Sie …« Er ging vor dem Fußende des Opfers in die Hocke und untersuchte die unteren Extremitäten mit der Lupe. »Druckstellen an beiden Fußknöcheln, kaum erkennbar«, diktierte er. Dann nickte er den zwei Studenten zu, die den Körper behutsam umdrehten.

»Auch von der Rückseite aus weder am Torso noch an den Extremitäten oder den Genitalien Verletzungen sichtbar«, sagte Hajo, nachdem er alles gründlich inspiziert hatte. »Sie können den Leichnam wieder auf den Rücken legen. Wir kommen jetzt zur Nekropsie.«

Er gab die Lupe an Charlotte, die ihm daraufhin ein großes Skalpell reichte. Hajo nahm es in die Hand und wandte sich noch einmal an die Studenten. »Bevor ich damit beginne, die Organe des Leichnams freizulegen, insbesondere Pulmo sinister und Pulmo dexter, habe ich noch eine Frage an Sie. Was ist der häufigste Grund dafür, dass sich eine gesunde, junge weibliche Person in ihrer Verzweiflung dafür entscheidet, im Wasser den Freitod zu suchen?« Er sah die Studenten auffordernd an.

Wieder war es Franz Tobler, der sich als Erster meldete. »Eine ungewollte Schwangerschaft?«

»So ist es. Leider. Eine tragische Tatsache. Ob das hier auch der Fall ist, werden wir gleich feststellen. Aber zuerst zur eigentlichen Todesursache. Dazu müssen wir die Lunge untersuchen. Ich mache jetzt den sogenannten Y-Schnitt am Oberkörper«, erläuterte er. »Dann entferne ich das Sternum und die Costae, um im Thorax an die inneren Organe zu gelangen. Danach nehme ich mir das Abdomen vor.«

Er setzte das Instrument an und führte die angekündigten Schnitte aus, als der erste Student taumelte, noch von zwei Kommilitonen gestützt wurde, bevor er umkippte und auf den gefliesten Boden fiel.

Es war Franz Tobler.

7

Nachdem Hajo das blutige Pflaster auf seiner Wange vorsichtig entfernt hatte, wusch er sich am Waschbecken in der Herrentoilette der Pathologie gründlich Hände und Gesicht und betrachtete dann im Spiegel eingehend die Wunde vom Streifschuss. Er hatte noch einmal Glück gehabt. Ein paar Zentimeter weiter rechts, und das Geschoss hätte ihm den Wangenknochen zerschmettert. Der Streifschuss war marginal, aber eine Narbe würde wohl bleiben, obwohl er die Wunde zu Hause mit Hilfe von Adam gleich desinfiziert und verpflastert hatte.

Danach war er in die Universität geeilt, um seiner Mutter aus dem Weg zu gehen, die ihn ansonsten mit ihren Fragen so lange gelöchert hätte, bis ihm nichts anderes übrig geblieben wäre, als die Wahrheit über die Ursache der Verletzung zu beichten.

Es klopfte, und Charlotte kam herein, ohne sich darum zu scheren, dass sie eine Herrentoilette betrat. Falsche Rücksichtnahme aus Gründen des Anstands hatte noch nie zu ihrem Repertoire gehört, wenn sie etwas Wichtiges auf dem Herzen hatte. Und das, was sie ihn jetzt fragen wollte, war ihr wichtig. Ohne Vorwarnung nahm sie seinen Kopf und besah sich die Wunde an seiner Wange. »Beim Rasieren geschnitten, was?«, merkte sie spöttisch an. »Muss ein großes Missgeschick gewesen sein. Und ein sehr scharfes Rasiermesser.«

Charlotte hatte, praktisch veranlagt, wie sie war, ein Handtuch mitgebracht, in dem Tupfer, Jodtinktur und Pflaster eingewickelt waren. Vorsichtig tupfte sie den Schnitt mit der Tinktur ab, und Hajo ließ es nolens volens über sich ergehen. Wenn Charlotte sich etwas vorgenommen hatte, war es zwecklos, Widerstand zu leisten. Während sie seine Wunde versorgte, fragte sie nebenher: »Jetzt sag schon – was ist passiert? Hast du dich mit jemandem geprügelt?« Sie blickte genauer hin, bevor er antworten konnte. »Obwohl – es sieht eher nach einem Streifschuss aus …« Sie hielt ihn auf Armlänge von sich und fixierte seine Augen. »Hajo – was hast du getan?«

Er seufzte demonstrativ und sagte: »Weißt du was? Du bist schlimmer als meine Mutter. Ja, ich gebe zu: Ich hatte eine kleine Auseinandersetzung … aber das ist Schnee von gestern. Ich mag nicht mehr darüber reden.«

Sie kümmerte sich wieder um seine Wunde, konnte es aber nicht lassen, erneut nachzuhaken. »Ging es um eine Frau?«

»Kann man so sagen.«

»War sie es wenigstens wert?«

Charlotte war, wie in allem, was sie tat, also auch beim Abtupfen mit der Jodtinktur, nicht gerade zimperlich. Hajo zuckte zusammen.

»Halt still!«, sagte sie energisch, und er tat es, obwohl es höllisch brannte. »Apropos Frau – du kennst die Tote?«, fragte sie, während sie ein neues Pflaster an Hajos Verletzung anbrachte.

»Ja«, gab er zu. »Sie heißt Marianne Angerer. Lass nach Manteuffel schicken, damit er weiß, dass das Mädchen aus dem Bach im Englischen Garten einen Namen hat, allem Anschein nach ermordet wurde und in der zwölften Woche schwanger war.«

»Woher kennst du sie?«

Hajo atmete erst einmal tief durch und überprüfte das Pflaster im Spiegel, bevor er antwortete: »Sie war ein Dienstmädchen im Haushalt meiner Mutter. Hat uns vor ungefähr einem Jahr verlassen. ›Verlassen müssen‹ ist der richtige Ausdruck. Meine Mutter hat sie dabei erwischt, wie sie Geld unterschlagen hat. Sie hat zugegeben, dass sie schon mehrfach lange Finger gemacht hatte, und Rotz und Wasser geheult. Meiner Mutter blieb nichts anderes übrig, als sie fristlos zu entlassen.«

»Hat sie sie angezeigt?«

»Nein. Sie hatte trotz allem Mitleid. Das Mädchen war ein armes Ding, wenn du mich fragst. Ich weiß nicht, wo sie danach untergekommen ist. Meine Mutter sagte, dass sie im Grunde genommen kein schlechter Mensch war. Aber sie befürchtete, dass sie falschen Umgang hatte, wie sie sich ausdrückte. Ich habe Marianne Angerer zwar nicht oft gesehen, aber gleich auf den ersten Blick erkannt.«

»Was willst du in dieser Angelegenheit unternehmen? Du wirst das doch nicht auf sich beruhen lassen, oder?«

»Ich sorge dafür, dass Manteuffel sich der Sache annimmt.«

»Soll das heißen, wir geben uns damit zufrieden, dass sich die Polizei darum kümmert?«

Bevor Hajo dazu Stellung nehmen konnte, wurde die Tür aufgerissen. Zwei Studenten kamen herein und blieben erstaunt stehen, als sie erkannten, dass eine Frau in der Herrentoilette stand. Die ihnen allseits bekannte nassforsche Assistentin Charlotte Brauchitsch. Zusammen mit ihrem Professor. Auf Tuchfühlung, so wie es ihnen vorkam.

»Ja, ich weiß – ich habe mich in der Tür geirrt. Ich gehe ja schon«, sagte Charlotte in ihrer gewohnt schnoddrigen Art, packte ihre Verbandsutensilien zusammen und schlüpfte an den zwei immer noch perplexen Studenten vorbei nach draußen.

Hajo nickte den Studenten zu, die nicht so recht wussten, wie sie reagieren sollten, und verließ ebenfalls die Herrentoilette. In vollem Bewusstsein darüber, dass ab sofort wieder eine neue Klatschgeschichte über ihn und seine Assistentin in Umlauf kam. Das würde seinem sowieso schon ramponierten Ruf nicht gerade förderlich sein.

Aber das war seine geringste Sorge.

Immer wenn er konzentriert nachdachte, legte er beim Gehen die Hände auf den Rücken und sah durch die Menschen hindurch, so auch durch die paar Studenten, die ihn grüßten, als sie ihm entgegenkamen. Dieses Verhalten seinerseits war allgemein bekannt. Wenn Hajo von Zündt nicht ansprechbar war, dann befand er sich geistig in anderen Sphären.

Er hatte mit Marianne Angerer unter einem Dach gelebt. Er versuchte, sich ihr lebendiges Gesicht zu vergegenwärtigen. Sich zu erinnern, wie sie mit ihm gesprochen hatte, was selten genug der Fall gewesen war. Hatte er sie nie so beachtet, wie sie es wert gewesen wäre, weil sie nur ein Dienstmädchen gewesen war?

Das machte ihm ein schlechtes Gewissen. Sie war schwanger gewesen. Und verzweifelt, davon war auszugehen. Und dann war sie ermordet worden.

Das nahm er ab sofort persönlich. Diese Angelegenheit wollte und konnte er nicht einfach nur abhaken und allein der größtenteils unfähigen Polizei überlassen. Augenblicklich leistete er einen Schwur. Er wollte dem Mörder von Marianne Angerer gegenüberstehen. Auge in Auge. Ihn zur Rechenschaft ziehen und seiner gerechten Strafe zuführen.

Er hatte das Gefühl, ihr dies schuldig zu sein.